Grimoire - Das magische Buch - Kim Wilkins - E-Book
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Grimoire - Das magische Buch E-Book

Kim Wilkins

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Beschreibung

Ein Buch, das grenzenlose Macht verspricht … der packende Mystery-Thriller: »Grimoire – Das magische Buch« von Kim Wilkins als eBook bei dotbooks. Eine Universität im Bann dunkler Mächte: Prudence und Holly studieren an der Melbourner Universität unter Professor Aswell. Doch plötzlich beginnt ihr Tutor, sich merkwürdig zu verhalten, und rätselhafte Ereignisse in dem alten Gebäude künden von einem kommenden Grauen … Gemeinsam mit Justin, dem Neffen des Dekans, stellen sie Nachforschungen an – und stoßen auf einen Geheimbund in den höchsten Reihen der Universität, der schwarze Magie betreibt und nach der Macht des Teufels selbst strebt! Die Mitglieder stehen kurz davor, alle Teile des jahrhundertealten »Grimoires« zusammenzufügen, das ihnen ewiges Leben verschaffen soll. Was sie nicht wissen: Sie beschwören damit uralte, unkontrollierbare Mächte herauf … Werden die drei Studenten es schaffen, das unheilvolle Ritual zu stoppen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: der fesselnde Mystery- Thriller »Grimoire – Das magische Buch« von Kim Wilkins wird alle Fans von Stephen King begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 893

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Über dieses Buch:

Eine Universität im Bann dunkler Mächte: Prudence und Holly studieren an der Melbourner Universität unter Professor Aswell. Doch plötzlich beginnt ihr Tutor, sich merkwürdig zu verhalten, und rätselhafte Ereignisse in dem alten Gebäude künden von einem kommenden Grauen … Gemeinsam mit Justin, dem Neffen des Dekans, stellen sie Nachforschungen an – und stoßen auf einen Geheimbund in den höchsten Reihen der Universität, der schwarze Magie betreibt und nach der Macht des Teufels selbst strebt! Die Mitglieder stehen kurz davor, alle Teile des jahrhundertealten »Grimoires« zusammenzufügen, das ihnen ewiges Leben verschaffen soll. Was sie nicht wissen: Sie beschwören damit uralte, unkontrollierbare Mächte herauf … Werden die drei Studenten es schaffen, das unheilvolle Ritual zu stoppen?

Über die Autorin:

Kim Wilkins ist in London geboren und in Australien aufgewachsen. Sie ist Autorin und Dozentin für Kreatives Schreiben und Buchkultur an der University of Queensland. Wenn sie gerade nicht schreibt oder lehrt, liebt sie es, durch nebelverhangene Landschaften zu spazieren, Led Zeppelin zu hören und über das England der Wikingerzeit oder pagane Mythologie zu lesen. Sie lebt mit ihrem Partner und ihren Kindern in Brisbane.

Kim Wilkins veröffentlichte bei dotbooks außerdem »Infernalis – Das Teufelsmal«.

Die Website der Autorin: kimberleyfreeman.com/about/

Der Autorin auf Facebook: facebook.com/KimAuthorPage/

***

eBook-Neuausgabe April 2021

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Grimoire« bei Random House, Sydney. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Das magische Buch« bei Heyne.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Kim Wilkins

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Kim Wilkins

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.de, ©Hildendesign / shutterstock.com (IrinaAlexDesign)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-445-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

Besuchen Sie uns im Internet:

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blog.dotbooks.de/

Kim Wilkins

Grimoire – Das magische Buch

Mystery-Thriller

Aus dem Englischen von Thomas Hag

dotbooks.

Dieses Buch ist mit liebevollen Gedanken Prinzessin Katelyn gewidmet

Let Love clasp grief lest both be drowned,

Let darkness keep her raven gloss.

Ah, sweeter to be drunk with loss,

To dance with Death, to beat the ground,

Than that the victor Hours should scorn

The long result of love, and boast,

»Behold the man that loved and lost,

But all he was is overworn.«

ALFRED, LORD TENNYSON

I gotta keep movin’, I gotta keep movin’ ...

There’s a hellhound on my trail.

ROBERT JOHNSON

Prolog

1867

P. C. Hallam hatte sich sehr weit von seinem Revier entfernt. Der säuerliche Geruch der Themse, die dunklen Schatten, die im Gaslicht tanzten, die Flüche der Schauerleute, die die Kiste auf den Sparren luden – ein starker Kontrast zu den modischen, freundlichen Straßen von Faraday Square und Milton Close, wo er sonst Streife ging. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich zu den Docks zu begeben und hier ohne Uniform an einer dunklen Ecke zu hocken.

Aber er musste Gewissheit haben.

»Langsam ... langsam«, rief ein Maat auf dem Schiff – einer hundert Fuß langen Barke auf dem Weg zu den Kolonien. Die Kiste drohte vom Haken zu rutschen und hing einen Augenblick zitternd über dem Dock, bevor der Kran sie auf das Schiffsdeck beförderte. Sie warf einen rechteckigen Schatten, der die Gesichter der Arbeiter kurz ins Dunkel tauchte. Auf dem Schiff lotsten andere Männer die Kiste in die Frachtluke.

Die kalte Nachtluft streifte wie ein Hauch Hallams Gesicht; er rieb seine behandschuhten Hände aneinander. Seltsam, dass er sich nach der Sicherheit seiner Streife sehnte, hatte er doch gerade dort den grellen Albtraum erlebt, der ihn noch immer verfolgte. Es lief ihm kalt den Rücken herab, als sich das Grauen erregende Bild wieder einmal in seine zögerliche Erinnerung drängte.

Ein Donnerstagabend war es gewesen – frisch, aber nicht zu kalt. Der Abendnebel wallte durch die Straßen, und ein junges Pärchen hatte sich an ihn gewandt und nach einer Adresse gefragt. Er hatte sie gerade auf den Weg geschickt, als aus dem Haus Nr. 13, Milton Close, Schreie ertönten. Peter Owling, dem Bewohner, begegnete er häufiger auf seiner Streife, ein wohl bekannter Exzentriker, der sich meistens in prachtvoll gefärbte Seidengewänder hüllte, die seine Fettleibigkeit noch betonten. Hallam war die Stufen hinaufgerannt und hatte gegen die Tür gehämmert. Keine Antwort – nur ein lautes Schluchzen. Er zerschlug das Türfenster und tastete an der Innenseite nach dem Schloss, stürmte in das Haus und folgte dem Klang der Stimme bis in Owlings prächtiges Esszimmer, verschwenderisch eingerichtet mit dunkelroten Tapeten, vergoldeten Bilderrahmen und einem extravaganten Kerzenleuchter.

Und dann – der Albtraum.

Es sah aus, als habe Owling Gäste zum Essen erwartet. Der Tisch bog sich unter dem Gewicht der Speisen – ein Schinken, gebratener Truthahn, Schüsseln mit Gemüse, Törtchen, Weinflaschen – und in der Mitte, vom schwachen, flackernden Schein der Kerzen erhellt, lag der nackte Leichnam Peter Owlings.

Hallams Blick wanderte durch den Raum. Das Schluchzen kam aus einer Ecke, in der ein Junge kauerte. Es war Christian, Owlings Freund. Er war etwa siebzehn, ein wunderschöner Bursche mit dem Gesicht eines Engels und die Zielscheibe einer Menge Tratsch über das wahre Wesen seiner Beziehung zu Owling.

»Mein Gott, was ist hier geschehen?«, fragte Hallam.

Christian schluchzte nur und deutete überflüssigerweise auf die Leiche.

Hallam näherte sich dem Esstisch. Über Owlings fetten weißen Bauch liefen tiefe, dünne Blutlinien in einem Zickzackmuster, als habe jemand ein grausam feines, scharfes Instrument dazu benutzt, eine Botschaft des Hasses in das aufgedunsene weiße Fleisch zu ritzen. Der Hinterkopf, erkannte Hallam, war eingedrückt, blutig, als habe ihm jemand einen Schlag von erheblicher Wucht versetzt. Und auf seiner Brust lag ein Buch, das jemand mit einem Dolch, der ihm tief ins Herz gebohrt worden war, dort aufgespießt hatte. Oder vielmehr der herausgerissene Teil eines Buches. Dunkles Blut tropfte zäh vom Tisch und bildete auf dem Boden eine Lache.

»Großer Gott«, murmelte Hallam.

»Das nächste Mal wird er uns alle vernichten.«

Hallam fuhr herum. Der Junge hatte etwas gesagt.

»Was ist hier passiert, Christian? Wer hat das getan?«

»Das nächste Mal wird er uns alle vernichten.«

»Warst du es?« Aber kaum hatte er die Frage gestellt, wusste Hallam, dass Christian niemals der Täter sein konnte. Owling war alles gewesen, was der Junge hatte.

»Das nächste Mal ...«

»Du sprichst wirr, Junge.«

Christian richtete sein tränennasses Gesicht mit einem dünnen, klagenden Wimmern nach oben, um sogleich wieder in sein trauriges Schluchzen zu verfallen.

Das nächste Mal wird er uns alle vernichten.

Hallam schüttelte den Kopf, um die Vision zu vertreiben. Gerade wurde die letzte Bücherkiste auf die Barke gehievt. Owlings Bücher. Aufgrund seines extravaganten Lebensstils war er zuletzt fast bankrott gewesen und schuldete einer reichen Bankerfamilie – den Humberstones – ein Vermögen. Um einen Teil ihres Geldes zurückzubekommen, hatten sie seinen Haushalt aufgelöst. Und in einer dieser Kisten befand sich das Buch, das an Owlings Brust geheftet war. Hallam wusste es genau, denn er selbst hatte es in die Kiste getan.

Er hatte schon bald genug gesehen, um zu wissen, um welche Art Buch es sich handelte – rückwärts Geschriebenes, Beschwörungen, absurd komplizierte Zeichnungen von Kreisen, dazwischen Abschnitte in alten Sprachen, Pentagramme und Hexagramme. Ein unseliges Buch, etwas, das er so weit weg von London – und sich selbst – sehen wollte, wie es nur ging. Zweifellos war es auch eine unselige Magie, die es verhindert hatte, das Buch zu zerstören. Vergeblich hatten er und zwei andere Constables versucht, es zu verbrennen. Owlings Haustür war noch nicht repariert worden, und so war es ein Leichtes, das Ding zwischen andere Bücher in einer der Kisten zu stecken. Sollte es in den Kolonien landen, wo es keinen Schaden anrichten konnte. Denn das nächste Mal ...

Ein Schrei hallte durch die taufeuchte Nachtluft. Hallam fuhr herum und sah, wie eine bleiche Gestalt aus dem Dunkel auftauchte und den Pier entlangrannte, als sei ihr der Teufel auf den Fersen.

Christian. Entsetzen verzerrte sein blasses Gesicht, sein langes, schwarzes Haar wehte im Wind.

»Nein, nein!«, schrie der junge Mann, während er auf die Barke zulief.

»Christian!«, rief Hallam und trat hervor, um ihn aufzuhalten. Doch Christian stieß ihn beiseite und machte sich daran, über die Gangway an Bord des Schiffes zu laufen. Der Vorfall hatte die Schauerleute abgelenkt; die letzte Kiste war bereits vom Kran gelassen worden, und der schwere Haken sauste wieder zum Dock zurück. Hallam erstarrte, als er sah, was geschehen würde.

Der Haken schlug gegen Christians Kopf. Blut spritzte, als das Eisen seine Schläfe zerschmetterte. Die Männer eilten auf ihn zu, aber er wankte ein paar Schritte und stürzte bewusstlos von der Gangway in das schwarze Wasser.

Hallam wandte den Blick von den schreiend umherlaufenden Hafenarbeitern ab. Er wusste, dass sie Christian nicht mehr lebend finden würden – nicht in der schlammigen Tiefe zwischen Dock und Schiff. Vielleicht würde die graue, traurige Leiche in ein oder zwei Tagen aus dem Wasser gezogen werden, von allein an die Oberfläche getrieben, nachdem schon die Fische an ihr genagt hatten. Vielleicht würde sie auch nie mehr aufsteigen und für immer in den stummen Fluten bleiben.

Bedrückt saß Hallam am Rande des Docks, zitterte im düsteren Oktoberwind und beobachtete von seinem Platz im Schatten die halbherzigen Rettungsversuche. Er atmete erst auf, als die Barke schließlich ablegte und die Segel in Richtung Australien setzte. Ans Ende der Welt. Dann richtete er sich schwerfällig auf und machte sich auf den langen Heimweg.

Er vergrub die Hände in den Manteltaschen und hüllte sich in den warmen Stoff. Armer Christian – das zweite Opfer von Owlings unseligen Machenschaften. Hallam erschauderte, als er sich an den seltsamen, leeren Blick des Jungen erinnerte, nachdem sie ihm nach dem Verhör aus dem Polizeigewahrsam entlassen hatten. Er schien halb wahnsinnig vor Schmerz und Schock und hatte ihnen nicht erzählen können, was mit Owling geschehen war.

Aber Hallam war sich keineswegs sicher, ob er das überhaupt wissen wollte.

Kapitel 1

Das Gefühl der Lust war unglaublich.

Heiße, feuchte Spuren der Ekstase liefen in Bögen und Spiralen über ihre Haut. Tiefer, tiefer. Sie stöhnte im Schlaf auf. Die federleichte Berührung warmer Finger auf ihren Schenkeln – weich, langsam, nach oben wandernd, an Intensität zunehmend.

Holly erzitterte und wachte nach Atem ringend auf. Einen Augenblick lang war sie völlig desorientiert, wusste nicht, wo sie war; die Lampe über ihrem Schreibtisch warf ihr Licht auf in der Ecke kauernde Schatten. Sie war allein in ihrem Büro im College, es war sehr spät, und sie hatte gerade einen Orgasmus gehabt, während sie über einem Buch eingedöst war.

»Großartig«, murmelte sie, »feuchte Träume, wie ein Teenager.« Sie drehte sich auf dem Stuhl um. Außer ihrem standen noch zwei weitere Schreibtische im Büro. Einer war für Prudence, dem gelangweilt wirkenden Mädchen mit den lila Haaren, das sie am Nachmittag kurz kennen gelernt hatte. Den anderen sollte jemand namens Justin bekommen, der aber noch nicht im College eingetroffen war.

Holly sah auf ihre Uhr. Sie musste nach Hause; der bloße Gedanke daran deprimierte sie zugleich. Wieder eine schlaflose Nacht, gestört vom kalten Luftzug und krabbelnden Schaben, dazu der muffige Geruch der Wohnung und die lauten Geräusche der Leitungen. Sie schalt sich zum wiederholten Male dafür, die Wohnung nicht besichtigt zu haben, bevor sie den Mietvertrag unterschrieben hatte – aber sie war in solcher Eile gewesen, dass sie wahrscheinlich alles genommen hätte. Sie freute sich auf ihr Stipendium und wollte nur noch fort aus Daybrook und ein neues Leben beginnen.

Am äußeren Rand ihres Blickfelds schien sich ein Schatten zu bewegen. Rasch drehte sie sich um, sah aber nichts.

»Angst vor dem Dunkeln, Holly?«, fragte sie sich laut, und in dem leeren Raum klang ihre Stimme sehr hohl. Es war der Traum, der ihr Angst machte – die Berührung ihres Traum-Geliebten schien wirklich.

Ja, eindeutig Zeit, nach Hause zu gehen.

Sie beugte sich vor, um die Schreibtischlampe auszuschalten, hielt jedoch inne, als ihr klar wurde, dass sie dann in völliger Dunkelheit dastand. Es machte sicherlich nichts aus, wenn sie das Licht über Nacht anließ.

Ihre Schlüssel klimperten in der Tasche, als sie ihre Jacke anzog. Das Geräusch beruhigte sie, zerbrach die Stille. Sie sah zum Telefon und überlegte sich, ein Taxi zu rufen. Lächerlich – sie wohnte nur zwei Häuserblocks entfernt, und es war erst neun, also noch lange hin bis zur Geisterstunde.

Der Flur lag im Dunkeln, und Holly blieb eine Weile stehen, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Der wunderbare Geruch, den dieser Ort verströmte – altes Holz und verstaubte Bücher –, beruhigte sie etwas. Sie hatte alles im Stich gelassen, ihre Familie, ihre Freunde, einen sicheren Job und ein gemütliches Heim, um in einem schabenverseuchten Loch im Souterrain zu hausen – all das für die Gelegenheit, an einem der renommiertesten Institute Australiens eine Dissertation über viktorianische Literatur zu schreiben ...

Sie schloss die Bürotür ab und ging zum Treppenhaus, nahm dabei zwei Stufen auf einmal, bis sie vor der Eingangstür stand. In der Dunkelheit glühte schwach das rote Licht des Cola-Automaten in der Cafeteria. Die Klinke lag kalt in ihrer Hand, als sie die Tür aufdrückte und hinaustrat. Mit einem dumpfen Schlag fiel sie hinter ihr zu, und erleichtert blickte sie zu den beruhigend glitzernden Sicherheitslampen über dem Eingang hinauf.

Die zwei alten Feigenbäume, die zu beiden Seiten des Hauptwegs Wache standen, warfen Schatten in das Mondlicht. Holly blieb unter ihnen stehen und drehte sich zur Vorderfront des Humberstone Colleges um, dessen schmale gewölbte Fenster und bröckelnde Balkone von unten durch zwei starke Scheinwerfer erhellt wurden. Das massive, altersgraue viktorianische Sandsteingebäude stand am höchsten Punkt der Eildon Street, in einem der von altem Geld geprägten Vororte Melbournes. Vom Westturm hatte man freie Sicht auf die vom Dunst verhüllte Stadt. Das Haus hatte angeblich eine fantastische, interessante Geschichte. Professor Aswell, ihr Tutor, hatte einer etwas unwilligen Prudence das Versprechen entlockt, Holly in den nächsten Tagen, sobald sie sich eingerichtet hatte, davon zu erzählen.

Wieder bewegte sich am Rand ihres Blickfelds ein Schatten. Holly spürte, wie ihr Herz klopfte, als sie herumwirbelte. Tatsächlich bewegte sich eine Gestalt von der Straße her auf sie zu. Sekundenlang blieb Holly wie gelähmt stehen.

»Reiß dich zusammen, Mädchen«, murmelte sie schließlich. Sie starrte in die Dunkelheit, bis sie erkannte, dass es ein junger Mann war, der sich ihr näherte. Wenn sie weiterging, würde sie direkt auf ihn treffen. Wenn sie zurücklief und sich im Gebäude einschloss, würde sie wie ein Idiot dastehen. Also entschied sie sich, stehen zu bleiben und ihn zu beobachten, während er näher kam.

»Hi«, sagte er, als er nahe genug war, um ihn gut zu erkennen.

»Hi«, entgegnete sie nervös.

»Hab ich dich erschreckt? Tut mir Leid. Ich wollte mir nur das College ansehen. Ich heiße Justin Penney.« Er streckte seine Hand aus.

Justin. Der andere Student, mit dem sie sich ein Büro teilte. »Oh, Justin, ich bin Holly Beck – wir sind im gleichen Zimmer.« Sie schüttelte seine Hand, nicht sehr fest, und ließ sie gleich wieder los. Holly fiel auf, dass er nicht lächelte; dafür lächelte sie um so breiter, als müsse sie es für ihn mit übernehmen, doch er zeigte keine Reaktion. Das fand sie seltsam, weil er ansonsten nicht unfreundlich wirkte.

Er sah zum Gebäude hinauf. »Wow, das ist ja großartig.«

»Ja, aber du solltest es erstmal von innen sehen. Und es riecht fantastisch.«

»Darauf werde ich wohl bis morgen warten müssen.«

Fast hätte Holly gesagt, dass sie einen Schlüssel hatte, aber dann hielt sie sich lieber zurück; mit einem Fremden wollte sie das dunkle Haus nicht betreten.

»Ja, du kriegst einen Schlüssel für den Haupteingang und für dein Büro, wenn du die Kaution bezahlt hast.«

»Warum bist du so spät noch hier?«, fragte er und schaute sie fragend an. Er war nur ein paar Zentimeter größer als sie, trug eine Brille mit kleinen, runden Gläsern und einen fast schulterlangen Mop aus braunen Locken.

»Ich bin über einem Buch eingeschlafen.« Sie spürte, wie ihr warm wurde, als sie sich an ihren Traum erinnerte, und war froh, weil es so dunkel war, dass Justin nicht sah, wie sie errötete. »Ich schlafe zu Hause in letzter Zeit so schlecht, deshalb nicke ich dauernd an den unmöglichsten Orten ein. Und wo kommst du her?«

»Ich bin vor etwa zwei Stunden aus dem Flugzeug gestiegen. Ich war bei meiner Tante und meinem Onkel und brauchte etwas Platz zum Atmen. Ich wohne bei ihnen.«

»Und wo ist das?«

»Einfach die Straße rauf, Mayberry Street«, antwortete er.

»Ich wohne in der Lincoln, gleich um die Ecke. Ich wollte gerade nach Hause gehen.«

Er zögerte kurz und sagte dann leise: »Ich gehe mit dir, wenn du willst.«

»Danke. Es ist zwar nicht weit, aber ...« Sie zuckte mit den Schultern und ließ den Satz unbeendet, weil sie nicht zugeben wollte, dass ihr etwas mulmig war.

Er warf noch einen Blick auf das Gebäude. »Bist du hier aus der Gegend?«, fragte er, als er sich umgedreht hatte und sie auf die Straße zugingen.

»Nein, ich komme aus einer kleinen Zuckerrohrstadt namens Daybrook, etwa fünfzig Kilometer von Townsville entfernt. Und du?«

»Aus Sydney.«

»Hast du ein Magnus Humberstone-Stipendium?

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein bisschen schwierig zu erklären, warum ich hier bin.« Er schwieg, und Holly fühlte sich unbehaglich, als habe sie das Falsche gefragt.

»Ich habe ein Stipendium«, sagte sie leise.

»Wirklich? Du musst gut sein – sie vergeben ja nur noch zwei pro Jahr. Worüber schreibst du deine Prüfungsarbeit?«

»Tennysons In Memoriam. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, unter welchem Aspekt. Und du?«

Er vergrub die Hände noch tiefer in den Taschen. »Ich denke noch darüber nach. Die Entscheidung, hierher zu kommen, ist sozusagen in letzter Minute gefallen. Vor einem Monat sah meine Welt noch ganz anders aus.«

Erneut schwieg er, und Holly hielt es für besser, ihm keine weiteren Fragen zu stellen. Sie kam sich schon jetzt vor wie ein biederes Landei und wollte nicht in weitere Fettnäpfchen treten.

Sie kamen an die Kreuzung Lincoln. »In unserem Zimmer arbeitet noch ein Mädchen«, sagte sie, um das Schweigen zu beenden.

»Ja, Prudence, ich hab schon von ihr gehört.«

»Oh.« Holly fragte sich, woher, aber wenn sie gefragt hätte, wäre vielleicht wieder ein peinliches Schweigen die Folge gewesen.

»Sie hat voriges Jahr mit ihrer Arbeit angefangen – ob sie die neuen Studenten wohl bewusst mit den alten zusammenstecken? Na ja, jedenfalls soll sie uns offenbar helfen, zurechtzukommen, wie ein Tutor.« Seine Lippen deuteten ein Lächeln an, aber sofort wurde seine Miene wieder ernst.

»Nun, sie sieht nicht aus wie ein Tutor. Sie hat lila Haare und trägt einen Ring in der Nase.« Kaum hatte Holly den Satz beendet, merkte sie, wie konservativ sie klang. »Nicht, dass ich irgendwas komisch daran fände ...«

»Ist das hier deine Straße?« Justin blieb stehen.

»Ja, das ist mein Haus.« Sie deutete auf eine große, renovierte Villa im edwardianischen Stil.

»Hübsch.«

»Dachte ich anfangs auch. Aber meine Wohnung liegt nach hinten raus – es ist mehr eine umgebaute Garage. Es zieht, und Kakerlaken gibt’s auch.« Ihr fröstelte, aber alles erzählte sie ihm nicht, zum Beispiel, dass es in der Küche komisch roch, dass die Rohre aufheulten, wenn sie das warme Wasser aufdrehte, dass ihr Bad keine Tür hatte – und dass sie geweint hatte, als ihr klar wurde, dass es völlig egal war, weil sie allein war und sich keine Sorgen machen musste, dass ihr jemand zusehen konnte, wenn sie sich auszog.

»Das tut mir Leid. Du solltest dir Insektenspray besorgen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Mrs. Partridge – meine Vermieterin – erlaubt es nicht. Sie sagt, ihre Katzen seien allergisch dagegen.«

Er zuckte mit den Schultern. Einen Augenblick standen sie schweigend nebeneinander und betrachteten Hollys Haus. Schließlich sagte er: »Bis morgen dann.«

»Ja«, sagte sie. Er hatte sich bereits umgedreht. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«

»Keine Ursache«, rief er über die Schulter.

Holly sah ihm hinterher, bevor sie ins Haus ging. Irgendwie hatte sie das Gefühl, auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein, wusste aber nicht, warum.

Die Klimaanlage erbebte und schaltete herunter; leise klickte sie in der Dunkelheit, bevor Stille eintrat. Die langen Flure und Wendeltreppen von Humberstone College lagen im Dunkeln, bis auf einen Lichtstrahl, der aus einem Zimmer drang, in dem jemand die Lampe hatte brennen lassen. Kein Laut war zu hören.

Dann wälzte sich ein lang gezogenes, sanftes Stöhnen durch die Finsternis, hallte von den Wänden und sank in den Teppich. Der Laut klang unirdisch, wehmütig und drückte eine Art ewiger Trauer aus. Eine Gestalt, schwärzer als die Dunkelheit um sie herum, erzitterte und verschwand. Das Stöhnen klang wie aus weiter Ferne, bevor es erstarb. Niemand hörte es. Das Gebäude lag wieder still und schweigend da.

Lucien Humberstone erwachte schreiend und mit den Händen um sich schlagend. Die kühle, dunkle Wirklichkeit seines Schlafzimmers drang in sein Bewusstsein. Emma, seine Frau, beugte sich über ihn; ihr blondes Haar fiel über das schlichte Nachthemd.

»Lucien? Ist alles in Ordnung?«

Er richtete sich nach Luft schnappend auf, legte die Hand auf die Brust. Sein Herz schlug wie rasend. Er holte tief Atem und wartete, bis es sich beruhigt hatte.

»Schon wieder ein Albtraum?«, fragte Emma und beugte sich über ihn, um die Lampe anzuknipsen.

Er nickte.

»Vielleicht solltest du einen Therapeuten aufsuchen«, schlug sie vor. »Ich bin sicher, dass es nicht normal ist, wenn ...«

»Emma, ich brauche bestimmt keinen Therapeuten. Ich habe schon lange genug mit diesem Problem zu tun und bin mir sicher, dass ich damit fertig werde, ohne mir irgendwelche hochnäsigen, pseudowissenschaftlichen Plattitüden anhören zu müssen.«

Sie sah ihn verblüfft, aber nicht verärgert an. »Soll ich dir was bringen? Eine Tasse Tee vielleicht?«

»Nein, nein, es ist schon gut.« Aber wie stets, so hatte ihn sein Albtraum auch diesmal an seine größte und immer wiederkehrende Angst erinnert.

Die Albträume begannen stets mit den Händen. Eine Form presste sich zwischen seine Finger, klebrig und elastisch. Dann öffnete sich in der Form ein Abgrund. Verzweifelt versuchte er, ihn zwischen den Händen zu bändigen, ihn einzugrenzen, ihn verschwinden zu lassen oder zumindest zu bändigen, zu sichern. Aber immer wieder ergoss sich der Abgrund über seine Finger und kroch seine Arme hinauf. Er war zu tief – er musste wegschauen, wollte er nicht riskieren, wahnsinnig zu werden. Wenn er sein Gesicht nach oben wandte, sah er einen winzigen Lichtpunkt hoch über sich, den die Schwärze umschloss so wie der Mond manchmal die Sonne verfinstert. Liege ich denn schon im Grab? Aber ich bin nicht tot – ich lebe. Der Abgrund verformte sich, dehnte sich nach außen, zur Seite. Schließlich warf er ihn zu Boden und begann die Wände der Grube hochzuklettern. Feuchte Erde unter seinen Fingernägeln, dunkel glitzerndes Gewürm in seinen Händen. Die formlose Dunkelheit öffnete sich unter ihm, verschluckte ihn, holte ihn ins Nichts zurück.

Emma schaltete das Licht aus und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Lucien.«

Sie kuschelte sich an ihn und Sekunden später hörte er ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge. Er sank in sein Kissen, zog die Bettdecke hoch und starrte an die dunkle Decke. Seine Haut schien zu kitzeln, als bewege sich etwas unter ihr, und der Gedanke, der unaussprechliche Angst in ihm auslöste, drohte ihn zu überwältigen.

Der Gedanke, dass er eines Tages aufhören würde zu existieren.

Kapitel 2

Prudence Emerson und Dr. Laurence Aswell rauchten auf der Westveranda des Humberstone College eine Zigarette. Gerade hatten sie auf Aswells teurem Mahagoni-Schreibtisch Sex gehabt, nachdem er die Jalousien heruntergelassen hatte. So waren sie vor neugierigen Augen geschützt, aber auch vor dem grausam hellen Licht der Sonne, in dem Aswell sich nur allzu sehr bewusst wurde, wie sein sechsundvierzigjähriger Körper neben ihrem zweiundzwanzigjährigen aussah. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen – sie vergötterte ihn. Alles, was zwischen ihr und dem vollkommenen Glück stand, waren seine Frau und sein jugendlicher Sohn.

»Du hast mir besser gefallen, als du blond warst«, sagte er und strich ihr sanft übers Haar.

»Langweilig. Ich brauchte etwas Abwechslung für das neue Jahr.«

»Ja, das neue Jahr; was machen wir nur mit deiner Prüfungsarbeit, Prudence?«

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Es wäre sicherlich ein guter Anfang, nicht jedes Mal zu bumsen, wenn ich zu dir komme.«

Aswell sah sich nervös um. »Ja, ich schätze, da hast du Recht.«

»Ich leg dir was vor. Bald.« Prudence gab Aswell die Zigarette und lehnte sich über das Eisengeländer. Eine angenehme Morgenbrise streichelte ihr Haar. Sie hasste jedes Mal diese halbe Stunde, die sie mit Aswell verbrachte, nachdem sie Sex gehabt hatten. Ihre Gefühle verlangten, dass sie ihn in den Armen hielt, dass sie ihm sagte, dass sie ihn liebte und zu hören, dass er sie auch liebte. Das geschah natürlich nie, sie zogen sich immer sofort an und gingen auf die Veranda, wo sie eine Zigarette rauchten. Und er liebte sie nicht. Vielleicht mochte er sie, aber Liebe war es nicht.

Er stellte sich neben sie, und sie sah ihn an. Er hatte sein blondes Haar so schneiden lassen, dass ihm der Pony in die Stirn fiel – er versuchte jünger auszusehen, hipper. Sein Blick wanderte in den Garten. Prudence betrachtete lächelnd sein Profil, bis ihr einfiel, dass sie ihn etwas fragen wollte.

»As, hast du nicht gesagt, Randolph sei in York?«

»Das ist er auch.«

Er konnte lügen, ohne eine Miene zu verziehen. Prudence nahm an, dass er sehr viel mit seiner Frau geübt hatte.

»Ich habe einen Umschlag auf deinem Schreibtisch gesehen«, sagte sie. »Ein Brief von ihm, aus Israel.«

Ein winziges, kaum wahrnehmbares Zögern. »Israel? O ja, ja, er hat dort Zwischenstation gemacht, eine Woche Urlaub. Aber jetzt ist er in York.«

Prudence wusste, dass er schon wieder log. Professor Randolph Humberstone war vor sechs Wochen abgereist. Der Poststempel auf dem Umschlag datierte von voriger Woche. Sie drängte ihn nicht weiter. Irgendwann würde sie die ganze Geschichte hören – wie immer. Aswell konnte kein Geheimnis vor ihr verbergen, und sie besaß das Talent, ihren Mitmenschen selbst die umfassendsten Geständnisse entlocken zu können.

Er wandte sich ihr zu. »Und was hältst du von deinen neuen Mitbewohnern?«, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. »Holly scheint ganz in Ordnung zu sein. Justin habe ich noch nicht kennen gelernt.«

»Holly ist eine sehr kluge junge Dame.«

Prudence spürte einen Stich der Eifersucht. Holly war wirklich sehr attraktiv, mit ihrem honigblonden Haar, den großen, grünen Augen und mit genau der schlanken Figur, die sich Prudence immer gewünscht hatte. Und Aswell war auch ihr Tutor. »Das habe ich gemerkt. Sie hat ein Stipendium, nicht wahr?«

»Ja, die beste Bewerbung, die ich je gesehen habe. Sie hatte ihre Examensarbeit beigefügt, und sie ist ... brillant, anders kann man es nicht sagen.«

»Sie kommt aus dem Norden, oder?«

»Ja. Sie ist verheiratet, lebt aber wohl von ihrem Mann getrennt. Ich glaube, sie hat ihn verlassen, um hierher zu kommen.«

»Verheiratet? Wie alt ist sie?«

»Fünfundzwanzig. Du bist das Nesthäkchen. Justin ist siebenundzwanzig.«

Prudence fischte eine Zigarette aus ihrer Jackentasche. Sie bot auch Aswell eine an, doch der lehnte ab.

»Und was erzählt man sich über ihn?«, fragte sie und nahm einen Zug.

»Sei nett zu ihm. Er hat einen großen Gönner.«

Prudence grinste. »Ich dachte, du würdest sagen, einen großen Schwanz.«

»Du und deine schmutzige Fantasie«, tadelte er sie lächelnd. »Er wohnt bei Onkel und Tante, und dabei handelt es sich um niemand anderen als Lucien und Emma Humberstone.«

Ihre Augen weiteten sich. »Du nimmst mich auf den Arm.« Lucien und Emma gehörte das College. Sie hatten ein milliardenschweres Bankkonto und eine entsprechend hohe Meinung von sich selbst.

»Es stimmt. Offenbar ein Teil der Familie, zu dem lange keine Kontakte bestanden.«

»Faszinierend. Ich muss ihn unbedingt aushorchen.«

Aswell schüttelte den Kopf. »Tu’s nicht. Lucien hat mir aufgetragen, ihm nicht zu viele Fragen zu stellen. Es gibt da wohl eine Art Familientragödie. Bis vor kurzem wusste er gar nicht, dass er mit dem Jungen verwandt ist.«

Prudence lächelte. »Und das soll mich davon abhalten, ihn auszuquetschen? Bring meine Fantasie nicht in Gang, As, du weißt, das ist gefährlich.«

Er nahm ihr die Zigarette aus der Hand und zog daran. »Ja, das weiß ich. Und da wir gerade von Fantasie sprechen, lass bitte die Geister weg, wenn du Holly und Justin die Geschichte des Colleges erzählst.«

»Oh, ich bitte dich. Allison aus der Bibliothek erzählt doch ständig, dass es dort spukt. In einem derart alten Gemäuer muss es einfach einen Geist geben. Ich meine, es war doch mal ein Konvent. Vielleicht schwebt der Geist einer wahnsinnigen Nonne über die Flure.« Zumindest hoffte Prudence das. Sie fand den Gedanken absolut aufregend.

»Du liest zu viel, Prudence.« Er schnippte den Zigarettenstummel vom Balkon und sah ihm hinterher.

»Ihr werdet euch noch wundern, wenn es sich herausstellt, dass ich Recht habe.«

Er fuhr ihr durchs Haar. »Dummes Mädchen, es gibt nun mal keine Geister.«

Justin stand vor der Tür von Raum 205, seinem neuen Arbeitszimmer, holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, die Klinke herunterzudrücken. Sie wissen nichts, niemand weiß etwas. Alles würde gut werden. Das Mädchen, das er gestern Abend getroffen hatte – Holly – war nett, freundlich. Seine Tante war herzlich, obwohl sein Onkel kaum verbergen konnte, dass ihn die Anwesenheit des neuen Neffen nervös machte. Dr. Jane Macintyre, seine Tutorin, hatte am Telefon ganz angenehm geklungen. Keiner hatte zu viele Fragen gestellt, er schien keine allzu große Neugier zu wecken. Er musste lediglich ruhig bleiben und sein neues Leben beginnen. Kein Problem.

Gerade als er die Klinke berührte, wurde die Tür aufgerissen, und er sah sich einem hübschen Mädchen mit haselnussbraunen Augen und lila Haaren gegenüber.

»Hoppla«, sagte sie. »Ich wollte mir gerade unten eine Cola holen. Du bist sicher Justin?«

»Ja.« Er bemühte sich, aber es gelang ihm nicht, ein Lächeln anzudeuten. Lasst mir Zeit, dachte er.

»Prudence«, sagte sie und streckte ihm eine Hand entgegen, deren Fingernägel Glitzerlack trugen.

Justin hatte kaum ihre Hand geschüttelt, als sie ihn auch schon hinter sich herzog.

»Komm, geh mit. Holly ist noch nicht da. Willst du eine Cola? Ich unterstütze die Multis nur ungern, aber leider bin ich süchtig nach dem Zeug.«

»Ähm ... ja gut.«

»Hast du die Cafeteria gesehen? Ein bisschen schäbig, aber das Essen ist toll.«

»Ich habe noch gar nichts gesehen – ich bin gerade erst angekommen.«

Sie führte ihn die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Die Empfangsdame, die hinter ihrer Theke stand, winkte ihnen zu.

»Hi, Prudence.«

»Hi, Ruby, das ist Justin.«

Justin hatte kaum die Hand gehoben, als Prudence ihn durch die Cafeteria zerrte, bis sie vor dem Cola-Automaten standen. Zu seiner Erleichterung ließ sie endlich seine Hand los.

»Was willst du haben? Ich lade dich ein.«

Er sah Prudence an, den Automaten und wieder Prudence. »Das gleiche wie du.« Er wollte gar nichts trinken, aber es wäre sicherlich unhöflich gewesen, abzulehnen.

Nachdem sie ein paar Münzen in den Automaten geworfen hatte, polterten zwei Dosen Cola in den Ausgabeschacht; sie reichte ihm eine. Die Dose war eiskalt.

Prudence lehnte sich mit dem Rücken an den Automaten und sah ihn an, während sie ihre Dose öffnete. »Also.«

»Also.« Auch wenn ihm sehr unbehaglich zumute war, tat er sein Bestes, um entspannt und ungezwungen zu wirken. Eigentlich hatte er sein ganzes Leben lang geschauspielert. Manchmal fragte er sich, ob es einen wahren Justin in ihm gab – den armen, verkümmerten Embryo eines richtigen Wesens.

»Nachher werde ich dir und Holly alles zeigen. Holly ist das Mädchen, mit dem wir uns das Büro teilen.«

»Ich weiß, ich hab sie gestern Abend getroffen.«

Prudence hob eine Augenbraue. »Gestern Abend?«

»Ja, ich wollte einen ersten Blick auf das Gebäude werfen, als sie gerade rauskam.«

»Um wie viel Uhr denn?«

»Es war so gegen neun. Sie sagte, sie sei über einem Buch eingeschlafen.« Justin hatte das Gefühl, als sage er mehr, als er solle, aber er wusste nicht, warum.

»Wie interessant.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie ist hübsch, nicht wahr?«

»Wie bitte?«

»Holly. Sie ist hübsch, findest du nicht?«

»Oh, ich ... ich denke schon.«

»Und klug. Hat man mir jedenfalls erzählt. Wusstest du, dass sie verheiratet war? Sie wirkt so jung, man will gar nicht glauben, dass sie eine gescheiterte Ehe hinter sich hat.«

Justin wusste nicht, ob er dazu etwas sagen sollte, deshalb zuckte er nur mit den Schultern.

»Du hast noch gar nichts getrunken.«

Er betrachtete die Dose. »Sorry.«

»Macht nichts.« Sie trank den letzten Schluck aus ihrer Dose und zerdrückte sie routiniert mit einer Hand. »So, das war meine morgendliche Zuckerdosis. Jetzt zeige ich dir besser dein Büro.«

»Danke.«

Justin folgte Prudence die Treppe hinauf. Schmale, ziemlich schmutzige Fenster boten auf jeder Etage einen Blick auf den Parkplatz und die Straße. Als er kurz stehen blieb, um das Bild auf sich wirken zu lassen, merkte er, dass Prudence auf ihn wartete. Einsame Erkundungen musste er wohl auf später verschieben.

Sie betraten ihr Büro mit den drei Schreibtischen darin; der von Prudence stand unter dem Fenster, mit Blick auf den Garten, seiner und Hollys standen in gegenüberliegenden Ecken. Das Zimmer war mit neuem Teppichboden in einem nichtssagendem Beige ausgelegt, doch das verschnörkelte Muster auf den Fußleisten und ein unverkennbar muffiger Geruch verrieten das wahre Alter des Gebäudes. Auf Hollys Schreibtisch stapelten sich bereits die Bücher, der von Prudence war dagegen ziemlich leer, bis auf zwei Bücher und ein Häufchen halb abgebrannter Duftkerzen; neben ihrem Pinnbrett hing ein großes Tea Party-Poster.

»Und, gefällt dir dein neues Büro?«, fragte Prudence.

Justin setzte sich an seinen leeren Schreibtisch und stellte die Cola-Dose darauf. »Prima.«

Sie hockte sich auf den Tischrand. »Ich schreibe über George Eliot. Und du?«

Er sah zu ihr auf. Sie stellte so viele Fragen, dass ihm langsam unbehaglich wurde. Aber sie sah ihn so aufmerksam an, während ein freundliches Lächeln ihre geschwungenen Lippen umspielte – es war schwer, nicht zu antworten. »Ich weiß es noch nicht. Hierher zu kommen hatte ich gar nicht geplant – es kam alles ein bisschen überraschend.«

»Oh.«

»Lucien und Emma waren so freundlich, mir hier einen Platz anzubieten, nachdem sich ... meine anderen Pläne zerschlagen hatten.«

»Du kennst Lucien und Emma?«

»Ja, ich bin ein Verwandter von ihnen. Ein Neffe.« Er senkte den Blick, bevor er zu viel verriet. Feuchtigkeit rann an seiner Dose hinab und formte eine kleine Pfütze auf seinem Schreibtisch. Prudence schien zu spüren, dass sie weit genug gegangen war und kehrte an ihren Tisch zurück.

»Wenn Holly kommt, führe ich euch beide herum, okay?«

»Klar, danke.« Er hörte, wie sie sich an ihren Schreibtisch setzte und ein Buch aufschlug. Eine Weile wurde es still im Zimmer. Draußen hörte er einen Rasenmäher und das Geräusch eines Seils, das gegen einen Fahnenmast schlug.

»Justin?«

Er sah sich um. »Ja?«

»Willst du den ganzen Tag nur auf deinen Schreibtisch starren?«

»Ich ...«

Sie stand auf, ging zu Hollys Tisch und nahm ein Buch weg, das sie ihm reichte. »Hier. Viel Vergnügen.« Dann setzte sie sich wieder in ihren Stuhl und schrieb etwas in eine Kladde.

Justin öffnete das Buch – Tennysons Gesammelte Werke. Auf dem Deckblatt stand der Name Holly Beck, jedoch durchgestrichen und durch Holly Torrance ersetzt. Offenbar war sie noch nicht dazu gekommen, wieder ihren Mädchennamen einzusetzen. Justin fragte sich, woher Prudence so schnell von Hollys gescheiterter Ehe erfahren hatte. Er musste darauf achten, was er zu Prudence sagte, er hatte zu viele Geheimnisse – wenn sie auch nur das Ende von einem zu fassen bekam, würde sie es garantiert ans Tageslicht zerren, auch wenn sie dabei die ganze Zeit mild mit ihren hübschen Augen lächelte. Er musste aufpassen!

Nach nur vier Stunden Schlaf kam Holly am Morgen kaum in die Gänge. Vielleicht war es naiv zu hoffen, dass sich die Dinge schnell zum Guten wandten, aber eine Nacht lang vernünftig zu schlafen, das konnte sicherlich nicht zu viel verlangt sein. Sie war kühle Witterung nicht gewohnt, und die frische Morgenbrise, die unter der Tür durch die Wohnung gestrichen war, kam ihr vor wie Eisfinger, die sie betasteten, während sie zu schlafen versuchte. Den Winter würde sie wahrscheinlich nicht überleben. Sobald die erste Rate des Stipendiums auf ihrem Konto landete, würde sie sich umgehend die dickste Decke kaufen, die man kriegen konnte. Bislang reichte ihr Geld gerade eben mal für Brot und Milch. Sie versuchte, nicht an den alten Queenslander zu denken, den sie und Michael zu Hause gemietet hatten, an die langen, heißen Sommertage, an denen sie auf der Veranda gesessen und auf die Zuckerrohrfelder geschaut hatten, die unter dem endlos blauen Himmelsbogen schimmerten. Das Beste war, überhaupt nicht an Michael zu denken, an den furchtbaren Schmerz, den sie in seinen Augen gesehen hatte, als sie ihm sagte, dass alles vorbei sei, dass auch High School-Pärchen nicht glücklich leben, bis dass der Tod sie scheidet, und dass es dort draußen in der Welt Dinge gab, die sie brauchte, um glücklich zu werden, ohne ihn. Sie konzentrierte sich aufs Duschen und Anziehen und ignorierte den traurigen, kleinen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Tragisch, aber alles, was sie Michael letzten Endes hatte bieten können, war Mitleid.

Sie schloss die Wohnungstür hinter sich und wurde von einer sanften Herbstbrise umhüllt. Der Duft von Mandel und Jasmin hing in der Luft, und dicke weiße Wolken trieben träge über ihr. Sie ging auf den Campus zu und bewunderte den Anblick, den die geschwungene, von Bäumen gesäumte Auffahrt bot. Was für ein Versprechen lag darin, in diesen vollkommenen, eleganten viktorianischen Zügen des Gebäudes, das sich dort stolz zwischen den Bäumen erhob, umgeben von dem riesigen, grünen Garten, der unter der sanften Herbstsonne vor sich hin dämmerte. Vielleicht konnte sie sich an alle Unbequemlichkeiten gewöhnen, solange es Augenblicke wie diesen gab – zwischendurch musste sie nur existieren, um aufzuleben, wenn ihre Sinne die Schönheit um sie herum wahrnahmen.

»Mensch, Holly, du machst ja eine richtig spirituelle Erfahrung«, murmelte sie vor sich hin und ging die Einfahrt hinauf.

Als sie das Haus betrat, hüllte sie der üppige Geruch nach altem Holz sofort ein. Am Getränkeautomaten blieb sie stehen und quälte sich ein paar Sekunden lang mit Gedanken an den Dollar, den eine Limonade sie kosten würde, bevor sie sich dagegen entschied und nach oben ging, in ihr neues Büro. Den heutigen Tag hatte sie bereits verplant: Es gab einen Haufen Artikel aus Fachzeitschriften, die sie in der Bibliothek fotokopieren wollte, um am Nachmittag und Abend die Bibliographien durchzusehen, auf der Suche nach Titeln, die ihr vielleicht weiterhalfen; morgen würde sie mit dem Lesen beginnen. Es lagen einige leere Kladden bereit, und es juckte sie in den Fingern, sie zu füllen. Sie genoss das Gefühl, die ersten Buchstaben in ein leeres Heft zu schreiben, am besten mit einem neuen Stift. So fing alles an, unendliche Möglichkeiten taten sich vor einem auf.

Prudence und Justin waren schon da. Prudence saß auf der breiten Fensterbank, mit dem Rücken ans Glas gelehnt, die Füße auf einem Stuhl. Beide schauten auf, als sie hereinkam, doch wandte Prudence ihre Aufmerksamkeit sogleich wieder ihrer Kladde zu.

»Hi«, sagte sie.

»Hi«, antwortete Justin und stand auf. »Hier, das hatte ich mir ausgeliehen.« Er reichte ihr Tennysons Gesammelte Werke, die sie etwas verblüfft entgegennahm.

»Oh, danke.«

»Es sieht aus, als hättest du einen prima Start gehabt«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Schreibtisch.

Sie sah hin und dann zu seinem, auf dem lediglich eine ungeöffnete Cola-Dose stand. »Du weißt doch, wo die Bibliothek ist, oder?« Hatte sie ihn jetzt etwa beleidigt?

»Wir haben auf dich gewartet. Prudence will uns alles zeigen.«

Holly sah zu Prudence hinüber. »Hast du Zeit? Wenn du willst, kann ich Justin die Bibliothek und den Katalog auch allein zeigen.«

Prudence zuckte mit den Schultern. »Sicher hab ich Zeit.« Sie schob sich vom Fensterbrett. »Wartet hier, ich hole mir den Passepartout von As, damit ich euch auch den Uhrenturm zeigen kann.«

Sie ging an ihnen vorbei auf den Flur, Justin sah ihr nach.

»Sehr scharf darauf, mit uns die Führung zu machen, scheint sie nicht zu sein«, meinte Holly.

»Ja, komisch. Ich dachte, es würde ihr Spaß machen. Sie war ganz aufgedreht, bevor du gekommen bist.«

Holly hatte das Gefühl, als stünde sie unter einer eiskalten Dusche. Prudence mochte sie also nicht. Großartig. »Ich weiß gar nicht, was ich ihr getan habe. Ich hab sie doch gestern zum ersten Mal gesehen.«

Justin drehte sich zu ihr. »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen. Wahrscheinlich hat es gar nichts mit dir zu tun. Hattest du gestern Nacht Ärger mit dem Ungeziefer?«

»Ungeziefer?« Holly war eine Sekunde lang völlig verwirrt, bis ihr einfiel, dass sie Justin von ihrer furchtbaren Wohnung erzählt hatte. »Oh, ja. Gegen ein Uhr ist irgendwas in meinen Haaren gelandet, und dann konnte ich bis Sonnenaufgang nicht mehr einschlafen. Hab nur ungefähr vier Stunden Schlaf gehabt.«

Prudence kam ins Büro zurück, ein Wirbelwind aus Silberschmuck und lila gefärbtem Haar. »Also los«, sagte sie. »Ihr werdet von diesem Haus begeistert sein.«

Die drei standen auf dem schmalen Steg, der um das Dach von Humberstone College führte. Das Wartungspersonal nutzte ihn, um an zerbröckelnde Dachziegel und die moderne Klimaanlage zu kommen, die man einfach neben dem Uhrenturm durch das Dach verlegt hatte. Hier oben wehte eine liebliche Herbstbrise, und die Sonnenstrahlen glitzerten in ihren Haaren.

»Also«, sagte Prudence und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Sie bot es Holly und Justin an, die beide ablehnten. Dann steckte sie sich eine Zigarette an und schaute ein paar Sekunden lang über die Dächer der benachbarten Villen, als Vorbereitung auf die Geschichte, die sie vor fast einem Jahr von As gehört hatte.

»Also«, wiederholte sie. »Humberstone wurde 1857 erbaut, und zwar als anglikanisches Kloster. St. Anne hieß es. Der Architekt war Howard Humberstone – er musste nach irgendeinem Skandal London verlassen, wo er sehr erfolgreich gewesen war, und beschloss, sein Glück in den Kolonien zu versuchen. Nach den meisten Darstellungen war er ein bisschen verrückt, nun ja, ein Humberstone eben. Wenn man jahraus, jahrein seine Cousinen heiratet ...« Ihr fiel ein, dass auch Justin Teil dieser Familie war. »Die letzte Bemerkung einfach ignorieren«, fügte sie hinzu.

Justin sah sie verwundert an, bis er zu begreifen schien, dass sie ihn angesprochen hatte. »Oh, das macht nichts. Ich gehöre praktisch kaum zur Familie.«

»Zur Familie?«, fragte Holly neugierig.

»Ja, Lucien Humberstone ist sein Onkel«, antwortete Prudence für den schweigenden Justin. »Entschuldige, Justin, aber das ist doch bestimmt kein Geheimnis.«

»Das ist absolut kein Geheimnis«, entgegnete er hastig. Prudence sah die Zeichen. Es gab also ein Geheimnis; sie konnte es förmlich riechen.

»Erzähl weiter«, sagte Holly. Vielleicht spürte sie Justins Unbehagen.

»Okay. Dem Kloster erging es schlecht. Die Hälfte der Nonnen wurde 1864 von einer Typhusepidemie hinweggerafft, und fast alle anderen versetzte man nach Sydney. Als die Humberstones in London davon hörten – sie waren eine große Bankerfamilie mit einem Trillionen-Vermögen –, beschlossen sie, das Gebäude zurückzukaufen. Damals kauften sie alle von Howard erbauten Häuser zurück – warum, weiß ich nicht. Sie schickten kistenweise Bücher herüber, Teile ihrer eigenen Bibliotheken, die sie zu der Zeit katalogisierten, und so entstand 1867 die Humberstone-Bibliothek, und das blieb sie auch lange Zeit.«

Prudence drückte ihre Zigarette am Geländer aus und schnippte sie in den Garten hinunter. »Wollt ihr den Uhrenturm sehen?«, fragte sie.

»Sicher«, meinte Holly. »Erzählst du uns auch den Rest der Geschichte?«

»Ja, ja. Kommt.« Sie führte sie über den Steg zum Uhrenturm, wo sie versuchte, aus dem dicken Schlüsselbund den richtigen zu finden. Hier hatten sie und Aswell sich das erste Mal geliebt. Sie waren spät zurückgekommen, hatten sich auf dem Balkon eine Zigarette geteilt und über George Eliot gesprochen. Es hatte etwas gedauert, bis sie sich in ihn verliebte – schließlich war er mehr als doppelt so alt wie sie, und sie bevorzugte eigentlich junge, etwas tumbe Männer. Aber er war ein Intellektueller, er stellte etwas dar, er hatte Selbstbewusstsein, und er hatte eine Art, sie anzusehen – graue Augen, die sich förmlich in ihren Schädel brannten, ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel – all das nahm ihr den Atem. Er war es gewesen, der den Ausflug aufs Dach vorgeschlagen hatte. Der Aussicht wegen, das waren seine Worte gewesen. Sie hatten auf dem Steg gesessen, verdächtig nahe beisammen und hatten mit leisen Stimmen gesprochen, während sich die Lichter der Stadt wie Juwelen auf einem schwarzen Teppich vor ihnen ausbreiteten. Während eines längeren Augenblicks des Schweigens hatte er sie angesehen – einer dieser elektrisierenden Blicke. Zwanzig Minuten später hatte sie sich die Kleider vom Leib gerissen und es mit ihm hinter dem staubigen Werk einer 150 Jahre alten Uhr getrieben.

Sie fand den Schlüssel und öffnete die Tür, um Justin und Holly hineinzulassen. »Dieses Ding bleibt dauernd stehen, durchschnittlich einmal im Monat. Lange wird es wohl nicht mehr dauern, bis ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, da sie nicht wusste, was sie in Justins Gegenwart über die Humberstones sagen durfte. Tatsache war, Lucien war so geizig, dass er Reparaturen nur zögerlich ausführen ließ, und dann möglichst billig. Zweifellos würde diese Uhr eines Nachmittags um vier stehen bleiben, und zwar bis zum Jüngsten Gericht.

»In den Zwanzigern ging es mit dem Vermögen der Humberstones ziemlich bergab. Sie konnten sich die Bibliothek nicht mehr leisten und schlossen sie. Sie blieb etwa vierzig Jahre lang geschlossen, bis einer von ihnen auf die Idee kam, sich das Gemäuer mal anzusehen. In den Sechzigern kam Magnus Humberstone und begann, die Bücher zu katalogisieren. Es stellte sich heraus, dass sich hier ein Füllhorn an Wissen ergoss – faszinierende viktorianische Abhandlungen über jedes erdenkliche Thema, kostbare Erstausgaben, längst vergriffene Werke. Zunächst erlaubte er den Universitäten für Forschungszwecke den Zugriff auf die Bibliothek, und irgendwann kam ihm der Gedanke, dass er mit einigen seiner Millionen hier ein College gründen könnte. Keine der australischen Universitäten war an einem Zentrum für viktorianische Studien interessiert, aber das war es, was er wollte. Er hatte zwei Doktortitel und etwa zwanzig Bücher über viktorianische Literatur, Geschichte und Kultur geschrieben. Es war seine Leidenschaft, und er wollte keinen Kompromiss eingehen. Schließlich schloss er einen Vertrag mit der Kingsbury-Universität in York ab, die Studenten gegen eine Gebühr hierher schickten. Deshalb ist Humberstone Teil des britischen Erziehungssystems und hat den Ruf, sehr elitär zu sein. Und weil hier niemand reinkommt, der nicht superschlau ist, es sei denn, er ist superreich.«

Justin hatte sich im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen, Holly stand mit verschränkten Armen neben ihm. Es tat Prudence fast weh, so hübsch war sie. Und sie schien auch noch nett zu sein. Vielleicht zu nett, vielleicht auch ein bisschen brav. As interessierte sich nicht für die Braven – er bewunderte es, wenn jemand Mumm hatte, Verve. Davon hatte Prudence tonnenweise, das wusste sie.

»Lebt er noch?«

»Wie bitte?«

»Magnus Humberstone. Lebt er noch?«

Prudence schüttelte den Kopf. »Er ist 1994 gestorben. Tragisch, weil er die treibende Kraft war. Er hat die Stipendien eingeführt – früher gab es zehn pro Jahr, aber jetzt sind es nur noch zwei. Die meisten Leute müssen also bezahlen, so wie ich. Mein Vater bezahlt für mich, damit ich ihm die Peinlichkeit erspare, einem Zirkus beizutreten oder so.«

Justin hatte offenbar genug von der Rückseite der Uhr gesehen. Er stand auf, drückte sich an Prudence vorbei und spazierte über den Steg auf die andere Seite des Daches. Sie sah ihm nach – was für ein komischer, düsterer Typ.

»Ich habe ein Stipendium«, sagte Holly.

»Ich weiß.« Du würdest dich wundern, was ich noch alles weiß. »Glückwunsch. Sind sehr schwer zu kriegen. In unserer Familie hat meine Schwester die Intelligenz geerbt.«

»Ich bin sicher, dass du auch sehr intelligent bist.«

»Sie hat ihr Juraexamen als Jahrgangsbeste bestanden. Ich bin schon sehr früh ausgestiegen und hab zu den Geisteswissenschaften gewechselt. Zwilling zu sein ist ätzend.« Prudence sah zu Justin hinüber, der wieder zurückkam.

»Magst du As?«, fragte sie Holly. Sie musste es wissen.

»As? Tut mir Leid, aber wer ist As?«

»Laurence. Laurence Aswell – dein Tutor.«

»Oh. Er scheint sehr nett zu sein. Von dir hat er in den höchsten Tönen gesprochen.«

Ein Gefühl der Wärme durchflutete Prudence. Vielleicht hatte sie sich unnötige Sorgen gemacht. Vielleicht stellte Holly gar keine Bedrohung dar, sondern konnte sogar ihre Verbündete werden.

Justin gesellte sich wieder zu ihnen und sah Prudence interessiert an. »Und wer kam nach Magnus?«, fragte er.

»Sein Sohn Graham hat die Leitung übernommen. Hat im Grunde alles beim Alten gelassen, aber leider nicht lange gelebt. Eines Tages ist er zum Angeln gegangen und nie wiedergekommen.« Sie bemerkte, dass Justin ganz leicht mit dem Mundwinkel gezuckt hatte. Bingo. Vielleicht war Justin Grahams Sohn – unehelich oder so etwas. Die Sache wurde mit jeder Sekunde spannender. »Die Leiche ist nie gefunden worden, aber man ging davon aus, dass er ertrunken ist. Dann übernahm Lucien, sein Bruder. Hast du Lucien schon kennen gelernt, Holly?«

Holly schüttelte den Kopf.

»Ich schätze, er ist ganz in Ordnung. Aber vielleicht sollten wir Justin nach den Details fragen.«

Justin zuckte mit den Schultern. »Du kennst ihn besser als ich. Frag mich in zwei Wochen noch mal.«

»Bestimmt.« Prudence warf einen letzten Blick über die Dächer. »Okay, gehen wir nach unten.«

Polternd liefen sie die Treppe zum Parterre hinab, und Prudence führte sie an der Cafeteria vorbei zum gegenüberliegenden Treppenturm. Ein verblichenes gelbes Band, an dem ein Warnzeichen hing, versperrte ihnen den Weg. Prudence warf einen Blick über die Schulter, bevor sie das Band anhob und sich darunter duckte. Als sie sich umdrehte, standen die beiden anderen noch davor und sahen sie unsicher an.

»Kommt schon«, sagte sie.

»Was ist mit dem Warnschild?«, fragte Holly etwas ängstlich.

»Der Turm zerfällt langsam. Die Stufen sind etwas wackelig. Aber wir gehen gar nicht hinauf. Jetzt macht schon, bevor uns jemand sieht.« Sie winkte ihnen zu, und die beiden sahen sich an, um ihr dann zu folgen.

Sie betraten den Turm und gingen um die Treppe herum; Prudence führte sie zu einem Alkoven auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu den anderen Wendeltreppen, die mit Pflanzen und Drucken der Präraffaeliten geschmückt waren, konnte diese nur abblätternde Tapete und löchrige Dielenbretter vorweisen. Hinter der Treppe befand sich eine Tür. »Hier geht es in den Keller«, sagte Prudence und suchte wieder den richtigen Schlüssel.

»Ist es auch sicher da unten?«, wollte Holly wissen.

»Wahrscheinlich.« Sie schob einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Holly sah sie skeptisch an. »He, beruhige dich. Wir gehen nicht weit. Nur in einen schäbigen Raum, in dem es muffig riecht.«

»Klingt nach meiner Wohnung«, meinte Holly.

»Man kann von draußen reinsehen.« Prudence tastete an der Innenwand nach einem Lichtschalter. Man hörte ein Klicken, aber es blieb dunkel. »Toll, die Birne ist kaputt.«

»Ist das ein Lagerraum?«, fragte Justin.

»Nein, er wird überhaupt nicht genutzt. Er ist winzig und vom Boden her feucht.« Sie machte die Tür zu und schloss wieder ab; dann sah sie die beiden anderen ernst an. »Aber ich bin sicher, dass die Nonnen hier Leichen versteckt haben.«

Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen, während Justin und Holly herauszufinden versuchten, ob Prudence sie auf den Arm nahm oder nicht.

»Leichen?« Holly sah sie zweifelnd an.

»Sicher. Abgetriebene Föten. Von liederlichen Nonnen, die das Kloster in Verruf gebracht hätten.«

»Klingt nach Schauerroman.«

»Du glaubst also, dass es hier Geister gibt, Prudence?«, fragte Justin. Er wirkte todernst, aber langsam gewöhnte sich Prudence daran.

»Zweifellos. In welchem alten Gemäuer gibt es keine? Man hat bereits gesagt, dass es in der Bibliothek spukt. Wenn man kurz vor dem Schließen die Regale durchgeht, und alle Bücher stehen in Reih und Glied, wird man am nächsten Morgen zwei oder drei auf dem Boden finden. Wahrscheinlich der Geist einer unglücklichen Nonne mit gebrochenem Herzen.«

»Oder ein unglücklicher Doktorand mit Terminschwierigkeiten«, meinte Justin, wobei er keine Miene verzog. Prudence fand ihn faszinierend – ungemein sogar. Dieses Jahr konnte doch noch gut werden. Vielleicht fand sie sogar ein oder zwei neue Freunde – ein absolutes Novum.

»Na schön«, sagte sie und steckte den Schlüsselbund in ihre Tasche. »Wer hat Lust auf einen Kaffee?«

Kapitel 3

Mitternacht.

Unter einen schwarzen Schirm geduckt, eilten Lucien und Emma im Nieselregen auf den Hintereingang des Colleges zu. Ein fahler Lichtschein aus einem der oberen Fenster verriet ihnen, dass sie bereits erwartet wurden. Der Himmel war wolkenschwer, und es sah aus, als würde der Regen sich einige Tage halten.

Lucien schloss die Tür auf und schob Emma in den Flur, bevor er einen letzten Blick nach draußen warf und hinter sich abschloss. Emma schüttelte den Regenschirm aus und lehnte ihn an die Wand. Sie gingen die Treppe zum dritten Stock hinauf, wo Lucien ein Büro hatte, das er aber nur selten nutzte. Jane Macintyre stand gähnend vor einem offenen Schrank. Nach der Dunkelheit draußen wirkte das Licht unnatürlich grell.

»Guten Abend, Jane«, sagte Lucien und legte seinen teuren ledernen Aktenkoffer auf den Schreibtisch.

»Hallo. Ich suche die Kerzen.«

»In der untersten Schublade, hinter den Büchern.« Er wandte sich an Emma. »Mach uns bitte eine Kanne Tee. Laurence müsste auch gleich hier sein, es sei denn, er ist eingeschlafen.«

Emma nickte und verließ das Büro; Lucien hörte sie in der kleinen Küche nebenan hantieren.

Jane hatte inzwischen eine Hand voll schwarzer Kerzen aus dem Schrank genommen. Sie war eine attraktive Brünette, Ende Dreißig, mit einer straffen, zierlichen Figur, über die Lucien immer öfter seine Blicke gleiten ließ. Emma wurde zu fett. Sie bevorzugte üppige, kalorienreiche Speisen, und er empfand es fast als Beleidigung, dass sie keine Selbstbeherrschung hatte.

»Ich habe sie gefunden«, verkündete Jane und legte die Kerzen auf Luciens Schreibtisch. »Übrigens, heute habe ich deinen Neffen kennen gelernt. Ein sehr netter Junge, aber ein bisschen zu ernst, findest du nicht auch?«

Lucien zuckte innerlich zusammen. Sein Neffe. Wenn es nicht diese Klausel in Magnus’ Testament gegeben hätte, wäre Justin niemals aufgetaucht. Jetzt hatte er das Gefühl, als sei irgendwo ein Fehler im System – Justin war ein Unsicherheitsfaktor. »Gewöhne dich nicht zu sehr an ihn«, sagte Lucien. »Er ist jung und weiß nicht, was er will. Schon morgen kann er sich entschließen, uns zu verlassen und in Nepal auf Trekkingtour zu gehen.« Wunschdenken.

Emma kam mit einem Tablett zurück. »Justins Mutter ist kürzlich gestorben«, sagte sie, während sie Tee eingoss. »Er hat Probleme, darüber hinwegzukommen. Wir müssen nett zu ihm sein.« Sie warf Lucien einen vorwurfsvollen Blick zu, den dieser einfach ignorierte. Es war offensichtlich, dass Emma ein Faible für den Jungen hatte. Lucien fragte sich, ob sie ihm absichtlich in kleineren Dingen widersprach, nur um ihn zu ärgern.

Die Tür ging auf, und Aswell trat mit tropfnassem Haar ins Zimmer, er schälte sich aus seinem Regenmantel und hing ihn über eine Stuhllehne. Emma reichte ihm sofort eine Tasse Tee.

»Tut mir Leid, dass ich etwas spät dran bin, aber der Wagen wollte nicht anspringen. Draußen schüttet es wie aus Eimern.«

Lucien ging ans Fenster und sah hinaus. Hinter seinem Spiegelbild sah er den peitschenden Regen. Emma reichte ihm eine Tasse Tee. Lächelnd trank er einen Schluck, und Emma hakte sich bei ihm unter. Jane und Aswell saßen am Schreibtisch und unterhielten sich leise. Schön, dass man bei einem solch ungemütlichen Wetter im Warmen war. Mit selten gewordener Zärtlichkeit küsste Lucien Emmas Haar und drückte sie liebevoll. Vielleicht konnte er sich entspannen, vielleicht würde sich alles zum Guten wenden. Er wünschte sich, nur ein Jahr in die Zukunft sehen zu können, denn nächstes Jahr um diese Zeit würde sicherlich alles vollbracht sein, und er würde nicht mehr von Albträumen gequält aus dem Schlaf schrecken. Die Furcht, der er nicht entrinnen konnte, würde für immer verschwunden sein. Es galt nur noch ein paar Hürden zu überwinden, und er würde alles ertragen – er wusste, dass er es konnte –, wenn am Ende seine Angst vor dem Tod besiegt war.

Er ließ Emma los, reichte ihr seine Tasse und drehte sich um. »Laurence, stell bitte ein paar Stühle zusammen. Wenn wir nicht bald anfangen, sitzen wir noch am frühen Morgen hier.«

Während Aswell ein paar Stühle in einem Kreis aufstellte, öffnete Lucien seinen Aktenkoffer und entnahm ihm mit einigem Respekt das Fragment von Peter Owlings Buch der Schatten.

Die verschmutzten Blätter, die in einem schwarzen Umschlag aus Leder steckten, fielen fast auseinander. Einige – die Seiten des Originals – sahen aus, als seien sie blutbesprenkelt. Das Fragment, auf das Magnus Humberstone zufällig in einem Antiquitätenladen in New York gestoßen war, schien am besten erhalten, während die Seiten, die Magnus über zwanzig Jahre lang für Tausende von Dollar zwischen Guyana und Peru gesucht hatte, an manchen Stellen unleserlich waren. Bei dem Gedanken daran, in welchem Zustand das Fragment sein mochte, dem Randolph in Israel nachjagte, schauderte es ihm, aber er hoffte, dass es der letzte Teil sein würde. Würde er es ertragen können, wenn die Suche nach einem weiteren noch einmal zehn oder mehr Jahre dauern würde?

Die anderen setzten sich und sahen ihn erwartungsvoll an. Das Buch in einer Hand, klappte er den Aktenkoffer zu und gesellte sich zu ihnen. Er warf einen verstohlenen Blick auf Jane, die ihm mit übereinander geschlagenen Beinen gegenüber saß.

»Wie ihr wisst, habe ich an den Seiten 255 bis 289 gearbeitet – der letzte Teil des Guyana-Fragments. Auch wenn es kaum lesbar ist, habe ich in dieser Woche doch einen Durchbruch erzielt. Wir können mit Sicherheit sagen, dass die Methode, mit der im ersten Fragment Wesen heraufbeschworen werden, in seinem späteren Werk durch eine andere abgelöst wird. Da sein Buch eine Art Bericht über seine Arbeit ist, sollten wir uns über einen derart überraschenden Wandel seiner Techniken nicht wundern. Hier, seht ihr dieses Wort?« Vorsichtig drehte er den Band, sodass die anderen die Buchstaben sehen konnten, unter die er seine Finger legte. Aswell und Jane beugten sich vor, während Emma nur einen flüchtigen Blick darauf warf, um dann geistesabwesend aus dem Fenster zu starren. Wut kochte in Lucien hoch.

»Was soll es sein? Ein Name?«, fragte Aswell.

»Veu ... nein, ist das ein ›u‹ oder ein ›r‹?« Jane zog die Augenbrauen zusammen.

Lucien drehte das Buch wieder um. »Verräter. Es heißt Verräter. Das Wort sagt einiges über die letzten dreißig Seiten des Guyana-Fragments. Umso mehr sehne ich den nächsten Teil herbei.«

»Wenn Randolph ihn findet«, warf Emma ein.

»Randolph wird ihn finden«, entgegnete Lucien bestimmt, aber er wusste, dass er nicht so zuversichtlich war, wie er tat.

»Ich erhielt einen Brief von Randolph«, sagte Aswell und holte einen feuchten Umschlag aus seiner Jackentasche.

Lucien verkniff sich ein ärgerliches Schnauben. Manchmal fragte er sich, ob dieses Projekt überhaupt erfolgreich beendet werden konnte, wenn Menschen wie Emma dabei waren, die fett und träge in der Ecke saß, oder Aswell, triefnass und schwachsinnig. Nur Jane schien sich wirklich ernsthaft mit dem Thema zu beschäftigen. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. Wie schön, dass Geistesverwandte auch ohne Worte kommunizieren konnten.

»Wir kommen noch zu Randolphs Brief«, sagte er geduldig. »Eins nach dem anderen.«

»Was meint Owling mit ›Verräter‹?«, fragte Jane.