Grenzverletzung - Klaus Hönn - E-Book

Grenzverletzung E-Book

Klaus Hönn

0,0

Beschreibung

Der Student Hermann ist in den siebziger Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts in der Nähe der Westgrenze der DDR im freiwilligen Ernteeinsatz. Er verliebt sich in die einige Jahre jüngere Elvira. Die Grenznähe gibt Anlaß zur Verdrossenheit über die eingeschränkte Reisefreiheit nach außerhalb des Landes. Ein SED- Funktionär im Ruhestand will Hermann einen Besuch im Westen ermöglichen zum Vergleich der Lebensverhältnisse beiderseits der Grenze. Er verrät einen nur ihm bekannten Tunnel unterhalb der Sperranlagen. Beim Versuch, gemeinsamen mit Hermann den engen Tunnel zu durchqueren, wird Elvira von Panik erfaßt und stirbt. Hermann erreicht das Ziel schwer traumatisiert allein. Er bleibt auf Dauer im Westen und arbeitet Jahre später als Pilot bei einer Frachtfluglinie. Er will, seelisch wieder stabilisiert, mit seiner Freundin Rosalie aus Mittelamerika eine Familie gründen. In diese Zeit fällt im Zug der Wende 1989 die Grenzöffnung zur DDR. Hermann stattet dem Grenzort, aus dem die verrstorbene Elvira stammte, einen Besuch ab und trifft dort auf ihre jüngere Schwester Gisela, die bei seinem Ernteeinsatz damals noch ein Kind gewesen war Er fädelt eine Vertauschung zweier Neugeborener in Costa Rica ein und läßt sein und der betrogenen Freundin Rosalies neugeborenes Kind im Flugzeug nach Europa bringen. Es wird als gemeinsames Kind der Eheleute Hermann und Gisela ausgegeben. Gisela ist In den Umstand der vorsätzlichen Vertauschung der Neugeborenen im Krankenhaus in Mittelamerika nicht eingeweiht. Sie ist anfangs glücklich in ihrer Mutterrolle, doch verstärken sich bald Gewissensbisse. Sie entfremdet sich der alten Heimat und schließt sich im Bewußtsein der Mitschuld an einer halb legalen Adoption zunehmend von ihrer Mitwelt ab. Bei einer Veranstaltung Jahre später treffen Hermann und Gisela auf Rosalie.. Es kommt zu einer Auseinandersetzung. Gisela erkennt sich als hintergangen und wird krank.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 627

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

1. Aufbruch 3

2. Im Ernteeinsatz 89

3. Schande in San José 157

4. Ein schmachvolles Komplott 193

5. Labiles Gleichgewicht 295

6. Spätfolgen 350

7. Treffen in Agua Dulce 437

8. Einsichten 491

9. Umkehr 504

1. Aufbruch

Hermann fühlte sich unbehaglich. Er setzte den kleinen Rucksack ab und musterte Elvira. Sie verwahrte gerade sorgfältig das Schiffchen am Reißverschluß ihrer Hängetasche. Eben noch hatte sie gesagt, alles was gebraucht wurde bei dem Unternehmen, sei darin verstaut: der Ausweis, 280 Mark der Notenbank der DDR, ein paar Familienbilder, die Sommerjacke und Wäschezeug.

Sie standen unter den Zweigen der letzten Baumreihe vor dem breit abgeholzten Streifen. Nur drei halbhohe Büsche trennten sie vom Grasland vor dem Zaun. Schon im nächsten Sommer würden Sträucher

nicht mehr geduldet werden an diesem Ort. Man würde sie dann ebenso trimmen wie das andere Grünzeug, das zu hoch herauswuchs aus dem Niemandsland. An der Staatsgrenze West hatte das Blickfeld für die Grenztruppe frei zu sein

Die kleine Vertiefung im Boden der flachen Wiese versteckte sich unauffällig zwischen Sträuchern. Vor drei Tagen hatten sie einige Zeit lang suchen müssen ehe sie sich gefunden hatte. Das Land war unbebaut. Hohes Gras, am Rand des Grenzstreifens anscheinend seit dem Frühjahr nicht gemäht, schützte vor den Blicken der Grenztruppe, vorausgesetzt man kroch. Am Freitag waren sie zum ersten mal hier gewesen. Vom Waldrand aus waren sie die zwei Meter an die flache Kuhle herangerobbt Hatten sich nach einigem Suchen überzeugt: am Ende der kleinen Senke begann ein Rohr. Kein Deckel schloß das Ende ab; einzig mit Laub bedeckter Boden reichte bis knapp unter die Querschnittsmitte. Einen unauffällig halbmondförmigen Block hatten sie ausgemacht, als Teil eines Rohres hatte er sich nur in Bauchlage erkennen lassen. Jeder andere, der nicht aufmerksam suchte, hätte ihn für einen großen Stein gehalten. Hermann hatte Moder und Erde bis zum unteren Rand weggekratzt. Mit ihrer Taschenlampe hatte Elvira in das schwarze Loch hineingeleuchtet. Soweit der Lichtschein getragen hatte, war das Rohrinnere frei gewesen. Hermann hatte sich mit den Füßen voran hineingeschoben und den Hohlraum nicht allzu eng gefunden. Auch Elvira hatte Maß genommen, Kopf voran, und war einen Meter hineingekrochen. Das Rohr hatte ihr mehr Freiraum gelassen als Hermanns stämmiger Statur. Sie hatte die Hände zur Faust geballt und im Dunkel vor ihrem Gesicht den rechten Arm gegen den linken abgestützt. Beim Versuch, den Abstand zwischen den Fäusten zu vergrößern, war sie auf Widerstand der Rohrwandung gestoßen. Halb hatte sie sich schlangenhaft rückwärts bewegt, halb hatte Hermann sie herausgezogen und sich dabei mehr Handgreiflichkeit erlaubt als nötig gewesen wäre. Elvira hatte nicht ernsthaft protestiert. Sie hatten alle Mühe gehabt, nicht laut aufzulachen. Zwar hatten sie sich vorher überzeugt, daß die Luft sei rein war, aber hätte man sie an diesem Ort entdeckt, die Truppe zum Schutz der Landesgrenze hätte ihnen mit vielleicht wenig angenehmen Folgen die Vorbereitung einer Republikflucht unterstellt.

Der Bericht des Armin Schöppach war also keine Erfindung! Für die Entdecker unverständlich, dass anscheinend seit langer Zeit, keiner das Rohr zum Abhauen verwendet hatte!

Als sie beide wieder in der Kuhle lagen, vor sich die aufgeworfene Erde, über sich hohes Gras, hatten sie sich Arm in Arm auf dem Rücken ausgestreckt wie Kinder in der Frühlingssonne. Ganz nahe an dieser hartnäckig verschlossenen Grenze hatte sie ihrer Phantasie eine Ausschweifung erlaubt. Die Staatsgrenze West zum Greifen nahe! Bisher hatte sie sich gegen die Überquerung durch die Leute aus Engenthal hartnäckig gesperrt. Mit Hilfe der Röhre würde der Weg frei sein aus der Abgeschlossenheit in eine größere Welt.

Der Zeitpunkt für einen Wechsel auf die andere Seite wäre nicht schlecht gewählt, dachte Schrader. Elvira Hambach hatte den ersten Schritt ihrer Berufsausbildung hinter sich. Nach Abitur und Berufsausbildung war sie seit einem Vierteljahr Facharbeiterin im Apparatebau für Anwendungen in der Chemie. Der nächste Schritt im Kombinat führte zur Spezialistin für Plaste in Bau und Installation. Danach bestand Aussicht auf ein Studium zum Chemieingenieur, vorausgesetzt, sie bewährte sich in der Produktion.

Elvira war klar, ein Ausflug über die Grenze ohne Genehmigung taugte nicht zur Qualifikation für höhere Aufgaben in ihrem Staat. Gelang ihr Vorhaben, stand bei der Rückkehr Ärger an. Sie vertraute darauf, den war die Erfahrung wert.

Auch Schrader war sicher, er übersah die möglichen Folgen mit dem gesunden Sinn fürs Reale. Waren sie erst einmal drüben angelangt, würde Elvira das Weitere genauer überlegen. Wenn sie bei ihm blieb, verlagerten sich die nächsten Abschnitte ihrer Berufslaufbahn in das Land auf der Seite, die ihnen gegenüber lag.

Er versprach sich von der Unternehmung Aussicht auf Freiheit und mit etwas Glück auch auf den Einstieg in eine akzeptable Karriere im Beruf. Er wusste von einem seiner Kameraden, sein Studienabschluß in Maschinenbau galt etwas auch in der BRD. Der Kommilitone des Jahrgangs über ihm hatte sich nach Jugoslawien abgesetzt. Nur von einem Beinahe - Abschluß durfte er einstweilen reden, nahm man es genau. Das Diplom würde erst im Herbst überreicht. Eine Formsache noch, mehr nicht. Er wußte, die Abschlußarbeit war akzeptiert; die anstrengende Abschlußprüfung hatte er hinter sich gebracht. Er rief sich selbst zur Ordnung. Der Zeitpunkt eignete sich schlecht für eine Abschweifung in Zukunftsphantasien. Gefordert war zunächst Konzentration auf das Hier und Jetzt.

Elvira war das Risiko ebenso bewusst wie ihrem Gefährten dieser aufregenden letzten vierzehn Tage. Entdeckte man sie wider Erwarten hier, stand vielleicht auch mehr als nur schwerer Ärger an. Hermann bedeckte die aufgewühlte Erde so gut es eben ging wieder mit Gras. Die Flecke mit unbewachsenem Boden durften nicht größer als Maulwurfshügel sein, dann fielen sie niemandem auf. Der Startplatz ihrer Tour sollte dem Blick der Grenzsoldaten auf Patrouillenfahrt keinen Anlaß zur Suche geben.

Flüsternd hatten sie dann ihren Weg zurück in den Wald gefunden. Im Hochsommer bot er zuverlässig Schutz vor dem Blick der Wächter in ihren Jeeps. Gleich hinter dem breiten Waldstück hatten sie die Felder der LPG erreicht. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich der vormalige Hambach-Hof. Früher im Besitz der Familie Hambach, Elviras Elternhaus, jetzt einer der Stützpfeiler der LPG „Freies Land“.

Drei Tage zurück lag der Entschluß zu ihrer Unternehmung. Seitdem war viel geschehen. Jetzt Montagabend, nach Anbruch der Dunkelheit, im Spätsommer des Jahres 1976 kauerten die beide wieder in der Bodensenke. Elvira sah Hermann Schrader an, Unternehmungslust im Blick. In ihren wachen Augen schien der Glanz wie in den ersten Stunden mit ihr auf. Die Bekanntschaft war erst drei Wochen alt. Er wusste seine Freundin frei von Furcht, die für Mädchen ihres Alters sonst die Regel war. Am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft hatte sie im Schwimmbad den Kopfsprung vom Sieben-Meter-Brett gewagt. Zurückstehen hatte sich verboten. Ungeübt in der scheinbar einfachen Disziplin, hatte er die Federung des Brettes falsch eingeschätzt und sich mit etwas zu viel Schwung halb überschlagen. Trotz schneidendem Schmerz hatte er Haltung bewahrt und hatte sich nach dem Auftauchen ein mühsames Grinsen abgequält. Der Rücken war noch am nächsten Tag krebsrot gewesen. Anders als die Kollegen seiner Truppe im Ernteeinsatz hatte sie nicht gelacht über den plumpen Sprung, jedenfalls nicht nach seinem Auftauchen an der Oberfläche, sondern Respekt gezeigt. Er hatte sie um Rat zur Sprungtechnik gebeten und sie hatte ihm ihre Methode anvertraut. Man müsse das Gesicht gleich beim Absprung schräg hoch weit nach vorne recken. Hüftknick und Flugbahn ergebe sich dann mit instinktiver Selbstverständlichkeit von selbst. Er beherrschte die Übung seitdem besser als irgendein anderer männlicher Bewohner ihres Einsatzortes zur Ernteschlacht in Engenlohe.

Drei Tage alt war sein und Elviras Beschluß zum Grenzübergang im Rohr. Grenzuntergang hatte sie ihn verbessert. Natürlich wünschten sich viele den Untergang dieser unseligen Sperre, zumindest eine mit mehr Durchlässigkeit. Mit Sinn für real Mögliche betrachtet, würde diese Grenze auf Generationen hin nicht untergehen. Unterquert mußte sie sein wenn sich für sie und Hermann ein besserer Weg nicht fand.

Sie probten jetzt nicht mehr, es wurde ernst. Hermann erinnerte sich wieder an das Unbehagen vor seinem ersten Sprung vom Brett im Schwimmbad von Engenlohe Er gab sich einen Ruck:

„Also wie abgemacht, ich vorneweg, du hinterher. Glückauf“.

Die Stimme klang rauher als gewohnt. Er verspürte Beklommenheit wie vor der Prüfungskommission der Hochschule für Maschinenbau. Die letzte Prüfung dort lag jetzt sechs Wochen zurück. Das unbehagliche Bewußtsein von Wissenslücken stellte sich wieder ein. Ohne den Mut zur Lücke war nicht auszukommen in seinem Fach. Wenn einer der Professoren darauf abzielte, legte man ihn mit Leichtigkeit aufs Kreuz.

Ungute Gefühle wollten ausgehalten sein! Damals die Erwartung eines Kreuzverhörs in seinem Fach, jetzt die Aussicht auf einen Kriechgang ins teilweise Ungewisse. Die Nähe Elviras machte den großen Unterschied. Wenn die Sache hinter ihnen lag, würden sie auf der Sonnenseite angekommen sein. Mit ihr zusammen stand die Welt weit offen. Vorher hieß es diese elende Röhre zu durchqueren.

Er spürte in sich kein Talent zum Kriecher. Trotzdem führte an einer Übung in kriechender Haltung jetzt kein Weg vorbei. Als mündliche Prüfungsfächer hatte man ihm vor sechs Wochen Physik und ML zugemutet. Warum befragte man ihn, Hermann Schrader zu den Grundlagen des Marxismus - Leninismus? Seine reservierte Einstellung zu dem Thema war den Dozenten bekannt. Würde der Mann ihm einen weiteren Kotau abfordern oder erkannte man auf Gnade? Alles war dann besser als erwartet glatt gelaufen. Der Dozent in ML hatte sich mit Tiraden in der Abschlußprüfung weiter zurückgehalten als von ihm sonst gewohnt. Vielleicht hatte der Einfluß der Beisitzer in der Kommission mäßigend gewirkt.

Er wischte die Erinnerung weg, band sich seinen Rucksack an den rechten Fuß und nahm die Schaufel zur Hand. Sie diente daheim bei Elviras Eltern sonst zur Befeuerung des Kohleofens. Nicht der größte Verlust für den alten Hambach an diesem Tag, dachte er, ohne Zynismus in dem Gedanken zu erkennen. Lang ausgestreckt, verspürte er den kühlen Erdboden am Bauch. Er verschränkte die Arme vorm Kinn und begann die eingeübte Kriechbewegung. So hatten sie es gestern und vorgestern abends in der Dämmerung geübt. Trainingsgelände war die große Wiese hinter dem Stall gewesen. Sie erstreckte sich bis zum Zugang zu Schöppachs morscher Scheune. Zuletzt hatten sie die hundert Meter von der Scheunenwand bis zum Zaun am Feldweg nach Engenthal in sieben Minuten geschafft. Nach einer Ruhepause hatte sie der Rückweg auf gleiche Weise acht Minuten ungewohnte Anstrengung gekostet. Ermüdend und alles andere als Kurzweil diese Übung, aber kein Kunststück, der gesunde Leute in ihrem Alter vor Probleme stellte. Wäre jemand Zeuge des Vorganges geworden, er hätte sich gefragt, ob den beiden kein besserer Zeitvertreib für den schönen Sommerabend eingefallen war.

Die Übung waren unentdeckt geblieben. Keiner hatte den beiden neugierig verfolgt nach der Abmeldung vom gemeinsamen Abendessen. Die Geschwister und Hambach Senior hatte wohl angenommen, die beiden machten einen Besuch bei Schöppach wie schon öfter seit Schraders Auftauchen an Elviras Seite. Wenn nicht, so würden sie am besten wissen, wie der schöne Abend zu verbringen war. Letztlich hatten beide die Volljährigkeit erreicht. An ihrem Staat, der DDR, war seit der Gründung vieles auszusetzen und verbessernswert. Der Vorwurf von Lustfeindlichkeit gegenüber den Bedürfnissen auch jugendlicher Bürger traf ihn nicht, eine Feststellung die anscheinend auch für den Bewußtseinsstand in der Familie Hambach galt.

Sie hatte den Zeitablauf überschlagen: etwa zweihundert Meter breit war der Streifen insgesamt, etwa mittig darauf verlief der Zaun, davor der befestigte Kolonnenweg für die Jeeps. Die Soldaten hatten irgendwann früher einmal erwähnt, der Zaun stehe nicht genau auf der Grenze sondern mehrere Meter tief auf DDR-Gebiet.

Das Ende der Röhre auf der anderen Seite blieb ihnen unsichtbar. Das Minenhuhn war am Vormittag drüben in einer Baumgruppe aufgetaucht, die vom Zaun nicht weiter weg stand als geschätzte hundertfünfzig Meter. Dreihundert Meter höchstens, hatte Schöppach gemeint, eher weniger. Die Strecke ließ sich in einer halben Stunde schaffen. Auch der Rückzug war ihnen nicht verbaut im Fall unerwarteter Hindernisse. Das Tempo im Rückwärtsgang wäre freilich höchstens halb so hoch, dafür ginge es dann aber auch nur um einen Teil der Strecke.

Hermann hatte auf die Probe mit dem Huhn bestanden. Das Tier hatte erfolgreich ihren Weg vorab erkundet. Man würde auf die Rückwärtsgang nicht angewiesen sein. Länger als zwanzig Minuten war nicht zu veranschlagen für die Ost-West-Passage. Selbst bei Anrechnung einiger Ruhepausen war der Transit in längstens einer halben Stunde ausgestanden.

Was zählte eine halbe Stunde im Dreck gegen die Verlockung, sich einmal im Nachbarstaat umzutun?

Glücklicherweise lag nennenswerter Regen mindestens zehn Tage zurück. Ihre Lage im Rohr wäre sonst weniger gemütlich. Das Wetter konnte nicht besser sein für die Unternehmung ebenso wie für die Ernteschlacht. Bei Einholung der Rüben und des Getreides lag die LPG „Freies Land“ gut im Plan, wenn nicht sogar dem Plan voraus. Der Vorsitzende der LPG hatte sich auf Nachfrage nicht klar ausgedrückt. Vielleicht fürchtete er die Abordnung seiner Leute zur Aushilfe bei den Nachbarn nach außerhalb.

Man hatte Hermann bald nach der Ankunft bei den Leuten von Engenthal beachtlichen Respekt gezollt. Gleich wie spät die Traktoren und der Drescher abends vom Feld zurück gekommen waren, er hatte zusammen mit dem Zimmergenossen Roland seinen Part getan. Jeweils zu Schichtbeginn am nächsten Morgen war das Geschirr betriebsbereit gewesen. Nur wenige Maschinen waren neu, manche stammten noch aus der Vorkriegszeit. Traten Schäden auf, waren sie rechtzeitig auszubessern so gut es die Versorgungslage zuließ. Ersatzteile waren Mangelware. Erfindungsgeist war gefragt und die Maschinisten und ihre Helfern improvisierten mit Erfolg. So hatte man noch jedes mal für den Folgetag den vollen Einsatz in der Ernteschlacht gesichert.

Die LPG lag anscheinend so gut im Plan, dass die Verlegung einer Kolonne in die Nachbar - LPG erwogen wurde. Damit drohte Hermann die Trennung von Elvira und Engenthal. Allein schon deshalb war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren.

Sie arbeiteten sich voran in die kühle Finsternis. Elvira hatte es Hermann gleichgetan. Sie schleifte ihren Rucksack, angebunden am Fuß, hinter sich her. Hatte vor dem Eintauchen ins Rohr zum Schutz der Haare eine Mütze aufgesetzt. Beide trugen sie Handschuhe und lange Hosen, am Fuß zugebunden als Schutz vor Kleingetier, das sie vielleicht auf ihrem Weg begleiten würde.

Hermann Schrader kroch in unnatürlicher Bewegung vor Elvira her. Schlängelte er sich? Elvira fühlte sich eher an einen Lurch erinnert als an eine Schlange. Den Stoffbeutel stieß er mit den Füßen regelmäßig abwechselnd rechts und links seitlich gegen die Röhrenwand.

Das enge Rohr erlaubte Hermann Schrader kaum mehr als den Blick schräg zurück zu seiner Gefährtin. Beim Aufstützen der Ellenbogen lagen die Hände nur knapp unter der Rohrinnenseite über seinem Kopf. Der Freiraum in der Waagerechten war nur um einige Handbreit weniger eng bemessen. Es konnte nicht anders sein. Der Kanal führte in Regenzeiten schließlich Wasser. Schlamm hatte sich abgesetzt und war getrocknet. Über der Rohrsohle war die freie Höhe eingeschränkt durch Ablagerungen, wahrscheinlich schon seit einer Zeit, in der noch kein Mensch eine Grenze hier für möglich gehalten hatte.

Bisher war nicht ein Wort gewechselt worden seit dem Start. Elvira brach das Schweigen. Sie machte späte Bedenken geltend:

„Was, wenn das Rohr weiter weg vom Anfang in einem Bogen liegt und unten mit Wasser voll gelaufen ist?“

Die Frage war berechtigt. Er hatte sie vorab bedacht und die Möglichkeit als wenig wahrscheinlich eingeschätzt. Schöppachs Angaben hatten sich bisher bestätigt. Beim Bau von Entwässerungskanälen achtete man aus gutem Grund auf stetiges Gefälle. Warum sollte der Arbeitsdienst damals weniger solide Arbeit abgeliefert haben als unsere Leute jetzt? Soviel war ihm als Ingenieur bekannt: Rohre werden beim Kanalbau auf ein Bett aus Kies und Sand verlegt. Darin fließt das Grundwasser ab ehe es über die Rohrsohle steigen kann. Ein Wasserdruck von außen baut sich so nicht auf. Wenn der Grundwasserspiegel trotz des Kanals dennoch hoch geblieben wäre, hätte man sich den ganzen Aufwand für die Urbarmachung der Felder damals besser eingespart.

Allenfalls konnten kleine Abweichungen vom geplanten Gefälle aufgetreten sein. Mehr als flache Lachen durch früheren Eintritt von Regenwasser war nicht zu befürchten. Das Wetter war stabil. Ereilte sie aber tatsächlich ein heftiger Wolkenbruch, war nicht unmöglich, er schwemmte die Eindringlinge mit Macht davon wie Ungeziefer.

Wahrscheinlich hatte Elvira die Frage nur gestellt, damit Abwechslung in ihre schweigende Vorwärtsbewegung kam. Den Kopf so weit möglich zurückgewendet, gab er zur Antwort:

„ Viel Wasser ist ausgeschlossen, höchstens mal feuchter Schlamm. Das Minenhuhn hat es ohne Problem geschafft. Wir stehen einem Huhn nicht nach. Was dieser Vogel konnte, können Elvira und Hermann allemal.“

Sie lachte und er leuchtete mit der Taschenlampe einen Augenblick lang zurück. Er die großen, gescheiten Augen in ihrem Gesicht vom Licht geblendet und knipste rasch wieder aus, noch ehe sie die Hand schützend vor sich hielt. Sogar die Mütze kleidete sie vorteilhaft, so wie jede andere Aufmachung ihr stand, in der sie bisher aufgetreten war. Wahrscheinlich trug Elvira die Kopfbedeckung sonst zum Wintersport.

Der Abstand zwischen ihnen war klein, so wie sie es abgesprochen hatten. Einmal mehr spürte er das starke Gefühl einer großen Zärtlichkeit. Nie zuvor hatte ihn eine Frau so angezogen. Sie verband Grazie mit Mut und Unternehmungsgeist in einem Ausmaß, das ihn vom ersten Tage an gefesselt hatte. So fest schien sie auf eigenen Füßen zu stehen, dass jede Stützung überflüssig war. Trotzdem fühlte er sich jetzt in der Verantwortung für sie. Verantwortung, ein großes Wort, ohne ihr Zusammentreffen bei diesem Einsatz in Engenthal hätte er es nie in den Mund genommen, schon aus Protest gegen den inflationären Gebrauch im Lehrfach ML. Jetzt erstmals gewann es Sinn. Die Unternehmung fiel, wenn sie auch nicht gerade gefährlich war, so doch weit aus dem Rahmen der alltäglichen Langeweile in ihrem Staat. Er würde für ein gutes Ende Sorge tragen.

Die einzelnen Rohrelemente konnten nicht länger als drei Meter sein, vielleicht nur zweieinhalb. Umlaufende Linien im immer gleichen Längsabstand waren erkennbar in der dunkel gewölbten Fläche, die vor ihnen ins Ungewisse lief. Der Schein der Lampe machte Fugen in der Röhre sichtbar. Sie trennten die Einzelrohre gegeneinander ab. Bei näherem Hinsehen zeigten sich ringförmige Spalte an denen vorbei sie vorwärts krochen. Wurzeln wucherten dort von außen herein. Dünne Fäden, hingen herab; einige reichten bis zu der Sandablagerung unter Schraders Bauch. Er schob die dürren Wurzeln mühelos zur Seite.

Elvira empfand sie als ekelhaft. Manche verdickten sich zum Sandbett herunter, auf dem sie krochen, bis auf Fingerdicke, ließen sich aber dennoch ohne Kraftanstrengung wegschieben an die Seitenwand. Sie bat Hermann mit Widerwillen in der Stimme um den Einsatz der Machete. Das Wort hatte sie mit Bedacht gewählt. Die besonders hinderlichen Exemplare schnitt Hermann daraufhin mit seinem Taschenmesser ab. Er blieb voll auf die Vorwärtsbewegung konzentriert und spendete Trost so gut es ihm gelingen wollte. Noch stärkere Wurzeln träten seiner Schätzung nach nicht auf. Ausgewachsene Bäume mit dicken Wurzeln, habe man auf dem Geländestreifen über ihrem Kopf vor Jahren abgeholzt, vorausgesetzt hier war jemals Wald gewachsen. Schöppachs Schilderung war ungenau gewesen in diesem Punkt. Wie konnte es anders sein? Schließlich hatte er den Bau der Entwässerung damals als kaum Erwachsener erlebt. Was allenfalls nachwuchs an Gehölzen, legte seit der Rodung die Grenztruppe umgehend wieder flach. Mindestens einmal jährlichen werde die Flur längs der Staatsgrenze West bereinigt, hatte sie ihm erzählt.

Die ersten zwanzig Rohrlängen waren geschafft. Schrader spürte noch keinerlei Ermüdung. Wieder, wie nach jedem zweiten Rohr bisher, wendete er den Kopf schräg zurück und starrte in die Dunkelheit. Um sie herum absolutes Schwarz, ausgenommen den Lichtpunkt der Eintrittsstelle. Aber er hörte Elviras Atemzüge und ein schabendes Geräusch. Sie schloß zu ihm auf.

„Wir kommen nicht schlecht voran. Es kriecht sich hier drin nicht schlechter als auf eurer Wiese.“

„Mann, du hast sicher recht, ich glaube wir sind schneller als gedacht “, kam zurück. „Deshalb jetzt erst mal eine kleine Pause.“

Sie nannte ihn gerne abgekürzt nur Mann statt Hermann. Er fühlte sich geschmeichelt, trotzdem blieb sie für ihn unverkürzt Elvira.

„Genehmigt mit einem Sonderlob für unseren Stoßtrupp. Nicht ungemütlich hier trotz der elenden Wurzeln auf dem letzten Stück! Der kleine Dschungel im Rohr vorhin kann nicht mehr als die Ausnahme von der Regel sein. Und die heißt: der Weg vor uns ist frei. Soweit ich voraus sehen kann, ist die nächste Etappe ohne Einwüchse von außen.“ Dann nach einer Pause:

„ Hier unten fehlt uns jetzt nur noch eine Untermalung mit Musik, was hältst du von „Warum ist mir im Rohr so wohl?" Elvira ging auf den Einfall nicht ein, euphorische Gefühle erschienen ihr verfrüht. Stattdessen dachte sie an das Huhn, das ihr Kundschafter auf diesem Weg gewesen war.

„Hoffentlich hat das Minenhuhn nicht zuviel Spuren hinterlassen. Du würdest der sein, der es auszubaden hat“. Hermann lachte laut auf, lauter als Elvira es für ihre Lage angemessen fand.

„Bisher noch keine Feindberührung, jedenfalls habe ich nichts bemerkt. Ich finde die Luft angenehm hier unten, wie in einem Sommerwald nach Regen. Das Stichwort ausbaden halten wir fest. Wenn wir erst drüben sind, ist ein Bad das erste, was wir brauchen. Schöppach hat gesagt, hinter der Grenze gibt es einen kleinen Teich.“

Elvira stimmte zu. Sie streichelte sein Bein unterhalb des Knies als Zeichen zum erneuten Aufbruch. Noch lag eine Strecke vor ihnen, die länger war als die beiden Querungen der Wiese, die sie im Training in Bauchlage bewältigt hatten. Vor dem Röhrenende erwartete sie wahrscheinlich ein zusätzlicher Aufenthalt vor dem Ausstieg. Bei den Probestrecken unter freiem Himmel hatten sie sich nach hundert Metern jeweils kurz aufgerichtet und die Arme seitlich weit ausgestreckt. Sie wussten beide: diese Freiheit war ihnen im Rohr verwehrt.

Ungemütlich, die Situation; so unbeschwert wie Hermann schätzte Elvira ihre Lage nicht ein. Sie kannte ihren Wert. Ein verständiges Elternhaus hatte sie früh zur Selbstständigkeit ermutigt, wenn auch nicht stärker als manche ihrer Altersgruppe auch. Ihr angeborenes Naturell wirkte in gleiche Richtung. Hindernisse hatte sie selten entmutigt, jede neue Herausforderung hatte gereizt zur Erprobung des wachsenden Gespürs für neue Möglichkeiten in ihrer Welt. Man bewunderte sie insgeheim unter Gleichaltrigen für ihre Unerschrockenheit. Kleine Erfolge hatten sich mehrfach wiederholt. Im Kindergarten, dann in der Schule und bei den Jungen Pionieren hatte man ihr unter den Gleichaltrigen anfangs widerstrebend, dann anerkennend, die Führungsrolle eingeräumt. Die beiden jüngeren Geschwister hatten spätestens bei Eintritt in die erste Klasse der Schule am Ort die Rivalität der ersten Jahre aufgegeben und sich mit Stolz an Elvira, ihrer großen Schwester orientiert.

In diesem elend engen Rohr führte sie gemeinsam mit Hermann ein vielleicht folgenschweres Unternehmen aus, soviel lag auf der Hand. Gingen sie zu weit? Um welchen Preis wurde der Grenzübergang gewagt? War der Gang nach Maulwurfsart normal wenn es um nicht mehr ging, als sich ein Bild vom Nachbarland zu machen? Sie konnte ihrem Staat diesen Vorwurf nicht ersparen. Er zwang sie beide zu einem würdelosen Übertritt der Grenze, statt sich einem Vergleich zu stellen. Soweit absehbar aus ihrer Welt, bestand kein Anlaß, ihn zu scheuen.

Viel größer war die Anstrengung hier unten, als sie erwartet hatte. In den Ferienlagern der letzten Jahre vor dem Schulabschluß hatte sie sich immer achtbar gehalten, oft sogar mittelmäßig sportliche Jungen übertrumpft. Im Vergleich zu dieser Tour waren die Geländespiele damals Kinderei. Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Indianerspiel der Jungen Pioniere. Dennoch, sie hätte diese kurze Pause vorhin jetzt noch nicht gebraucht. Der Ermüdung der Arme und Beine würde später kommen. Dreißig Minuten angestrengtes Kriechen am Boden mochte eine sinnvolle Leistung von Elitekämpfern sein, unter Beschuß in Vietnam, Afrika oder Lateinamerika im Krieg. Sie befanden sich hier nicht im Krieg sondern in Friedenszeiten auf dem Weg nach Westdeutschland. Nur die Abwehr der Angst kostete sie Kraft. Angst wovor? Elvira hätte es nicht erklären können. Jedenfalls hieß es hier an die eigenen Grenzen gehen, zur Überwindung dieser realen Grenze über ihrem Kopf. Die Bewegung zum seitlichen Ausstrecken der Arme war solange sie krochen radikal eingeschränkt. Der Verzicht auf die zu Unrecht kaum geschätzte Wohltat fiel ihr schwer. Gerade die Suche nach Bewegungsfreiheit hatte sie in diese drückende Zwangslage geführt.

Hermanns Nähe gab ein Mindestmaß an Sicherheit. Hoffentlich würden sie zusammen bleiben wenn die Durchquerung erst überstanden war!

Der gleichmäßige Rhythmus der Bewegung hatte sich wieder eingestellt. Sie kamen ohne große Anstrengung voran. So konnten sie lange durchhalten bis sie müde wurden. Auch Hermanns Erwartung fand sich bestätigt. Die eklige Berührung des Gesichts durch kalte Wurzeln blieb auf eine längere Strecke aus.

Elvira verspürte die gewohnte Zuversicht. Der erste Abschnitt hatte wahrscheinlich Spuren hinterlassen. Ihr Anblick unter der Mütze konnte nicht anders sein als mohrenhaft.

Die Dunkelheit immer zwischen dem Aufleuchten der Lampe stellte sie vor kein Problem. Sie hatte sich schon als Mädchen nie gescheut, alleine dunkle Kellerräume zu betreten. Die Freundinnen hatten jedes Mal bei solchen Proben ihre Furchtlosigkeit bestaunt. Sie war Anerkennung gewohnt. Die Anderen bewunderten den Mut, der ihr nicht nur bei solchen Gelegenheiten früh zur Verfügung gestanden hatte.

Eine kleine Episode hatte die Mutter ihr oft nachträglich erzählt: nach einem Mißverständnis in der zweiten Klasse der Grundschule von Engenthal hatte die ärgerliche Lehrerin ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, so drückte man sich damals dazu aus. Elvira hatte nicht nur umgehend heftig protestiert sondern nach der Strafzumessung zum Erstaunten der Klasse eine Besprechung unter vier Augen vorgeschlagen. Die Sache war ohne Strafarbeit gütlich beigelegt worden. Im Elternkreis sprach der Vorgang sich herum. Elviras Verhalten erschien ungewöhnlich ihr frühes Lebensalter. Der erfolgreiche Vorstoß Elviras ging zurück auf einen ihr früher einmal abgegebenen Bericht der Mutter. Die hatte selbst als Kind, aber um einige Jahre älter, gute Erfahrungen gemacht mit dieser Strategie. Förmliche Autorität allein hielt die Hambach - Frauen seit jeher nicht in Schach.

Elvira stand jetzt vor anderen Schwierigkeiten bis die Fesselung ihrer Bewegungsfreiheit wieder fiel. Der Nachweis ihre Ausdauer im Kriechgang würde leicht zu führen sein. Finsternis focht sie nicht an. Die Enge waren unangenehmer als erwartet aber einstweilen erträglich. Den Ausgang der Röhre am Westende würden sie nicht minder meistern als das stumme Huhn. War die Öffnung für einen Menschen dort zu eng, würde notfalls der Weg mit bloßen Händen freigekratzt. Das Unternehmen lief. Am meisten belastete der Mangel an Gelegenheit zur Streckung in die Breite.

Sie schoben sich in zielstrebigem Vorwärtsdrang voran. Gleich bleibend reihten sich die Rohre aneinander. Hermanns Zählung der Fugen war bei fünfzig angelangt. Auf die Frage nach einer Pause hatte Elvira abgeraten. Sie wolle Strecke machen und spüre keine Müdigkeit. Die Aussicht auf ein Bad treibe sie voran.

Auch Hermann verhehlte sich nicht, er spürte Überdruß. Die Grenzdurchquerung zog sich schon zu lange hin. Die Fortbewegung auf dem Bauch hier in dem engen Rohr belastete entschieden stärker als unter freiem Himmel. Hut ab vor Elviras Stehvermögen. Wo sie durchhielt, durfte er als der Mann und Ältere nicht klagen.

Nicht mehr als einen Meter über dem Kopf musste hier irgendwo über ihnen der Grenzzaun stehen. Tiefer hatte man damals die Rohre nicht verlegt, hatte Schöppach aus der Erinnerung geschätzt. Hatte man zufällig je einen Pfosten des Zaunes beiderseits gegründet oder reichten flach liegende Fundamente nicht herunter bis auf ihr Rohr? Vielleicht hatte man beim Bau der Grenzbefestigung ein Stück Beton freigelegt und als Felsblock missdeutet, ein Hindernis für den Bau der Sperre, das sich umgehen ließ, der Mühe einer Ausgrabung nicht wert. Hätte man die Röhre entdeckt, kein Interesse an der Entwässerung von Wiesen, gleich ob in Ost oder West, hätte den Durchlaß vor der Zerstörung bewahrt. Oder verlief der Kanal doch tiefer als Schöppach meinte? Wie immer auch, zu ihrem Glück hatte man die Querung beim Bau der Grenzanlagen nicht entdeckt. Auch wenn die Zeit sich hinzog, das Ende dieser unseligen Schinderei rückte heran. Von einem stabilen Dach aus Beton beschirmt, stand ihrer Ankunft drüben kein ernstliches Hindernis mehr im Weg.

Elvira führte, wohl eingeübt, ihre schlangenartige Fortbewegung mechanisch aus. Die Hände hielt sie unter dem Kinn gefaltet. Abwechselnd schob sie einen Ellenbogen vor, verlagerte das Gewicht auf diese Seite und zog den Körper nach. Das Knie der entgegengesetzten Körperseite half beim Vorschub nach. Nach jedem dritten Röhrenabschnitt zeigte der Griff an das linke Bein: der Beutel mit ihrem Kleingepäck hatte sich nicht gelöst. Der Ausflug in den Westen wurde mit einer Notausrüstung angetreten, jedoch nicht ohne alle Habe.

Hermann hatte Waldluft beschworen vorhin. Sie gab ihm da nicht recht. Wärme war zu verspüren mehr als ihr willkommen war. Strengte das Abenteuer ihn so wenig an, dass er von Kühle sprechen konnte wo sie unangenehme Erhitzung spürte? Ihr schien, sie näherten sich nicht Badeteichen drüben sondern einem Ort, von dem aus ihnen unangenehm warme Luft entgegenkam. Sie rief Hermann an. Die Stimme klang weniger fest als gewohnt:

„Ich ziehe die Jacke aus. Mir wird zu warm.“

„Du bist sicher, du hast ein Problem mit deiner Jacke ? Das Ausziehen ist schwierig, Elvira. Wir hängen noch in unserer engen Röhre. Wenn du sie ausgezogen hast, hindert sie dich beim Kriechen. Lässt du sie hier zurück, dann fehlt sie später. Wenn wir erst drüben sind, würdest du sie vermissen. Ist dir wirklich so warm? Mir wäre ohne meine Jacke jetzt zu kalt.“ Hermann also verspürte diese unangenehme Wärme nicht. Sie suchte, ihrer Stimme den gewohnten Klang zu geben:

„Kein Problem, Mann, aber die Wärme setzt mir zu.“ Ohne es auszusprechen, war ihr bewusst, nicht Wärme allein setzte ihr zu, mehr noch empfand sie die Beengung als Problem. Gerade eben erst hatte sie ein Problem abgestritten. Wem wenn nicht Hermann konnte sie sich anvertrauen mit einer Schwierigkeit:

„Ja, Mann, doch ein Problem. kein großes zwar, aber immerhin.“ Sie sprach nicht weiter und streifte die Regenjacke an der linken Seite ab. Es gelang nachdem sie die Schulter an den Hals herangezogen hatte, als klemme sie einen Telefonhörer ein, um mit den freien Händen eine Notiz zu schreiben. Sie drehte sich vom Bauch in voller Länge auf die rechte Seite, dann presste sie den Arm mit der halb zurückgestreiftem Ärmel fest an den Körper und zerrte mit der rechten Hand am Bund. Sie hatte Gewalt anwenden müssen bis das letzte Stück über den schmerzhaft eingebogenen Handrücken geglitten war. Ein Geräusch von einreißendem Stoff begleitete den Vorgang. Die Jacke fiel hinter dem Rücken halb ausgezogen auf den Sandboden im Rohr. Das Manöver hatte Erleichterung verschafft. Ein Teil des Drucks oben im Hals war weg. Hermann fragte nach:

„Wir haben Zeit, auf jedes Problem einzugehen. Kein Mensch drängt uns zur Eile.“ Er nahm Ermüdung bei Elvira an.

„Bist doch schneller erschöpft als gedacht durch die Anstrengung, Liebes. Zur Not könnten wir hier erst schlafen ehe es weitergeht. Wenn du magst, trink aus meiner Flasche. Es war kein Fehler etwas Stärkung mitzunehmen. Diese drei Viertelstunden hier unten ziehen sich elend hin.“ Elvira ging auf das Angebot nicht ein.

„Mir ist immer noch zu warm. Die Jacke hat mich eingeengt. Halb habe ich sie gerade ausgezogen. Habe mich winden müssen wie ein Aal. Für dich wäre dazu das Rohr mit Sicherheit zu eng.“

„Habe auch absolut nicht vor, mich zu entblößen. Hermann Schrader ist kein Entfesselungskünstler. Aber schade um das schöne Stück aus der HO. Stand dir so gut an wie extra für dich gemacht. Zieh sie am besten ganz aus und lass´ sie hier zurück. Hoffentlich handelst du dir keine Erkältung ein, Elvira. Meine Jacke wird einen Waschgang brauchen wenn wir drüben sind. Den hast du immerhin gespart, stattdessen leiden jetzt die Sachen, die du drunter trägst. Ich fühle mich mit meiner Jacke richtig wohl. Ist dir wirklich so heiß geworden?“

Er sprach ohne Unterbrechung belangloses Zeug daher. An Elviras Tonfall hatte er gespürt, sie schlug sich mit einem Problem herum. Hoffentlich lenkte sein Wortschwall sie fürs erste ab.

Bisher lief ihr Vorhaben glatt. Die Bahn vor ihnen lag bis zum Ende freigeräumt, sah man vom Ausstieg ab. Wo ein Huhn herauskam, würde mit wenig Mühe auch Platz zu schaffen sein für Menschenmaße. Notfalls würde man um Hilfe von außen bitten, falls der Ausgang wirklich zu stark verrammelt war. Die Grenzer der anderen Seite konnten sich einer Hilfeleistung dann nicht entziehen. Sie lagen in diesem Rohr sicher wie in Abrahams Schoß. Vielleicht sperrten sich Elviras Nerven gegen die Finsternis. Er zog die Taschenlampe vom Gürtel und streifte die Halteschnur über sein Handgelenk.

„Lassen wir die Lampe jetzt dauernd eingeschaltet. So lässt es sich besser aushalten in unserem Verlies. Besser so?" Er hatte gehofft, Helligkeit werde auf sie beruhigend wirken. Elvira war dankbar für die Besorgnis und das Mitgefühl. Hermann hatte gespürt, ihre Verfassung war nicht so zielstrebig und siegessicher wie er sie sonst kannte. Er suchte, ihr zu helfen. Hermann sprach weiter auf sie ein während der Ruhepause. Was er sagte, traf zu, sie waren hier keiner Bedrohung ausgesetzt. In aller Ruhe konnten sie den weiteren Gang der Dinge selbst bestimmen. Selbst im Schneckentempo weiterkriechend, war das Ende des Rohres bald erreicht. Sollte es dann schon Nacht geworden sein, umso besser für ein unauffälliges Verlassen ihrer Röhre.

Sie fühlte, die Erleichterung wirkte nur schwach. Die Enge setzte ihr mehr zu als sie vorausgesehen hatte. Die Jacke blieb zurück als der schleppende Zug der beiden wieder Fahrt aufnahm. Sie hatte sich vorher stöhnend noch einmal in Seitenlage umgedreht. So gelang ihr, auch den anderen Ärmel von sich wegzuziehen. Hermann hatte gelacht. So schön habe sie schon seit vorgestern nicht mehr gestöhnt. Ernst nahm er anscheinend ihre Beklemmung nicht.

Dieses mal riß der Ärmel nicht ein. Ehe sie weiter krochen, hatte sie den überflüssigen Stoffbalg noch einmal zu sich herangezogen und untersucht. Nur der Hausschlüssel befand sich noch in der Seitentasche. Alles andere hatte sie vorhin der am Fuß befestigten Hängetasche einverleibt. Für den Schlüssel war die nächste Verwendung nicht absehbar. Der Zeitpunkt für eine Rückkehr nach Engenthal stand nicht genau fest. Allzu lange aber würden sie nicht bleiben. Elvira hatte sich den Abschied von zu Hause nicht leicht gemacht. Der Weggang auf Zeit entsprang nicht einer sommerlichen Laune sondern wohlüberlegtem und gerechtfertigtem Protest. Wenn sie Engenthal den Rücken kehrte, war dies ein Adieu für einen Besuch der BRD von ein paar Tagen. Hermann hatte ihr versichert, er sähe es ebenso. Ließ man sie wider Erwarten nicht ohne Umstände gleich wieder zurück ins Land, konnte es ein Abschied auf Wochen gewesen sein, damit aber noch lange nicht für immer. Der Tag des Wiedersehens mit Engenthal jedenfalls war nicht allzu fern. Schlimmstenfalls würde ihre Zulassung zum Studium erschwert nach der Rückkehr, mehr an Sanktionen traute sie von ihrem Land nicht zu. Sie hatte den Beutel vom linken Fuß umständlich herangezogen. Der Schlüssel befand sich darin besser aufgehoben als in der Hosentasche. Dort drohte nur Verlust bei der scheußlichen Wegstrecke, die noch vor ihnen lag.

Nach jedem zweiten Röhrenabschnitt meldete Hermann sich jetzt mit einer Ermunterung. Die Taschenlampe hielt er in der Hand. Bei jedem Vorschub der gekreuzten Unterarme huschte der Lichtschein gegen die Rohrwand und danach wieder weit voraus. Geradeaus gerichtet, verlief sich das Licht spurlos in der Dunkelheit. Im halbrunden Hohlraum vor ihnen kein Hindernis! Auf Reichweite der Taschenlampe war der Weg vor ihnen frei, aber das Röhrenende blieb weiter außer Sicht.

Dann und wann richtete Hermann den Lichtschein seiner Lampe vorsichtig zurück auf Elvira. Der Abstand zwischen ihnen war so klein wie schon von Anfang an. Er sagte ihr, wie froh er sei über ihre Nähe inmitten der Verlassenheit. Ihr Gesicht hatte wieder den entschlossenen Ausdruck angenommen, den er kannte. Sie lächelte ihm zu. Dass der Ausdruck sie Anstrengung kostete, bemerkte Hermann nicht. Lenkte er das Licht über sie hinweg, bot sich das gleiche Bild hinter ihr, das er beim Kriechen vor sich sah: matt erleuchtete Wandungen der Rohre auf einige Distanz, dahinter Finsternis, als werde das Licht von der Leere spurlos verschluckt. Sie waren allein zu zweit, nur auf sich selber angewiesen.

Den Weggang durch die Röhre war niemandem bekannt mit Ausnahme von Schöppach. Stieße ihnen hier unten etwas zu, sie existierten für die Außenwelt nicht mehr. Keiner außer Schöppach würde sie hier vermuten in dieser gottverlassenen Röhre. Er würde sich hüten vor einem Hinweis wenn kein Lebenszeichen von ihnen kam.

Wären sie nur für die Außenwelt verloren? Elvira wurde wieder deutlich, was sie gewußt hatten seit der Plan gefasst worden war. Ja, sie wären ganz und gar verloren, aber der Fall eines Fehlschlag hatte nicht eine Minute den Charakter der realen Möglichkeit gehabt. Ginge es nicht weiter voran wegen Hindernissen auf ihrem Weg, der einzige Möglichkeit zur Rettung läge im Rückzug zum Ausgangspunkt. Sie hatte Kriechen im Rückwärtsgang nicht geprobt, nicht einmal ausprobiert, so sehr waren sie überzeugt von ihrem Plan. Sie schätzte den Zeitaufwand bis zum Einstieg zurück auf mindestens dreimal die bisherige Dauer. Laut rief sie Hermann zu:

„Wir kommen gut voran. wann sind wir da? Ist vorne schon etwas zu sehen“? Die Antwort half nicht aus den düsteren Gedanken:

„Knapp die Hälfte haben wir hinter uns. Ich denke, der Grenzzaun ist längst passiert. der Tunnel reicht aber ziemlich weit auf westdeutsches Gebiet.“ Sie war enttäuscht:

„Schade, ich dachte, wir wären weiter.“

„ Aber doch gut vorangekommen. Geht es dir immer noch ganz gut Elvira? Wenn du es willst, ist wieder Zeit für eine kleine Rast. Ich selber könnte stundenlang so weiter robben. Trotzdem, dieses Kriechen ist eine lästige Tortur. Liegt die Strecke heute Abend hinter uns, erscheint sie gleich in einem anderen Licht. Wir haben dann eine Geschichte zu erzählen, die nicht von schlechten Eltern ist.“ Elviras Überlegung galt Mitmenschen in gleichem Lage, der Verdrossenheit über ihren Staat:

„ Sobald irgend jemand davon erfährt, ist dieser Weg für andere versperrt. Ich kenne einige, die viel für das Wissen um unsere Röhre geben würden.“ Dann nach einer kleinen Pause:

„Hermann, warum zieht sich der Ausflug so schrecklich in die Länge? Mir ist noch immer heiß. Ich möchte mich so gerne einmal strecken, nicht nur in die Länge, sondern auch die Arme ausstrecken so weit wie es nur geht.“ wieder der verzagte Ton! Hermann spendete den Trost, der in ihrer Lage möglich war:

„ Lege dich auf die Seite, Elvira, und stelle dir intensiv einen Garten vor. Wir beide liegen im Schatten in Liegestühlen unter einem Baum. Die streckst die Hände hinter deinen Kopf und spürst den Sommer“. Er schob seine Wasserflasche vorsichtig mit den Füßen zu ihr hin. Im Schein der Lampe sah er, dass sie dem Vorschlag zum strecken ihrer Arme folgte. Sie griff sich blind die Flasche, und setzte sie lange nicht ab. Wahrscheinlich hatte sie ganz leergetrunken.

„Hat gut getan Mann, danke schön“, sagte sie. „Das Strecken der Arme vor den Kopf ist trotzdem kein Ersatz für die Bewegung in die Breite“. Sie sah unglücklich aus, fand er, oder lag nur Täuschung durch den Dreck und die fahle Beleuchtung vor?

Hermann täuschte sich nicht. Sie gab sich keine Mühe mehr, den Ausdruck ihrer Angst zu verbergen. Nicht ein Bild der Ruhe im Sommergarten trat vor ihre Augen, ein ganz anderer Eindruck quälte sie. Sie sah sich in eine Höhle eingesperrt und keiner half heraus. Man rief ihr von draußen höhnisch zu, sie solle sich selber helfen. Der Starke sei am mächtigsten allein. Dann kratzte jemand von draußen hinter dem Eingang in aufgeworfener Erde. Sie wehrte die düsteren Gedanken unwillig ab. Hirngespinste, nicht das Geringste hatte diese Zwangsvorstellung zu tun mit ihrer Lage. Schließlich war sie weder allein hier unten noch waren die Eingänge verschlossen. Hermann war bei ihr, sie beide würden in einer halben Stunde Westdeutschland erreichen.

Sie atmete stoßweises und gepreßt, zu leise als daß Hermann es hören würde. Ein neues Bild drängte sich auf. Der Inhalt schlimmer als zuvor. Man hatte ihr Flucht entdeckt. Hermanns Tarnung des aufgekratzten Bodens hatte nicht ausgereicht. An der Einstiegsseite verschloß die Grenztruppe ihre Zugangsöffnung. Sie sah die Erdkuhle aufgefüllt mit einer Aufschüttung von Sand. Beide saßen sie jetzt in der Falle. Panik ergriff Elvira. Der Pulsschlag beschleunigte sich zu jagender Raserei. Deutlicher noch als den Puls nahm sie die Atmung wahr; Luft aus den Lungen ausgepreßt und wieder eingesogen in hastiger, der Panik nahen Folge, begleitet von einem sinnlosen Gefühl der Furcht. Sie stieß einen schlecht unterdrückten Angstlaut aus.

Die Attacke ging vorbei, so rasch sie gekommen war. Hermann hatte sie gar nicht bemerkt. Er leuchtete den Abschnitt ab, der nach der Rast als nächster vor ihnen lag.

„Ich habe eben nicht verstanden. Was hattest du gesagt, Elvira, liebe Genossin im Untergrund?“ Sie gab kein Wort zurück. Dann hörte er sie weinen:

„Es ist so schrecklich eng. Ich kriege kaum noch Luft. Hilf mir raus, Hermann. Ich muß schnell hier raus, sonst fürchte ich um den den Verstand“.

Wieder weinte sie, diesmal lauter als zuvor. Hermann hatte sich vorhin nicht getäuscht. Seine Ablenkung hatte nicht gegriffen. Sie war letztlich ein Mädchen, ihr Reiz so unglaublich stark, daß sie ihn bis zur Verrücktheit anzog, aber doch schien sie trotz der Stärke auch verletzlich. Die Abgeschlossenheit setzte ihr zu.

Er mußte ihr helfen. Ein Anspruch, der unbedingt einzulösen war. Sie litt anscheinend an etwas ähnlichem wie Klaustrophobie. Er hatte irgendwann davon gelesen. Eine grundlose Ängstlichkeit, die seelisch Gesunde nicht betraf, oft aus den Untiefen gehemmter Seelen stammend, vielleicht aus einer früherer Verletzung. Wie auch die Höhenangst, eine Eigenschaft jedenfalls, die rational nicht kontrollierbar war. Elvira und schwach? Diese Eigenschaft traf auf sie nicht zu. Sie gehörte zu ihm seit ein paar Tagen. Wenn sie nur bleiben wollte, er ließe sie niemals wieder fort. Vor allem Schmerz und Unrecht sollte sie an seiner Seite sicher sein. Hermann Schrader wollte sie beschützen. Das Gefühl seiner Verfallenheit an das Mädchen war stärker als zuvor plötzlich wieder da.

Der nächste Ausgang unter freien Himmel war noch weit entfernt. Mehr als schwacher Trost konnte er nicht spenden mit Versuchen zur Aufmunterung. Vielleicht übertrieb sie die Klage. Freilich, es entspräche nicht ihrer Art. Vorsichtig schob er sich ein Stück weit zurück auf sie hin, schob die Beine, soweit das enge Rohr es zuließ, leicht angewinkelt über ihre Schultern und griff nach ihrer Hand. Elvira hatte nicht aufgehört zu schluchzen.

Er erschrak über das Zittern ihres Arms. Die Hand schien ihm eiskalt als sie mit ihren Finger fest sein Handgelenk umschloß.

„Laß mich hier nicht allein, Mann, ich habe so schreckliche Angst“, stieß sie keuchend hervor.

„Ganz ruhig, Liebes. Wir sind hier völlig sicher. Ich bleibe bei dir bis wir drüben sind. Absolut kein Grund, sich zu fürchten. Die Rohre sind stabil. Die haben Jahrzehnte so gelegen und halten jeder Belastung stand. Wir haben jede Menge frischer Luft. Sobald wir drüben sind, wartet ein neues Leben. Freuen wir uns drauf. Denk daran, wie viele uns um diese Chance beneiden. Am Ende wartet auch Hilfe wenn wir darauf angewiesen sind. Der Staat drüben ist nicht kleinlich. Wenn wir ohne Erlaubnis kommen, nehmen die das dort als Entscheidung für ihre Freiheit. Auch meinen Onkel haben sie damals nicht schlecht versorgt.“ Elvira sprach nicht. Das Zittern ihres Armes ließ nach. Hermann wusste nicht, ob die Wirkung seinen Worten zu verdanken war oder die Nähe ihr Beruhigung gab. Was er sagte, würde zumindest nicht schaden. Hermann fuhr fort:

„Wie baden wir? Bei deinen Sachen fehlt der Schwimmanzug. Wenn es ein bisschen dunkel ist, führt an einem Nacktbad kein Weg vorbei. Anschließend müssen wir uns bei den Grenzern bemerkbar machen, vorausgesetzt, man hat uns dann nicht schon entdeckt“.

Das zittern hatte aufgehört. Ihr arm war jetzt wieder ruhig, aber noch kalt. Statt einer Antwort spürte er ihren Händedruck. Sie atmete jetzt ruhiger; noch hörbar auffällig für Hermann, aber nicht mehr so krampfhaft angestrengt, wie kurz zuvor.

„Die Angst kam so plötzlich und so stark, Mann. „Von einer Zwangsvorstellung heimgesucht“, hätten wir das noch vor einem halben Jahr im Schulunterricht genannt. Niemals hätte ich geglaubt, dass so etwas existiert außer in billigen Romanen.“ Dann nach einer Pause:

„Du tust mir Gutes, Mann, aber auch gleichzeitig weh. Die langen Beine drücken mir die Schultern ein. Danke für deine Hand. Ach Hermann, warum nimmt das Rohr kein Ende? Bei unserem Training ging es viel lockerer als hier. Ich fühle mich immer noch schrecklich beengt. Habe mir alles viel leichter vorgestellt. Sag doch, wie kann ich mich schützen gegen diese Angst?“ Hermann hob die Füße von ihren Schultern ab und presste sie gegen die Innenwand des Rohres. Lange konnte er diese Stellung nicht beibehalten. Kurzzeitig eine prächtige Übung für die Bauchmuskulatur, dachte er. Immerhin, eine leichte Aufrichtung des Oberkörpers gelang. Er nahm jetzt die Form eines flachen Flitzebogens ein, dachte er. Den Bogen weiter durchzubiegen, verhinderte das Rohr.

„Die Vorstellung vom Platz im Grünen hat nicht gewirkt?“

„Nein, hat nicht gewirkt.“ Wieder der verzagte Tonfall, ein Grund zur Sorge. Es war ihr Ernst mit ihrer Klage und Hermann wusste keinen Rat. Er konnte ihr nicht zur Seite stehen, noch nicht einmal zur Seite liegen, das Rohr ließ es nicht zu.

„Dann ärgere dich gar nicht erst mit Vorstellungen herum, schließe einfach die Augen und öffne sie erst dann wieder wenn wir drüben sind. Bin bei dir, Elvira, es kann wirklich nichts Schlimmes geschehen, die Röhre führt uns mit Sicherheit zu einem guten Ende. Zusammen sind wir ein unschlagbares Kollektiv.“

Mehr Hilfe als fader Zuspruch war ihm verwehrt. Psychotherapie hatte nicht zum Pensum seiner Ausbildung gehört. Könnte sie doch ihre grundlosen Ängste abwälzen auf seine stärkeren Schultern! Es war unmöglich, die Hauptlast beim Überstehen der ungemütlichen Situation lastete auf ihr.

Merkwürdig, dass Elvira unter dem Einschluß so litt. Eine vorübergehende Irritation, mehr konnte nicht dahinterstehen. Eine flüchtige Platzangst, die weichen würde auch ohne seine Sprüche. Er täuschte sich nicht, dass sie auch schwach sein konnte, machte sie ihm lieber als zuvor. Er hatte sie lieb, bei aller Scheu vor dem Gebrauch großer Worte. Wenn es sich machen ließ und sie es sah wie er, würde er bei ihr bleiben auf lange Zeit, vielleicht für immer. Mandy in Leipzig würde unglücklich sein wenn sie davon erfuhr.

Er hätte, wäre es notwendig, hier stundenlang bequem verweilt. Erinnerungen tauchten auf an ganz frühe Kindertage. Damals zählte zu den Vergnügungen zuhause der Aufbau großer Zelte aus Wolldecken, mit Wäscheklammern an den Möbeln festgemacht. Zusammen mit dem Vater hatte er sie aufgebaut. Fertiggestellt, blieben sie dann ihm allein vorbehalten. Je niedriger die freie Höhe im Zelt ausgefallen war, desto größer die Lust an der Unzugänglichkeit für andere in seine Zuflucht. Er hatte seine Spielsachen hinein geschleppt und sich auf eine weiche Unterlage lang hingelegt. Ein Gefühl königlicher Absonderung von der Familie. Den Großen war der Zutritt durch sein Verbot streng verwehrt. Am liebsten hätte er die Unterkunft tagelang zu seinem Aufenthalt gemacht im Wohlgefühl der selbst bestimmten Abgeschiedenheit.

Hatte nicht auch ein Philosoph in einem Rohr sein Glück gefunden? Er unterbrach den Gedankengang. Abschweifungen waren ihm nicht erlaubt, während sie litt. Von hier unten jedenfalls mußten sie so schnell wie möglich zurück ans Tageslicht.

Erneuter Aufbruch half mehr als endlose Verlängerung der Pause. Bei aller Beklemmung, wußte Elvira sehr wohl, jedes Rohrelement, das sie hinter sich ließen, brachte sie näher an ihr Ziel.

Sie schien gestärkt. Die Hand hatte sich seit der tröstenden Berührung vorhin nicht erwärmt. Ihr Atem ging jetzt anscheinend wieder flacher. Überstanden der Anfall von Kleinmut und Ängstlichkeit, dachte Hermann. Sie hatte Kraft für den nächsten Abschnitt geschöpft. Er löste ihren Griff vorsichtig und schob sich wieder ein Stück von ihr weg in Richtung auf den unsichtbaren Ausstieg. Viel länger hätte die Kraft nicht ausgereicht für das Verharren in der unbequem verkrümmten Haltung.

Die Anstrengung hatte zuletzt auch bei Hermann Keuchen und einen beschleunigten Atemzug bewirkt. Sein Bauch schmerzte nach der ungewohnten Anstrengung. Die kurze Zeit mit angezogenen Füßen über Elviras Schultern hatten ihn mehr Kraft gekostet als die ganze bisherige Kriecherei.

„Jetzt schnaufst du auch“, hörte er sie sagen.

„Mir bleibt die Anfechtung nicht erspart. Kein Grund, sich dafür zu schämen. Was wir hier treiben ist schließlich keine Kleinigkeit. Wir halten das zusammen aus. Kurzes Atmen hilft gegen die Angst. Es pumpt mehr Sauerstoff ins Blut. Trübe Gedanken kommen gar nicht auf. Am besten ist, du versuchst es gleich jetzt.“ Er dämpfte das Geräusch der eigenen Atemzüge und lauschte dem gepressten Hecheln hinter sich.

„Ich glaube schon, dass es ein bisschen wirkt.“

„Soll ich wieder das Licht anknipsen vor dem Start“?

„Nein, ich halte die Augen fest zugedrückt. Du hast es doch selbst empfohlen. So oder so, vor Dunkelheit habe ich nie Angst gehabt.“

Sie krochen schweigend weiter. Elvira beherzigte auch Hermanns zweiten Rat. Ihr hartes Keuchen, regelmäßig zwischen gespitzten Lippen herausgepresst, begleitete den Zug. Seine Gedanken galten nur ihr. Er ertappte sich bei einem Stoßgebet. Mochte ein gütiger Gott im Himmel ihr Nervenstärke geben die nächste Viertelstunde lang. Ein Bewußtsein für die Gefahr von Panikreaktionen war ihm nicht fremd. Bliebe Elvira stark, während der kurzen Zeit, die noch durchzuhalten war, dann würde diese Tour ihr gutes Ende finden.

Der Sand machte ein schwaches Schleifgeräusch unter dem um nur an der Vorderhälfte um eine Handbreite aufgestützten Bauch. Erschien der Ton ihr zu leise, steigerte sie die Geschwindigkeit bis sie einen der Füße vor ihr mit den Händen spüren konnte. Hermann sprach nicht. Das heftige Schnaufen hinter ihm zeigte an, Elvira hatte Tritt gefaßt. Nein, Tritt war falsch, sie stießen sich vor allem mit den Knien vorwärts. Noch einigen Minuten weiter so, dann wollte er sich wieder melden mit dem Vorschlag zu einer neuen Rast.

Elvira arbeitete sich wortlos voran. Für einen Blinden, ausgesetzt in unbekannter Umgebung, musste das Gefühl ähnlich sein. Er konnte nicht wissen, wie der Raum begrenzt war, in dem er sich bewegte. Aber ein Blinder stünde aufrecht auf seinen Beinen da und hatte die Freiheit zum Ausstrecken in jede Richtung, nicht nur nach vorn. Der Weg vor ihr war frei von Hindernissen, hatte Hermann gesagt. Auf Hermann war Verlaß. Jedes Hindernis räumte er beiseite, auch das was noch warten würde am Ende dieser endlos langen Röhre.

Seitlich und über ihr war Dunkelheit. Unbegrenztes Dunkel, das sie nicht schrecken konnte, niemals geschreckt hatte bisher. Sie würde sich in halber Trance weiter voran winden und erst haltmachen wenn Hermann eine Ruhepause brauchte, immer mit dieser wohltuenden Atemtechnik, die diese Angst von ihr nahm. Wenn diese Angst nicht wiederkehrte, war sie bereit, sich zu verausgaben bis zur völligen Erschöpfung. Dabei stellte sich diese Anforderung doch gar nicht. Das Ziel lag nah. Hatte Hermann nicht eben gesagt, die zwei drittel Marke sei jetzt überschritten? Nur noch die Hälfte der strecke vor ihnen, die hinter ihnen lag!

Wenn sie die Augen öffnete, würde sie Licht von außen sehen. Keine Beengung mehr dann, keine Verstellung mehr in die Rolle einer Blinden. Sie würde aufrecht stehen und sich beliebig strecken in jede Richtung ihrer. Wahl. Endlich würden die Arme wieder ausgebreitet und frische Luft zu atmen sein.

Solche Bilder waren über sie gekommen, entgegen dem Vorsatz sich frei von Gedanken ganz zu versenken in eine gleichgültige Dunkelheit. Aber die Steuerung der Bilder im Kopf lag außerhalb ihrer Macht. Nur schwach abgeschirmt, eilte die Phantasie zum Ziel voraus. Wieder erwachendes Bewußtsein der eingeengten Lage gab Elvira erneut Angstimpulse ein. Die Gier des Körpers nach ungehinderter Bewegung lebte wieder auf. Noch war es zu früh für das das Einfordern des selbstverständlichen Rechts auf freie Ausbreitung im Raum. Dieses Verlangen war stärker als alle Selbstkontrolle.

Der Anfall kam rasch und stark. Das regelmäßige Geräusch der kurzen Atemstöße blieb aus. Stattdessen hörte Hermann hinter sich eine Tonfolge ähnlich schlecht unterdrücktem Lachen. Der Luftstrom in Elviras Hals schwang in einem ihm fremden Stakkato. Er konnte nicht unterscheiden, war dem Atemschöpfen ein Lachen oder Weinen unterlegt.

„Alles in Ordnung, Liebes“, rief er in das Dunkel und wusste doch, dass wahrscheinlich nichts mehr in Ordnung war. Ein Klagelaut, dann:

„Hilfe Mann, Luft“, nicht gesprochen die drei Wörter, sondern schmerzvoll in das Hecheln eingeschoben. Er wiederholte seinen Rat, der anscheinend nur kurz geholfen hatte:

„Schließ´ die Augen, Elvira atme wieder so wie vorhin. Wir sind fast da. Vorne sieht man schon schwaches Licht.“ Er hatte dem ersehnten Anblick vorgegriffen in seiner Not.

Statt einer Antwort hörte er schluchzende Laute, einem schweren Keuchen unterlegt. Zugleich ein klopfendes Geräusch. Der Übergang vom Eindruck des Lächerlichen zu diesem Elend war zu klein. Er knipste entgegen seinem Vorsatz von vorhin die Lampe an und leuchtete hinter sich. Elvira lag seitlich gegen die Rohrwandung gelehnt. Sie schlug die Ellenbogen im kurzen Stößen gegen einen Widerstand, der keine Ausbreitung erlaubte. Der offene Mund und weit aufgerissene Augen entstellten ihr Gesicht. „Endlich, wir haben es geschafft, ich sehe Licht“ kam, wieder in atemloses Hecheln eingebettet.

„Beruhige dich, alles wird ja jetzt gut, in ganz kurzer Zeit“, gab er zurück.

Sie schien nicht zu verstehen. Nichts gab sie Hermann zurück als ein gequältes Stöhnen, das kein Ende zu nehmen schien und dann verstummte. Hermann erschrak noch mehr über die Verzweiflung in ihrer Stimme als schon beim Anblick der leidenden Gestalt. Ohne den Tod Anderer persönlich noch nie miterlebt. Doch glaubte er zu wissen, die schauderhafte Not der Todesangst drückte sich aus in einem solchen Schrei. Was half sein Mitleid Sein eigener Schmerz und die Erschütterung halfen ihr nicht heraus aus dieser Not. Sein Mitleid brachte ihr keine Linderung. Er hatte sie hierher geführt und war wohlauf, sie litt Höllenqualen. War es sein Verdienst, dass er Platzangst nicht kannte? Die Lasten ihrer gemeinsamen Unternehmung waren ungerecht verteilt. Der Fall, den er seit ihrer ersten Klage befürchtet hatte, war eingetreten. Wo nahmen sie Hilfe her in dieser Unterwelt? Er sprach ohne Unterbrechung weiter, beruhigend bildete Hermann sich ein. Elvira bewegte schwach die Lippen. Außer dem hechelnden Geräusch brachte sie keinen Laut heraus. Das Licht schadete womöglich nur. Zeigte die Rohrwand an und machte die Enge um sie herum noch deutlicher, als sie, auch ohne Beleuchtung, spürbar blieb.

„ Ich komme wieder zurück zu dir wie vorhin“, stieß er aus, jetzt wieder in Dunkelheit gehüllt. Seine Stimme klang hilflos, längst hatte Hermann die vorgetäuschte Zuversicht eingebüßt

Wieder wand er sich ein Stück weit zurück, presste die Füße an die Rohroberseite und griff nach ihrer Hand. Die Finger waren kalt, aber sie zitterten nicht wie vorhin. Auf seinen Händedruck kam keine Erwiderung. Er verstärkte den Druck. Sie musste seine Nähe spüren können, selbst wenn sie schon am Rand einer Panik stand. Kein Zeichen des Verstehens kam zurück. Elviras Atem hatte sich zu leisem Fächeln abgeschwächt. Er flehte sie mit gepreßter Stimme an:

„Antworte doch, bitte, verflucht noch mal Liebes, antworte doch.“ Die Reaktion blieb aus. Hermann spürte die Tränen im Gesicht. War Elvira bewußtlos? Ein weiteres Stück drängte er sich zurück. Mit ausgestreckter Hand streichelte er über den Haaransatz und den lieben Kopf. Ihre Augen schienen halb geöffnet in der Dunkelheit; die Stirn ebenso kalt und leblos wie die Hand.

Er durfte nicht länger seine Beine halb auf ihre Schultern stützen. Wenn sie zu sich kam, würde er ihr in dieser Stellung eine Belastung sein. Hermann stützte die Füße mühsam wieder gegen das Rohrdach ab. Einzig ein klarer Kopf würde hier von Nutzen sein. Er war sich seiner Verstörtheit wohl bewußt. Hilflosen Hingabe an den Schmerz über das jammervolle Bild half ihnen nicht. Die Distanz zum Röhrenende betrug im Höchstfall hundert Meter. Mit einer letzten Kraftanstrengung würden sie die Strecke schaffen. Vielleicht würde ihr helfen, laut zu zählen oder Gedichte aufzusagen zur Ablenkung.

„Komm, machen wir uns wieder auf den Weg“, lautete der Satz, den ein ums andere mal, zu ihr hin gerichtet wiederholte. Brauchte sie so viel Zeit, sich von der Attacke zu erholen? Elvira blieb weiter die Antwort schuldig. Er hielt den Kopf zurückgewendet so weit das Rohr Platz dafür gab. Es gab keine andere Erklärung, Elvira war ohnmächtig geworden.

Er mußte jetzt abwarten bis sie aus der Bewußtlosigkeit erwachte, es blieb ihnen keine Wahl. Sobald sie bei Besinnung war, würde er versucht, sie hinter sich her zu schleifen. Sie würde sich an ihm festklammern und sich ziehen lassen, notfalls angebunden mit einer Schlinge an seinem Fuß. Jedenfalls aber mußte sie bei Bewußtsein sein.

Fünf oder zehn Minuten mochten verstrichen sein seit ihrem Zusammenbruch, als Elviras Stimme wieder zu ihm drang. Sie sprach ganz leise. Trotzdem klangen die Worte wie eine Erlösung in Hermanns Herz. Elvira lebte.

„Was ist hier los? Ich kann nicht weiter, Hermann, du musst Hilfe holen.“ Das zitternde Keuchen stellte sich wieder ein. Sie atmete hastig, schneller als normal aber nicht ganz so schnell wie vorhin bei ihrem Anfall.

„ Jetzt ist es nicht mehr weit. Wir schaffen auch das letzte Stück gemeinsam“, sagte er.

„Ganz ruhig so weiter wie vorhin und nur auf das Vorwärtskommen konzentriert. Halte dich fest an meinen Füßen wenn du willst. Wir kommen dann langsamer voran, aber immer noch rechtzeitig drüben an, ehe es draußen dunkel wird. Wir sind hier völlig sicher“. Sie gab nur zurück:

„ Nein, unmöglich, ich kann mich nicht bewegen, Mann. Vielleicht bin ich gelähmt“ die letzten Worte waren so leise gesprochen, dass er sie kaum verstand. Wieder nur Hecheln, das in Schluchzen überging. Hermann schlug Rezitieren von Gedichten vor. Er ahnte im Voraus die Nutzlosigkeit: von diesen Ratschlägen ging keine Beruhigung mehr aus. Er durfte sich kaum sicher sein, daß sie seine Worte verstanden hatte. Sie ging auch gar nicht auf den Vorschlag ein. Nach ein paar Minuten meldete sie sich hinter ihm:

„Geh bitte und hole Hilfe.“ Hermann Schrader bat sie um die Hängetasche mit ihrem Gepäck. Er würde dann eine Schlinge um ihre Schultern legen. Nein, sie könne sich nicht bewegen, hörte er wieder, jetzt haltlos flennend dabei wie ein kleines Kind. Erst nach zwei weiteren Bitten zum Aufbruch gab sie wieder Antwort:

„Hol Hilfe, ich kann mich nicht bewegen“ seine Beschwörung hatte nichts genützt. Die Starre ließ nicht nach. Abschreckend der Gedanke, sie hier allein zurückzulassen und sei es nur für kurze Zeit. Hermann zwang seiner Verzweiflung eine mühsame Überlegung ab. Die schnellste Hilfe würde die sein, die er selber brachte. Er konnte voraus kriechen zum Ende des Kanals und in Gegenrichtung gleich wieder aufbrechen zurück. Dann hatte er die Möglichkeit, sie mit den Händen hinter sich her zu ziehen. Das Tempo auf diesem zweiten Weg zum Ziel würde niedrig sein. Rückwärts kam er mit ihr zusammen nur langsam voran. Aber diese Bewegung rückwärts würde die Rettung für Elvira sein.

Der Vorsatz war ausführbar, aber Elvira blieb einige Zeit lang allein. Elvira musste nur die Zeitspanne durchhalten, die er brauchen würde für die Strecken zum Ausgang und zurück. Dann war er nahe bei ihr, Kopf an Kopf, und alles würde leichter sein. Ihre Erstarrung konnte dann nicht ewig dauern. Im schlimmsten Fall löste sie sich erst nach dem Ausstieg. Er erinnerte sich an ein Buch über Bergsteigerei. Auch dort kam bei Erschöpfung in Gefahr Angststarre vor. Seelische Belastung so stark, dass sie die Muskeln völlig lähmt. Wieder schlug er Elvira den gemeinsamen Aufbruch vor. Die Antwort kam klar aber ganz leise:

„Nein, unmöglich, ich kann nicht. Ich habe versucht, mich abzulenken. Erzähle mir selbst schon seit einiger Zeit Gedichte vor. Beeil´ dich“

„Hältst du solange alleine aus?“ Sie füsterte eine verzagte Zustimmung. Hermann schob sich noch einmal zu ihr hin, so, dass er mit der Hand ihr Gesicht streicheln konnte. Er spürte, die Augen waren ebenso tränennaß wie seine.

„Bald ganz bald bin ich bei dir zurück, dann helfe ich dir raus und du kannst dich wieder frei bewegen, Liebes.“

„Mach schnell“, waren die letzten Worte, die Hermann hörte, dann robbte er eilig von ihr weg. Die Taschenlampe hatte er ihr vorher in die Hand gedrückt.

Das Huhn hatte den Ausgang am Vortag ohne Schwierigkeit passiert. Für Hermann erwies sich die Restöffnung als zu klein. Es kostete ihn einige Mühe und Zeitaufwand bis die Erde vor dem Röhrenende wenigstens bis zur Rohrmitte weggeschoben war. Auch hier eine wenig auffällige Erdvertiefung, nicht hinter Büschen gelegen sondern in einem kleinen Wald! Mehr als einen kurzen Blick in die Runde war ihm Westdeutschland nicht wert. Nichts sah hier anders aus als auf der anderen Seite. Kein Westgrenzer ließ sich sehen. In der Richtung, aus der er gekommen war, erkannte er in einiger Entfernung den verfluchten Zaun. Die beiden Wachttürme erschienen nicht weiter entfernt zu sein als von der anderen Seite her gesehen.

Er nahm alle diese Eindrücke nur flüchtig wahr. Die Gedanken waren bei Elvira, zurückgeblieben in ihrer Verlassenheit in einem endlosen Kanal. Er hatte sich nicht einmal aufgerichtet, nur das Hemd ausgezogen, sich gestreckt, lang und breit, und hatte danach die Jacke wieder angelegt. Gleich danach hatte er kehrt gemacht, war in Gegenrichtung aufgebrochen.

Unterwegs zum Ausstieg schon war ihm bewusst geworden, er brauchte eine Zugvorrichtung. Der Riemen an Elviras Ledertasche war vielleicht zu schwach. Sie würden beim Weg zurück das Hemd als Ziehseil nutzen. Die Hemdsärmel verknotet, würde er sie mit dieser Schlinge fassen. Bei der Bewegung rückwärts blieben dann seine Hände frei. Er konnte sich gegen das Rohr abstützen und Elvira notfalls heraus schleifen, wenn auch im Schneckentempo. Immer vorausgesetzt, sie brauchte diese Unterstützung noch. Die halbe Ohnmacht, in der er sie zurückgelassen hatte, war vielleicht in der Zwischenzeit ihrer gewohnten Zuversicht gewichen. Hatte sie sich inzwischen auf den Weg gemacht, dann trafen sie sich jetzt jeden Augenblick hier im Dunkel. Überzeugt war er von der Erwartung nicht. Warum machte sie sich nicht wenigstens bemerkbar durch Antwort auf sein Rufen?

Er würde ihr wieder nah sein können, seine Arme, nicht die schmutzigen Schuhe nahe bei ihrem Gesicht. Die Nähe zwischen ihnen hatte sie mehr als einmal alles andere vergessen lassen. Sie würde auch jetzt wieder Wunder wirken, wenn das noch nötig war. Den Gedanken, dass in der Zwischenzeit sich nichts gebessert hatte, unterdrückte er so gut es ging. Es gelang ihm schlecht. Hässlich nagte im Kopf die Furcht, Elviras Zustand habe sich in der Zwischenzeit verschlechtert. Er erlaubte das nicht, es durfte nicht sein. sie gehörten zusammen; keiner, auch nicht der liebe Gott, durfte schuld daran sein, dass sie litt. Mit ausgetrocknetem Mund stammelte ein immer gleiches Stoßgebet.

Während der vielleicht zehn Minuten bis zum Rohrausgang hatte er mehrere Male den Kopf gewendet und gebrüllt: „Bin gleich zurück.“

Die Stimme trug anscheinend nicht weit. Ihm selbst war sein Ruf schrill und dabei kraftlos vorgekommen. Keine Verstärkungswirkung! Wahrscheinlich schluckte die Röhre den Schall statt ihn zu verstärken. Eigentlich durfte das nicht sein, sagte ihm sein Sachverstand. Vielleicht dämpfte die feuchte Oberfläche im Rohr oder die Schlammschicht unter ihm die Weiterleitung.

Jetzt, auf dem Rückweg, schrie er in kurzen Abständen in die leere Dunkelheit vor seinem Gesicht:

„Ich komme“, „habe Hilfe dabei.“ Sie meldete sich ebenso wenig wie vorhin. Dann war Elvira erreicht. Seine Hände berührten ihren ausgestreckten Arm. In der Finsternis hatte er sie auch auf einen halben Meter Abstand vorher nicht gesehen.

„Endlich, Liebes, ich bin so froh. Du wirst sehen, alles wird gut“, keuchte er, noch erschöpft von der hastigen Vorwärtsbewegung im Rohr. Er streichelte ihre Hände und führte sie, aneinandergelegt, vor seinen Mund. Ihre Finger verteilten die Tränen aus seinen Augen über das Gesicht. Seit er sie allein gelassen hatte, waren sie in seiner Hilflosigkeit geflossen. Hermann schämte sich nicht dafür.

Immer noch zeigten die Hände die gleiche Kälte wie vorhin. Sie sprach kein Wort, auch bei der tröstenden Berührung ihres Kopfes und des Gesichts. Eine unsinnige Angst stieg in ihm auf. Er rief sich selbst halblaut auf zu Übersicht und Nüchternheit. So wie vorhin, würde sie zu sich kommen nach einiger Zeit. Er fühlte nach dem Puls am Handgelenk. Anscheinend zu schwach für eine zitternd suchende Hand. Auch vorhin hatte er ihren ganz leisen Atem kaum gehört, ehe sie zu sich kam. Jetzt keuchte er selbst zu laut. Erst mußte er selbst zu mehr Ruhe kommen, vorher hielt er in seiner Gefühlsverwirrung schwache Sinneseindrücke nicht auseinander.

„Komm zu Dir, das Schlimmste ist vorbei. Ich bin bei dir und ziehe dich heraus. Du musst dich selbst nicht mal bewegen.“.

Die Worte, mehr angstvoll gestammelt als klar gesprochen, hörte Elvira nicht. Wieder wurde ihm Geduld zum Warten abgefordert wie vorhin, sagte sich Hermann. Er wollte sie nicht noch einmal ängstigen durch die Beleuchtung der Misere. Es würde nur zusätzlich die Enge deutlich machen. Dann löste er die Lampe doch aus ihrer Hand und machte Licht. Elvira blickte ihn mit offenen Augen an. Sie lag seitlich leicht angelehnt an der Wandung des Rohres und schlief. Die Hände waren dort auf den Boden gesunken, wo er sie eben losgelassen hatte. Das Gesicht, obwohl verschmiert durch Tränen und Dreck, drückte Frieden aus. Er hatte sie mit diesem Ausdruck einige mal schlafen sehen und sich an ihr gefreut. Nur die offenen Augen passten nicht ins Bild.

Wieder beschwörend und behutsam zugleich:

„Komm zu dir“, ein Anruf, der sie nicht mehr erreichen sollte? Konnte es sein, dass sie nicht mehr am Leben war? Hermann hatte keine Erfahrung mit dem Tod. Furcht packte ihn, die drohte, ihm den Verstand zu rauben. Zu seinen Tränen trat lautes Protestgeschrei. Er durfte sie nicht verloren haben. Ein Ende, so schrecklich und so früh, ließ ein gütiger Gott nicht zu. Keiner hatte verdient, in einer solchen Röhre elend zu krepieren. Ausgeschlossen, dass man als junger Mensch an Platzangst starb. Sie würde die Augen wieder schließen wenn diese Ohnmacht überstanden war. Vorsorglich würde er erste Hilfe leisten. Das konnte nicht völlig falsch sein wenn ihre Atmung so schwach war, dass er sie nicht hören konnte. Hermann schob seinen Kopf neben ihren und versuchte sich ungelenk in Reanimation. Öffnete ihren Mund und presste, rhythmisch wiederholt, Luft hinein. So hatte man es ihm vor Jahren in einem Kurs beigebracht. Lang wartete er dann, forderte mit hilflos wiederholter Anrufung vergeblich ein Lebenszeichen.

Elvira kam nicht zu sich. Beide mußten sie erst mal raus aus diesem Verlies! Er schlang die Ärmel seines Hemdes zu einem festen Knoten. Die Schlinge wand er keuchend um Elviras Rücken und führte sie unter den Schultern durch. Vorsichtig legte er ihre Arme zurück an die Seiten, so, dass sie die Bewegung nach vorne nicht behinderten. Vorder- und Rückenteil des Kleidungsstückes legte er zwischen die Zähne und bog den Kopf hoch in den Nacken. Elvira bewegte sich. Sie waren bereit. Auf diese Weise war langsamer Fortschritt zum Ausgang möglich. Einen Augenblick lang bedachte er, es würde sogar zu ihrem Vorteil sein, wenn sie erst draußen wieder zu Bewußtsein kam. Dann würde die Enge schon überwunden sein, die ihr beinahe zum Verderben geworden war. Die freien Hände gegen die Rohrwand abgestützt, schob er sich zurück. Elvira folgte erst anschließend, willenlos in ihrer Schlinge. Etwa einen halben Meter Fortschritt brachte jeder Zyklus. Der Ablauf war zeitaufwendig, aber er führte zum Ziel. Vorsicht war geboten in Anbetracht der Haltbarkeit des Stoffes. Kein Hemd der Welt, auch nicht sein Hemd der HO in Leipzig war für solche Beanspruchungen ausgelegt. Sollten die Ärmel an den Schulternähten reißen, hätten sie keinen Ersatz. Er zog immer soweit möglich behutsam an. Einstweilen widerstand der Stoff. Elvira blieb weiter stumm. Er konzentrierte sich jetzt ganz auf das Geschäft der Fortbewegung.

Nach etwa dreißig Metern hörte er ein schwaches Geräusch, als löse sich eine Naht. Hermann verdoppelte seine Vorsicht jeweils wenn er die Schlinge zu sich zog. Glitt Elvira erst einmal zu ihm hin nach dem kleinen Ruck, den er brauchte, die Bewegung einzuleiten, fiel der Widerstand immer deutlich ab.

Ohne ein auffälliges Hindernis auf ihrer Bahn, riß dann einer der Ärmel glatt ab. Hermann hätte gerne laut aufgeheult vor Enttäuschung. Diesmal gewannen Kopflosigkeit nicht die Oberhand. Wenn die Schlinge die Belastung nicht aushielt, würde er mit einer Hand Elvira hinter sich herziehen bis zum Verlassen dieser Hölle. Er wendete ihren rechten Arm vorsichtig unter dem Rohrdach zu sich hin. Dann schob er sich soweit von ihr weg, dass seine linke Hand ihre Rechte gerade fassen konnte. Stützte sich mit seinem freien Arm und den Füßen gegen die Rohrwand ab und versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Die beiden Körper bewegten sich ein kleines Stück aufeinander zu, Hermanns etwas weniger in Elviras Richtung als sie hin zu ihm. Seine stützend Hand war abgerutscht. Die Nässe an der Oberfläche hatte nicht den Halt gegeben, die zum Aufbringen der Kraf notwendig gewesen war. Elvira war um nicht mehr als zehn Zentimeter zu ihm nach vorn gerutscht. Er versuchte es noch einige male, immer wieder mit gleich enttäuschenden Erfolg.