Grenzfahrt - Andrzej Stasiuk - E-Book

Grenzfahrt E-Book

Andrzej Stasiuk

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Beschreibung

Juni 1941, wenige Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Im Dorf am Bug haben sich deutsche Besatzungssoldaten einquartiert, in der Nähe verstecken sich polnische Partisanen. Jeder hier weiß, dass Lubko, der Fährmann, gegen Geld Fliehende und Händler ans andere Ufer rudert. Doris und Maks, ein jüdisches Geschwisterpaar aus der Stadt, wollen sich vor Verfolgung retten – hinüber nach Russland, am besten bis an den Amur. Doch Lubko weigert sich. Was er tut, ist gefährlich, macht ihn erpressbar, und die Nächte in jenen Tagen sind mondlos.

Das Geschehen scheint sich aus der verträumten, nächtlichen Flusslandschaft zu entwickeln, die fremd und bedrohlich wirkt, seit Motorräder, Lastwagen und Panzer hindurch rollen und deutsche Wörter durch die Luft schwirren.

Die Lektüre schlägt sofort in Bann, auch weil Grenzfahrt eine weitere Dimension öffnet – die der Erinnerung. Zurück in jenem Dorf, am Ende des Lebens, will dem Vater des Erzählers nicht mehr einfallen, dass er hier Kind war. Wie Stasiuk diese Episoden in die atemlose Kriegserzählung hineinwebt, verleiht dem Roman seine poetische und existentielle Wucht.

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Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Cover

Titel

Andrzej Stasiuk

Grenzfahrt

Roman

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Przewózim Verlag Czarne,Wołowiec

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Vadimborkin/iStock by Getty Images

eISBN 978-3-518-77553-0

www.suhrkamp.de

Grenzfahrt

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Anmerkung der Übersetzerin

Informationen zum Buch

1

Er spürte, dass er den Boden verlor, und beugte sich etwas weiter hinunter, doch das Ruder reichte kaum bis zum Grund, und die Strömung drehte es ihm aus den Händen. Er richtete sich auf und ließ sich flussabwärts treiben, bis das Boot von einem Strudel angezogen wurde und sich zu drehen begann. Da tauchte er das Blatt ein, stützte den Stiel an die Bordwand und geriet wieder in glatte Strömung. Es war dunkel und still. Manchmal platschte ein Fisch, und er stellte sich vor, er sähe das silbrige Blitzen. Vielleicht sah er es wirklich, denn sein Gedächtnis hatte ein genaues Bild der Umgebung gespeichert. Am linken Ufer konnte er die hohen Pappeln zählen. Er konnte die Namen der Besitzer nennen, denen die Anwesen gehörten. Er wusste, wo die zusammenhängende Bebauung endete und nur noch drei einsame Häuser kamen, die fast einen Kilometer auseinanderlagen. Er wusste, wo der Fluss, unter dem hohen Ufer ein paar Meter tief, ganz plötzlich seicht wurde und in kleinen, schilfbewachsenen Buchten in Land überging. Auch die Gerüche des linken und des rechten Ufers konnte er erkennen. Das linke roch nach Schlamm und Weidengebüsch. Das rechte war flach, sandig und baumlos. Dort weideten Tiere, und ihr Geruch hing in der Luft, mischte sich mit dem von getrocknetem Dung und Wermut. Im Sommer witterte er selbst in finsterster Nacht und konnte sich in der Mitte des Flusses halten. So wie jetzt.

Vorsichtig tat er das Ruder auf die andere Seite. Das nasse Holz machte ein dumpfes, weiches Geräusch. In der Ferne hörte er ein trockenes Krachen, und der Himmel leuchtete grünlich. Auf dem Boden des Bootes bewegte sich etwas Dunkles.

»Bleib liegen.«

Die Rakete stand fast reglos am schwarzen Himmel und sah aus wie ein finsterer Stern. Intuitiv bewegte er das Ruder stärker, obwohl er wusste, dass die Rakete ein paar Kilometer flussaufwärts abgeschossen worden war und er selbst sich völlig im Dunkeln befand. Wieder bewegte sich die Gestalt, und das Boot schwankte leicht.

»Sie schießen.«

»Bleib liegen. Sie leuchten nur.«

»Sie werden uns sehen.«

»Nein. Es ist zu weit. Bleib liegen.«

Der Mann auf dem Grund des Bootes kroch auf ihn zu. Der Fährmann nahm das Ruder aus dem Wasser und versetzte ihm mit dem beschlagenen Ende einen Stoß. Der andere ächzte und legte sich wieder flach.

»Ich hab's dir gesagt.«

Die Rakete brannte zu Ende und erlosch.

Schließlich scheuerte das Boot auf Sand. Er schob es tiefer in das seichte Wasser. Das Ufer war nicht hoch, aber etwas abschüssig.

»Komm raus«, sagte er.

Der Mann krabbelte ungeschickt aus dem Boot, stolperte, stand mit Mühe wieder auf, zog die durchnässte Jacke hinter sich her. Er stank nach Dreck und Hunger.

»Du kletterst ans Ufer und gehst flussabwärts. Nach einiger Zeit kommst du zu einem Gebüsch. Da gehst du lang, so weit wie möglich weg vom Wasser. Nicht ins Gestrüpp, da ist Sumpf.«

»Jemand hätte warten sollen.«

»Ja, aber er ist nicht gekommen.«

Er stieß das Boot sanft von der Sandbank ab und bewegte ein paarmal das Ruder, damit das Wasser die Spur verwischte. Ein Stück ließ er sich treiben, doch dann ruderte er mit voller Kraft, um so schnell wie möglich die Strömung zu überwinden und ans andere Ufer zu gelangen. Dort war es flach. Er spürte den Grund unter dem Ruder und roch Schlamm und Kuhdung. An dieser Stelle trieben die Leute vom Dorf das Vieh von den Wiesen zur Tränke. Kurz darauf hörte er, wie der Bug am Schilf rieb. Hier entlang glitt er flussaufwärts. Das Ruder tauchte tief in den sumpfigen Grund. Schließlich gelangte er zu einem schmalen Nebenarm, der – durch einen mit Weiden bewachsenen Streifen Festland getrennt – parallel zum Flussbett verlief. Der Arm hatte die Breite von zwei Booten, mehr nicht, und endete blind im Schilf und Weidengestrüpp. Er hatte ihn im vorigen Jahr entdeckt, als er mit der Gliep am Ufer entlangwatete. Jetzt schob er sich ans Ende des Seitenarms und stieg vorsichtig aus, an einem schmalen Stückchen Land ohne Gestrüpp. Mit der Kette machte er das Boot fest und ging ins Wasser. Es reichte ihm nicht ganz bis zur Hüfte. Er löste eine um einen Stängel gewickelte Schnur und holte ein Netz mit Fischen aus dem Wasser. Träge bewegten sie sich. Einer blitzte mit dem silbrigen Bauch. Die Dämmerung brach an. Er griff ins Gestrüpp und zog eine Angel heraus, aus einem Weidenzweig gemacht. Angestrengt watete er zurück in die Strömung und erreichte dann, noch immer im Wasser, die Stelle, wo das Vieh zum Trinken kam, und erst dort stieg er ans trockene Ufer.

Das Dorf schlief noch. Noch heizten sie nicht die Herde. Auch die Hunde schliefen. Auf dem sandigen Weg ging er nach oben. Die nassen Kleider klebten am Körper, ihm war kalt. Er lief etwas schneller. Gleichgültig passierte er den Bildstock an der Stelle, wo sich die Wege kreuzten. Links ging es zur Kirche. Er hielt sich geradeaus. Die Häuser standen dicht, eins neben dem anderen. Es ist still wie am Sonntag, dachte er. Doch es war erst Samstag. Er hörte eine Kette gegen eine Futterkrippe schlagen. Der Sand verklebte ihm die Schuhe. Er zog sie aus, band sie zusammen und hängte sie über die Schulter. Unter der Oberfläche war der Sand warm. Hinter den letzten Häusern bog er rechts ab und ging an einer Windmühle vorbei. Er blickte auf den sandigen Pfad, der zwischen den Feldern leicht abfiel, dann wieder etwas anstieg, um hinter einer fernen Erhebung zu verschwinden. In der Gruppe der hohen Pappeln verbargen sich drei Gehöfte. Verstreut, einen Kilometer oder ein paar Hundert Meter voneinander entfernt, waren sie im morgendlichen Zwielicht fast unsichtbar. Reetgedeckte Holzhäuser. Als wäre da niemand, dachte er. In der Senke, da wo der Pfad abfiel, erstreckte sich ein Streifen feuchter Wiesen. Jetzt sahen sie fast schwarz aus. Er ging noch ein paar Hundert Meter und bog in einen Seitenweg, der sumpfig und zerfahren war. Auf beiden Seiten lag zerdrücktes Getreide, mit Schwarzerde vermischt. Er trat in den Schatten der hohen Pappeln.

Nach ein paar Schritten, als er das deutsche »Halt!« hörte, blieb er stehen. Der Soldat stand unter dem breiten Apfelbaum, die MP über die Schulter gehängt, den Lauf nach vorne, doch den Finger hatte er nicht am Abzug. Mit einem leichten Nicken trat er einen Schritt zurück und lehnte sich wieder an den Baum. Der Fährmann ging am Zaun entlang bis zu dem Eingang, wo ein zweiter Wächter stand.

»Gut Morgen«, brummte er und schob das Törchen auf.

»Morgen«, erwiderte der Soldat und fragte in gebrochenem Polnisch: »Was gibt's?«

»Fische«, sagte er auf Deutsch und hob das Netz hoch.

Der Soldat trat ein Stück näher und betrachtete die Fische. Aus dem Hof kam ein anderer, dann noch einer. Sie unterhielten sich angeregt, doch er verstand nichts. Er hörte nur ein paarmal »Hecht« und »Barsch«, also dachte er sich, sie stritten wohl über die Gattung. Sie drehten das Netz in den Händen und befühlten durch die Maschen die vier Fische, ohne auf den kalten Schleim zu achten.

»Barsch und Plötze. Ich gebe euch die zwei größten für zwei Päckchen Zigaretten«, sagte er und fügte hinzu: »Zwaj fir zwaj.«

Wieder begannen sie zu reden. Der Erste, der mit dem Gewehr, erklärte den anderen etwas und sagte schließlich:

»Dopsche.«

Den Rücken ans Scheunentor gelehnt, saß er da und wärmte sich in der Sonne. Im Blick hatte er die Soldaten. In aufgeknöpften Uniformen liefen sie umher. Sie setzten sich mit ihrem Kochgeschirr an einen Holztisch. Neben dem Brunnen dampfte die Feldküche. Es roch nach erhitztem Fett, Zwiebeln und Tabak. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes sah er das Holzhaus mit dem Steinsockel und dem Reetdach. Zum Eingang führten drei Stufen. Auf die ging ein Koch in weißem Kittel zu und trug ein Tablett mit einem Krug, einem zugedeckten Topf und Tellern. Das Scheunentor war warm. Er rauchte eine Zigarette und sah sich das alles an. Den weißen Kittel, die gescheuerten Kessel neben dem Brunnen, die ruhige Schläfrigkeit des Lagers. Im Obstgarten hinter dem Haus standen Kanonen, die langen Rohre gesenkt. Zwischen den Bäumen waren Tarnnetze aufgespannt. Bei manchen Bäumen war die Rinde abgeschält. Die Raupenschlepper hatten sie genauso getarnt. Über Hunderte, Tausende Kilometer hatten sie die Geräte hergeschleppt, um sie zwischen Apfelbäumen aufzustellen, die vor kurzem noch geblüht hatten. Jetzt ruhten sie sich aus. So viel Kraft hatten sie aufgebracht, und jetzt würden sie seine zu einem ordentlichen Preis gekauften Fische braten. Sie besaßen Zigaretten und Fässer mit Benzin, und von Zeit zu Zeit ließen sie ihre Unterwäsche von den Mädels im Dorf waschen. Er wohnte seit dem Frühjahr in der Scheune und sah zu, wie der Koch im weißen Kittel jeden Morgen eine Kanne Kaffee ins Haus trug. Unter dem alten Birnbaum hatte er aus Ziegeln eine Feuerstelle gebaut. Das Blechrohr kam oben an der Baumkrone heraus. Zwischen den Zweigen hatte er eine Plane gespannt. Genau wie die Deutschen es mit den Tarnnetzen über den Geschützen gemacht hatten. So konnte er sogar bei Regen kochen. Jetzt war eine Frau über dem Blech beschäftigt. Barfuß, mit einer Schürze, mit dunklem Haar, das unter dem angeschmutzten roten Kopftuch herauskam. Es roch nach Fisch. Er erhob sich und ging zum Kuhstall. Das Tor war offen, nur mit einer Stange versperrt. Er trat in die dunkle, heiße Luft. Bei seinem Anblick stand die Kuh langsam auf. Er machte sie los, und sie setzte sich in Bewegung. Ohne dass er sie antreiben musste, ging sie auf dem Pfad am Rand des Obstgartens in Richtung des dunklen Wiesenstreifens. Er folgte ihr. Das Gras war feucht und kühl. Er krempelte die Hosenbeine hoch. Die Kuh senkte den Kopf und begann zu weiden. Der rotbraune Rücken glänzte in der Sonne wie glühendes Eisen. Im Gras schimmerte silbern die Kette. Seit die Soldaten hier waren, hatte er keine Angst mehr vor Dieben und nahm die Kette nachts nicht mehr mit. Jetzt legte er sie um die Hörner. Er spürte die Wärme des Kuhnackens und strich intuitiv mit der Hand darüber. Er zog den stählernen Pfahl heraus und schlug ihn ein Stück weiter mit einem Stein wieder in den Boden. Unten, auf dem Grund der grasigen Senke war eine hölzerne Verkleidung über einem flachen Brunnen mit sumpfigem Wasser. Er ging davon aus, dass die Frau bei Tagesanbruch die Kuh getränkt hatte, doch er schaute nach, ob der verbogene Eimer sich an seinem Platz befand. Das tat er. Wie auch die Kette.

Er ging die Senke hinauf und blieb auf dem Rücken der sanften Erhebung stehen, wo die Raingrenze verlief. Auf dem ausgetretenen Pfad konnte er die frierenden Füße trocknen. Jetzt sah er auf der gegenüberliegenden Erhebung das Anwesen, die Pappeln, den Obstgarten, doch die Artillerie und die Raupenschlepper blieben unsichtbar. In der Ferne lag gestreifelt das andere Ufer. Tiefliegend, graugrün, flach wie die Steppe, zog es sich bis zum Horizont. Hier und da, zum Fluss hin, war es mit Weiden bewachsen. Er kannte all die sumpfigen Stellen, die im Frühjahr so stark überschwemmt wurden, dass der Fluss doppelt so breit wirkte. Jetzt stand dort grünliches, modriges Wasser. Es war so dicht und unbewegt, dass es nicht die Sonne spiegelte. Das flussabwärts liegende Nagórna sah aus wie ein paar graue waagerechte Striche. Nicht einmal eine Kirche hatten sie dort. Die Leute wollten keine sieben Kilometer gehen, und so stellten sie sich sonntagmorgens ans Ufer und riefen. Das Wasser trug die Stimmen zu ihm. Er ging dann den Abhang hinunter, machte das Boot los und fuhr zu ihnen. Wenn das Wasser hoch stand, kam er fast bis zu den ersten Häusern. Sie hatten keine Kirche, eigentlich hatten sie nichts außer ein paar Hütten, feuchten Weiden und einem sandigen Hügel hinter dem Dorf, wo sie Kartoffeln anbauten und Hafer säten, um später nach Hagel, Regen oder Dürre Ausschau zu halten. Mühsam kletterten sie ins Boot, die Schuhe in den Händen. Die Frauen rafften ihre Röcke. Mit Kopftüchern, Jacken, die nach Mottenpulver rochen. Gewaschen, rasiert. Jeder gab ihm ein paar Groschen, einen Geldschein oder ein Ei. Die Eier legte er in ein mit Heu ausgekleidetes Körbchen.

»Ihr könntet mal zusammenlegen für eine Kirche«, sagte er eines Tages.

»Rutsch mir doch«, erwiderte einer. »Von was denn und für wen?«

Es lohnte sich tatsächlich nicht. Auf fünf Mal hätte er das ganze Dorf transportieren können, dachte er damals.

»Du hast gut reden, ihr habt ja die Kirche von den Orthodoxen«, sagte eine der Frauen.

Doch jetzt konnte er nur hinüberschauen zu dem zwei Kilometer entfernten Ufer. Er sollte ein Fernglas haben, kam ihm in den Sinn. Von der Straße, die knapp unter dem Horizont verlief, stiegen manchmal Staubwolken auf. Er könnte nach einzelnen Soldaten Ausschau halten, ohne sich dem Fluss zu nähern. Sie gingen am Ufer entlang und suchten auf den Sandbänken oder im Schlamm nach Spuren. Er würde einmal einen meterlangen Wels fangen und ihn gegen ein Fernglas tauschen, dachte er und lachte leise.

Als er mit dem Essen fertig war, nahm die Frau seinen Teller und trug ihn zu der Blechwanne, die neben der Feuerstelle stand. Sein Blick folgte ihr. Sie goss warmes Wasser aus dem Kessel, hockte sich hin und begann, das Geschirr zu spülen. Dann schüttete sie das schmutzige Wasser weg und goss neues ein, zum Abspülen. Sie tat es rasch, wie nebenbei, nicht so schwerfällig wie die Landfrauen, die schon in ihrer Jugend ewig müde sind. Sie hatten nur zwei Teller aus Steingut, mit einem blauen Rand. Der Rest, Schüsseln, Kanne, Becher, war aus Blech. Zum Trocknen legte sie das Geschirr ins Gras. Sie kam zurück und setzte sich neben ihn. Er steckte sich eine Zigarette an, machte ein paar Züge und gab sie ihr. Sie nahm sie, hielt sie eine Weile zwischen Daumen und Zeigefinger und machte ebenfalls einen Zug, wobei sie etwas ungeschickt den Handrücken nach außen drehte. Sie kostete den Rauch, als wäre er etwas zum Essen oder Trinken.

»Gut«, sagte sie.

Sie zog noch einmal und wollte ihm die Zigarette zurückgeben, aber er schüttelte den Kopf.

»Rauch ruhig«, sagte er.

Ein paar Hühner badeten im Sand. In der Sonne flirrte goldener Staub. Das durchs Blattwerk gesiebte Licht sprenkelte den Hof. In einem Sonnenfleck ausgestreckt lag die schwarze Katze. Der rote Hahn stolzierte um seine Hühner herum. Ein Blechauto ohne Dach fuhr vors Haus. Der Fahrer salutierte dem Offizier, der auf der Treppe stand. Mit dröhnendem Motor fuhren sie davon, in der Luft der Geruch von Benzinabgasen.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie.

»Normal«, erwiderte er. »Von Dorohucza aus haben sie ein paarmal geschossen, aber nur zur Abschreckung. Sie schießen etwa jede Stunde.«

»Haben sie bezahlt?«

»Einen habe ich transportiert. Er hat bezahlt. Ich nehme es immer im Voraus. Er hatte Angst.«

»Ich hätte auch Angst.«

»Er musste nur stillsitzen. Sie haben mich noch nie erwischt.«

»Wenn sie dich erwischt hätten, würdest du nicht mehr leben.«

Sie saßen auf einer niedrigen Bank unter dem Fliederstrauch und berührten sich fast. Er nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf den Knien, sie aufrecht, die Hände im Schoß. Beide barfuß, die Füße im warmen Sand. Es war schwer zu sagen, ob sie eher wie ein Ehepaar oder wie Geschwister aussahen.

»Mich erwischen sie nicht«, sagte er gleichgültig. »Auf dieser Seite gehen sie nachts kaum, und auf der anderen eher auch nicht. Ich glaube, sie schießen nur zur Abschreckung. Immer von Dorohucza oder Nurzec aus. Dazwischen nie.«

»Dass der Deutsche Angst hat, klar, aber der Iwan?«

»Der Iwan hat keine Lust.«

In der Ferne hörten sie einen Motor brummen. In der Nähe der Windmühle stieg Staub von der Straße auf. Nach ein paar Minuten fuhr ein Motorrad mit Beiwagen auf den Hof. Der Fahrer trug Schutzbrille und Tarnanzug. Er sprang vom Sitz und lief über die Treppe ins Haus, ohne den Motor abzustellen. Gleich darauf war er wieder da. Er stieg auf, legte den Gang ein, drehte fast auf der Stelle und verschwand in einer Staubwolke. Die Hühner flatterten aus ihren Mulden auf und liefen Richtung Stall.

»Eine Zündapp«, sagte er halb zu ihr und halb zu sich selbst.

»Viel los heute«, erwiderte sie.

»Eine Zündapp«, wiederholte er.

»Was?«

»So heißt das Motorrad«, sagte er leise.

»Und?«, fragte sie ohne Interesse.

»Nichts. Ich sag's bloß.«

Er griff in seine Hosentasche und holte die Zigaretten heraus. Dann ging er zur Feuerstelle, buddelte ein schwarzes Stückchen Kohle aus, pustete hinein, steckte die Zigarette an und setzte sich wieder neben sie. Er nahm einen Zug, blies den Rauch aus und schnupperte dem dünner werdenden Wölkchen hinterher.

»Ich könnte ein Fernglas gebrauchen«, sagte er nach einer Weile.

»Motorrad, Fernglas und was noch?«, murmelte sie.

»Das wäre nützlich. Dann wüsste ich, wie die Russen am Tag patrouillieren. Weiter vom Ufer weg oder näher dran. Wie sie die Sümpfe umgehen. Man kann nicht die ganze Zeit am Wasser lang. Sogar wenn es trocken ist, kommt man nicht durch. Es geht bis zur Hüfte und zieht einen rein. Vielleicht haben sie hier und da Stege gebaut, aber ich denke nicht. So oder so, ein Fernglas wäre nützlich«, schloss er.

»Dann kauf ihnen eins ab«, sagte sie und schaute in den Hof.

Er folgte ihrem Blick. Die Hühner waren wieder an ihren Plätzen. Im Garten unter den Tarnnetzen hantierten Soldaten. Sie kümmerten sich um die Kanonen. Nur im Unterhemd, die Jacken und Hemden hatten sie ausgezogen. Sie drehten, verschoben, verstellten Hebel, schmierten die Mechanismen. Manchmal drangen von dort Gesprächsfetzen herüber. Die Deutschen bewegten sich langsam, fast träge, unterbrachen jedoch keinen Moment ihre Beschäftigung. Ein Unteroffizier in Uniform ging von einem Posten zum anderen und sah sich ihre Arbeit an. Zu einem der Soldaten sagte er etwas, und einige von ihnen lachten. Eigentlich hatte dieses Bild nichts Bedrohliches. Es roch nach gekochten Kartoffeln, gebratenen Zwiebeln und Zigarettenrauch. Am Rand des Obstgartens standen ein paar graugrüne Zelte, die genauso getarnt waren wie die Geschütze.

»Das ist keine Gendarmerie, sondern eine ordentliche Armee«, sagte er leise. Langsam stand er auf. »Ich gehe schlafen.«

»Ja, geh«, sagte sie. »Lass mir eine da.«

Er holte eine Zigarette aus dem Päckchen, gab sie ihr und ging zur Scheune. Drinnen war es kühl. Durch die Ritzen fielen schräge Sonnenstrahlen. Darin schwebten Staubteilchen. Er wartete darauf, dass sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Links hinten stand eine hölzerne Worfelmaschine, mit trockenem Staub bedeckt. Nach Staub, verwittertem Heu und Stroh roch es in der ganzen Scheune. Er ging zu dem Pfahl, an dem ein altes Kummet hing. Es war zerschlissen, zum Teil kam das Rosshaar heraus. Er hielt das Gesicht näher hin und schnupperte. Der Pferdegeruch war kaum noch wahrzunehmen.

Rechts von der in das Tor eingelassenen Tür hatten sie sich eingerichtet: ein Schrank aus Brettern, eine grün gestrichene Kiste, ein Tisch, zwei Hocker und das Bett der Frau auf vier Baumstümpfen. Alles andere hatten sie draußen im Freien. Gleichmütig ging er an den Geräten vorbei, setzte sich auf einen Balken der Banse und schlug die Beine übereinander. Auf dem restlichen Heu des Vorjahrs lag eine Pferdedecke, darauf hatte er sich ein Lager aus grauen Decken und einem Kissen gemacht. Er zog sich aus und legte sich ausgestreckt auf den Rücken. Oben, unter dem Strohdach, herrschte fast völlige Finsternis. Er heftete den Blick dahin und versuchte einzuschlafen. Doch immer wieder tauchte ein Bild auf: Die Frau geht zur Feuerstelle, hockt sich hin, und ihr Rock umspannt eng ihre Oberschenkel und ihren Hintern. Wie eine Zigeunerin, dachte er. Wie eine Zigeunerin. Das ganze Leben in der Hocke.

2

Sie lagen im Gestrüpp auf einer kleinen Erhebung. Rechts von ihnen der Friedhof. Ihr Blick war auf die Straße unten gerichtet. Der Jüngere kaute an einem Grashalm. Die Schatten der Kreuze und Bäume wurden länger und dunkler. Der Ältere lag reglos da, auf die Ellbogen gestützt, und schaute geradeaus. Hinter der Straße stieg die Landschaft leicht an. Die Anwesen lagen weit voneinander entfernt, getrennt durch gelbe und grüne Rechtecke. Jedes in einer Gruppe hoher Pappeln.

»Da kann man sich nirgends verstecken«, sagte der Jüngere.

Unter den Achseln und am Rücken hatte er weiße Salzspuren auf dem dunklen Hemd. »Man kann kilometerweit sehen. Da muss man nachts gehen. Bei uns, in der Gegend von Włodawa …«

»Wenn du noch mal sagst, ›bei uns in Włodawa‹, dann hau ich dir eine rein. Ich ziehe die Pistole und hau dir mit dem Kolben auf den Schädel. Verstanden?« Der Ältere sagte das leise, ohne ihn anzusehen.

»Jawohl, Herr Zugführer. Ich wollte nur sagen, dass es hier nicht so viel Wald gibt …«

»… wie bei euch in Włodawa.«

»Genau. Da kann man einen Monat lang unterwegs sein, ohne einen Deutschen zu sehen.«

»Sehr soldatisch, Junge.«

»Das wollte ich nicht sagen, Herr Zugführer. Nur dass die Bedingungen besser sind.«

»Warum bist du dann nicht dortgeblieben?«

»Weil sie mich gesucht haben.«

Er riss einen neuen Halm ab und folgte mit dem Blick dem des Älteren. Die Leute trieben das Vieh von den Weiden. Hier und da sah man eine kleine Figur neben einem Tier. Kühe, ein Pferd, ein paar Schafe. Durch den Tau stapften sie auf die Gehöfte zu, die schon im Schatten lagen. In einer Stunde würde es dunkel werden, also mussten sie sich beeilen. Mit dem Melken, dem Tränken, dem Zugeben von Häcksel, dem Anbinden an der Futterkrippe, bevor die dichte und große Nacht käme, in der man nur stillsitzen und den Geräuschen draußen oder dem eigenen Herzschlag lauschen konnte.

»Ist es lange her, dass Sie zu Hause waren, Herr Zugführer?«

»Ja, lange her, Junge.«

Von Hruszowa her hörten sie ein Dröhnen. Ein tiefes, schweres Grollen aus dem Westen. Es war wie ein aufziehendes Gewitter, aber es glitt direkt über die Erde und ließ sie erbeben. Ein Beben, das diesem Landstrich fremd war, der aus Holzhäusern, Stroh, Vegetation, feuchten Weiden und vollgefressenen Schweinen bestand. Hier hatte noch nie jemand so etwas gehört. Die Leute blieben auf halbem Weg zu ihren Höfen stehen und drehten den Kopf. So konnte es sein, doch die zwei Männer schauten nicht mehr dorthin. Sie zogen sich tiefer ins Gestrüpp zurück und schmiegten sich dicht an die Erde. Zuerst sahen sie die Motorradfahrer. Sie fuhren, je zwei Maschinen nebeneinander, mit RKM an der Motorhaube des Beiwagens. Mit Helm, Schutzbrille und Handschuhen wirkten sie gar nicht wie Menschen. Hinter ihnen rollten die Panzer. In den Sonnenresten nahm der Staub eine orangerote Färbung an und bewirkte, dass die Maschinen irreal aussahen. Das Dröhnen der Motoren, das tiefe Grollen und das Beben der Erde passten nicht zu den im Licht und Dunst versinkenden Erscheinungen. Sie fuhren dicht hintereinander und hatten kaum Platz auf der Straße, über die normalerweise Fuhrwerke holperten. Als würden sie in der Luft schweben, im flammenden Himmel. In den offenen Luken standen reglos Männer in schwarzen Overalls. Sie blickten geradeaus, auf die Landschaft mit den Figürchen der Menschen und Tiere, mit den Häusern aus Holz und Stroh. Wäre nur ein Wind aufgekommen, ein gespenstisches Feuer hätte alles entflammt.

»Zählst du, Junge?«

»Ja, Herr Zugführer.«

»Zähl nur die Panzer.«

»Jawohl«, flüsterte der Junge.

Den Grashalm hatte er schon lange ausgespuckt, und er bewegte lautlos die Lippen. Der Zugführer betrachtete ihn einen Moment lang. »Als würde er beten«, dachte er. »Etwas anderes bleibt auch nicht.« Er wandte den Blick wieder der Straße zu. Ohne Unterbrechung krochen die Fahrzeuge dahin. Transporter, Lastwagen, dann wieder Panzer und wieder Motorräder. Eisen, Abgase, Knirschen. Manche Typen sah er zum ersten Mal im Leben. Der ölige Gestank drang bis zu dem Hügel vor. Die Sonne war fast untergegangen. Er machte sich noch flacher und hielt das Fernglas an die Augen. Jetzt konnte er Gesichter erkennen, die Päckchen, die an den Panzern festgeschnallt waren, am Handgelenk eines der Panzersoldaten sah er eine große Uhr. Einige Motorradfahrer fuhren von der Straße ab und umkreisten die Kolonne wie Hunde eine Herde. Er hielt das Glas höher, auf die Wiesen, die sich dahinter erstreckten. Da standen einige Halbwüchsige mit einer Kuh am Strick. Völlig unbewegt standen sie und starrten auf die Eisenschlange. Einer der Soldaten winkte ihnen aus der offenen Luke zu. Als wären sie aus dem Traum erwacht, hoben sie die Hand und erwiderten den Gruß.

»Kleine Volksdeutsche«, brummte er vor sich hin.

Schließlich waren die Panzer durch, und es kamen nur noch Lastwagen. Sie fuhren ohne Verdeck, gefüllt mit Soldaten. Einer, zwei, zehn. Einige der Soldaten standen und hielten sich an den Bügeln fest. Sie betrachteten das dämmernde Land, rauchten Zigaretten und sahen aus, als würden sie in Urlaub fahren. Ihm schien, als hörte er in dem mechanischen Lärm auch Gesang. Aber er konnte sich täuschen, denn er begriff das alles nicht. Es war zu groß, zu überraschend, wie aus dem Nichts. Sie fuhren durch sein Land, lachten, rauchten, und er, der Zugführer, konnte nur nach den nächsten Kompanien, Bataillonen, Brigaden und Divisionen Ausschau halten. Im Gebüsch versteckt wie ein Tier, auf seinem eigenen Boden, mit einem Kind, das versicherte, bis hundert zählen zu können. Vielleicht kam es ihm aber auch nur so vor, als sängen sie. Er spürte den Tau. Die Kolonne war zu Ende. Kurz darauf kam noch ein Kübelwagen mit drei Offizieren und einem Fahrer. Drei Motorräder eskortierten ihn. Dann wurde es still.

»Wie viele, Junge?«

»An die fünfzig, scheint mir, Herr Zugführer. Bestimmt.«

»Und wie zählt ihr in Włodawa?«

»Unterschiedlich, Herr Zugführer.«

»Zählt ihr in Mandeln?«

»In Mandeln auch.« Der Junge setzte sich und begann nervös nach einem neuen Grashalm zu suchen.

»Junge, es ist Krieg, verdammt! ›Ich melde, Herr Zugführer, dass etwa drei Mandel Panzerkraftwagen drei vorbeigefahren sind‹, ja? Nicht ganz ein Schock, richtig?«

»Sie können Deutsch, Herr Zugführer?«

»Ja«, erwiderte er, griff in die Innentasche seiner Jacke und holte die Zigaretten heraus.

Mit einem Benzinfeuerzeug steckte er sich eine an, wobei er mit der Hand die Flamme abschirmte, und hielt dann dem Jungen das Päckchen unter die Nase.

»Ich rauche nicht, Herr Zugführer.«

»Das sehe ich. Du kaust Gras wie das liebe Vieh. Rauchen solltest du. Den Geschmack der Zivilisation kennenlernen. Der deutschen Zivilisation. Den Geschmack des Feindes. Damit du weißt, worauf du dich einlässt. Ihr habt in den Dörfern sicher Machorka gequalmt oder ähnliches Zeug, hinter der Scheune angebaut und in Zeitungspapier gewickelt, aber hier ist Krieg, Kind, die Panzerkraftwagen drei kommen, das ist, als kämen die Kreuzritter, du solltest also rauchen lernen. Die sind aus Eisen, also solltest du rauchen, dann fällt es dir leichter zu sterben. Du machst einen Zug, und das war's.«

Der Junge nahm eine Zigarette, steckte sie sich ungeschickt zwischen die Lippen und hielt sie im Mundwinkel. Das hatte er sicher irgendwo gesehen. Er knipste mit dem Feuerzeug, und als es schließlich anging, traf er nicht gleich mit der Flamme. In der anbrechenden Dunkelheit sah sein Gesicht fast kindlich aus. Er verschluckte sich und begann zu husten. Der Zugführer nahm ihm die Zigarette ab und machte sie aus. Schließlich beruhigte sich der Junge, schmiegte sich an das feuchte Gras und atmete schwer.

»Du musst noch üben. Am besten mit Machorka.«

Wo die verstreuten Häuser standen, war kein Licht zu sehen. Die Nacht verschluckte sie. Als wäre dort niemand. Sie saßen oder lagen in der dichter werdenden Finsternis. Manche flüsterten lautlos ein Ave Maria oder Ähnliches, »Unter deinen Schutz und Schirm«, in der Hoffnung, dass das Schwarz sie verbergen möge, dass sie bis zum Morgengrauen überleben und niemand kommen werde, weil sie unsichtbar sind. So war es schon immer. Weil sie niemand anderen sehen wollten als ihre nächsten Angehörigen und die Leute ringsum, weil sie nie weiter blicken wollten als bis zum Dorfrand. Irgendwo auf den Wiesen war ein Wachtelkönig zu hören. In der vollkommenen Stille klang sein harter, aufdringlicher Ruf wie Hohn oder wie eine Warnung: Alles ist anders, als es scheint.

Der Zugführer zerrieb die Kippe zwischen den Fingern und stand auf.

»Gehen wir«, sagte er.

Sie gingen hinunter, auf die Straße zu. Im Sand waren tiefe Spurrillen. In der warmen Luft hing noch der Gestank von Abgasen und der metallische Geruch erhitzter Mechanismen. Sie überquerten die Straße und eine taufeuchte Wiese. Der Zugführer erreichte den Rain und bahnte sich einen Weg zwischen den Getreidefeldern. Sie gingen drei Schritte hintereinander und konnten sich kaum sehen. Intuitiv riss der Junge eine Ähre ab und spürte, dass es Weizen war. Er zerdrückte sie und nahm ein paar Körner in den Mund. Sie schmeckten süßlich-wässrig, unreif, doch sie halfen, den üblen Tabakgeschmack abzutöten. Dann riss er eine weitere und noch eine ab und versuchte so, den Hunger zu überlisten.

»Du kriegst die Scheißerei.«

»Sie hören gut, Herr Zugführer.«

»Ja, Junge.«

»Kriege ich nicht. Ich hab morgens gegessen. Seither nichts mehr.«

»In einer Stunde gibt's was.«

Sie gingen zwischen den verstreuten Gehöften, nass bis zu den Knien, und kreuzten die Straße, auf der die Panzer gerollt waren. In der Ferne, links, auf der Seite, wo Dorf und Fluss lagen, bellten und kläfften Hunde. »Die kann man am anderen Ufer hören«, dachte der Zugführer. »Alles haben sie geplant, verdammt, aber sie haben nicht bedacht, dass es hier so viele Hunde gibt.« Über dem schwarzen Horizont, hinter dem Dorf, hinter dem Fluss, erschien der rote Saum des Mondes. Sie gingen gleichmäßig, schnell, spürten die Berührung von nassem Gras und Unkraut, das auf dem Rain wuchs. Nach einer Weile sahen sie die fernen Umrisse der hohen Pappeln, die rings um die Gehöfte standen. Schwarze Flecke, dunkler als der Horizont und das Firmament. Der Zugführer bog mal rechts, mal links ab, ohne langsamer zu werden, als kennte er das Labyrinth der Raine von Geburt an. Rechts, links, doch immer so, dass die dunklen Baumgruppen so fern wie möglich blieben. Kein Hund hörte ihre Schritte. Hier und da kläffte einer, aber nur als Antwort auf das Hundegebell im Dorf. Jetzt, in der kaum erhellten Dunkelheit, bemerkte der Junge plötzlich, dass der Zugführer kleiner war als er. Untersetzt, ihm gerade bis zur Schulter reichend, stämmig, durchschnitt er die Luft, als ginge er gegen eine Böe an, obwohl die Nacht völlig windstill war. Dem Jungen kam es vor, als hörte er den gleichmäßigen, tiefen, unerbittlichen Atem eines Schwimmers oder Läufers. Vielleicht hörte er ihn wirklich.

Auf dem Tisch stand eine Lampe. Das Glas war an der Öffnung verrußt. Sie saßen zu dritt um den Tisch. Im Halbdunkel am Herd hantierte eine kräftige Frau. Die Gerüche nach gebratenem Speck und Petroleum mischten sich mit dem Mief des ungelüfteten Raums. Die Frau bückte sich ächzend und warf eine Handvoll Zapfen in den Ofen. Das Feuer leuchtete in ihr regloses Gesicht.

»Beim nächsten Mal machst du schneller auf«, sagte der Zugführer.

»Wir haben schon geschlafen«, erwiderte der Mann.

Er war unrasiert und hatte etwas Schmutziges an. Mit der Hand fuhr er sich über die Stoppeln und schaute vor sich hin.

»Wir haben geklopft.«

»Aber gleich das Fenster einschlagen …«

»Da hättet ihr schneller aus den Federn kommen müssen.«

»Wer kann denn wissen, dass Sie es sind, Herr Bury …«

»Siwy«, korrigierte der Zugführer.

»Herr Siwy … Tja, wer hätte das wissen sollen? Alle möglichen Leute laufen nachts rum und klopfen. Da hat man Angst.«

»Wer läuft rum?«

»Alle möglichen. Manchmal klopfen sie und gehen wieder, manchmal wollen sie die Tür aufbrechen. Wir verhalten uns still und machen kein Licht.«

»Hast du keinen Hund?«

»Sie haben ihn erschossen.«

»Wer?«

»Weiß nicht. Er hat gebellt, da haben sie ihn erschossen. Nachts. Der Mond war wie heute.«

Die Frau stellte die Pfanne auf den Tisch, legte einen halben Laib Brot dazu, ein Messer und zwei Löffel. Sie wollte weggehen, aber der Zugführer sagte:

»Schneid das Brot auf, stell dich nicht so an.«

Ohne jemanden anzusehen, drückte sie den Laib an die Brust und schnitt ein paar dicke Scheiben ab. Dann ging sie und setzte sich aufs Bett. Durch das eingeschlagene Fenster zog die Nachtluft herein und verdünnte den schweren Geruch in der Stube. Die Frau warf sich das Tuch um und rührte sich nicht mehr. Der Zugführer nahm seine Pistole heraus und legte sie auf den Tisch. Er griff nach dem Löffel und nickte dem Jungen zu. Schweigend aßen sie. Irgendwo in der Dunkelheit war das Ticken eines Blechweckers zu hören. Der Junge brach große Stücke von der Brotscheibe ab und steckte sie in den Mund. Über das Kinn lief ihm Fett. Schließlich legte der Zugführer den Löffel weg und schob dem Jungen die Pfanne zu.

»Mach sie leer. Du wächst noch.« Dann wandte er sich dem Mann zu, der reglos dasaß, die Ellbogen auf dem Tisch, und ins Halbdunkel starrte. »Du sagst also, du weißt nicht, wer kommt.«

»Einmal sind Jidden gekommen. Sie haben gefragt, wo's zum Fluss geht.«

»Und? Hast du's ihnen gezeigt?«

»Ja, damit sie gehen.«

»Und die Deutschen?«

»Die kommen nicht her, Herr Siwy. Das Häuschen liegt ja direkt am Wald. Manchmal sieht man sie von weitem auf Motorrädern. Was zum Teufel sollte der Deutsche hier wollen? Anders als die Jidden. Sie gehen durch die Wälder. Nachts durch die Wälder.«

»Und die den Hund erschossen haben?«

Der Zugführer breitete ein Taschentuch auf dem Tisch aus und griff nach der Pistole. Er nahm das Magazin heraus, prüfte die Kammer, zog den Verschluss ab und begann dann, den ganzen Rest zu zerlegen. Im gelben Licht der Lampe sah er sich die einzelnen Teile an und legte sie auf das fleckige Stück Stoff. Dann holte er einen Lappen aus der Tasche und riss ein paar Streifen ab. All das tat er schnell, automatisch, das ungenügende Licht störte ihn nicht. Er steckte den Stoff in die Teile, zog ihn durch, rieb sie ab und nahm sich die nächsten vor. Mit dem Daumen leerte er das Magazin und wischte Patrone für Patrone gründlich ab.

»Die waren nicht von hier. Als sie den Burek erschossen hatten, haben sie gegen die Tür gedonnert. Ich hab so rausgeschaut, dass sie mich nicht sehen konnten. Da lag noch Schnee, zwei hab ich gesehen, aber ich hatte das Gefühl, es sind mehr. Die Frau hat gesagt, ich soll nicht aufmachen, aber ich dachte mir: Wenn du nicht aufmachst, zerdeppern sie die Tür. Es war März, aber ordentlich Frost. Ich dachte mir: Wenn sie schon hier sind und den Hund erschossen haben, gehen sie nicht einfach wieder. Ich sagte der Frau, sie soll die Lampe anmachen, und hab die Tür geöffnet. Wie ich mir dachte: nicht zwei, sondern vier. Sie stießen mich sofort weg, dass ich durch die Diele flog. Mit einer Lampe haben sie mir in die Augen geleuchtet und in die Stube. Vier waren's, und nachher hat sich herausgestellt, dass ein Fünfter draußen geblieben ist, um aufzupassen. Sie sind überall rumgegangen, um zu gucken, ob noch jemand da ist, und dann sofort an den Tisch, essen. Sie hatten Gewehre …«

»Was für welche?«, unterbrach ihn der Zugführer.

»Normale. Einer hatte ein deutsches MG. Sie hatten sie bei sich. Die Frau hat angefangen zu jammern, dass wir arm sind und nichts haben, aber ich hab gesagt, sie soll ruhig sein, vier mit MG sind vier mit MG, sie soll hergeben, was sie hat. Sie haben den Hund erschossen, da gehen die her und erschießen auch das Schwein, ist denen doch egal. Es war ein Topf Kartoffeln auf dem Herd, sie hat eine Pfanne Grieben gemacht, noch ein bisschen Sauerkraut dazu, und mehr hatten wir wirklich nicht. Sie wollten Wodka, aber bin ich blöd? Vier mit MG und betrunken? Ich hab gesagt, wir haben keinen. Sie haben sich auf das Essen gestürzt, nicht mal die Mützen haben sie abgenommen, wie die Jidden, und dann wollten sie gleich schlafen, nur den draußen haben sie noch gerufen, damit er auch isst. Das war der Jüngste, und als er fertig war, ist er gleich gegangen, und die anderen haben sich auf den Boden gelegt, mit den Gewehren, und sind eingeschlafen. Ich hab die Lampe ausgemacht, bin zu der Frau ins Bett geschlüpft, aber schlafen konnte ich nicht, ich hab nur gehorcht, wie sie schnarchen und ob ihnen nicht irgendwas in den Sinn kommt. Der Jüngste ist nach einiger Zeit gekommen, hat einen geweckt und sich dann selbst hingelegt. Es war noch dunkel, als sie aufgebrochen sind. Sie haben mit der Lampe geleuchtet und sind gegangen. Aus der Speisekammer haben sie fünf Kilo Speck mitgenommen, und weg waren sie.«

»Aber nicht von hier, sagst du?«

»Nein. Sie haben anders geredet. Mehr wie in der Stadt. Ich will ja nichts sagen, aber eher wie Sie, Herr Zugführer.«

Der Zugführer drückte mit einem Bürstchen einen langen Lappen durch. Im Licht der Lampe sah er sich die glatte Oberfläche an. Dann setzte er in wenigen Sekunden die Waffe wieder zusammen.

3

Ihm war heiß vom Essen und vom Schnaps. Er rückte ein Stückchen in Richtung des eingeschlagenen Fensters. Um die Lampe kreisten Falter. Die mit verbrannten Flügeln starben auf dem Tisch. Behutsam machte er die Schuhe auf und streifte sie ab. Er bewegte die Zehen, und die Fußlappen wickelten sich von selbst ab. Auf dem kühlen Boden spürte er sofort Erleichterung. Er war fünfzehn, aber er hatte gesagt, er sei sechzehneinhalb, und sie hatten ihm wohl geglaubt, weil er groß war. Deshalb hatte Siwy ihm jetzt ohne zu fragen ein Glas des bläulichen Selbstgebrannten eingeschenkt, und er hatte nicht zugegeben, dass er erst das dritte Mal im Leben trank und ihm heiß war. Die anderen saßen da, redeten und rauchten, die Ellbogen auf dem Tisch. Sie schwitzten und sprachen immer lauter. Die Stimmen erfüllten die Stube, und selbst wenn sich jemand dem Haus genähert hätte, wäre es nicht zu hören gewesen. So kam es ihm vor. Um die schwarze Pistole herum verendeten die angesengten Falter. Er stand auf und sagte, ich gehe mal gucken. Der Zugführer nickte, ohne aufzusehen. Als er die Tür der Stube hinter sich geschlossen hatte, umgab ihn völlige Dunkelheit, doch er wusste noch, er musste sich links und dann wieder links halten. Unter den Füßen spürte er den kühlen Lehmboden, mit der Hand streifte er über die rauen Balken. Schließlich sah er einen Streifen Mondlicht, der durch das Fensterchen über dem Eingang fiel. Er tastete nach der eisernen Klinke und schob vorsichtig die Tür auf.

Das nasse, kalte Gras war eine Wohltat für die Füße. Schräg über dem Hof lagen schwarze Schatten und silbrige Streifen Mondlicht. Es war vollkommen still. Kein Hund, kein Wind. Die Erde fiel sanft zum Fluss hin ab, als sollten die Häuser, Felder, die schlafenden Menschen und Tiere in diese Richtung gleiten wie eine zerschnittene Haut, die das heiße Fleisch entblößt. Er dachte an die Panzer, die mitten in der Nacht angehalten hatten und verstummt waren. An die zerpflügte Straße, die sie hinterlassen hatten, und daran, dass die Fahrzeuge jetzt reglos, erstarrt dastanden und sich Tau auf sie legte. Er konnte nicht verstehen, warum sie in dieses grüne Kaff am Ende der Welt gekommen waren, an dieses sumpfige Ufer. In der Schule hatten sie erzählt, dieses Land habe nur Feinde. Zu Hause – er solle niemandem trauen, nicht mit Fremden sprechen. Fremden war er noch nie begegnet, alle sahen gleich aus. Erst jetzt, als die da durchzogen.

Er schickte sich zu einer Runde ums Haus an, ging um den umzäunten Gemüsegarten herum, hinter der Ecke war es dunkel. Er lauschte in die Finsternis, stellte das Ohr in die Richtung, wo in der Nacht die Soldaten angehalten hatten. Er wusste, dass es weit weg war, doch er verspürte mit Angst gemischte Neugier. Ich würde gern hingehen, mich anschleichen und sehen, was sie tun, dachte er. Ob sie essen, ausruhen, schlafen wie Menschen? Er geriet in die Brennnesseln und kehrte auf den Pfad zurück, der direkt ums Haus herumführte, dann ging er an einer Wand ohne Fenster entlang und schaute um die nächste Ecke. Gerade wollte er aus dem Schatten treten, da hörte er die Stimmen der beiden anderen Männer. Sie standen im Mondschein, den Hosenladen offen, und pissten.

»Auf den Iwan gehen die los, Herr Siwy? Wie kann das sein? Die halten doch zusammen. Als der Krieg anfing, hat man sie hier zusammen gesehen. Der Fritz mit dem Iwan im selben Auto, und Wodka haben sie getrunken. Die Leute haben es gesehen und geredet. Erst später hat der Iwan sich hinter den Fluss zurückgezogen. Und wenn sie rübergehen, wo kommen sie denn da hin? Das hat doch kein Ende dort, Herr Siwy. Mein Vater war in Sibirien und hat erzählt. Hinter dem Ural, zwei Monate sind sie gefahren, und keine einzige Straße …«

»Warum denn in Sibirien?«, fragte der Zugführer und knöpfte die Hose zu.

»Wegen der Kirchenunion, Herr Siwy.«

Der Zugführer rückte seine Pistole am Gürtel zurecht, ging zwei Schritt beiseite und steckte die Hände in die Taschen.

»So ein Pole bist du?«

»Ich bin Pole, Herr Siwy.«

»Mit einem russischen Vater, russischem Glauben?«

»Mein Vater war auch Pole, die Mutter …«

»Romaniuk, ein Pole ist katholisch, verdammt noch mal. Andere Polen gibt's nicht.«

Der Mann wollte als Zeichen des Protests die Hände heben, doch er beschloss, vorher den Hosenladen zuzumachen, und nestelte, nach vorne gebeugt, an den Knöpfen herum. Dann streckte er dem Zugführer die Hände entgegen und rief mit sich überschlagender Stimme:

»Ich bin doch in der Kirche in Hruszowa getauft worden! Ich habe die Kommunion erhalten und die Firmung! Wieso soll ich ein Russe sein? Meine Mutter war in Tschenstochau! Was hab ich denn mit den Russen zu schaffen? Ich trage ein geweihtes Medaillon!«

Er ging auf den Zugführer zu und kramte unter dem Hemd herum, schließlich blitzte in der bläulichen Dunkelheit des Hofs etwas auf.

»Das ist die Muttergottes von Tschenstochau! Vom Bischof geweiht, Herr Siwy!«

Der Zugführer wich ein Stück zurück und stemmte die Hände in die Hüften.

»Die von Tschenstochau, sagst du … weißt du nicht, dass hier die vom Spitzen Tor, die Ostrobramska wichtiger ist? Hier solltest du die vom Spitzen Tor tragen.« Er schwankte und musste einen halben Schritt nach hinten treten. »Die Muttergottes von Tschenstochau sollen sie in Tschenstochau tragen, und du sollst die vom Spitzen Tor tragen, du Hurensohn!«

Schließlich gewann er wieder das Gleichgewicht, zog die Pistole aus dem Gürtel und zielte auf den Kopf des Mannes. Der hob in einem Reflex die Hände. Das schwarze, oxidierte Metall glänzte dunkel im Mondlicht.

»Herr Siwy, Herr Zugführer, Sie haben zu viel getrunken …« Romaniuk sank auf die Knie und streckte die Hände von sich, als wollte er ein Gespenst vertreiben.

»Genau! Auf die Knie und beten, du Hurensohn, so kannst du deine russischen Sünden wie ein Katholik ausmerzen …«

Plötzlich ließ er die Pistole sinken und winkte mit der anderen Hand schwerfällig ab. Die Hand mit der Waffe hing schlaff herunter. Er sah sich um, als wäre er aus dem Schlaf erwacht. Mitten auf dem dunklen Gehöft, zwischen Flecken und Streifen von kaltem Licht.

»Romaniuk, wo ist dein Hund?«, fragte er.

»Ich hab's doch gesagt, erschossen.«

»Gesindel. Hunde erschießen. Wer wird denn dann bellen?«, sagte er leise. »Ich gehe in die Scheune. Der Junge soll mich in zwei Stunden wecken.«

4

Sie legte ihm die Hand auf den Nacken und drückte seinen Kopf gegen die Erde. Sie lagen in einem Espenhain und warteten auf die Dämmerung. Jenseits der Straße, in der Ferne, erstreckte sich ein dunkelblauer Waldstreifen. Von links rollte ein Fuhrwerk an. In der reglosen Luft klapperte Holz, klirrte Eisen. Der Bauer saß mit gesenktem Kopf da und döste. Er hatte zuvor die Zügel um die Runge gewickelt, und das Pferd ging träge, Schritt für Schritt, im lockeren Sand die leichte Erhebung hoch. Kurz vor dem Ende der Steigung blieb es stehen und ließ wie sein Herr den Kopf hängen. Es dauerte eine Weile, bis der Bauer aufwachte. Er nahm die Zügel, klatschte damit auf den Rücken des Tieres und schlief sofort wieder ein. Das Pferd trat einen halben Schritt zurück, drückte gegen das Geschirr und setzte sich wieder in Bewegung. Als sie hinter dem Hügel verschwunden waren, nahm das Mädchen die Hand vom Nacken des Jungen und stützte sich auf die Ellbogen.

»Sie sind überall. Ich wusste nicht, dass sie so viele sind. Manchmal sieht man sie gar nicht, und plötzlich tauchen sie auf.« Sie drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände unter dem Kopf. »Ich bin müde. Wir gehen schon den dritten Tag. Robben durch die Gegend wie Indianer. Und wissen nicht mal, ob die Richtung stimmt.«

»Die stimmt. Nach Osten«, erwiderte der Junge. Er lag auf der Seite und hatte den Blick auf ihr Profil geheftet. »Dorthin, wo morgens die Sonne aufgeht. Nach Osten. Brest, Kursk, Woronesch, Tschkalowsk, Irkutsk, Ulan-Ude, Tschita, Blagoweschtschensk und Birobidschan. Ganz einfach.«

»Hör auf. Wir sollten jemanden fragen.«

»Du weißt genau, dass wir das nicht sollten.«

Er befreite sich von den Gurten des Rucksacks und ließ die Last ins Gras sinken. Auf dem Rücken, auf dem grauen Hemd, hatte er einen großen Schweißfleck. Sofort kamen die Mücken an.

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich weiß genau. Bleiben wir hier liegen, bis es dunkel ist. Heute müssten wir hinkommen.«

»Und wenn wir hinkommen, was dann?«

»Nichts. Wir setzen über, Max. Wir werden jemanden finden, der uns hinüberbringt.«

Es war heiß und still, und sie erinnerten an verlorene Kinder aus dem Märchen. Heute früh hatte sie zu ihm gesagt, sie seien eigentlich noch nie außerhalb der Stadt gewesen. Sie seien in Urlaub gefahren, doch dieses Land, das Landesinnere, das seltsam und berauschend roch und sich ins Unendliche zog, kannten sie eigentlich gar nicht. Ein Tier-, Pflanzen- und Erdgeruch. Es kam ihnen vor, als hätte das Fuhrwerk einen dunklen Geruch verströmt, teils menschlich, teils animalisch, und sie stellten sich vor, so könnte ein Unterschlupf riechen, in dem das Bedrohliche und das Unbekannte schlafen.

»Weißt du, warum der Baum über uns die ganze Zeit raschelt, obwohl gar kein Wind weht?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte sie.

»Weil Judas sich an ihm erhängt hat. Das ist eine Espe. Es gibt noch die Version, dass Jesus an ein Kreuz aus Espenholz geschlagen wurde.«

»Eher Vampire. Und die haben sie gepfählt.«

»Nein. Jesus. Die Juden haben ihn ans Kreuz geschlagen.«

»Gab es dort überhaupt Espen, Max?«

»Selbst wenn es dort keine gab, dann gab es sie hier, um ihn zu kreuzigen. Denn sie haben ihn auch hier gekreuzigt. Zum Beispiel in Góra Kalwaria. Oder in Węgrów. Dort – das war zu wenig, sie haben eine Weile gewartet und ihn dann hier gekreuzigt. Damit das hiesige Volk auch seinen Gekreuzigten hat. Damit Gerechtigkeit herrscht. Denn es ist ungerecht, dass es nur dort geschehen sein sollte, in irgendeinem schmutzigen Palästina, unter Fremden, die das gar nicht zu schätzen wussten …«

»Woher weißt du das alles, Max? Von der Espe, von Judas, Jesus und so weiter?«

»Ethnografie, Doris, Ethnografie. Ethnografische Bücher muss man lesen. Wir leben in einem sehr ethnografischen Land. Hast du den Wagen gesehen, mit dem Pferd, das klüger als sein Herr war? Wie im Märchen. Wie aus Urzeiten, als wäre gerade erst das Rad erfunden worden.«

»Und du denkst, wenn wir den Fluss überqueren, hört die Ethnografie auf?«, fragte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich habe das Gefühl, je weiter nach Osten, desto mehr Ethnografie, Max. Ich habe sogar das Gefühl, dort gibt es gar nichts außer Ethnografie, weißt du?«

»Und außer Fortschritt, der die Ethnografie erfolgreich überwinden wird. Denn im Zusammenprall mit ihm hat die Ethnografie keine Chance«, sagte Max entschlossen und verscheuchte die Mücken.

Der Fleck auf dem Hemd war getrocknet und ein salziger Umriss entstanden. Der Junge kramte im Rucksack und holte ein Stück Brot heraus. Er brach es in zwei Hälften und gab die eine dem Mädchen. Eine Weile aßen sie wortlos, den Blick auf den einen Kilometer entfernten Wald geheftet. Das Schachbrett der Felder und ein grüner Wiesenstreifen trennten sie von ihm. Es war still, und die Luft kühlte allmählich ab.

»Wir warten noch ein bisschen und gehen dann dorthin und durch den Wald nach rechts. Ich denke, morgen Nacht sind wir schon auf der anderen Seite. Selbst wenn es dort auch Ethnografie gibt, so gibt es immerhin keine Deutschen, das heißt nicht diese Gegenwart, die es auf uns abgesehen hat. Dafür gibt es Fortschritt, der nichts von uns will oder vielleicht sogar umgekehrt. Vielleicht erwartet er uns sogar, liebe Doris. Vielleicht hat er für uns sogar einen Platz vorgesehen.«

»Am Amur zum Beispiel.«

»Vielleicht auch etwas näher«, erwiderte er.

Er drehte sich auf die Seite und rollte sich zusammen. Das Mädchen rückte näher, und kurz darauf schliefen sie ein, im zarten, beweglichen Schatten des Baumes, an dem sich Judas erhängt hat. Sie schliefen ein wie Tiere, fielen in einen wachsamen, kurzen Schlaf, den der Körper selbst dann verlangt, wenn der Geist sich dem Vergessen nicht hingeben kann. Zehn, zwanzig Kilometer vom Flussufer entfernt. Mitten in dem Land, das sie gefangen hielt und doch auf grausame Weise schützte. So wie der Wald die Tiere schützt und sie zugleich anderen Tieren ausliefert; und doch können ihn weder die einen noch die anderen verlassen. Im Schlaf rückte sie noch näher und schmiegte ihr Gesicht an die Stelle mit dem salzigen Umriss.

Für Flucht war es zu spät. Er hielt sie an der Hand und wiederholte:

»Beweg dich nicht. Bleib einfach stehen. Warum bist du aufgestanden?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie leise und drückte seine Hand fester. »Ich bin erschrocken, dass du weg sein könntest. Wollte dich suchen.«

»Bleiben wir einfach stehen. Als wäre nichts. Als wären wir zufällig hier.«

»Gut«, antwortete sie und richtete den Blick auf die Soldaten.

Sie gingen in einer Staubwolke dieselbe Straße entlang, auf der vor einer Stunde das Fuhrwerk vorbeigefahren war. In lockerer Formation, zu viert, zu dritt in einer Reihe, beladen mit Rucksäcken, behängt mit Waffen, mit Feldspaten, mit Gasmasken in Blechbehältern. Einige hatten den Helm abgenommen und ihn am Gürtel festgeschnallt. Sie hatten junge Gesichter, und ihre Uniformen erschienen zu groß. Um sich zu beruhigen, versuchte Doris, sie zu zählen, aber sie verlor schnell den Überblick. Denn es waren viele, vielleicht hundert, vielleicht mehr, und es kamen immer neue. Mit wiegendem, schwerem Schritt. Die Stiefel mit grauem Staub bedeckt. Sie versuchte, über ihre Köpfe hinweg oder zur Erde zu schauen, weil sie dachte, dann würde sie unsichtbar. Doch sie spürte, wie die Blicke über sie glitten, einer nach dem anderen, einer nach dem anderen, der zehnte, der zwanzigste, der hundertste, aber keiner drosselte auch nur das Tempo. Gleichgültig gingen sie vorüber, denn sie marschierten schon lange und hatten schon viele Dinge, Menschen und Bäume gesehen. Nach der Fußtruppe kamen Wagen. Sie waren größer und schwerer als das Bauernfuhrwerk und hatten Verdecke aus Zeltstoff. Die Männer gingen daneben. Auch die Pferde waren kräftiger als das vor einer Stunde. Gleichmäßig und fest zogen sie, man musste sie nicht antreiben. Zehn, zwanzig, dreißig Wagen rollten vorüber, mit leisem Knarren, Scheppern und Knirschen, gedämpft durch den Sand. In Wellen spürte sie die Wärme, die die Tiere ausströmten, und hörte ihren lauten Atem. Abgesehen davon herrschte Stille, als marschierte ein Zug von Geistern vorbei, beladen mit knirschenden, scheppernden Dingen. Erst nach vielen Minuten war in der Ferne ein Motor zu hören. Das Brummen kam näher, ebbte wieder ab und schwoll dann zu doppelter Lautstärke an. Schließlich sahen die beiden ein Motorrad mit Beiwagen, das die Kolonne entlangfuhr. Doris versuchte wieder unsichtbar zu werden und tat so, als hörte sie nichts, als handelte es sich nur um lautlose Geister und erhitzte Pferde, doch die Maschine hielt neben ihnen an. Der Fahrer nahm die Schutzbrille ab. Er war älter als all die marschierenden Kinder. Er hätte ihr Vater sein können. Sein Helm hing am Lenkrad.

»Was macht ihr hier«, fragte er auf Deutsch, ohne den Motor abzustellen.

»Nichts«, erwiderte Max.

»Wie nichts? Ihr steht da und beobachtet die deutsche Armee. Seid ihr Spione?«

»Nee. Wir machen hier Urlaub.«

»Dann seid ihr Spione im Urlaub? Jung und verliebt?«

»Nee. Einfach im Urlaub«, sagte Max leise und war nicht sicher, ob der Soldat es verstanden hatte.

»Jung, verliebt, im Urlaub«, wiederholte der Motorradfahrer und begann zu lachen. »Und jetzt verpisst euch. Auf uns folgt die SS.«

5

An jenem Tag suchten wir die Stelle, an der sich die Brücke befunden hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Wir gingen unweit der Kirche das steile Ufer hinab, dann zwischen den Häusern entlang, aber er konnte sich nicht entscheiden. Dabei hatte sich hier seither wenig verändert. Die Häuser und die Kirche standen an ihrem Platz. Der Fluss floss wie früher. Im Frühjahr überschwemmte er die tiefliegenden Wiesen auf der anderen Seite. Später kehrte das Wasser wieder in sein Bett zurück. Doch er konnte sich nicht erinnern, wo die Pontonbrücke gewesen war.

Wir stiegen ins Auto, um zehn Kilometer weiter östlich auf der normalen Brücke zum anderen Ufer überzusetzen, bei diesen tiefliegenden Wiesen, die das Frühjahrswasser immer wieder verschwinden ließ. Von dort, von der Schotterstraße aus, sah man die weißen Gebäude des ehemaligen orthodoxen Klosters, und etwas weiter flussabwärts konnte man zwischen den Bäumen das Türmchen der Holzkirche erkennen. Ich wollte so nah wie möglich an den Fluss heran, also fuhr ich von der Schotterstraße ab und gelangte über feuchtes Gelände ans Ufer, so dass er sozusagen von unten auf sein Dorf blicken konnte, aus einer Perspektive, aus der er es vielleicht zwei- oder dreimal im Leben gesehen hatte. Genau wie ich. Denn wenn ich als Kind hierherkam, bin ich nie ans andere Ufer gelangt. Weder über die Pontonbrücke, die es damals schon lange nicht mehr gab, noch über eine andere, noch mit dem Boot, das am Sonntagmorgen die Leute zur Messe brachte, weil sie auf der anderen Seite keine Kirche hatten. Sie sahen aus wie Flüchtlinge. Zusammengepfercht, geduckt, verschreckt durch die Nähe des Elements, das die Holzschale stromabwärts trug. Die Frauen bunt, die Männer grau oder braun. Als kämen sie von weit her, aus einer anderen Gegend. So kam es mir vor, wenn ich sie von der hohen Böschung aus betrachtete, vom Hügel, auf dem angeblich einst eine Wehrburg stand. Mal russisch, mal polnisch, wie immer in dieser Gegend – den einen zur Abschreckung, den anderen für einen ruhigen Schlaf; doch damals wusste ich das alles nicht. Ich blickte einfach weit in mein Land hinein. Es war aus Holz, roch nach Rauch und nach Tieren. Warm, ein wenig verschleiert und Geborgenheit ausstrahlend.

Nur an Samstagabenden musste man aufpassen, denn da schlossen sich die Jungs nach irgendwelchen territorialen, doch nicht ganz eindeutigen Regeln zu Banden zusammen. Wie Partisanen streiften sie durch die Dunkelheit. Vorsichtig, lauernd hielten die einen Ausschau nach den anderen. Manchmal musste man flüchten. Wie in jener Nacht, als die Latten der morschen Zäune unter uns zerbrachen. Ende Juni, Anfang Juli, wenn das Blut wallt und die Hitze bis zum Morgengrauen anhält. Wir sprangen von einem Obstgarten zum nächsten, zerbröckelten mit dem Gewicht unserer Körper das alte Holz, schon betrunken, aber immer noch vorsichtig. Es war gar nicht klar, ob die anderen uns wirklich jagten. Vielleicht waren sie es, die wir in der Finsternis hörten, vielleicht war es auch unser eigener Atem. Doch wir kannten die Geschichten, dass einmal einer getötet worden sei, dass einer die Julinacht kaum überlebt habe, dass fast das ganze heiße, dicke Blut ausgelaufen sei. Das riefen sie im Dorf den Jungs hinterher, die in der Abenddämmerung das Haus verließen. In jener Nacht also lief ich am schnellsten, obwohl ich der Jüngste war. Durch mein Land mit den Holzbauten, mit den Wänden, an denen das Vieh scheuerte und seinen Geruch hinterließ, und auch ich schien wie ein Tier zu riechen; ich fühlte mich glücklich in jener Nacht und fürchtete doch den Tod. Aber am Ende gaben wir die Verfolgungsjagd auf und kehrten zu der kleinen Betonbrücke zurück, zu der Figur der Muttergottes, um den warmen klaren Schnaps zu trinken, den wir in einer finsteren, stickigen Diele gekauft hatten, wo es ebenfalls nach Tieren und nach feuchtem gestampftem Lehm roch. Ja. Im Innern des Landes.

Und jetzt hatte ich ihn auf die andere Seite gebracht, damit er den Ort betrachten konnte, an dem er geboren war, über den Fluss hinweg, von unten, aus der Entfernung, doch er konnte sich immer noch nicht erinnern. Wir fuhren weiter, hinunter in das Dorf, wo es keine Kirche gab, den Ort, aus dem sonntags die Leute mit dem Boot herübergekommen waren. Nichts hatte sich verändert. Das Dorf war immer noch klein und ohne Gotteshaus. An den Rand der großen Felder geworfen, zwischen Wald und Strom gepresst, wirkte es verlassen. Gleich hinter den letzten Häusern hörte die Straße auf. Niemand guckte aus dem Fenster, niemand blickte hinter dem Zaun hervor. Aber es sah ordentlich aus. Alles ordentlich hingelegt, an die Wand gelehnt, abgedeckt. Am Rande der feuchten Wiesen hielt ich an, in der Ferne konnte man den Kirchturm sehen. Und jetzt kam doch jemand, vom Dorf her. Ein alter Mann. Wir sagten ihm, dass wir die Stelle suchten, wo während des Krieges die Brücke war. Ohne zu staunen oder zu zögern, zeigte er geradeaus.

»Bei der Kirche«, sagte er.

Als hätte es all die Jahre nicht gegeben. Als wären die Russen und die Deutschen gestern abgezogen, oder gar nicht.