Grundrechte-Report 2017 -  - E-Book

Grundrechte-Report 2017 E-Book

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Beschreibung

Der wahre Verfassungsschutzbericht! Als wichtige Kontrollinstanz der Demokratie deckt das jährlich erscheinende Handbuch schonungslos die Verletzungen der Menschenrechte und Grundrechte des vergangenen Jahres in Deutschland auf. Experten analysieren in über 40 Berichten Verstöße in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die in der medialen Berichterstattung oftmals vernachlässigt wurden. Im Zentrum des ›Grundrechte-Reports 2017‹ stehen die Entrechtung von Geflüchteten durch Asylrechtsverschärfungen, menschenunwürdige Unterbringung und unzulässige Abschiebungen sowie die Massenüberwachung durch Geheimdienste, der umfassende Datenmissbrauch und die strukturelle Verharmlosung rechter Gewalt. Ein wichtiges Buch.

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Seitenzahl: 244

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Grundrechte-Report 2017

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Till Müller-Heidelberg / Elke Steven / Marei Pelzer / Martin Heiming / Cara Röhner / Rolf Gössner / Julia Heesen / Arthur Helwich (Hg.)

FISCHER E-Books

Ein Projekt der Humanistischen Union, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von PRO ASYL, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung

Inhalt

Der Schutz von Grund- und Menschenrechten in schlechten HändenDas Recht auf menschenwürdige Existenz – Wer gehört zur Solidargemeinschaft?Das deutsche Gesetz vor dem EuGHDie Entscheidungen des BundessozialgerichtsDie Reaktion des Gesetzgebers»Nein heißt Nein!«Inter/diverse Rechtssubjekte?Vom Bundesgerichtshof zum BundesverfassungsgerichtAchtung der geschlechtlichen Identität als Recht auf ein drittes Geschlecht?Wird die EU-Datenschutzreform ihre Ziele erreichen?Defizite des EU-DatenschutzrechtsInhalt und Grenzen der EU-DatenschutzreformReichweite und Grenzen der GrundverordnungHandlungsbedarfVerfassungsbeschwerden gegen die automatisierte anlasslose Kontrolle des Autoverkehrs durch die PolizeiWie wird präventiv kontrolliert? Die Zahlen in BayernDer anlassunabhängige massenhafte KontrollzugriffDie Problematik der Entscheidung vom 11. März 2008Neu seit dem Volkszählungsurteil: Grundrechtsschutz bei gesellschaftlicher BetroffenheitDas Verbot der anlasslosen Speicherung von Daten auf VorratDas Problem mit den VorratsdatenBewertung des BundesverfassungsgerichtsBewertung des EuGHNein zu massenhaften DatensammlungenVollzug ohne Methadon verstößt gegen MenschenrechteWas war passiert?Die Entscheidung des EGMRHat das Bundesverfassungsgericht geschlafen?Weil nicht sein kann, was nicht sein darfDiskriminierende AnwendungMenschenrechtliche StandardsDiskriminierung von Sinti und RomaDiskriminierung als FluchtursacheRestriktive Politik gegen geflüchtete RomaMenschenrechte Behinderter unter KostenvorbehaltEin modernes Teilhaberecht?Eingliederungshilfe – was ist das?Gefangen im »Fürsorge-System«Was ändert sich durch das neue Gesetz?Versäumnisse und VerschlechterungenErschwerter Zugang zu Leistungen ab 2023?Was bleibt?Zehn Jahre Kampf gegen christliche BevormundungHeidenspaß statt HöllenqualDer lange Weg durch die InstanzenFeiertagsregelung zulässig, aber nicht mit christlichem InhaltArtikel 4 gilt nicht nur für ChristenFriedensaktivist streitet für MeinungsfreiheitVerfolgungssüchtige StaatsanwaltschaftRechtswidrige GeheimnisseGekaufte Wissenschaft oder selbstloses Sponsoring?Erster Akt: Verschlusssache Drittmittelforschung – Geldregen ohne Gegenleistung?Zweiter Akt: Geheimvertrag wird öffentlich – Uni-Präsident gesteht »Fehler« einDritter Akt: Kritik ignorieren, Zweifel zerstreuen, Rechtsbruch kaschierenVierter Akt: Boehringer Ingelheim sichert sich auch bei weiteren Forschungsprojekten ein Vetorecht bei der Veröffentlichung von ErgebnissenLetzter Akt: ParteienstreitKalter Krieg im Jahr 2016: Der bayerische Fragebogen zur Verfassungstreue im öffentlichen DienstDer Verfassungsschutz wird zur EinstellungsbehördeÖffentliche Kritik treibt Verfassungsschutz zum HandelnNach Berufsverbot folgt ÜberwachungDes Mannes Freud, des Kindes Leid?Die rechtliche ElternschaftDas Recht auf Abstammungsklärung innerhalb der rechtlichen FamilieDie Entscheidung des BVerfGAufgabe des GesetzgebersBeschränkung der Flüchtlingszahlen um jeden PreisDie Grundlagen des europäischen FlüchtlingsschutzesBundesinnenministerium und BAMF umgehen Rechtsprechung – und diese knickt einDie Aussetzung des Familiennachzugs hat humanitäre Not zur FolgeTag der deutschen Zukunft: Ein schwieriger Tag für die VersammlungsfreiheitInformationsblockade gegen SitzblockadenVersammlungen sind öffentlich, nicht geheimBlockaden versammlungsrechtlich geschütztSelbst eine Plastikfolie kann zur (Schutz-)Waffe werdenUnbestimmte Rechtsbegriffe im VersammlungsgesetzGefährlichkeit von PfeffersprayRichterliche Einsicht fehlt (noch)?Dürfen Gefangene eine eigene Gewerkschaft gründen?Koalitionsfreiheit für Gefangene?Gefangenenarbeit in der RechtsprechungStreikrisiko erhöht: Fünf Millionen Euro Schadensersatz als Strafe für einen Rechtsirrtum?Unzulässige Forderungen?Die Wiederbelebung der sog. RühreitheorieDas Problem der SchadenshöheWie geht es weiter?Liberty dies by inches: Zum Verbot der Ausgabe anonymer PrepaidkartenInnen- und rechtspolitische IndifferenzLeerlaufen bestehender verfassungsrechtlicher BewertungsmusterGrenzen bestehender Bewertungsmuster im RechtWohnsitzverpflichtung für anerkannte Flüchtlinge?Integration per Wohnsitzverpflichtung?Rückwirkung für ein fragwürdiges GesetzWohnsitzauflagen als verfassungswidriges IntegrationshemmnisWen schützt das Prostituiertenschutzgesetz?Prostitution als BerufSchützen die neuen Pflichten Opfer von Menschenhandel?Gesundheitliche Prävention durch PflichtberatungGefahr des Zwangsoutings steigtEin krummer Deal: Flüchtlinge sitzen in der Türkei festDer Deal: Endstation Türkei mit kleiner DrehtürWarum der Deal ein krummer Deal istVerschlimmbesserung der Dublin-VerordnungVerteilungsschlüssel lightMassive Verschärfungen geplant: Abschaffung verbindlicher FristenSelbsteintrittsrecht – nur noch in FamilienkonstellationenRechtsschutz zu ausgewählten RegelungsbereichenDrittstaatenregelung soll Zuständigkeitskriterien aushebelnAbschiebungen von unbegleiteten minderjährigen FlüchtlingenProgramm zur Schwächung von FlüchtlingsrechtenRoma – nicht Nutznießer, sondern Opfer des Grundrechts auf AsylSogenannte sichere HerkunftsstaatenDas Ziel: Abschreckung von FlüchtlingenVerfassungswidriges DrittstaatengesetzDas Flughafenasylverfahren – volles Risiko zu Lasten von FlüchtlingenBAMF verweigert die SachverhaltsermittlungVerfassungsbeschwerde führt zum UmdenkenKeine Selbstkorrektur wegen politischen Drucks?Abschiebungen nach Afghanistan sind politisch gewolltCETA – »Freiheit im Handel und Verantwortung für die Menschen«?Hintergrund: Das Wirtschaftsvölkerrecht der WTOFortschreiben der neoliberalen AgendaGeopolitische PartnerschaftPostdemokratischer Kontext der CETA-VerfassungsbeschwerdenProtest als Ausdruck transnationaler SolidaritätReichtum per GesetzErfolge der Wirtschaftslobbyist*innenEin fauler Kompromiss im VermittlungsausschussSchlussfolgerungen und Auswirkungen der ErbschaftsteuerreformMindestlohn: Unzureichender Fortschritt mit DurchsetzungslückenAuseinanderdriften der Lohnschere vorprogrammiertWenige Ausnahmen, aber schwache KontrollmechanismenKeine Rente für Gefangene – zu einem 40 Jahre alten sozialpolitischen SkandalAushebelung des SozialstaatsprinzipsJustizministerkonferenz: Neuer Anlauf?Verschiebebahnhof von Verantwortungen: Bund – Länder – AusschüsseSkandalöse Leichtfertigkeit der deutschen Justiz: Türkischer Geheimdienst liest Verteidigerpost mitPostkontrolle in »Terrorismus«-ProzessenGrobe Verletzung der VertraulichkeitTürkischer Geheimdienst in Deutschland aktivZehn Jahre späterKammergericht hielt alles für rechtmäßigBKA-Raster keine ausreichende TatsachengrundlageVermutungen und Behauptungen reichen nicht ausDas neue BKA-Gesetz vor dem VerfassungsgerichtWesentliche Feststellungen des GerichtsBeanstandete NormenGrundrecht auf Sicherheit?Maßstäbe der BeurteilungErgebnisse und SchlussbemerkungenVerfassungs- und Gesetzesbrüche in SerieGrundrechte von Abertausenden unbescholtener Bürger*innen verletztGeheimdienste: demokratisch kaum zu kontrollierenInformationsrechte des Parlaments ausgehöhltDie UrteilsgründeInformationsverweigerung aus Gründen der GewaltenteilungGeheimnisse mit VerfassungsrangZu unbestimmtPolizeikontrollen ohne Anlass begünstigen Racial ProfilingAnlasslose Kontrollen sind unionsrechtlich zu unbestimmtUnionsrechtliches Verwertungsverbot?»Gefährliche Fußballfans«Hamburgs Bürger_innen von der Polizei belogenUferlose Speicherung von DatenDie Politik der Polizei HamburgReicht der Ertrag des NPD-Verbotsverfahrens über sein Ergebnis hinaus?Der Zielkonflikt und das Dilemma des BVerfGDie neuen verfassungsrechtlichen Maßstäbe für ein ParteiverbotBund und Länder sparen, Kommunen und Bürger*innen darbenRegelung der SchuldenbremseKeine unmittelbare Schuldenbremse für die KommunenGlobale Krisenbewältigung durch die Bundeswehr?Weiße Weste?Bundeswehreinsatz im Inland gegen Terroristen?Erosion des ParlamentsvorbehaltsSelbstreflexivität tut notKurzporträts der herausgebenden OrganisationenAutorinnen, Autoren und RedaktionsmitgliederAbkürzungenSachregister

Vorwort der Herausgeber

Der Schutz von Grund- und Menschenrechten in schlechten Händen

Vor zwanzig Jahren veröffentlichten wir den ersten Grundrechte-Report, um den vom Staat und seinen Geheimdiensten entworfenen Schreckensbildern von verfassungsfeindlich gesinnten Bürger*innen und ihren extremistischen Organisationen, die ein Sicherheitsrisiko darstellten, eine nüchterne Analyse der Gefährdungen der Grund- und Freiheitsrechte durch den Staat entgegenzustellen. Demokratie und der demokratische Rechtsstaat leben von der Auseinandersetzung der Bürger*innen mit der Verfassung, vom Streit um politische Meinungen und Deutungen. Auch wenn sich im Verlauf der Jahrzehnte die staatlichen Feindbilder verändert haben, gilt bis heute, dass weder islamistische Organisationen noch Amoktäter*innen, weder nationalistische und rassistische Zusammenschlüsse noch Migrant*innen die freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen. Der Antrag auf Verbot der NPD scheiterte aus guten Gründen vor dem Bundesverfassungsgericht. Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, für den an Menschenrechte gebundenen Rechtsstaat und die Grundrechte gehen weiterhin von einer Regierung aus, die auf Straftaten mit dem gefährlichen Ausbau von Überwachungsmaßnahmen und mit neuen Eingriffsbefugnissen für Geheimdienste und Polizei reagiert.

Seit vielen Jahren beschäftigen uns immer wieder dieselben Themen. So warnen Bürgerrechtler*innen seit langem vor der immer weitergehenden Einschränkung von Freiheitsrechten zugunsten von vermeintlich mehr Sicherheit. Die Aufdeckung der NSU-Morde hat zudem gezeigt, dass die Gefahren zumindest auch auf die behördlich-ideologischen Scheuklappen zurückzuführen sind, die einer Aufdeckung von Straftaten mit nationalistisch-rassistischem Hintergrund im Wege standen. Racial Profiling – wie die Sortierung von Besucher*innen der Stadt Köln nach Phänotypen und vermeintlicher Herkunft (»Nafris«) in der Silvesternacht 2016/17 – ist rechtswidrig, da es gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Polizeiliches Handeln nach diesem Konzept trifft vor allem die Falschen, schadet mehr, als es nutzt und schürt Rassismus. Zwei Aufsätze in diesem Buch setzen sich mit den Implikationen und juristischen Fragen dieses Themenfeldes auseinander. Dem kurzen Sommer 2015 einer scheinbar freundlichen Begrüßung von Migrant*innen folgte umgehend eine neue Welle von Abwehr- und Abschottungsmaßnahmen. Tausende Flüchtlinge sterben im Mittelmeer, stranden vor den Toren Europas oder bleiben in Europa völlig unterversorgt. Sie werden abgeschoben, und der Familiennachzug wird menschenrechtswidrig »ausgesetzt«. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wird einschränkend ausgelegt, die Rechte der Gegendemonstrierenden missachtet. Noch der geringste Schutz gegen polizeiliche Gewaltmittel wird auch vor Gericht als passive Bewaffnung interpretiert.

Die großen Entwicklungen spiegeln sich in den vielen konkreten und Einzelfragen betreffenden Eingriffen. Selbst beim Kauf von Prepaidkarten muss nun die Identität der Käufer*in geprüft werden. Unüberwachte Kommunikation wird so quasi unmöglich gemacht. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und der Staat schützt einseitig die Interessen der Reichen. Die durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene Erbschaftssteuerreform schützt letztlich doch wieder die reichen Erben von Betriebsvermögen. Die »Überprivilegierten« haben den größeren politischen Einfluss. Auf der anderen Seite wurde noch im Dezember 2016 ein Gesetz zum Ausschluss hilfebedürftiger Unionsbürger*innen aus der sozialen Sicherung beschlossen. Der Zugang zu Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II und zur Sozialhilfe wird drastisch eingeschränkt, Ausreise als Mittel zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit gesetzlich verankert. Die Schuldenbremse, die auch den Ländern zukünftig eine Neuaufnahme von Krediten verbietet, wird sich auf die Finanzautonomie der Kommunen auswirken. Leistungen im sozialen Bereich werden drastisch eingeschränkt werden. Das aber wird das Sozialstaatsgebot unmittelbar beeinträchtigen.

So muss dieser Verfassungsschutzbericht erneut erschreckende Gefährdungen des an die Menschenrechte gebundenen demokratischen Rechtsstaats durch staatliche Institutionen konstatieren.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Constanze Janda

Das Recht auf menschenwürdige Existenz – Wer gehört zur Solidargemeinschaft?

Dass aus der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Absatz 1GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1GG ein Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz erwächst, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) seit langem etabliert. Das Grundrecht erschöpft sich nicht in der Sicherung des physischen Überlebens. Der Mensch existiert notwendig in sozialen Bezügen, so dass ihm auch soziale, kulturelle und politische Teilhabe zu ermöglichen ist – und zwar jederzeit und in vollem Umfang. Geschützt sind nicht nur Deutsche, vielmehr handelt es sich um ein Menschenrecht, das migrationspolitischen Erwägungen – etwa dem Ziel der Abschreckung von Zuwandernden – nicht zugänglich ist (Urteil v.18.7.2012, Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

Trotz der menschenrechtlichen Ausprägung gilt dieses Recht nicht weltweit und nicht für jedermann, sondern setzt die Zugehörigkeit zur inländischen Solidargemeinschaft voraus. Diese hängt nicht von einem konkreten Aufenthaltsstatus ab, sondern ist aus den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln. Wodurch die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft begründet wird, ist schwer zu bestimmen. Dies zeigt nicht zuletzt die Diskussion um die Gewährung von Grundsicherungsleistungen an Unionsbürger_innen.

Das deutsche Gesetz vor dem EuGH

Die Leistungsberechtigung nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II/»Hartz IV«) setzt voraus, dass man erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Außerdem muss ein sog. gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik bestehen, d.h., die Umstände dürfen nicht auf einen nur vorübergehenden Aufenthalt hindeuten. Auch ausländische Arbeitnehmer_innen oder Selbständige können unter diesen Bedingungen (ergänzend zu ihrem Erwerbseinkommen) Leistungen nach dem SGB II beziehen.

Alle übrigen Ausländer_innen müssen weitere Anforderungen erfüllen, um Leistungen nach dem SGB II beziehen zu können. Zunächst haben sie nach ihrer Einreise eine dreimonatige Wartefrist zu absolvieren. Darüber hinaus sind solche Ausländer_innen dauerhaft vom Leistungsbezug ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht allein auf dem Zweck der Arbeitssuche beruht. Dieser Leistungsausschluss für Arbeitssuchende trifft (fast) ausschließlich Unionsbürger_innen, weil nur ihnen ein solches Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche überhaupt zusteht – während Drittstaatsangehörige nicht das Recht haben, allein zu diesem Zweck einzureisen.

Die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses für arbeitssuchende Unionsbürger_innen mit Europarecht wurde kontrovers diskutiert, vor allem im Hinblick auf die Unionsbürgerfreizügigkeit und das daran gekoppelte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die deutsche Vorschrift 2015 für zulässig erklärt (Urteil v.15.9.2015, Rs. C-67/14, Alimanovic). Der EuGH folgt nicht der Ansicht, dass die EU-Verträge jede Diskriminierung von Unionsbürger_innen beim Zugang zu Sozialleistungen verbieten. Vielmehr stellt er allein auf die sog. Unionsbürgerrichtlinie (RL2004/38EG) ab. Diese regelt die Freizügigkeit innerhalb der Union näher und enthält ein sozialrechtliches Gleichbehandlungsgebot nur für diejenigen Unionsbürger_innen, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. Nach der Unionsbürgerrichtlinie haben aber nur jene ein Aufenthaltsrecht, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern können, ohne öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen, oder die – im Fall der unverschuldeten Arbeitslosigkeit – mit einiger Aussicht auf Erfolg nach Beschäftigung suchen. Beide Voraussetzungen hat die Familie Alimanovic, über deren Ansprüche der EuGH zu entscheiden hatte, nicht erfüllt.

Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts

War nun der europarechtliche Zugang zu den Leistungen nach dem SGB II verschlossen, gab das Bundessozialgericht (BSG) der Diskussion im Dezember 2015 eine neue Wendung (Urteil v.3.12.2015, Az. B 4AS44/15 R). Aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz leitete das Gericht her, dass – wenn schon die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II nicht in Betracht komme – zumindest Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII) zu erbringen sei. Anders als das SGB II enthält das SGB XII nämlich keinen ausdrücklichen Leistungsausschluss. Das BSG entnimmt dem SGB XII einen Anspruch auf Sozialhilfe, wenn sich der Aufenthalt der hilfebedürftigen Person verfestigt habe. Dies sei in der Regel nach einem tatsächlichen Aufenthalt von mehr als sechs Monaten anzunehmen. Zwar bewirke die Arbeitssuche während dieses überschaubaren Zeitraums noch nicht die Zugehörigkeit zur inländischen Solidargemeinschaft. Auch ende das Aufenthaltsrecht arbeitssuchender Unionsbürger_innen nach sechs Monaten; allerdings sind Unionsbürger_innen nach deutscher Rechtslage erst dann zur sofortigen Ausreise verpflichtet, wenn die Ausländerbehörden den Verlust des Aufenthaltsrechts formell feststellen. Ohne eine förmliche Verlustfeststellung führe schon die tatsächliche Fortsetzung des Aufenthalts zu seiner Verfestigung. Dies genüge, um den Zugang zur Sozialhilfe zu eröffnen. Differenzierungen seien allenfalls bei unterschiedlichen Bedarfen zulässig, für die aber keine Anhaltspunkte bestehen.

Eine Vielzahl von Sozialgerichten schloss sich der Argumentation des BSG jedoch nicht an. Ansprüche für erwerbsfähige Personen folgten ausschließlich aus dem SGB II, für diese Personengruppe sei jeder Rückgriff auf die Sozialhilfe nach dem SGB XII systemwidrig. Das BVerfG habe migrationspolitische Erwägungen überdies allein im Hinblick auf die Höhe der Leistungen verboten, nicht aber im Hinblick darauf, ob diese überhaupt gewährt werden. Es bestünden keine Bedenken gegen den »grundsicherungslosen Zustand« hilfebedürftiger Unionsbürger_innen, denn die Rückkehr erweise sich als geeignetes Mittel der Selbsthilfe. Mit der Zumutbarkeit der Ausreise im Einzelfall haben sich die Gerichte – soweit ersichtlich – freilich nicht auseinandergesetzt.

Die Reaktion des Gesetzgebers

In Reaktion auf die Entscheidung des BSG, Unionsbürger_innen nach sechs Monaten einen Anspruch auf Sozialhilfe zuzusprechen, hat der Gesetzgeber im Dezember 2016 – nicht zuletzt aufgrund der Kritik der für die Finanzierung der Sozialhilfe zuständigen Kommunen – beschlossen, die Ausreise als Mittel zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit gesetzlich zu verankern. Der Zugang zu Leistungen nach dem SGB II und Sozialhilfe wird drastisch eingeschränkt: Personen ohne Aufenthaltsrecht können erst nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland Sozialhilfe beziehen. Wer schon vorher hilfebedürftig wird, kann innerhalb von zwei Jahren einmalig für maximal vier Wochen Übergangsleistungen in Anspruch nehmen. Diese sollen die Zeit bis zur freiwilligen Ausreise überbrücken und beschränken sich auf die Sicherung der physischen Existenz und eine medizinische Notversorgung. Die Kosten der Ausreise werden darlehensweise gewährt.

Das Recht auf menschenwürdige Existenz wird also nicht länger in vollem Umfang gewährt, sondern auf die zum Überleben notwendigen Leistungen beschränkt. Alle auf soziokulturelle Teilhabe – die keineswegs mit dem überaus vagen Begriff der »Integration« gleichzusetzen ist! – gerichteten Leistungen werden den Betroffenen vorenthalten. Und nicht einmal die physische Existenz wird jederzeit, sondern nur einmalig für vier Wochen gesichert. Der Gewährleistungsgehalt des Menschenrechts wird damit entgegen den Vorgaben des BVerfG vom aufenthaltsrechtlichen Status abhängig gemacht. Zudem stellt sich der Gesetzgeber gegen den vom BVerfG determinierten persönlichen Schutzbereich des Grundrechts. Er nimmt es nicht hin, dass der (nicht nur vorübergehende) Aufenthalt in der Bundesrepublik die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft begründet, sondern begründet die fehlende Zugehörigkeit mit der faktischen Möglichkeit der Ausreise. Damit ignoriert er, dass das Ausländerrecht die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts für die betroffenen Personen nicht ohne weiteres ermöglicht. Das Ziel der Ausreise soll also durch restriktive Ausgestaltung des Sozialhilferechts erreicht werden. Die Neuregelung ist folglich klar von migrationspolitischen Erwägungen getragen. Dem Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz wird sie nicht gerecht.

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit

Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Ulrike Lembke

»Nein heißt Nein!«

Sexuelle Selbstbestimmung wird umfassender geschützt

Das Grundrecht der sexuellen Selbstbestimmung schützt die Entscheidung darüber, ob überhaupt, in welcher Weise, unter welchen Umständen und mit wem sexuelle Handlungen stattfinden sollen. Sexuelle Handlungen ohne das wirksame Einverständnis einer beteiligten Person sind sexuelle Übergriffe. Die Sexualwissenschaften sprechen vom »Verhandlungsparadigma«: ohne gegenseitiges Einverständnis kein Sex. Am 7. Juli 2016 hat der Bundestag den Grundsatz »Nein heißt Nein!« im Strafrecht umgesetzt. Zuvor waren sexuelle Übergriffe oftmals auch dann nicht strafbar, wenn der Täter sich bewusst über den entgegenstehenden Willen der Betroffenen hinwegsetzte. Die Rechtsprechung hatte den einschlägigen § 177 Strafgesetzbuch immer enger ausgelegt und zudem systemwidrig ein ungeschriebenes Erfordernis der »Gegenwehr« hineingelesen. Dabei war seit langem durch Forschung belegt, dass Gegenwehr keine verbreitete oder gar natürliche Reaktion auf sexualisierte Gewalt ist, sondern ein opferfeindlicher Mythos. Strafprozesse wurden ein Martyrium für die Betroffenen, die Verurteilungsquote fiel auf 13 Prozent, die Anzeigenquote stagnierte bei 5 bis 10 Prozent. Sexualisierte Gewalt war eine weitgehend straflose Menschenrechtsverletzung.

Der Schutz der sexuellen als zutiefst persönlicher Integrität ist Basis für den Genuss aller anderen Rechte, für Teilhabe am öffentlichen Leben und für die Möglichkeit von Geschlechtergerechtigkeit. Die Änderung von § 177 Strafgesetzbuch, wonach nun auch sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person ohne weitere Voraussetzungen die Strafbarkeit begründen, setzt zunächst die Anforderungen aus Artikel 36 der sog. Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) um. Zugleich wird eine verfassungsrechtliche Schieflage korrigiert: Im Gegensatz zu anderen Grundrechten war die sexuelle Selbstbestimmung bisher nur defizitär strafrechtlich geschützt. So dürfte noch nie eine Verurteilung wegen Raubes an fehlender Gegenwehr des Opfers gescheitert sein. Vor allem aber gibt es bei Eigentum (Diebstahl, schwerer Diebstahl und Raub) und körperlicher Unversehrtheit (einfache, gefährliche und schwere Körperverletzung) einen den Unrechtskern erfassenden Grundtatbestand und Strafschärfungsgründe; bei der sexuellen Selbstbestimmung waren nur besondere Verletzungen erfasst (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung), ein Grundtatbestand fehlte.

Die Sonderstellung der sexuellen Selbstbestimmung in Bezug auf die Erfüllung staatlicher Schutzpflichten ist nicht zufällig, sondern Ausdruck patriarchaler Gesellschaftsverhältnisse. Lange Zeit war überhaupt nur der »erzwungene außereheliche Beischlaf mit einer Frau« strafbar – ein sehr kleiner Ausschnitt der Menschenrechtsverletzungen durch sexualisierte Übergriffe. Ab 1997 erfasste der Tatbestand der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung auch die »Vergewaltigung in der Ehe« (vgl. Christa Stolle, Grundrechte-Report 1998, S. 60ff.) und sexuelle Übergriffe jenseits des »Beischlafes«, war geschlechtsneutral gefasst und anerkannte mit der Tatbegehung durch Ausnutzen einer schutzlosen Lage, dass die Strafbarkeit nicht von der aktiven Gegenwehr der Betroffenen abhängig sein kann. Doch waren damit keineswegs die Vergewaltigungsmythen und Geschlechterstereotype beseitigt, welche schon zuvor die Strafverfolgung behindert hatten.

Auch die Diskussionen um eine bedingungslose Strafbarkeit nicht einverständlicher sexueller Handlungen, also sexueller Übergriffe, waren und sind geprägt von patriarchaler Abwehr. Immer wieder wird sexualisierte Gewalt als irgendwie dem Bereich der (staatsfreien) Intimität zugehörig verharmlost. Zwischen sexueller Interaktion und sexuellem Übergriff besteht aber ein kategorialer Unterschied, der sich auch nicht durch eine Entpolitisierung des Privaten auflöst. Fundamentale Strafrechtskritik sollte sich lieber auf §§ 103, 173, 218ff., 265a Strafgesetzbuch fokussieren. Auch geht es bei § 177 Strafgesetzbuch nicht um Moralfragen, sondern um Grund- und Menschenrechte. Wer gegen einen strafrechtlichen Schutz sexueller Selbstbestimmung keine Argumente mehr hat, fabuliert über Falschanzeigen, während reale Quoten nach älteren Studien zwischen 2 und 8 Prozent, nach neueren zwischen 3 und 7,3 Prozent liegen. Doch: »No myth is more powerful in the tradition of rape law than the myth of the lying women.« (Estrich, S. 11). Wenn Rechtsmobilisierung auch bisher Ausgeschlossenen zugänglich gemacht wird, ist der präventive Vorwurf des Rechtsmissbrauchs so üblich wie perfide. Das Festhalten am defizitären Schutz der sexuellen Selbstbestimmung stellt sich in eine lange patriarchale Tradition.

Die seit 2011 intensivierte Kampagnenarbeit für ein adäquates Sexualstrafrecht wurde nicht nur patriarchal attackiert, sondern auch rassistisch vereinnahmt. Nach der Silvesternacht 2015/16 machten rechtskonservative Kräfte – sonst weniger an sexueller Autonomie interessiert – aus der Reform ihr eigenes antimuslimisches und flüchtlingsfeindliches Projekt. Auch antirassistischen feministischen Bewegungen (z.B. ausnahmslos.org) gelang es letztlich nicht, die Diskurshoheit zurückzugewinnen. In letzter Minute entschied der Bundestag, die Reform des Sexualstrafrechts mit Verschärfungen bei Ausweisungen und Abschiebungen zu verbinden. Auch die Einfügung eines schon aufgrund seiner Unbestimmtheit offensichtlich verfassungswidrigen Tatbestandes (§ 184j StGB: Übergriffe aus Gruppen) dient nur dem Zweck, auf »Köln« zu verweisen. Die gesamte Debatte im Frühjahr 2016 war geprägt von Versuchen, biodeutsche Männer zu entlasten, indem sexualisierte Gewalt zum exklusiven Problem der »Fremden« erklärt wurde. Dies wird erheblichen negativen Einfluss auf die gesamte künftige Strafverfolgung haben und befeuert Rechtspopulismus.

Zugleich kann die Gesetzesreform als solche nicht bewirken, dass Vergewaltigungsmythen und Geschlechterstereotype in der Rechtsprechung keine Rolle mehr spielen werden. Dazu zählen Vorstellungen vom typischen Tatbild (der fremde, psychisch gestörte Täter im Park bei Nacht mit brutaler Gewalt), die mit der Realität (bekannte oder verwandte Täter, meist in der eigenen oder deren Wohnung, selten mit Gewalt oder Gegenwehr) kaum etwas gemein haben. Solche Vorstellungen werden nun überdies rassistisch aufgeladen. Weiterhin bestehen absurde und schädliche Erwartungen an das ideale Verhalten des Opfers (fight or flight), während die Forschung zu tatsächlichen Reaktionen ebenso ignoriert wird wie die belegten Folgen sexualisierter Gewalt. Aussagepsychologische Gutachten sollen die Glaubwürdigkeit der Betroffenen feststellen, obwohl diese Methode in über 50 Prozent der Fälle aufgrund der Traumatisierung der Betroffenen wenig tauglich ist. Sexuelle Übergriffe in und nach Intimbeziehungen werden als weniger schwerwiegend bewertet, obwohl die Traumatisierungsgefahr wesentlich erhöht und die Verletzungsfolgen grundsätzlich gravierender sind. Diese Entwicklungen sind jedenfalls zu erwarten, wenn die neue Gesetzeslage nicht von einer Fortbildungsoffensive für Richter*innen und Staatsanwält*innen begleitet wird. Vor allem aber kann eine Strafrechtsreform, selbst wenn sie zu einem angemessenen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung führt, keine Geschlechtergerechtigkeit schaffen. In unserer Gesellschaft muss sich noch sehr viel ändern, bevor »Nein heißt Nein« gelebte Wirklichkeit wird oder wir – jenseits des Rechts – zu einem enthusiastischen Ja in der Sexualität finden.

Literatur

Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (Hg.): »Was Ihnen widerfahren ist, ist in Deutschland nicht strafbar«, 2014.

Estrich, Susan: Palm Beach Stories. In: Law and Philosophy 1992, S. 5ff.

Friedman, Jaclyn/ Valenti, Jessica: Yes means Yes! Visions of female sexual power and a world without rape, Berkeley 2008.

Lembke, Ulrike: Vergebliche Gesetzgebung. Die Reform des Sexualstrafrechts 1997/98 als Jahrhundertprojekt und ihr Scheitern in und an der sog. Rechtswirklichkeit, in: ZfRSoz 2014, S. 253ff.

Lembke, Ulrike: Weibliche Verletzbarkeit, orientalisierter Sexismus und die Egalität des Konsums. Gender-race-class als verschränkte Herrschaftsstrukturen in öffentlichen Räumen, ZtG-Bulletin 2017.

Steinhilper, Udo: Definitions- und Entscheidungsprozesse bei sexuell motivierten Gewaltdelikten, Konstanz 1998.

Cara Röhner

Inter/diverse Rechtssubjekte?

Vorerst kein Personenstand jenseits der Zweigeschlechtlichkeit

Schon länger kämpfen intergeschlechtliche Menschen um gesellschaftliche Sichtbarkeit und rechtliche Anerkennung. Mit der Kampagne »Dritte Option« wird derzeit ein Rechtsstreit begleitet, mit dem eine Person ihr im Personenstandsregister bislang als »weiblich« eingetragenes Geschlecht in »inter« oder »divers« ändern lassen möchte.

Die deutsche Rechtsordnung geht im Familien- und Personenstandsrecht von der Existenz zweier Geschlechter aus. Rechtssubjekte verfügen entweder über einen weiblichen oder männlichen Personenstand. Die geschlechtliche Zuordnung spielt familienrechtlich bei der Unterscheidung zwischen einer verschiedengeschlechtlichen Ehe und einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft sowie bei der Definition von »Mutter« und »Vater« eine Rolle. Nachdem Betroffenenverbände Druck erzeugt und auch der Deutsche Ethikrat 2012Änderungen gefordert hatten, schuf der Gesetzgeber 2013 die Möglichkeit, das Geschlecht in der Geburtsurkunde offenzulassen. Unter der Überschrift »Fehlende Angaben« formuliert § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz (PStG): »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.« Damit reagierte die Legislative auf die Erkenntnis, dass die medizinische Praxis, »uneindeutige« Neugeborene durch Operationen an die gesellschaftliche Norm der Zweigeschlechtlichkeit anzupassen, oft zu körperlichen und psychischen Leiden der Betroffenen führt. Wegen der schwerwiegenden Folgen wurden die Operationen von den Vereinten Nationen als Verstoß gegen die Antifolterkonvention gewertet (CAT/C/DEU/CO/5, Rn. 20 und A/HRC/22/53, Rn. 77, 88) und sind inzwischen in einigen Staaten verboten.

Vom Bundesgerichtshof zum Bundesverfassungsgericht

Der Rechtsstreit wird von einer Person geführt, die sich dauerhaft weder als Mann noch als Frau, sondern als intergeschlechtlich definiert. Genau diese Geschlechtsidentität möchte sie rechtlich im Personenstandsregister anerkannt sehen. Das zuständige Standesamt, die unteren Fachgerichte und der Bundesgerichtshof (BGH) versagten eine entsprechende Eintragung, weil das aktuelle Personenstandsrecht diese Kategorie nicht vorsehe und der Gesetzgeber mit der Schaffung von § 22 Absatz 3PStG kein drittes Geschlecht schaffen wollte. Da auch die gesamte übrige Rechtsordnung – insbesondere das Familienrecht – kein drittes Geschlecht anerkenne, bliebe die begehrte Eintragung als »inter/divers« rechtlich völlig folgenlos. Die Geschlechtsidentität intergeschlechtlicher Menschen werde durch die Streichungsmöglichkeit in § 22 Absatz 3PStG ausreichend geachtet (BGH, Beschluss v.22.6.2016, Az. XIIZB52/15).

Eine solche Wahl zwischen einer falschen oder keiner Geschlechtsbezeichnung widerspricht aber der eindeutigen Selbstdefinition der klagenden Person. Sie legte daher im September 2016 Verfassungsbeschwerde ein (einsehbar unter www.dritte-option.de) und argumentiert, dass die Alternative zwischen einer falschen Bezeichnung und der Geschlechtslosigkeit sie in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletze (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1GG) und sie im Vergleich zu Menschen mit einem benennbaren Geschlecht diskriminiere (Art. 3 Abs. 3 S. 1GG). Eine Nichteintragung des Geschlechts sei nicht ausreichend, weil sie die Unsichtbarkeit von Intergeschlechtlichen perpetuiere, die fundamentale Bedeutung des Geschlechts für die öffentliche Selbst- und Fremddarstellung im eigenen Leben, etwa bei Ämtern, Bildungseinrichtungen, Sozialversicherungsträgern oder Bewerbungen unterschlage und dazu führe, dass Betroffene ihre Geschlechtslosigkeit immer wieder rechtfertigen müssten. Nur die konkrete Bezeichnung der Geschlechtsidentität mit »inter/divers« werde dem Recht auf Achtung der geschlechtlichen Identität gerecht.

Achtung der geschlechtlichen Identität als Recht auf ein drittes Geschlecht?

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat für die Transgeschlechtlichkeit anerkannt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht die selbstempfundene geschlechtliche Identität schützt (BVerfGE115, 1; 121, 175; 128, 109). Widerspreche das »rechtlich nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen zugeordnete Geschlecht« der eigenen Geschlechtsidentität, dann gebieten es die Menschenwürde und der Persönlichkeitsschutz, »dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen Rechnung zu tragen und seine selbstempfundene geschlechtliche Identität rechtlich anzuerkennen«. Dies solle den Betroffenen ermöglichen, »entsprechend dem empfundenen Geschlecht leben zu können« und nicht »durch den Widerspruch zwischen seinem dem empfundenen Geschlecht angepassten Äußeren und seiner rechtlichen Behandlung bloßgestellt zu werden«. Daher obliege es dem Gesetzgeber, die Rechtsordnung entsprechend auszugestalten und die rechtliche Zuordnung zum empfundenen Geschlecht nicht von »unzumutbaren Voraussetzungen« abhängig zu machen (BVerfGE128, 109 [124]). So sah das BVerfG es z.B. als unzumutbar an, wenn Transpersonen zur Absicherung ihrer Partnerschaft nur ein Institut (Ehe oder Lebenspartnerschaft) offensteht, bei dem er_sie »im falschen Geschlecht leben muss« (ebd. 126).

Der BGH hält diese Rechtsprechung für nicht übertragbar und sieht in der Schaffung eines dritten Geschlechts erhebliche staatliche Ordnungsinteressen berührt. Man könnte dem BGH recht geben, weil es bei Intergeschlechtlichen nicht um den Zugang zum »anderen«, sondern um die rechtliche Anerkennung eines neuen Geschlechts geht und aus den Grundrechten kein Anspruch auf die Schaffung einer konkreten rechtlichen Regelung folgt.

Aus den normativen Wertungen, die das BV