Grenzfall - Merle Kröger - E-Book

Grenzfall E-Book

Merle Kröger

4,5

Beschreibung

Es war einmal in Europa Was geschah 1992 im deutsch-polnischen Grenzgebiet? Sicher ist: Es gab zwei Tote. Und es hat gebrannt. Der Rest ist gnädig überdeckt von zwanzig Jahren Alltag im wachsenden Europa - Demokratie und Wohlstand für alle. 2012, Wahlsommer in der Gemeinde Kollwitz. Was der Landkreis braucht, ist Stabilität und friedlicher Wettbewerb. Was er ganz bestimmt nicht braucht, ist eine gefährliche Fremde, die die Volksseele zum Kochen bringt. Mattie Junghans, die Frau ohne festen Lebensentwurf, mischt sich oft in fremde Angelegenheiten. Doch die Spur, der sie diesmal kreuz und quer durch Europa folgt, ist seit Jahren kalt...

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Seitenzahl: 431

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»Ist dies ein Politthriller?«, wurde ich vor der Veröffentlichung gefragt. Die Antwort fiel mir nicht leicht. Es ist kein Whodunnit, so viel ist sicher. Rein thematisch ist Grenzfall unbedingt ein Politthriller, doch Merle Kröger schreibt eine andere Choreographie und hat einen völlig anderen Sound, als man es von Thrillern gewöhnt ist. Es gibt in diesem Buch Noir-Elemente und knallharten Realismus, aber auch eine rastlose, kaleidoskopartig bunte Unruhe, die eher an ein Roadmovie erinnert. Roadmovies handeln »vom Unterwegssein ihrer Helden und der Schwierigkeit, einen Platz in der Welt zu finden. Unterschwellig geht es darum, das zu finden, was das Bezugssystem Gesellschaft verkörpert und im Inneren zusammenhält. Es wird ihr ein Spiegel vorgehalten.« (Wikipedia) Auch das passt auf dieses Buch: Es führt uns kreuz und quer durch Europa, zoomt dicht an vielfältige Wirklichkeiten heran und erschließt Widersprüche, deren Aktualität manchmal bitter schmeckt. Dabei verhält sich Merle Krögers epische, ungestüme, gefühlsbetonte Erzählweise zum Großteil der deutschen Krimikultur wie ein E-Gitarren-Solo zur Kammermusik. (Ich gestehe: Ich höre mehr Hendrix als Klassik.) Wo ein Thriller meine Angst anspricht, bezieht Grenzfall seine Mitfieber-Spannung aus Einfühlung und sozialem Konflikt: Mittäterschaft, Wut, das Sich-Einrichten in den Verhältnissen, Armut und Verzweiflung werden ebenso spür- und greifbar wie Zivilcourage, diverse Konzepte von Familie, Vertrauen, Widerstand und Kreativität. Plötzlich eröffnen sich Spielräume zwischen Wissen und Wegschauen. Als ob man eine Reise mitmacht, die den Blickwinkel ein bisschen verschiebt. Ich liebe es, wenn ein Roman so was mit mir macht.

Else Laudan

Merle Kröger, geboren 1967 in Plön, lebt seit 1985 in Berlin und arbeitet als Filmemacherin, Produzentin, Drehbuch- und Romanautorin. Sie realisierte zahlreiche Dokumentarfilme, die erfolgreich auf nationalen und internationalen Festivals sowie im Fernsehen (ZDF, ARTE) liefen, und ist an den dokumentarischen Kinofilmen The Halfmoon Files (2007), Der Tag des Spatzen (2010) und Revision (2012) beteiligt. Ihr Roman Cut! wurde ins Englische übersetzt und im indischen Verlag Katha veröffentlicht, Kyai! stand mehrmals auf der KrimiWelt-Bestenliste und war Buch des Monats auf arte.tv.

Merle Kröger

GRENZFALL

Ariadne Krimi 1210 Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Merle Kröger im Argument Verlag:

Cut! (Ariadne Kriminalroman 1146)

Kyai! (Ariadne Kriminalroman 1166)

Grenzfall (Ariadne Kriminalroman 1210)

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2012

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann

Fotomotiv: © Jan the Manson, Fotolia.com

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549349

Vierte Auflage 2013

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Inhaltsverzeichnis

Cover

Vorwort

Titel

Impressum

Widmung

Erstes Buch

27. Juni 1992, Frankfurt am Main - Hessen, Deutschland

27. Juni 1992, Gemeinde Peltzow - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

58 TAGE DAVOR

30. April 1992, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

3. Juni 1992, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

18. Juni 1992, Braşov - Transsilvanien, Rumänien

20. Juni 1992, Turnu Severin - Walachei, Rumänien

27. Juni 1992, südlich von Szczecin - Lebus, Polen

27. Juni 1992, Szczecin - Westpommern, Polen

27. Juni 1992, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

27. Juni 1992, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

28. Juni 1992, Szczecin - Westpommern, Polen

28. Juni 1992, Gemeinde Peltzow - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

28. Juni 1992, Szczecin - Westpommern, Polen

28. Juni 1992, Szczecin

28. Juni 1992, Szczecin

28. Juni 1992, Gemeinde Peltzow - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow

29. Juni 1992, Peltzow

37 TAGE DANACH

5. August 1992, Harmsdorf - Schleswig-Holstein, Deutschland

INTERMEZZO

ZWEITES BUCH

3. Juni 2012, Gut Westenhagen - Schleswig-Holstein, Deutschland

3. Juni 2012, nördlich von Zaragoza - Aragonien, Spanien

4. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

9. Juni 2012, Braşov - Transsilvanien, Rumänien

11. Juni 2012, Gemeinde Peltzow - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

11. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

12. Juni 2012, Kiel-Gaarden - Schleswig-Holstein, Deutschland

12. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

13. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

14. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

14. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

15. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

15. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz

15. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

16. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

16. Juni 2012, Braşov - Transsilvanien, Rumänien

16. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

17. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

18. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

18. Juni 2012, A 20 Richtung Berlin - Brandenburg, Deutschland

18. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

19. Juni 2012, Turnu Severin - Walachei, Rumänien

20. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

20. Juni 2012, Turnu Severin - Walachei, Rumänien

21. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

21. Juni 2012, Turnu Severin - Walachei, Rumänien

22. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

22. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz

23. Juni 2012, Zugstrecke Bukarest – Braşov - Transsilvanien, Rumänien

23. Juni 2012, Gemeinde Peltzow - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

23. Juni 2012, Braşov - Transsilvanien, Rumänien

23. Juni 2012, Braşov

24. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

24. Juni 2012, Braşov - Transsilvanien, Rumänien

25. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

25. Juni 2012, Tiergarten-Mitte - Berlin, Deutschland

26. Juni 2012, Treptow - Berlin, Deutschland

26. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

28. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

28. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz

28. Juni 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

29. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

29. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz

29. Juni 2012, Frankfurt am Main - Hessen, Deutschland

29. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

29. Juni 2012, Nordhausen im Taunus - Hessen, Deutschland

30. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

30. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz

1. Juli 2012, B 109 südlich von Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

1. Juli 2012, Banyuls - Languedoc-Roussillon, Frankreich

1. Juli 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

2. Juli 2012, Hansestadt Kollwitz - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

2. Juli 2012, Hansestadt Kollwitz

3. Juli 2012, Kollwitz-Fichtenberg - Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

8. Juli 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

9. Juli 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

10. Juli 2012, Kreuzberg - Berlin, Deutschland

10. Juli 2012, Kreuzberg

14. Juli 2012, Turnu Severin - Walachei, Rumänien

15. Juli 2012, Neukölln - Berlin, Deutschland

5. August 2012, A 13 Richtung Praha - Thüringen, Deutschland

Nachwort

Quellenangabe

Danksagung

Merle Kröger

Cut!

Kyai!

Für Philip

Erstes Buch

27. Juni 1992, Frankfurt am Main Hessen, Deutschland

Hajo Walther, Hajo für Hans-Jürgen in diesem Fall, zog die Sonderseiten der FAZ zu Luft- und Raumfahrt aus dem vorderen Fach seines Pilotenkoffers. Auf Rechteck gefaltet, DIN A4. Schon fast zwei Wochen trug er die mit sich herum, er war und war nicht zum Lesen gekommen. Das kam eben davon, wenn man eine junge Frau hatte. Der musste man schon was bieten. Er faltete die Doppelseite auf und vertiefte sich in einen Artikel über Nutzen und Kosten der bemannten Raumfahrt. Alles wurde heute unter Gesichtspunkten der finanziellen Effizienz beurteilt, das kritisierte auch der NASA-Experte im Interview. Keiner fragte mehr nach langfristigen Perspektiven. Hajo war der Meinung, dass mit dem Kalten Krieg auch der Ehrgeiz verschwunden war, etwas zu erreichen.

Er saß wie immer direkt am Fenster des Abflugterminals, um einen guten Blick auf das Rollfeld zu haben. Draußen war es noch nicht ganz hell, eine Kabinencrew stieg gerade aus dem Bus, der Pilot vorneweg mit der attraktivsten Flugbegleiterin an seiner Seite, dahinter die anderen. Hajo versuchte die Uniformen zu erkennen, irgendwas Exotisches, vielleicht Singapur Airlines. Das strotzende Selbstbewusstsein des Kapitäns versetzte ihm einen Stich. Er hatte die Prüfung zum Piloten damals um fünf Prozent verfehlt. Stattdessen hatte man ihm eine Laufbahn im mittleren Management bei der Airline mit dem Kranich vorgeschlagen. Hajo machte das Beste draus: In der Personalabteilung hatte er einen abwechslungsreichen Alltag und immer genügend Frischfleisch vor der Nase, das es mit jedem Fotomodell aufnehmen konnte. Er war keiner, der was anbrennen ließ im Leben. Mehr als die halbe Welt hatte er gesehen, für einen Bruchteil des Linienflugpreises. Und wenn man die richtigen Fragen stellte, fand man überall Leute, die einem Jäger gegen gutes Geld die richtigen Tipps gaben. Hajo hatte die großen Fünf nicht nur mit seiner Nikon erlegt.

Am Gate erschien jetzt das Bodenpersonal, ein Mann und eine Frau. Sie scherzten, dann fiel ihr Blick auf Hajo, die Frau erstarrte. Er hob lässig die Hand. Sie zupfte unwillkürlich ihr Halstuch zurecht. Er konnte sich nicht an den Namen erinnern, auch sie hatte mit bebenden Lippen vor ihm gesessen, sein Urteil erwartend wie einen Richterspruch.

Die Sitzreihen füllten sich schnell, hauptsächlich Geschäftsleute. Hajo hatte bei der letzten Aktionärsversammlung erfahren, dass die Fluglinie ihre Kapazität auf der Strecke Frankfurt – Berlin im kommenden Jahr verdoppeln wollte. Alle waren scharf drauf, beim Goldrausch mitzumischen, die Treuhand verscherbelte ihre Betriebe im Minutentakt. Da konnte man das eine oder andere Schnäppchen machen. Hajo war das nur recht. Als Mitarbeiter hatte er schon lange ein Aktienpaket, das dieser Tage ohne sein Zutun an Wert zulegte, trotz der Krise. Und sechzehn Millionen reisewütige Ossis halfen kräftig dabei mit.

Hajo erhob sich, um wie immer als Erster an Bord zu gehen. Selbstverständlich würde er einen Platz am Notausgang mit ausreichend Beinfreiheit haben. Sein bestes Stück lag bereits sicher verpackt im Bauch des Silbervogels. Er spürte ein leichtes Kribbeln, der Reiz des Unbekannten verfehlte selten seine Wirkung. Wenn der Makler nicht zu viel versprochen hatte, erwartete ihn eine wildreiche Gegend, dünn besiedelt, kaum Kontrollen. Da mussten doch ein paar fette Abschüsse drin sein. Hajo leckte sich unwillkürlich die Lippen, nahm seine Bordkarte entgegen und zwinkerte der jungen Frau mit einem vielsagenden Blick auf ihren Kollegen zu. »Sie können es wohl kaum erwarten, was? Ein schönes Wochenende!«

27. Juni 1992, Gemeinde Peltzow Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Der tiefergelegte Golf fuhr viel zu weit links und schaltete das Fernlicht nicht ab. Uwe Jahn ging sofort auf die Bremse, lenkte seinen Iltis so weit wie möglich nach rechts, blieb stehen und ließ den Wagen vorbei. Für ein paar Sekunden hörte er das tiefe Wummern der Musik wie den Herzschlag eines Riesen. Dann war es still.

Jeden Samstag das gleiche Spiel. In die Disco, die Sau rauslassen, und dann vollgetankt wieder auf die Straße. Denen kam man besser nicht in die Quere. Letzte Woche hatten sie in der Nähe von Königswusterhausen einen Neger in den See geschmissen. Und zu Hause in den Betten beteten die Eltern, dass mit dem nächsten Wrack nicht ihr Kind am Alleebaum klebte. Denn für sie blieben es Kinder. Kinder, die ihnen mit jedem Tag der neuen Zeitrechnung fremder wurden. Warum soffen sie, warum prügelten sie, warum fuhren sie sich tot? Sie hatten doch alles: Westgeld, Farbfernsehen auf allen Kanälen, Reisefreiheit.

Sein alter Freund Fritz, seit vielen Jahren bei der Mordkommission Neubrandenburg, hatte ihm vor kurzem beim Bier erzählt, dass die Zahl der Gewaltverbrechen in der ehemaligen DDR seit der Wende explosionsartig angestiegen war. Klar, und dann kamen wieder die Nörgler und behaupteten, das wäre eben vorher alles vertuscht worden. Davon hätte er was gemerkt, das war mal sicher.

Er wollte gerade wieder losfahren, als er im Augenwinkel eine Bewegung neben dem Straßengraben sah. Mit der Linken schaltete er das Fernlicht an, die Rechte langte reflexartig nach hinten und griff nach dem Gewehr auf dem Rücksitz. Leise öffnete er die Fahrertür. Er hatte die Quote für seine privaten Abschüsse noch lange nicht voll, hinten drin lag nur ein Hase.

Vorsichtig ging er vor dem Geländewagen in die Hocke, suchte nach Spuren. Da waren sie, direkt vor ihm auf dem Sandweg. Er hielt den Atem an. Seit Monaten vertrieb ihm eine große Rotte Schwarzwild die Rehe. So ein Keiler brachte beim Schlachter eine Menge Geld. Und das brauchte er, denn er wollte einen Hund kaufen. Einen Weimaraner. Die waren nicht billig. Nichts war mehr billig, und umsonst gab es nur den Tod. Zweitausend Mark West – kein Pappenstiel für einen ehemaligen Volkspolizisten aus den sogenannten neuen Bundesländern.

Die Spuren waren zu groß. Ein paar Schritte weiter kamen noch mehr Abdrücke dazu. Turnschuhe, Erwachsene und Kinder, eine größere Gruppe. Er ging zurück, nahm die Taschenlampe aus der Halterung an der Innenseite der Autotür und richtete den Strahl in den Straßengraben. Ein Bündel Kleidung, achtlos hingeworfen. Der Strahl glitt langsam über das Feld. Die Wintergerste stand kurz vor der Ernte.

Nichts.

Er stieg wieder ein und fuhr los. Die Allee führte direkt nach Peltzow, sie überquerte die Autobahn nach Polen und wurde nach einem scharfen Linksknick zur Dorfstraße. Von Osten her glänzte frühes Tageslicht auf dem Kopfsteinpflaster. Links die Kirche, die man als solche kaum erkannte, weil sie keinen Turm hatte. Daneben das alte Herrenhaus, zu DDR-Zeiten hatten sie hier gefeiert, wenn die LPG das Soll erfüllte oder auch nicht. Wen kümmerte es schon, was die Zahlen aus Berlin sagten. Heute lief ein Streit, wem das Haus gehörte. Irgendein Adeliger aus dem Westen hätte Ansprüche angemeldet, hieß es. Dem Haus war’s wurscht, sein Verfall war nicht mehr aufzuhalten. Er parkte direkt gegenüber vor seinem kleinen Einfamilienhaus, grauer Putz, braune Fenster. Nichts Besonderes, aber sein Eigen. Wobei die Zeitung derzeit ja voll war von Leserbriefen. Leute wollten wissen, ob sie ihre Häuser behalten durften, die sie vom Staat rechtmäßig erworben hatten. Einem Staat, den es nicht mehr gab.

Er zog leise die Haustür hinter sich zu, hängte das Gewehr in den Schrank zu den anderen und schloss sorgfältig ab. Das Telefon stand gleich im Flur, ein DDR-Modell, um das ihn bis zur Wende viele beneidet hatten. Als Abschnittsbevollmächtigter, kurz ABV, brauchte er es, auch wenn er nur ein Dorfbulle war, wie ihn die Netteren abends in der Kneipe nannten. Die nicht so Netten zischten ›Denunziant vom Dienst!‹, wenn er seine Runde machte.

Aus alter Gewohnheit griff er zum Hörer und wählte die Nummer, die auf dem Zettel neben dem Telefon hing.

»Bundesgrenzschutz, Dienststelle Pomellen, guten Morgen!« Uwe kannte die Stimme nicht. Sie klang jung und verschlafen. Kein Wunder, dass hier jeder reinkam, wie es ihm passte.

»Jahn, Uwe Jahn, Jagdpächter aus Peltzow hier. Ich habe –«

»Ach, Jahn, Sie schon wieder. Und was gibt’s heute zu melden?«

Machte der sich lustig über ihn? Er ignorierte den Unterton und berichtete leise, um seine Frau nicht zu wecken, wo genau er die Sachen gefunden hatte und wo die Gruppe sich seiner Meinung nach jetzt herumtrieb.

Der andere gähnte laut. »Hab’s aufgenommen. Schönen Dank auch, Herr Jahn.«

Sie nahmen ihn nicht ernst, die jungen Grenzer aus Pomellen. Und was wollten sie schon machen? Jeder, der laut ›Asyl!‹ krähte, konnte ja einfach hierbleiben. So war es nun im neuen Deutschland. Man konnte raus, und dafür musste man in Kauf nehmen, dass alle anderen rein konnten. Sie kamen, klauten einem das noch nicht abbezahlte Auto unterm Hintern weg und arbeiteten fürn Appel und ’n Ei. Da konnte man sich die Reisen aus dem Prospekt sowieso nicht mehr leisten. Düstere Zeiten waren das.

Er fühlte das bekannte Ziehen in der Brust. Die Entlassung saß ihm noch in den Knochen. Zack, alle Polizisten über fuffzig weg wie faule Eier. So schnell kann’s gehen. Die Frau war immerhin bei ihm geblieben, auch wenn es ihr zu schaffen machte, dass die Kinder sich kaum noch sehen ließen. Früher hatten sie gerne damit angegeben, dass der Vater ABV war. Heute war es ihnen peinlich. Der Junge hatte sich freiwillig zum Bund gemeldet, die Tochter machte eine Ausbildung im Westen.

Jetzt hatte er ja wieder Arbeit. Einen Job, wie man heute sagte. Bei dem er eigentlich nur das zu machen brauchte, was er sowieso am liebsten tat: auf die Pirsch gehen. Also besser noch eine Mütze Schlaf nehmen. Er legte sich in voller Montur aufs Sofa und zog sich die Wolldecke bis unters Kinn.

58 TAGE DAVOR

30. April 1992, Hansestadt Kollwitz Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Adriana Voinescu, dreizehn Jahre und dreihundertzweiunddreißig Tage alt, allein in der Küche im Erdgeschoss des achtgeschossigen Wohnblocks. Langer Jeansrock, noch aus Rumänien, so was trug hier keiner. Lieblings-T-Shirt in Pink mit Surfer, aus der Kleiderspende. Da kriegten sie gute Sachen her, aber es war gefährlich. So wie mit der hellblauen Cordjacke letztes Jahr.

»Die gehört Katrin!«, hatte Nils in der Schule gesagt, gleich an ihrem zweiten Tag. Katrin war Nils’ ältere Schwester, das wusste sie nicht. Er nahm ihr die Jacke weg und hielt sie hoch. »Die klauen alles, die Asylanten!« Adriana verstand kein Wort. An dem Tag ging sie frierend nach Hause.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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