Grundrechte-Report 2018 -  - E-Book

Grundrechte-Report 2018 E-Book

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Beschreibung

Polizeigewalt, Abschiebungen, Demonstrationsverbote, Diskriminierung, Vorratsdatenspeicherung. Der neue Grundrechte-Report deckt schonungslos Verletzungen der Menschen- und Grundrechte in Deutschland auf. In mehr als 40 Beiträgen dokumentieren und analysieren Expertinnen und Experten Verstöße in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dabei zeigen sie, dass in einer Zeit, in der die Sicherheit über allem steht, unsere Freiheit in Gefahr gerät. Der wahre Verfassungsschutzbericht!

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Seitenzahl: 270

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Grundrechte-Report 2018

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Till Müller-Heidelberg / Marei Pelzer / Martin Heiming / Cara Röhner / Rolf Gössner / Matthias Fahrner / Helmut Pollähne / Maria Seitz

FISCHER E-Books

Ein Projekt der Humanistischen Union, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung

Inhalt

Gefährder StaatKein Ende des jahrzehntelangen Rechtstreites zum Erwerb eines Medikamentes zur SelbsttötungDie RechtsverweigerungDie AusnahmeUrteilskritik und staatliche Weigerung, das Urteil umzusetzenHalbiertes Heilen einer GrundrechtsverletzungDer Kampf ums RechtGrundrecht oder Menschenrecht?Pilotprojekt zur GesichtserkennungRechtliche GrauzoneEingriff in die informationelle SelbstbestimmungHohe Intensität des EingriffsOffline-Tracking – »Einem wütenden Mann Mitte 30 rasch eine Flasche Whiskey empfehlen«Neue Techniken und Ziele der ÜberwachungSchutz von Privatheit in öffentlichen RäumenAuf dem Weg zu einer biometrischen Verbunddatei der SicherheitsbehördenUnbestimmte Ermächtigung zum Abruf von Pass-/AusweisbildernDer Weg zur allgemeinen automatisierten GesichtserkennungVerhinderter effektiver Rechtsschutz durch GeheimniskrämereiFazit: Salamitaktik zur VollüberwachungQuellen-Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchung zur StrafverfolgungBrisanz der neuen ErmittlungsinstrumenteDie Online-Durchsuchung als völliges Durchleuchten von VerdächtigenUnerträgliche Hektik des GesetzgebersVorschlag für einen (zu langen) Gegen-TweetÖffentliche Sicherheit durch unsichere IT?Schwachstellen schaffen und ausnutzen – anstatt sie zu schließenDas »IT-Grundrecht« gegen staatliches HackingStaats-Hacking: Geheimdienstliche und militärische AufrüstungGefährdung der öffentlichen InfrastrukturFazitPNR-Regelungen verstoßen gegen informationelle GrundrechteDatenschutzgarantien im Empfängerland gefordertPNR muss umfassend auf den PrüfstandPNR nur ein Beispiel für DrittlandskooperationVerfassungsschutz: Anwalt im VisierDer erste Prozess – Klage auf vollständige AuskunftZweiter Prozess – Feststellung der Rechtswidrigkeit der ÜberwachungGeheimdienste – demokratie-inkompatibel?Verletzte staatliche Schutzpflichten gegenüber Menschen in stationärer PflegeGrundrechtsverletzungen durch den PflegenotstandFaktisch unerreichbarer RechtsschutzSchutzpflichten aus den GrundrechtenEuropäischer Rückenwind für eine bessere Kontrolle der PolizeiMaskierungen und VideoauszügeEffektiver Schutz vor polizeilicher Straflosigkeit?Für unabhängige ErmittlungenPolizeiliche Todesschüsse – ein AlltagsproblemHöchststand seit 1999Die Normalität der TodesschüsseSchlecht verhandelt – Arbeitsgericht Berlin zu EntgeltdiskriminierungGleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige ArbeitFehlende Sensibilität für DiskriminierungenMehr als zwei GeschlechterDritte OptionIntergeschlechtliche Geschlechtsidentität grundrechtlich geschütztGleiche AnerkennungRechtlicher NeuregelungsbedarfDiskriminierung im Freizeitbereich – gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten nutzenRechtlicher Schutz vor DiskriminierungenDie Gaststättengesetze in Niedersachsen, Bremen und ThüringenNeue HandlungsspielräumeKopftuchverbote in privaten Arbeitsverhältnissen?Neutralitätsregel als rechtfertigungsfähige mittelbare DiskriminierungSchwächung des Diskriminierungsschutzes durch den EuGHKonsequenzen für das deutsche RechtDiskriminierungsschutz am Arbeitsplatz muss verteidigt werdenDas Netzwerkdurchsetzungsgesetz – eine Gefahr für die MeinungsfreiheitWillkürliches Löschen wegen unbestimmter RechtsbegriffeBreite Allianz gegen das GesetzZivilgesellschaft muss Auswirkungen des NetzDG kritisch begleitenDie grenzenlosen Möglichkeiten des VereinsrechtsWahlkampfmanöverKonstrukt eines VereinsShrinking Space – auch in Deutschland?Münsteraner Spruchtaxi-Urteil: Vom gesellschaftlichen »Brand« der Gotteslästerung zur Stärkung der MeinungsfreiheitStreitgegenstand und UrteileVerletzung des Rechtsstaatsprinzips und des BestimmtheitsgrundsatzesArtikel 4 nicht gestärkt und Artikel 5 eingeschränktAbschaffungKeine Demokratie ohne Meinungsfreiheit»Obergauleiter der SA-Orden«»Seit 1944 kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt«»Nazi-Schlampe«Überdehnung der Meinungsfreiheit?Ehe für alle? Ehe für alle!Ehe versus LebenspartnerschaftEhe für alle verfassungsrechtlich gebotenAbschied von traditionell normativen VorstellungenPflegekind auf Dauer?Die Grundrechte von Eltern und KindernScheitern des »Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen«Wie notwendig ist eine Perspektivenklärung?Versammlungsrecht auf abschüssiger BahnStaatliche Vorbereitung auf Proteste gegen G20Die Woche des ProtestesAusnahmezustand?GefangenensammelstelleDas Grundrecht auf der Straße verteidigen!Wie in autoritären Staaten: Die Große Koalition erweitert den »Widerstandsparagraphen«Falscher Ausgangspunkt: Es gibt keine »Schutzlücken« für Polizeibeamt*innenEine Umkehrung des Verhältnisses Bürger*in – StaatDefinitionsmacht der Polizei wird gestärktDie Folgen sind schon zu spürenMachtdemonstrationen des Staates sind ein EingriffAbschreckung ist ein EingriffGrundsätzliche Bedeutung für die VersammlungsfreiheitVerbotene FahnenErste Strafverfahren und AuflagenbescheideErdoğans langer ArmNeoliberales Freiheitspostulat als Fortschrittsbremse?Deutsche Unternehmensmitbestimmung und Sozialpflichtigkeit des KapitaleigentumsUnionsweite Freizügigkeit als Konterhaken gegen nationale Mitbestimmungsregelungen?Sozialpolitische Kehrtwendung der EU?Strafbare Informationen über den SchwangerschaftsabbruchFolgen der Strafbarkeit der Information über den SchwangerschaftsabbruchUnverhältnismäßiger Eingriff in die BerufsfreiheitAbschaffung von § 219a StGB – Reform des Abtreibungsrechts?Vom Aufnahmeland zum Abschiebeland: Das »Hau-ab-Gesetz«Vermischung von Abschiebungs- und Strafhaft»Lagerpflicht« für alleGläserner FlüchtlingVerschärfungen ohne Sachverstand?Die verfolgten RetterKaum Hilfe für ItalienEin Kodex für die RetterFoto von Undercover-PolizistenDie Europäische Bürgerinitiative Stop TTIPDie Europäische BürgerinitiativeDie Klage der Initiative Stop TTIP vor dem Gericht der Europäischen UnionStärkung europäischer Demokratie durch die Europäische Bürgerinitiative?Regierung muss Parlament informierenDas parlamentarische Fragerecht als Tafelsilber der DemokratieVerletzung der Transparenzpflicht gegenüber dem ParlamentRechtswidrige Geheimniskrämerei auch beim FinanzmarktEs gibt sie noch, die schutzwürdigen DingeMehr Transparenz auch gegenüber den Bürgern nötigAufklärung ist nicht in SichtTrio-These unhaltbarSabotage der AufklärungKrise der GewaltenteilungCETA und demokratischer RechtsstaatSondergerichte sind verbotenBestätigung durch den Europäischen GerichtshofDas Parlament hat das letzte WortDer verweigerte Grundrechtsschutz für sog. GefährderVerwirrend: »Gefährder« und polizeirechtliche »Gefahr«Täterbezogene Prognosen und Maßnahmen gegen den »Gefährder«Verweigerung von Rechtsschutz für »Gefährder« (§ 58a AufenthG)Unendlichkeitsgewahrsam, Vorverlagerung des Gefahrbegriffs und Kontrollen in Geflüchtetenunterkünften – Bonbons aus den jüngsten PAG-NovellenNicht konkret – drohend!Gefährlich oder gefährdet – Gemeinschaftsunterkünfte GeflüchteterVorratsdatenspeicherung im Jahr 2017 – kein Ende in SichtDas deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung bricht EU-Recht …… und der deutsche Gesetzgeber reagiert nicht, sondern agiert blindKein EU-Staat hält die EuGH-Vorgaben einVorratsdatenspeicherung bleibt im FokusKein Schutz vor dem VerfassungsschutzDie Wahrheit in falscher Umgebung sagen – besser nichtUnkenntnis der Rechtsprechung des BundesverfassungsgerichtsUmzug wegen Hartz IV? Weiterhin keine Klarheit bei den MietobergrenzenWohnen als grundrechtlich geschütztes Existenzminimum»Angemessene« Kosten der Unterkunft und »schlüssiges Konzept«»Angemessen« als bestimmbare GrößeSchutz der natürlichen Lebensgrundlagen: Die ungeschriebene Bereichsausnahme für die AutomobilitätDieselskandal 2015 bis 2017Luftreinhalteklagen 2010 bis 2017Krone des Rechtsstaats: VerwaltungsgerichteAngriffskrieger wollen straffrei bleibenVon kleinen zu großen StrafbarkeitslückenUnvereinbar mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes»Deutschlands Freiheit wird auch im Cyberraum verteidigt«Zielvorgabe: Verteidigung – inklusive Befähigung zu CyberangriffenGefährliches EskalationspotentialCyberpeace statt Aufrüstung zum CyberkriegEntgrenzte »Sicherheitspolitik« – Gemeinsame Antiterrorübungen von Polizei und BundeswehrBundesweite »terroristische Großlagen« …… als »Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes«Geschichtsvergessene GrenzüberschreitungAmtshaftung nach Freiheitsentziehung: Das Bundesverfassungsgericht zur Frage von Genugtuung und AusgleichSitzblockade und Feldgewahrsam sind nicht vergleichbarEntschädigungsanspruch der Klägerin weiter offenDie Fußfessel des RechtsstaatsEAÜ jetzt auch im Polizei- und AusländerrechtStaatliches Stalking per GPSKurzportraits der herausgebenden OrganisationenAutorinnen, Autoren und RedaktionsmitgliederAbkürzungenSachregister

Vorwort der HerausgeberInnen

Gefährder Staat

Das Grundgesetz ist die beste Verfassung, die Deutschland je hatte – so wird es immer wieder in Festreden erklärt. Dieses Lob bezieht sich in erster Linie auf die den demokratischen, sozialen Rechtsstaat ausmachenden Grundrechte, vom Bundesverfassungsgericht zusammengefasst unter dem Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung, für deren Schutz nach den Verfassungsschutzgesetzen von Bund und Ländern die Verfassungsschutzbehörden zuständig sein sollen. Die zuständigen Innenminister veröffentlichen jährlich ihre Verfassungsschutzberichte, in denen die Organisationen und Parteien, Gruppen und Grüppchen aufgelistet werden, die angeblich unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gefährden.

Tatsächlich jedoch hat noch nie eine dieser Organisationen ernsthaft unseren demokratischen Rechtsstaat gefährden können. Keine rechts- oder links»extremistische« Partei, kein nationalistischer oder rassistischer Zusammenschluss, keine islamistische Organisation und kein Terrorattentäter oder keine Terrorattentäterin kann unseren Staat und unsere freiheitliche demokratische Ordnung erschüttern. Sie mögen zum Teil schlimme Straftaten begangen haben – ja fürwahr, aber sie stellen keine Gefährdung unseres demokratischen Rechtsstaats dar.

Wer die Grundrechte und den Rechtsstaat immer wieder gefährdet, das ist der Staat mit seinen Institutionen – wenig verwunderlich, da wir seit Montesquieu wissen, dass Macht dazu neigt, sich auszubreiten, ihre verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grenzen zu überschreiten. Kein Jahr vergeht, in dem nicht das Bundesverfassungsgericht ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz ganz oder in Teilen für verfassungswidrig und nichtig erklären muss. Und das kommt nicht aus heiterem Himmel: In den Gesetzesberatungen haben Sachverständige, Bürgerrechtsorganisationen, Verbände wie der Deutsche Richterbund oder der Deutsche Anwaltsverein bereits darauf hingewiesen.

Seit seinem ersten Erscheinen 1997 zeigt der Grundrechte-Report die Grundrechtsverletzungen und -gefährdungen des vergangenen Jahres auf, auch da, wo der Staat seinen Schutzpflichten zur Sicherung der Grundrechte oder der Staatsziele wie Sozialstaat oder Umweltschutz nicht ausreichend nachkommt. So werden etwa der grundrechtliche Schutz des Existenzminimums im Hinblick auf angemessene Wohnkosten, der Pflegenotstand, der Schutz von Pflegekindern und Mitbestimmung im europäischen Kontext thematisiert und Handlungsbedarf erörtert.

Nicht nur soziale Grundrechte betreffende Beeinträchtigungen, sondern auch Diskriminierungserfahrungen werden in den folgenden Beiträgen anhand von rassistischer Türpolitik von Diskotheken, dem Gender Pay Gap sowie der aktuellen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Kopftuch in privaten Arbeitsverhältnissen dargestellt.

Der EuGH hat im Dezember 2016 die Vorratsdatenspeicherung für europarechtswidrig erklärt; statt das deutsche Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung aufzuheben, haben Regierung und Bundestag eine Vielzahl neuer Überwachungsgesetze verabschiedet, worüber dieser Grundrechte-Report berichtet.

Über die Vorratsdatenspeicherung hinaus werden vielfältige weitere, die Grundrechte gefährdende Überwachungsmaßnahmen kritisch beleuchtet, wie etwa die Fluggastdatenweitergabe (auch gegen eine EuGH-Entscheidung), die Einführung des schwammigen und rechtsstaatlich nicht greifbaren Gefährderbegriffs, die Ausnutzung von IT-Sicherheitslücken statt ihre Schließung durch Polizei und Geheimdienste, die Online-Durchsuchung, die automatische Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz, aber auch die problematische Datensammlung durch »intelligente« Haushaltsgeräte. Die Anwaltsüberwachung durch den Verfassungsschutz ist ebenso Thema wie polizeiliche Übergriffe in Bayern oder die Verweigerung wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die vielfach von Gerichten festgestellte Rechtswidrigkeit von Polizeikesseln. Und ist die körperliche Unversehrtheit eines Polizisten wirklich höherrangig als die der »normalen« Bürgerin, so dass die allgemeine Strafbarkeit der Körperverletzung im Strafgesetzbuch durch einen Spezialparagraphen für Polizistinnen und Polizisten ergänzt werden musste? Auch der NSU-Prozess, nun im fünften Jahr, ist Gegenstand der Berichterstattung.

Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind das Lebenselixier der Demokratie, ihnen und dem G20-Gipfel sowie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz gilt folglich die Aufmerksamkeit des Grundrechte-Reports. Und da fast alle Grundrechte des Grundgesetzes Menschenrechte sind, also nicht nur für Deutsche in Deutschland gelten, sondern für alle Menschen, denen die deutsche Staatsgewalt gegenübertritt, sind auch die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen und die EU-Gewalt im Mittelmeer ihnen gegenüber Thema.

Nicht vergessen werden drei grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen, die vom Bundestag beschlossene Ehe für alle, die Rehabilitierung Homosexueller und die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Feststellung, dass es von Verfassungs wegen nicht nur die Geschlechter männlich und weiblich gibt, sondern auch ein drittes; der Gesetzgeber ist nun aufgefordert, das gesetzlich umzusetzen.

In 45 Beiträgen werden die Grundrechtsverletzungen und -gefährdungen des vergangenen Jahres geschildert. Der Grundrechte-Report ist der wahre Verfassungsschutzbericht. Er fordert die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes auf, den Schutz unserer Verfassung nicht den Behörden zu überlassen, sondern sich selbst für unsere Grund- und Freiheitsrechte einzusetzen.

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit

Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Rosemarie Will

Kein Ende des jahrzehntelangen Rechtstreites zum Erwerb eines Medikamentes zur Selbsttötung

Der Umgang mit dem Suizid ist in Deutschland nur scheinbar liberal. Zwar gibt es kein strafrechtliches Verbot der Selbsttötung und auch die Suizidassistenz ist deshalb straffrei, doch stehen dem Suizid bzw. der Suizidassistenz drei Verbote entgegen: Es gibt bisher keinen legalen Weg zum Erwerb eines tödlichen Medikaments, das ärztliche Berufsrecht verbietet überwiegend die Suizidassistenz, und mit der Neuregelung von § 217 Strafgesetzbuch (StGB) ist die geschäftsmäßige, d.h. jede professionelle Sterbebegleitung unter Strafe gestellt (vgl. Rosemarie Will, Grundrechte-Report 2016, S. 48ff.). Mit seinem Urteil vom 2. März 2017 wollte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) nun den jahrzehntelang geführten Rechtsstreit zum legalen Erwerb eines Medikamentes zur Selbsttötung beenden (Az. BVerwG 3 C 19.15). Der Erwerb bleibt danach grundsätzlich verboten, allerdings ließ das Gericht eine Ausnahme von diesem Verbot zu.

Die Rechtsverweigerung

Die Sterbewillige war seit 2002 ab dem Hals querschnittsgelähmt. 2004 beantragte sie beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Erlaubnis zum Erwerb einer Dosis Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung. Nach der Ablehnung ihres Antrags reiste die Frau mit ihrem Ehemann in die Schweiz, wo sie sich begleitet vom Verein Dignitas das Leben nahm. Der Ehemann begehrte seither vor den Gerichten die Feststellung, dass das BfArM verpflichtet gewesen sei, den Erwerb des tödlichen Mittels zu erlauben. Bis hin zum Bundesverfassungsgericht wurde dieses Begehren als unzulässig abgewiesen, weil die Frau nicht mehr selbst klagen konnte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied mit Urteil vom 19. Juli 2012 (497/09, Koch v. Deutschland), der Kläger habe nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) einen Anspruch darauf, dass die nationalen Gerichte die Begründetheit seiner Klage prüften. Daraufhin durfte der Ehemann der Toten nun zwar klagen, aber die Verwaltungsgerichte entschieden, dass das BfArM zu Recht angenommen habe, dass das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) die Abgabe des Betäubungsmittels zur Selbsttötung ausschließe (VG Köln, Urteil v. 13.5.2014, Az. VG7 K 254/13; OVG Münster, Urteil v. 19.8.2015, Az. OVG13 A 1299/14). Der Gesetzgeber verfüge bei der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Selbsttötungsabsicht und der staatlichen Schutzpflicht für das Leben über einen weiten Spielraum, der durch die Versagung des Erwerbs von Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung nicht überschritten worden sei.

Erst die Revision vor dem BVerwG war erfolgreich: Das BVerwG urteilte, die Entscheidung des BfArM sei rechtwidrig gewesen.

Die Ausnahme

Das BVerwG hielt das absolute Verbot des BtMG zur Abgabe eines tödlichen Medikamentes für verfassungswidrig und schuf durch eine verfassungskonforme Auslegung des BtMG eine eng begrenzte Ausnahme vom Verbot. Danach ist der Erwerb erlaubt, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet.

Das BVerwG geht davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1GG auch das Recht enthält, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt das Leben enden soll – vorausgesetzt, man könne seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln. Dabei wägt das BVerwG nicht nur das Selbstbestimmungsrecht des Sterbenden mit der staatlichen Lebensschutzpflicht ab, es geht vielmehr davon aus, dass es auch eine Schutzpflicht zur Sicherung der Entscheidungsautonomie Sterbender gibt (Rn. 27).

Neu ist, dass das BVerwG nicht einfach die staatliche Lebensschutzpflicht gegen den/die GrundrechtsträgerIn selbst wendet und ihn/sie mehr oder weniger zum Weiterleben verpflichtet bzw. in die Illegalität treibt, wie das die Vorinstanzen taten. Die Annahme einer staatlichen Schutzpflicht für die Autonomie Sterbender ermöglicht eine Auslegung des BtMG, die für extreme Ausnahmesituationen den Erwerb des tödlichen Mittels erlaubt. Dies ist ein Fortschritt gegenüber der staatlichen Verweigerungshaltung, die die Selbstbestimmung und Autonomie Sterbender unter Berufung auf eine allgemeine Lebensschutzpflicht verhindert, wenn sie wie im BtMG den Zugang zu Betäubungsmitteln für die Selbsttötung ausnahmslos verbietet und damit einer grundgesetzwidrigen Lebenspflicht das Wort redet. Dass das BVerwG die Selbstbestimmung Sterbender gegen die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stärkte, indem es eine Schutzpflicht für die Autonomie Sterbender annahm, ist aus bürgerrechtlicher Sicht zu begrüßen.

Urteilskritik und staatliche Weigerung, das Urteil umzusetzen

Das Urteil wird aus gegensätzlichen Richtungen kritisiert. So sieht die Mehrheit der Mitglieder des Ethikrates im Zugang zu Betäubungsmitteln eine unzulässige staatliche »Erlaubnis«. Den BefürworterInnen einer Liberalisierung der Suizidassistenz hingegen ist die vom BVerwG erlaubte Ausnahme viel zu restriktiv. Mit empirischen Daten zur Freitodbegleitung belegen sie die unterschiedlichen Gründe für selbstbestimmte Suizidentscheidungen (vgl. Spittler 2016). Diese »als eine extreme Notlage eines schwer und unheilbar Kranken« zu bezeichnen, dürfte schwierig bis unmöglich sein.

Um diese Spannbreite abzudecken, müsste man weitergehen, als es das BVerwG getan hat. Die Frage ist jedoch, ob das dem BVerwG möglich gewesen wäre, ohne seine Kompetenz als Fachgericht zu überschreiten. Um das ausnahmslose Verbot des BtMG zur Abgabe eines Medikamentes zur Selbsttötung zu beseitigen, muss man dieses Verbot zunächst für verfassungswidrig halten. Dies hat das BVerwG als erstes deutsches Fachgericht getan. Darin liegen der Liberalisierungsschritt und das Verdienst des BVerwG. Als Fachgericht kann das BVerwG eine gesetzliche Regelung aber nicht selbst für verfassungswidrig erklären, dies ist dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorbehalten. Das BVerwG kann die für verfassungswidrig gehaltene Regelung im Wege der Richtervorlage beim BVerfG in Karlsruhe vorlegen, damit es für alle Staatsorgane bindend über den angenommenen Verfassungsverstoß entscheidet. Zuvor ist es aber verpflichtet zu prüfen, ob sich der Verfassungsverstoß im Wege einer verfassungskonformen Auslegung beseitigen lässt. Wäre dies möglich, ist die Vorlage beim BVerfG ausgeschlossen. Vorliegend schien die Richtervorlage an das BVerfG näher zu liegen als eine verfassungskonforme Interpretation. Dabei wäre es ungewiss gewesen, ob das BVerfG überhaupt so weit gegangen wäre wie das BVerwG oder ob es sich nicht auf den Standpunkt der unteren Verwaltungsgerichte gestellt hätte, die das Verbot für verfassungsmäßig gehalten haben.

Interpretiert man das geltende BtMG verfassungskonform, so wie es das BVerwG getan hat, ist man aber richterlichen Interpretationsgrenzen unterworfen. An diese Grenzen verfassungskonformer Interpretation ist das BVerwG m.E. durchaus gegangen. Eine weitergehende Öffnung kann auf dem Weg der verfassungskonformen Interpretation kaum erreicht werden. Dazu müssten die bestehenden gesetzlichen Regelungen des BtMG aufgehoben werden – entweder durch den Gesetzgeber selbst oder durch das BVerfG.

Trotz des Urteils ging die Rechtsverweigerung weiter. Obwohl die Verwaltungsgerichtsordnung in § 121 vorschreibt, dass Beteiligte an höchstrichterliche Urteile gebunden sind, beschied das BfArM als Beteiligter des Rechtsstreites die bisher eingegangenen Anträge auf Freigabe des tödlichen Medikaments nicht, und Gesundheitsminister Hermann Gröhe wurde nicht müde zu betonen, dass in seinem Verantwortungsbereich das Urteil nicht umgesetzt werde. Stattdessen wurde ein ehemaliger Bundeverfassungsrichter beauftragt, das Urteil zu begutachten (vgl. Di Fabio 2017), von dem bekannt ist, dass er eine Minderheitsposition vertritt, die die Grundrechtsposition des Suizidenten restriktiv einengt (vgl. Höfling 2014). Ganz den Erwartungen seiner Auftraggeber folgend, stellte sich Di Fabio strikt gegen das Urteil. Er sah im absoluten Verbot des BtMG keinen zu rechtfertigenden Grundrechtseingriff und bestritt die vom BVerwG angenommene staatliche Schutzpflicht für die Selbstbestimmung Sterbender. Dem Minister empfiehlt er eine Weisung zu erlassen, das Urteil weiter nicht anzuwenden, obwohl solche Nichtanwendungserlasse verfassungsrechtlich umstritten sind.

Literatur

Di Fabio, Udo: Erwerbserlaubnis letal wirkender Mittel zur Selbsttötung in existenziellen Notlagen, Rechtsgutachten zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 – 3 C 19/15 – im Auftrag des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, November 2017.

Höfling, Wolfram: Würde, Autonomie, Selbstbestimmung – Verfassungsrechtliche Aspekte, www.ethikrat.org/sitzungen/2014/beihilfe-zur-selbsttoetung

Spittler, Johann F.: Urteilsfähigkeit und Selbstbestimmung bei psychischer Störung und Suizid-Beihilfe-Ansinnen, Schweizerische Ärztezeitung 2016, S. 435–437.

Rüdiger Lautmann

Halbiertes Heilen einer Grundrechtsverletzung

Wie die Strafopfer des Homosexuellenparagraphen rehabilitiert werden

Der Bundestag verabschiedete am 17. Juli 2017 das »Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen« (StrRehaHomG). Damit wurden u.a. Strafurteile aufgehoben, die vor langer Zeit in der Bundesrepublik sowie in der DDR erlassen worden sind. Es war der Einstieg in die Aufarbeitung einer Vergangenheit, in der auf verfassungswidrige Weise viele tausend Männer verurteilt wurden und Millionen von Frauen und Männern die Lebensgänge verdorben worden sind. So offensichtlich das damalige Versagen des Rechtsstaats auch war, so schwer hat sich jetzt die Politik mit der Fehlerkorrektur getan. Betrat doch die Gesetzgebung hier ein Neuland, aufs argwöhnischste belauert von jenen Teilen der Parteien und Jurisprudenz, denen Innovationen ein Gräuel sind. Rechtskräftige Gerichtsurteile gelten ihnen mehr als die nachholende Gerechtigkeit. Man will nicht zugeben, dass auch unter dem Grundgesetz die Justiz systematisch Opfer produzieren kann.

Der Kampf ums Recht

Das schlechte Gewissen der Politik wegen des verübten Unrechts lag im Streit mit der Sorge um das eigene Image: Wie würde man dastehen, wenn man öffentlich eingestand, sich jahrzehntelang gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vergangen zu haben? Helfen sollte die Unbeweglichkeit der Rechtswissenschaft. Im kleinen juristischen Einmaleins trennt der Rechtsstaat zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Die Teilung der Gewalten scheint säuberlich zu geschehen, so dass die Gesetzgebung nicht in die Rechtsprechung eingreifen kann. Mit diesem Argument zogen die Konservativen in die Auseinandersetzung. Als das Gesetzesvorhaben vier Jahre zuvor schon einmal prozediert worden war und der Rechtsausschuss des Bundestags zur Expertenanhörung geladen hatte, kam es zum Fünf-zu-fünf zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Und nichts geschah.

In der folgenden Großen Koalition bekam die Rehabilitierungsforderung eine neue Chance. Indessen wuchsen im Dschungel des juristischen Argumentierens allerlei Schlingpflanzen, um den Plan niederzuhalten. Als der politische Wille der Bundesregierung sich zur Rehabilitierung schließlich durchringen konnte, ging es um die Details: große Lösung oder minimalistisches Abräumen eines lästigen Problems?

Grundrecht oder Menschenrecht?

Immerhin drei Anknüpfungspunkte boten sich an: Menschenrecht – Würde des Menschen – allgemeines Persönlichkeitsrecht. Sodann kam in Betracht, ob schon von 1949 an zu rehabilitieren sei oder erst für einen viel späteren Zeitraum, nämlich aufgrund gewandelter Moralvorstellungen. Nach der juristischen Begründung bestimmte sich die Durchschlagskraft: je weicher der Rechtsgrund, desto geringfügiger die Rechtsfolge. Das stärkste Argument, der Verstoß gegen Artikel 2GG, verlor sich im Verlauf. Die weiche Begründung, aus einem Menschenrecht und wegen gewandelter Auffassung, bildete den kleinsten gemeinsamen Nenner der streitenden Fraktionen. In der Folge führte das zu einer bescheidenen Lösung.

Wie begründete Justizminister Heiko Maas vor dem Bundestag die umstrittene Vorlage? Er sagte, mit dem »Ideal der Gerechtigkeit ist es unvereinbar, dass Männer bis heute mit dem Strafmakel der Verurteilung leben müssen, nur weil sie homosexuell sind und ihre Sexualität gelebt haben«. Nun ist Gerechtigkeit ein sehr weitgefasstes und auslegungsbedürftiges Prinzip; zwingende Rechtsforderungen leiten sich daraus nicht unmittelbar ab. Der Minister präzisierte die vage Formel überzeugend aus der Verfassung, welche die positiven Anknüpfungspunkte liefere: »Der stärkste steht in Artikel 1 unseres Grundgesetzes: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Die Kriminalisierung von Homosexualität war aus heutiger Sicht ein Frontalangriff auf die Persönlichkeit der betroffenen Männer, ihre sexuelle Identität und auch ihre Menschenwürde«. Auch wenn er Artikel 2GG nicht ausdrücklich nannte, kam das Persönlichkeitsrecht abgeschwächt vor. In allen folgenden amtlichen Dokumenten war es aber nicht mehr enthalten.

Die Justizverwaltung trägt hier eine historische Schuld. Der Minister benannte sie deutlich: »Obwohl sich der Deutsche Juristentag und selbst die Große Strafrechtskommission für eine Reform starkgemacht hatten, hat das Bundesjustizministerium bis in die 60er Jahre unverändert an der Kriminalisierung von Homosexualität festgehalten, zum Teil mit den gleichen Argumenten wie aus der Nazizeit.« Der Homosexuellenparagraph war nämlich 1935 von den Nazis verschärft worden. Sogar eine unkörperliche gleichgeschlechtliche Begegnung konnte jetzt bestraft werden, während ursprünglich nur beischlafähnliche Handlungen pönalisiert gewesen waren.

Zudem ist erst kürzlich eine Dokumentation veröffentlicht worden, welche die enge personelle Kontinuität in der Strafrechtsabteilung des Bundesjustizministeriums zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Bonner Republik belegt. Das heutige Personal zeigte sich davon befremdlich unberührt, wenn es bei der Formulierung des Gesetzes allein auf rechtsdogmatische Überlegungen abstellt. Diese Tendenz tritt auch in jener Rede des Justizministers hervor, in der er den überwiegenden Teil seiner Ausführungen den Fragen zur Gewaltenteilung und Rechtssicherheit widmet.

Als die halbierte Rehabilitierung auf Druck der SPD schließlich unterwegs war, redete man sie klein: Es handele sich um den von den Nazis verschärften Paragraphen, und er sei ja menschenrechtswidrig gewesen – dies alles »aus heutiger Sicht«. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Strafvorschrift aus der Reichsgründungszeit von 1871, und sie war von Anfang an mit dem Grundgesetz unvereinbar. Aus der Verkleinerung sprach die konservative Grundüberzeugung: Der Staat und seine tragenden Institutionen können nicht irren; Kritik an ihnen ist politisch unerträglich. Zudem komme es den Kirchen zu, das »moralische Minimum« zu interpretieren.

Die staatliche Gesetzgebung und sogar das Bundesverfassungsgericht haben aber geirrt. Die Strafdrohung gegen homosexuelle Handlungen verstieß auch damals, in den 1950er-1960er Jahren, schon gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Sie hat nicht nur über 60000 Verurteilungen verursacht, sondern auch durch ihr bloßes Vorhandensein Generationen von gleichgeschlechtlich orientierten Männern und Frauen in ihrer Lebensführung massivst beeinträchtigt – in den Nachwirkungen bis heute und weiterhin für die absehbare Zukunft. Das einzugestehen und zu verdeutlichen wäre die eigentliche Aufgabe einer umfassenden »Rehabilitierung«, die auch den nachfolgenden, weiterhin von der überkommenen Stigmatisierung betroffenen Generationen genützt hätte.

So weit mochte die Politik nicht gehen. Sie verstand sich zwar dazu, die im Rechtsstaat seit 1949 ergangenen Strafurteile aufzuheben, und zwar pauschal. Dieser Schritt verdient allen Respekt. Nur ist es eine halbierte Rehabilitierung – weil sie nicht die anfänglichen Irrtümer anerkennen will, darunter auch die Fehlurteile des Bundesverfassungsgerichts. Nur der Menschenrechtsverstoß und die Moralveränderung werden anerkannt. Das führte zu der Geringfügigkeit bei den materiellen Kompensationen, zum Verzicht auf eine Kollektiventschädigung und zum Wiederaufleben der Schutzaltersgrenze von 16 Jahren. Die Massivität der Grundrechtsverletzung hätte eine viel weiter ausgreifende Genugtuung erfordert.

Nur soweit das gleichgeschlechtliche Lieben im freiheitlichen Rechtsstaat von Anfang an und rundum akzeptiert ist, kann es sich unbelastet entfalten. Das Gerangel um die Rehabilitierung zeigt indessen, wie anhaltend das Problem der Homophobie noch ist.

Literatur

Görtemaker, Manfred/Safferling, Christoph: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium für Justiz und die NS-Zeit, München 2016.

Katharina Ruhwedel

Pilotprojekt zur Gesichtserkennung

Seit August 2017 wird am Bahnhof Südkreuz in Berlin ein Pilotprojekt vom Bundesinnenministerium, dem Bundeskriminalamt, der Deutschen Bahn und der Bundespolizei zur intelligenten Videoüberwachung durchgeführt. Dort findet in einem ausgeschilderten Bereich der erste Test statt. Die neue Videoüberwachungssoftware mit digitaler Gesichts- und Verhaltenserkennung soll Menschen anhand biometrischer Daten identifizieren, um bei Verdacht eine Person vollständig automatisiert über mehrere Kameras hinweg zu verfolgen. In der Praxis soll die Software dann die Daten automatisch mit Fahndungsdatenbanken der Polizei abgleichen. Geplant ist, bei positivem Testverlauf die Software an öffentlichen Plätzen einzusetzen.

Rechtliche Grauzone

Dabei bewegen sich die Verantwortlichen allein auf rechtlicher Ebene mit dem Einsatz intelligenter Überwachungssysteme in einer Grauzone: Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages illustrieren dies in ihrer Stellungnahme aus dem September 2016 eindrücklich. Die einzige in Betracht kommende Rechtsgrundlage für den Einsatz intelligenter Videoüberwachung wäre nämlich der § 27 des Berliner Polizeigesetzes. Die überzeugenden Argumente sprechen gegen dessen Anwendbarkeit: Nach dem Wortlaut der Norm liegt es nahe, anzunehmen, dass nur eine automatische Aufzeichnung und keine automatische Auswertung erfasst wird – eine Software, die innerhalb von Sekunden ohne menschliche Mittelsperson aufgrund von Algorithmen Übereinstimmungen mit polizeilichen Fahndungsdatenbanken berechnet, ist qualitativ nicht vergleichbar mit einer einfachen Aufzeichnung.

Die intelligente Videoüberwachung berührt sensible Grundrechtsbereiche, die eine grundrechtsschonende Ausgestaltung einer Ermächtigungsgrundlage durch eine umfassende Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheitsgrundrechten notwendig machen, wie die Literatur dies im Drei-Stufen-Modell herausgearbeitet hat. Danach werden drei Stufen der Überwachungspraxis vorgesehen, wobei die Eingriffsintensität und damit der Umfang der Rechtfertigung für den Grundrechtseingriff mit jeder Stufe ansteigen. Interessanterweise übersteigt die Eingriffsintensität des hier diskutierten Falls die höchste Stufe: »Aber auch in der dritten Stufe findet noch keine automatisierte Identifizierung der beobachteten Person durch Abgleiche mit (Fahndungs-)Datenbanken statt. Dies soll nur durch eine sich an die Beobachtung anschließende ausdrückliche Entscheidung eines verantwortlichen Experten erfolgen« (Roßnagel /Desoi /Hornung 2011). Der Einsatz wäre nach diesem Konzept unzulässig: »Datenabgleiche mit Fahndungsdateien sind zwar möglich, Ermächtigungsgrundlagen für den massenhaften, vollautomatisierten Abgleich von Fahndungsfotos mit Gesichtsbildern aus Videoaufnahmen existieren jedoch nicht« (ebd.).

Gerichtsentscheidungen speziell zu dieser Überwachungstechnik und -praxis gibt es aufgrund der Neuartigkeit noch nicht. Hilfreich bei der verfassungsrechtlichen Einordnung ist aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. März 2008 (Az. 1 BvR 2074/05) zur automatischen Erfassung von Pkw-Kennzeichen, in dem eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung festgestellt wurde. Aus diesem Urteil ergibt sich u.a., dass eine automatische Erfassung von Kennzeichen weder anlasslos noch flächendeckend durchgeführt werden darf. Außerdem sei die Verhältnismäßigkeit eben dann nicht gewahrt, wenn der Einsatz nicht auf eine konkrete Gefährdung von Rechtsgütern beschränkt wurde.

Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung

Bundesinnenminister Thomas de Maizière will den flächendeckenden Einsatz intelligenter Videoüberwachung dennoch prüfen lassen und behauptet, die Grundrechtseinschränkung sei ohnehin gering, da Unbeteiligte gar nicht erfasst und nicht zusätzlich gespeichert würden. Unter Zuhilfenahme des angesprochenen Urteils lässt sich überprüfen, unter welchen Umständen tatsächlich kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorläge: »Zu einem Eingriff (…) kommt es nicht, wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt (sog. Nichttrefferfall) sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden.«

Vorausgesetzt also, dass a) ein Fall eines Nichttreffers vorläge und b) die Daten sofort spurenlos gelöscht würden und anonym blieben, läge kein Eingriff vor. Diese Bedingungen haben es jedoch in sich:

a) Ohne Frage liegt ein Eingriff im Fall eines Treffers vor, da dann die entsprechenden Daten gespeichert und an Behörden weitergeleitet werden, wobei momentan unabsehbar ist, an welche Behörden und ob die Daten noch weiterverwertet oder -geleitet werden. Außerdem funktioniert die eingesetzte Technik auch nicht fehlerfrei: Selbst bei idealen Testbedingungen treten sog. false positives in einem unter 1000 Fällen auf, also Fehlalarme, die Menschen falsch identifizieren oder nicht erkennen. Diese Rate steigt bei nicht idealen Bedingungen, also beim Einsatz in der Öffentlichkeit. Damit steigt auch die Gefahr falscher Verdächtigungen und Repressionsmaßnahmen. Wenn ein unbefangenes Verhalten an öffentlichen Plätzen nicht mehr möglich ist, weil befürchtet werden muss, dass man (falsch) identifiziert wird, nimmt ein Gefühl des Überwachtwerdens und sozialer Kontrolle zu. Nonkonformes Verhalten und politische Freiheit werden beeinträchtigt.

b) Es gibt keine öffentlich zugängliche Angabe darüber, wie lange und auf welche Art Informationen gespeichert werden (sollen), oder über sonstige technische Details der Software. Eine Anfrage an die Bundespolizei hierzu blieb bisher ergebnislos. Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass die Löschung von Daten nicht verlässlich überprüfbar ist und dass Behörden dies auch tatsächlich genutzt haben, um gegen Speicherfristen zu verstoßen (vgl. dazu nur den Fall der G20-Journalist_innen). Nicht gelöschte Daten könnten auch zum Abgleich mit Fahndungsdateien genutzt werden, die zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch gar nicht bestanden, oder zu anderen Zwecken, die zur Zeit noch nicht absehbar sind. Intransparenz gilt außerdem als eine Voraussetzung für die Sicherheit des technischen (Software-)Systems: In der Sicherheitsarchitektur informationstechnischer Systeme herrscht bei kommerziellen Anbieter_innen meist der Grundsatz »security by obscurity«, d.h., die Sicherheit soll dadurch entstehen, dass der/die Angreifer_in die Arbeitsweise des Sicherheitssystems nicht kennt.

Hohe Intensität des Eingriffs

Erschwerend kommt hinzu, dass die Intensität des Eingriffs bei einer (drohenden) Gesichtserfassung viel höher sein wird als bei der Erfassung von Kfz-Kennzeichen. Gesichter haben nicht nur ein höheres Identifikationspotential, sondern sind auch ein urpersönliches Merkmal eines Menschen: Die Persönlichkeitsrelevanz des Eingriffs ist ungleich höher. Wird die Technik tatsächlich flächendeckend eingesetzt, wird es vielleicht im Zuge weiterer technischer Entwicklung und Gesetzesneuerungen und -verschärfungen möglich sein, Bewegungsprofile von Menschen zu erstellen, im Extremfall sogar Persönlichkeitsprofile. Keinesfalls kann also ein Eingriff durch den Einsatz intelligenter Überwachung ausgeschlossen werden.

Angesichts der oben gezeigten Komplexität der Problematik wirkt die Behauptung des Bundesinnenministers vergleichsweise lächerlich. Die intransparente Sorglosigkeit der Regierung sollte Grund für Skepsis sein. Dieser Test steht in einer Reihe mit dem Erlass des Neuen Pass- und Personalausweisgesetzes, des Gesetzes zur Überwachung von Messenger-Diensten und des Gesetzes zur Verbesserung der Videoüberwachung. Ziel ist die Ausweitung der staatlichen Kontrolle durch Zugriff auf persönliche Daten in immer mehr Lebensbereichen, alles unter dem Label »Sicherheit«. Auf den Websites der Bundespolizei und des Bundesinnenministeriums findet man zum geplanten Einsatz Signalwörter wie »Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung«. Bedenken müssen anscheinend beim Erwähnen der panikauslösenden Signalwörter »Terrorismus« und »Kriminalität« zurücktreten. Zuletzt sei noch erwähnt, dass vom Minister und anderen Verantwortlichen unbeachtet bleibt, dass abschreckende Effekte, abgesehen von Delikten gerichtet gegen Eigentum, durch den Einsatz von Videoüberwachung bisher nicht nachgewiesen werden konnten.

Literatur

Deutscher Anwaltverein (DAV): Stellungnahme zur sog. intelligenten Videoüberwachung, August 2017 (Stellungnahme Nr. 47/2017).

Roßnagel, Alexander / Desoi, Monika / Hornung, Gerrit: Gestufte Kontrolle bei Videoüberwachungsanlagen, in: Datenschutz und Datensicherheit (DuD) 2011, S. 694ff.

Wissenschaftliche Dienste des Bundestages: Sachstand, Rechtsgrundlage für den Einsatz sog. intelligenter Videoüberwachung durch die Bundespolizei, September 2016 (Az. WD3–3000–202/16).

Nils Leopold

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