Grundrechte-Report 2020 -  - E-Book

Grundrechte-Report 2020 E-Book

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Beschreibung

Der echte Verfassungsschutzbericht! In dem seit 1997 erscheinenden Report ziehen neun Bürgerrechtsorganisationen eine Bilanz zum Umgang mit den Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Im aktuellen Grundrechte-Report werden wieder zahlreiche Verletzungen von Grundrechten im Jahr 2019 aufgelistet. Diesmal bilden die Grundrechtsverstöße im Bereich Wohnen – einem der zentralen sozialen Probleme unserer Zeit – einen Schwerpunkt. Daneben berichten bürgerrechtlich engagierte Autorinnen und Autoren über weitere Beispiele für die Einschränkung von Grundrechten, von Ungleichbehandlung sowie der Überschreitung institutioneller Kompetenzen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen der vergangenen zwölf Monate hin. Der Grundrechte-Report wird herausgegeben von renommierten Bürgerrechtsorganisationen, darunter die Humanistische Union, die Neue Richtervereinigung, PRO ASYL und der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein.

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Seitenzahl: 243

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Grundrechte-Report 2020

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Leoni Michal Armbruster | Bellinda Bartolucci | Rolf Gössner | Julia Heesen | Martin Heiming | Hans-Jörg Kreowski | John Philipp Thurn | Rosemarie Will | Michèle Winkler | Christine Zedler

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Inhalt

Umkämpfte RäumeHartz IV teilweise verfassungswidrig: Sanktionen nur noch bis 30 Prozent vom Regelsatz zulässigDer FallDie EntscheidungBewertungStrafvollzug gefährdet LebenstüchtigkeitNotorisch: Strafvollzug als Problemfall der GrundrechtsgeltungAuf Jahre hinaus: Verweigerung von AusführungenPflicht zur Vermeidung haftbedingter DepravationenEffektiverer Rechtsschutz tut notUngenau und brandgefährlich: Die erweiterte DNA-AnalyseDie Sehnsucht nach dem »genetischen Phantombild«Gewichtige EingriffeUngenauigkeit und DiskriminierungsgefahrVermengt in der Datenbank, verstorben in HaftDer Schutz des LebensEine merkwürdige VerwechslungDatenschutz und DatenqualitätAufklärungs- und KontrollbedarfHelene Fischer in FrankfurtDer Fall NSU 2.0Weitere FälleErweiterte BefugnisseBig DataProblematische Interoperabilität von EU-Polizei- und MigrationsdatenbankenSchnelles Gesetzgebungsverfahren – wenig kritische DiskussionDatenschutzdefizitePolizei am BettRechtswidrig oder rechtskonform?Je größer die Unterkünfte, desto größer die ProblemeMacht und OhnmachtKehrtwende in KarlsruheSchutz der Bewegungsfreiheit im öffentlichen RaumDie Verfassungswidrigkeit anlassloser KontrollenMaritime Migration und Seenotrettung – Deutschlands und Europas VerantwortungDer RechtsrahmenDeutschlands und Europas VerantwortungGewaltsamer Tod in der PsychiatrieEin schicksalhafter Tod?Ein psychisch Kranker ist nicht zwangsläufig gewalttätigTasereinsatz im Polizeistreifendienst – Potenzierte RisikenFehlende gesetzliche RegelungenMenschenrechtliche und gesundheitliche RisikenZukünftiger Umgang mit ElektroschockwaffenMitverantwortung der Bundesregierung für US-DrohnenkriegKläger fordern Stopp von US-Drohneneinsätzen via Ramstein»Gewichtige Anhaltspunkte« für Völkerrechtsbrüche – Mitverantwortung der BundesrepublikEntgeltgleichheit – Immer noch ein Recht ohne PraxisWarum so wenige Präzedenzfälle?Das Beispiel Equal-Pay-Klage gegen das ZDFDas Entgelttransparenzgesetz – wenig besser als nichtsWahlrechtsausschlüsse endlich aufgehobenMut zur KlageVerzögerte AbhilfeDas vornehmste RechtBenachteiligungen und ihre Gründe#saveyourinternet gegen ZensurUser-generated ContentDie Richtlinie 2019/790Richtlinie gefährdet die MeinungsfreiheitWidersprüchliche Haltung der RegierungsparteienDas Urheberrecht ist kaputtVeröffentlichen verbotenVom Urheberrecht zum »Zensurheberrecht«Offene Lizenzen als LösungHandyaufnahmen von Polizeieinsätzen erlaubt?Filmen erlaubt, »Abhören« verboten?Es geht ums WortDie Krux mit den SmartphonesYes, we camp!Versammlungsschutz für notwendige InfrastrukturZweifelhafte Verbote – Vorfeldschutz aus Artikel 8 GGÖffentlicher Verkehr, KonzentrationswirkungImmer dabei: die PolizeiResümeePolizeiliche Falschnachrichten auf Social Media#TodesknaufDürfen die twittern?Der Kampf um mehr PflegepersonalAbschluss von EntlastungstarifverträgenMitbestimmungsrechte der gesetzlichen InteressenvertretungIllegalisierung demokratischer Teilhabe durch das Verbot des politischen StreiksEin Konstrukt der Rechtsprechung der frühen Bundesrepublik Deutschland»Interessierte Vergesslichkeit« der RechtswissenschaftDer Streik als GrundrechtsausübungRechtsprechung kann sich ändernSexkaufverbot oder Abbau rechtlicher Restriktionen für freiwillige Prostitution?Menschenwürdeverstoß oder »Beruf wie jeder andere«?Das ProstituiertenschutzgesetzFehlende empirische BasisAbschiebungen als TüröffnerBeim Schutz der Wohnung wird mit zweierlei Maß gemessenLichtblick aus HamburgRazzien in GeflüchtetenunterkünftenDem »freien« Wohnungsmarkt Zügel anlegenVertragsfreiheit, mittelbare Geltung von Grundrechten und »Mieteigentum«Artikel 14 GG, Verbot der Änderungskündigung und ortsübliche VergleichsmieteMietpreisbremseMietendeckelPrimat der Politik auch im MietrechtWer teil an der Gesellschaft hatShare Deal statt Fair Share?Doppelte UmgehungsabsichtSozialismus durch das Grundgesetz?Mit der Not wächst die KreativitätGrundsätzliche FragenPerspektiveEtikettenschwindel bei der AsylverfahrensberatungInformationsangebot versus AsylverfahrensberatungStaatlich versus behördenunabhängigIsoliert und ohne Unterstützung bleiben die Menschen auf der StreckeGesundheit als WareKrankenhäuser als gewinnorientierte UnternehmenDrastische Fehl- und UnterversorgungDie Pflicht des StaatesGesetzgebung im SchweinsgaloppBeschleunigte Gesetzgebung in Zeiten der KriseIgnoranz unabhängigen Sachverstands auch angesichts zurückgehender AsylzahlenSelbstentwertung des Parlamentarismus, leichtfertige GrundrechtseingriffeDemokratie und GemeinnützigkeitZivilgesellschaftliche gemeinnützige OrganisationenStaatliche Gefährdung der Demokratie durch die Aberkennung der GemeinnützigkeitDas Urteil des Bundesfinanzhofes ist rechtsfehlerhaft und verstößt gegen das GG»NSU 2.0« und »Hannibal«Unter dem Deckmantel des GewaltmonopolsExtremisten-Beschluss und Verfassungsschutz reloaded?Türkische Interessen in der Praxis des deutschen StaatsschutzstrafrechtsZweierlei MaßStrafrecht als Ultima Ratio des Rechtsstaats: Containern ist kein Diebstahl!»Containern« versus organisierte Verschwendung von LebensmittelnGesetzgeberische Klarstellung? Politisch wünschenswert, rechtlich eigentlich verzichtbar!Nitrat im GrundwasserGesundheitsgefahren und UmweltproblemeDie Kommission macht ernstWeitere Gerichtsverfahren für sauberes WasserPokern um die ZukunftSoziale, ökologische und ökonomische RisikenNicht im Einklang mit den GrundrechtenNicht verjährt, nicht entschädigt, nicht vergessenKeine Reparationen, kaum EntschädigungZwangsvollstreckung und StaatenimmunitätKeine Staatenimmunität in ItalienSofortige Entschädigung aller Opfer des NationalsozialismusWer befördert, befiehltWeisungsfreie JustizbehördenPersonalsteuerungsmachtHaft als Antwort auf das – vermeintliche – Vollzugsdefizit bei AbschiebungenVereinfachung von InhaftierungenMitwirkungshaft zur Vorbereitung von AbschiebungenGemeinsame Inhaftierung von Abschiebungshaft- und StrafgefangenenStaatsleistungen ablösen: Was schert uns die Verfassung?Hundertjähriger SkandalKöpfe im SandSanktionsloser VerfassungsbruchAnhangKurzporträts der herausgebenden OrganisationenAutorinnen, Autoren und RedaktionsmitgliederAbkürzungenSachregister

Vorwort der Herausgeber*innen

Umkämpfte Räume

Wer heute in deutschen Großstädten eine Wohnung sucht, steht erst vor Angeboten mit unbezahlbar hohen Mietpreisen und dann in langen Schlangen bei der Wohnungsbesichtigung. In der Folge müssen Menschen mit geringem Einkommen aus den Innenstädten wegziehen. Sie werden verdrängt, an den Rand der Städte, an den Rand der Gesellschaft.

Eine solche Ausgrenzung sieht das Grundgesetz nicht vor. Im Gegenteil: Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verpflichtet den Staat dazu, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen. Es ist unstrittig, dass der Staat dafür auch in den freien Markt eingreifen darf. Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Sommer 2019 in seiner Entscheidung zur Mietpreisbremse in Bezug auf den Wohnungsmarkt bekräftigt und die Notwendigkeit betont, der Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken.

 

Der Grundrechte-Report blickt seit 1997 kritisch auf die Grundrechtslage in Deutschland, in diesem Jahr schwerpunktmäßig auf das Thema Wohnen. In den folgenden Beiträgen wird aufgezeigt, welch großen Spielraum die Bundesregierung nutzen könnte, um den aufgeheizten Wohnungsmarkt einzuhegen. Auch der viel diskutierte Berliner Mietendeckel ist in Anbetracht der immer weiter steigenden Wohnungspreise ein verhältnismäßiges Werkzeug. Die Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« denkt noch weiter: Sie ruft ein fast schon vergessenes Verfassungsrecht wieder in Erinnerung und fordert die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne. Letztere nutzen derweil noch immer bestehende Gesetzeslücken und umgehen dadurch bei Wohnungskäufen das kommunale Vorkaufsrecht und die Grunderwerbsteuer.

Auch abseits der Wohnfrage versagt der Sozialstaat: Kürzungen des Hartz-IV-Satzes sind auch weiterhin möglich und verkehren das Existenzminimum zu einer ironischen Worthülse.

Wenn in der öffentlichen Debatte von Sicherheit die Rede ist, dann ist die soziale Sicherheit nur selten gemeint: Stattdessen geht es meist um die innere Sicherheit, zum Schutz derer sich der Staat mit immer schärferen Sicherheitsgesetzen rüsten müsse – trotz sinkender Kriminalitätsraten. Die Grundrechte geraten dabei ins Hintertreffen: Streifenpolizist*innen sollen in immer mehr Bundesländern mit lebensgefährlichen Elektroschockwaffen ausgerüstet werden. Strafverfolgungsbehörden dürfen mit einer erweiterten Analyse nunmehr auch Haar-, Augen- und Hautfarbe aus DNA-Funden ermitteln und werden damit zum Racial Profiling geradezu eingeladen. Umfassende Datensammlungen in Behörden begünstigen den Missbrauch für politische Zwecke. Und hätte das Bundesverfassungsgericht der Polizei keine Grenzen gesetzt, würde sie noch heute anlasslos und automatisiert die Kennzeichen vorbeifahrender Autos auf deutschen Autobahnen auswerten.

Besonders häufig sind es die Grundrechte Geflüchteter, die dem Aufrüsten des Staates zum Opfer fallen: Die im Grundgesetz festgeschriebene Unverletzlichkeit der Wohnung scheint den Staat kaum zu interessieren, wenn diese das Zuhause eines Geflüchteten ist. Daneben wurde die Abschiebehaft gesetzlich ausgebaut und ist mittlerweile fast voraussetzungslos möglich. Gleichzeitig wurde das unabhängige Beratungsangebot der Wohlfahrtsverbände untergraben. Schon während der Gesetzgebungsverfahren wurde die übliche Beteiligung der Fachkreise und Verbände zielgerichtet ausgebremst: Die Regierung setzte ihnen – grundlegende demokratische Grundsätze missachtend – regelmäßig nur Tagesfristen zur Stellungnahme zu den neuen Asylrechtsverschärfungen.

Während im Namen der Sicherheit und gegen Geflüchtete offenbar alles möglich ist, werden tatsächliche Gefahren für eine funktionierende Gesellschaft weiter übersehen oder sogar gefördert: Der Klimawandel schafft Fakten und trotzdem setzt die Große Koalition zur Einhaltung ihrer Klimaziele auf bislang vollkommen unsichere Techniken zur Speicherung von Kohlendioxid. Sie missachtet damit ihren verfassungsrechtlichen Auftrag, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Auch der teilweise lebensgefährliche Mangel an Pflegekräften besteht fort und wird durch die weiter anhaltende Ökonomisierung des Gesundheitssystems nur verschärft.

Zivilgesellschaftliches Engagement gegen solche und andere Missstände wurde im vergangenen Jahr wieder allzu oft erschwert – auch darauf macht der neue Report in mehreren Beiträgen aufmerksam: Die private Seenotrettung wird auch vom deutschen Staat bekämpft. Gleichzeitig erfahren Menschen, die weggeworfene Lebensmittel aus dem Müll retten, die volle Härte des Strafrechts. Und die Bewegungen des Frauen*streiks und des Klimastreiks sehen sich immer wieder der falschen Behauptung gegenüber, dass politische Streiks nicht vom Grundgesetz geschützt seien. Dass sich, trotz aller Hindernisse, der Kampf für die Grundrechte lohnt, zeigt beispielhaft die lang erkämpfte und endlich verfassungsgerichtlich durchgesetzte Aufhebung der Wahlrechtsausschlüsse, durch die 2019 viele Menschen mit Behinderung zum ersten Mal wählen konnten. Eine wache Zivilgesellschaft, die auf die Einhaltung der Grundrechte achtet, bleibt auch 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus essenziell für das Fortbestehen von Demokratie und Rechtsstaat – und Frieden.

An dieser Stelle möchten wir an Ulrich Finckh erinnern, der sich sein Leben lang für den Frieden eingesetzt hat und im Juli 2019 im Alter von 91 Jahren verstorben ist. Über Jahrzehnte war er Ansprechpartner und Anlaufstelle für die Wehrdienstverweigerer in der Bundesrepublik Deutschland. Er war Mitbegründer des Grundrechte-Reports und 15 Jahre aktiver Mitherausgeber, vor allem aber dezidierter und engagierter Autor. »Nichts ist so unsicher wie der Krieg; wer den Terror besiegen will, muss das Recht stärken« – unter diesem Titel schrieb er im Report 2002 nach 9/11 entschieden gegen den »Krieg gegen den Terror« und den bis heute anhaltenden Sicherheitswahn.

Es braucht auch in den kommenden Jahren wieder Menschen, die sich auf die Seite der Grundrechte stellen und ihre Bedeutung im Alltag hochhalten. Nur so bleibt das Grundgesetz ein sicheres Fundament für unsere Gesellschaft und ein Bollwerk gegen alte und neue Machtansprüche des Staates. Diejenigen hingegen, die die Grundrechte aushöhlen und missachten, wird der Grundrechte-Report auch in Zukunft namhaft machen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Philipp Siedenburg

Hartz IV teilweise verfassungswidrig: Sanktionen nur noch bis 30 Prozent vom Regelsatz zulässig

Mit Urteil vom 5. November 2019 (Aktenzeichen 1 BvL 7/16) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass die Sanktionen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Form von pauschalierten prozentualen Abzügen vom Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig sind.

Der Fall

Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt ist seit Einführung der Sanktionen im Jahr 2006 Alltag in Deutschland – und gehört ab sofort jedenfalls teilweise der Vergangenheit an: Ein Mensch bezieht Leistungen nach dem SGB II und lehnt ein Arbeitsangebot ab, woraufhin das zuständige Jobcenter – in juristisch korrekter Anwendung der §§ 31ff. SGB II – die Leistung um 30 Prozent des Regelbedarfs reduziert. Nach darauffolgender Verweigerung der Mitwirkung an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung werden die Leistungen um insgesamt 60 Prozent gekürzt.

Das von dem Leistungsbeziehenden angerufene Sozialgericht Gotha legte dem BVerfG daraufhin die Frage zur Entscheidung vor, ob die §§ 31ff. SGB II mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1GG vereinbar sind.

Die Entscheidung

Das BVerfG erklärt mit dem seit Langem mit Spannung erwarteten Urteil die zentrale Sanktionsnorm des § 31a Absatz 1 Sätze 1 bis 3 SGB II für Fälle der Verletzung von Mitwirkungspflichten nach § 31 Absatz 1 SGB II gemessen an Artikel 1 Absatz 1GG in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1GG für teilweise verfassungswidrig. Verworfen werden die Normen, soweit die Höhe der Leistungsminderung mehr als 30 Prozent beträgt und soweit eine Sanktion ohne Ansehung etwaiger Härtefälle und stets für die feste Zeitdauer von drei Monaten auszusprechen ist.

Zur Begründung führt das BVerfG im Anschluss an seine bisherige Rechtsprechung, beginnend mit dem sogenannten Hartz-IV-Urteil aus dem Jahre 2010 aus, dass das Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums ein einheitliches und nicht in (physischen) Kern und (sozialen) Randbereich aufspaltbares Recht ist. Gleichwohl dürfe der Gesetzgeber Leistungen in Fällen verwehren, in denen keine wirkliche Bedürftigkeit vorliege. Dies sei einerseits dann der Fall, wenn aktuell Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter verfügbar seien und nicht zur Geltung gebracht würden. Andererseits, so das BVerfG, seien Leistungskürzungen auch dann gerechtfertigt, wenn den vom Jobcenter vorgegebenen Mitwirkungspflichten nicht entsprochen und damit nicht selbst an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit mitgewirkt werde.

Die aus den Sanktionen folgende Belastung der Betroffenen stehe dabei in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis zur Existenzsicherungspflicht des Staates, weil der bedürftigen Person Mittel fehlten, die sie benötige, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Die Sanktionen dürften daher nur zur Durchsetzung verhältnismäßiger Mitwirkungspflichten eingesetzt werden und ihrerseits verhältnismäßig sein, wobei ein strenger Prüfungsmaßstab gelte. Gemessen daran erweisen sich dem BVerfG zufolge die 30-Prozent-Sanktionen als nicht angemessen, soweit sie stets für die feste Dauer von drei Monaten und ohne Ansehung etwaiger Härtefälle auszusprechen sind. Die Verfassungswidrigkeit der 60-Prozent-Sanktionen ergebe sich schon aus ihrer nicht nachgewiesenen Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten. Der Spielraum des Gesetzgebers bei der Einschätzung von Geeignetheit und Erforderlichkeit falle kleiner aus, so das BVerfG, weil er viele Jahre ungenutzt verstreichen ließ, während derer die Wirksamkeit der Sanktionen empirisch hätte geprüft werden können.

Bewertung

Das Gute zuerst: Wohlwollend betrachtet kann man sagen, dass das BVerfG in einer politisch überaus brisanten Rechtsfrage – im Ergebnis – ein versöhnendes Urteil gefällt hat. Die Praxis der Sanktionierung wird einerseits grundsätzlich gebilligt, andererseits wird deren Unverhältnismäßigkeit dingfest gemacht. Es ist jetzt amtlich, dass das System des »Förderns und Forderns«, wie von Betroffenenorganisationen und AnwältInnen von Beginn an moniert worden war, eine Unwucht enthielt. Positiv hervorzuheben sind zudem die Ausführungen zum Zusammenhang zwischen der (selbst verschuldeten) Unwissenheit der Politik über die praktische Wirksamkeit einer Regelung und ihres schrumpfenden Spielraums bei der Einschätzung von Geeignetheit und Erforderlichkeit dieser Regelung. Wenn man bedenkt, welch schwerwiegende individuelle Folgen die Sanktionen haben und wie groß der gesellschaftliche Streit ist, dann scheint es ein kleiner Skandal zu sein, dass der Gesetzgeber es in über zehn Jahren nicht geschafft hat, die Sanktionspraxis zu evaluieren. Hinzuzufügen ist, dass es die schwarze Pädagogik der Sanktionen natürlich auch nicht besser machte, sollte zukünftig ihr Funktionieren festgestellt werden. Richtigerweise scheint das BVerfG parlamentarische Ignoranz also zukünftig mit größerer justizieller Kontrolle beantworten zu wollen. So weit, so gut.

Zu kritisieren ist indes der nicht explizit gemachte und doch unübersehbare Bruch des BVerfG mit seiner bisherigen Rechtsprechung. Einerseits betont das BVerfG erneut, dass existenznotwendige Leistungen nach dem »tatsächlichen Bedarf«, d.h. nach den konkret und aktuell anfallenden Mindestkosten für die Existenzsicherung zu gewährleisten sind. Zulässig ist es danach, dass tatsächlich vorhandenes Einkommen oder Vermögen auf die Leistungen anzurechnen ist. Die Maßgeblichkeit der tatsächlichen Bedürftigkeit wird andererseits negiert und die Linie der vergangenen Jahre verlassen, wenn für die Reduzierung der Leistungen nach dem BVerfG nunmehr die hypothetische Möglichkeit ausreichen soll, dass bei Beachtung von Mitwirkungspflichten die Abhängigkeit von Sozialleistungen – etwa durch Anspruch auf Auszahlung von Arbeitslohn – beseitigt worden wäre. Im Ergebnis versucht das BVerfG damit, fehlende Mitwirkung nachträglich zu materialisieren und eine fiktive Nichtbedürftigkeit zu konstruieren. Denn dass aus der Verletzung von Mitwirkungspflichten eine geringere Hilfsbedürftigkeit folgt, scheint schwer begründbar. Diese in der rechtswissenschaftlichen Debatte um das Urteil vertretene Gegenansicht, wonach Hilfsbedürftigkeit nicht bzw. nicht in vollem Umfang vorliege, wenn sehenden Auges Mitwirkungspflichten nicht beachtet werden, läuft jedenfalls auf eine sprachlich nicht eingängige Aufladung dieses Begriffes hinaus. Die vom BVerfG bis zum aktuellen Urteil stets betonte Orientierung am tatsächlichen Bedarf wird damit aufgegeben – »Bedürftigkeit« kommt von »Bedarf«, dieser ist unabhängig von individuellem (Fehl-)Verhalten! Das jetzige Urteil des BVerfG stellt also eine – angesichts der Klarheit seiner bisherigen Rechtsprechung zu bedauernde – Abkehr von der bisherigen Judikatur dar. Ebenso bedauernswürdig ist, dass das BVerfG offensichtlich nicht den Mut aufbringen mochte, diese Abkehr explizit zu machen.

Literatur

BVerfG, Urteil vom 5. November 2019, Az. 1 BvL 7/16.

Helmut Pollähne

Strafvollzug gefährdet Lebenstüchtigkeit

Aktuelle Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Resozialisierungsanspruch

»Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft kann man am Zustand ihrer Gefangenen ablesen.« Das Zitat wird Dostojewski zugeschrieben. Im vorliegenden Zusammenhang passt das mit dem »Zustand der Gefangenen« leider gut, denn es geht um ihre sogenannte Lebenstüchtigkeit. Aber auch was den »Grad der Zivilisation« betrifft, bleibt festzuhalten, dass der Justizvollzug nicht nur ein Standardthema des Grundrechte-Reports ist (dazu bereits Feest 1998), sondern auch zum notorischen Fallaufkommen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gehört (Lübbe-Wolff 2016).

Notorisch: Strafvollzug als Problemfall der Grundrechtsgeltung

Es brauchte bis in die 1970er Jahre, um auch verfassungsgerichtlich zu bestätigen, was in einem Rechtsstaat eigentlich eine Selbstverständlichkeit hätte sein sollen: Dass auch Menschen hinter Mauern und Gittern Grundrechte haben, in die ebenso wie vor den Mauern allenfalls eingegriffen werden darf, wenn ein Gesetz dies zulässt (gegen das juristische Konstrukt eines »besonderen Gewaltverhältnisses« bereits das BVerfG mit Beschluss vom 14.03.1972 – Az. 2 BvR 41/71). Aktuelle Entwicklungen im Vollzug, d.h. im Vollzugsrecht ebenso wie in der Gefängnispolitik, tragen mit dazu bei, dass die Verfassungsgerichte verstärkt gefragt sind zur Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte Gefangener (vgl. auch Bachmann/Goeck 2012). Dies gilt umso mehr, als die dafür eigentlich zuständigen Landes- und Oberlandesgerichte einen effektiven Rechtsschutz gemäß Artikel 19 Absatz 4GG tendenziell verweigern. Wo die Devise »Hauptsache, es passiert nichts« mehr und mehr zur obersten Richtschnur des Vollzugsregimes wird und Gefangene primär als Gefahrenquellen wahrgenommen werden, kann es nicht verwundern, dass deren Grundrechte zunehmend unter die Räder der Sicherheitspolitik geraten.

Das BVerfG hatte im September 2019 Gelegenheit, gleich in drei Parallelfällen aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz den Vollzugsanstalten einmal mehr die Grenzen aufzuzeigen, wenn es darum geht, den Gefangenen Ausführungen zum »Erhalt der Lebenstüchtigkeit« zu verweigern (Beschlüsse vom 18./19. September 2019 – 2 BvR 650, 681, 1165/19), die Anstalt also unter Aufsicht einer oder eines Vollzugsbediensteten verlassen zu dürfen.

Auf Jahre hinaus: Verweigerung von Ausführungen

Fall 1: Der Beschwerdeführer befindet sich seit Beginn des Jahres 2012 im Justizvollzug und seit Anfang 2015 – nach (zu) langer Untersuchungshaft und Rechtskraft der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren – im Strafvollzug; zwei Drittel der Strafe werden Anfang 2020 vollstreckt sein, das Strafende ist für Februar 2024 notiert. Im Mai 2018 (nach mehr als sechs Jahren des Freiheitsentzuges) beantragt der Langzeitgefangene eine erste Ausführung »zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit«, was die Justizvollzugsanstalt (JVA) ablehnt: Er zeige noch keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der Lebenstüchtigkeit, außerdem sei seine Verlegung in den offenen Vollzug bereits in Bearbeitung. Obwohl diese Entscheidung auf Betreiben des Gefangenen durch das zuständige Vollzugsgericht aufgehoben wird, lehnt die JVA im November 2018 Anträge auf Gewährung von Ausführungen erneut ab, letztlich mit derselben Argumentation und insoweit nicht frei von Renitenz. Nunmehr verwehrt aber auch das Landgericht (LG) Bielefeld den Rechtsschutz, u.a. mit dem aufgedrängten Fürsorge-Argument, eine Fesselung während der Ausführung sei dem Gefangenen nicht zuzumuten. Die Rechtsbeschwerde wird vom Oberlandesgericht (OLG) Hamm als unzulässig, weil »zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung« unerheblich, verworfen (§ 116 Absatz 1 Strafvollzugsgesetz).

Fall 2: Der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (inklusive Feststellung der sogenannten besonderen Schwere der Schuld) verurteilte Gefangene befindet sich seit 14 Jahren im Vollzug, als er Anfang 2018 eine Ausführung beantragt, die von der JVA abgelehnt wird: Sie komme zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit zwar grundsätzlich in Betracht, sei aber nicht zwingend zu gewähren; außerdem werden Sicherheitsbedenken formuliert. Das LG Koblenz schließt sich der Argumentation der JVA an, das OLG Koblenz verwirft die Rechtsbeschwerde als unzulässig.

Fall 3: Der an einen Rollstuhl gefesselte Gefangene befindet sich seit September 2006 im Vollzug, wo er zwei Strafen von insgesamt nahezu 13 Jahren verbüßen muss. Noch im Juli 2018 werden in Verbindung mit der Vollzugsplanung Lockerungen abgelehnt: Das Strafende sei noch in weiter Ferne, ein Verlust der »Lebenstüchtigkeit« des Gefangenen drohe nicht. Dagegen gerichtete Anträge scheitern vor dem LG Osnabrück als unbegründet und am OLG Celle als unzulässig.

Blieb also jeweils nur der Weg zum BVerfG, das in diesen Fällen erstaunlich schnell entschieden hat, auch ein Indiz dafür, dass die Vorentscheidungen nach geltenden und geläufigen verfassungsrechtlichen und -gerichtlichen Maßstäben keinen Bestand haben konnten: Die Beschwerden der Gefangenen waren »offensichtlich begründet«, denn die Entscheidungen verletzten sie in ihrem »Grundrecht auf Resozialisierung«.

Pflicht zur Vermeidung haftbedingter Depravationen

Die deutlichen Ansagen des BVerfG in Kurzfassung: Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsgrundrechts würden nicht hinreichend berücksichtigt, wenn Ausführungen auch bei langjährig Inhaftierten nur für geboten erachtet werden, weil Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit bereits konkret drohen, denn das bedeute nichts anderes, als das Vorliegen haftbedingter Depravationen zu fordern, denen durch Gewährung von Ausführungen jedoch gerade vorgebeugt werden solle. Sie seien vielmehr zu gewähren, es sei denn, einer konkret und durch aktuelle Tatsachen belegten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr könne durch die Begleitung von Bediensteten und, soweit erforderlich, durch zusätzliche Weisungen und Auflagen wie etwa der verhältnismäßigen Anordnung einer (verdeckten) Fesselung nicht hinreichend begegnet werden.

Auch die pauschale Versagung einer Ausführung mit dem Argument, sie entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle ihren Zweck, wenn sie unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen stattfinde, wird vom BVerfG gerügt, denn sie verkenne nicht nur die Eigenarten einer Ausführung im System der vollzugsöffnenden Maßnahmen, sondern gewichte auch ihre Bedeutung für den Erhalt und die Festigung der Lebenstüchtigkeit langjährig Inhaftierter grundlegend falsch.

Wo das BVerfG »eine konkret und durch aktuelle Tatsachen belegte Missbrauchs- oder Fluchtgefahr« fordert, wartet der Vollzug allzu leichtfertig mit Pauschalitäten auf und geriert sich extrem nachtragend: Der Verweis auf eine vor zehn Jahren aus dem offenen Vollzug heraus begangene Tat belege nicht ohne Weiteres eine fortbestehende Missbrauchsgefahr; dasselbe gelte für eine lediglich mit der ausstehenden Reststrafe begründete Fluchtgefahr.

Effektiverer Rechtsschutz tut not

Zurück zum Anfang: Grundrechtsverletzungen sind im Justizvollzug (für den Maßregelvollzug gilt insoweit nichts anderes) strukturell angelegt – die Bereitschaft, die Menschenwürde Gefangener anzutasten, offenbar ebenso (vgl. auch Komitee für Grundrechte und Demokratie 2009). Das Rechtsschutzsystem, ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattet (Artikel 19 Absatz 4GG), muss effektiver werden, und zwar nicht wie bisher zu oft zum Schutz der Anstalten vor vermeintlicher Querulanz, sondern zum Schutz der Menschenwürde, der Freiheiten und der Grundrechte Gefangener.

Literatur

Bachmann, Mario/Goeck, Ferdinand: Auch die Würde eines Gefangenen ist unantastbar!, in: Grundrechte-Report 2012, S. 25–28.

Feest, Johannes: Grundrechtsverstöße in Gefängnissen, in: Grundrechte-Report 1998, S. 273–280.

Komitee für Grundrechte und Demokratie: Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2009.

Lübbe-Wolff, Gertrude: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug, Baden-Baden 2016.

Benjamin Derin

Ungenau und brandgefährlich: Die erweiterte DNA-Analyse

Strafverfolgungsbehörden verfügen künftig über neue Befugnisse im Umgang mit DNA-Material. Die Einführung der sogenannten erweiterten DNA-Analyse erlaubt die weitreichende Auslesung aufgefundener Spuren und stellt dabei insbesondere auf die mögliche Hautfarbe von Verdächtigen ab. So sieht es das am 15.11.2019 vom Bundestag beschlossene »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens« vor, nachdem eine solche Regelung in der umstrittenen Novelle des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) von 2018 auf Landesebene erstmals im Präventivbereich beschlossen worden war. Es wird damit eine folgenreiche Umwälzung vollzogen, die sich schon seit einigen Jahren angekündigt hatte.

Die Sehnsucht nach dem »genetischen Phantombild«

Die Nutzung von DNA-Material war aufgrund der damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen bislang relativ streng geregelt. In der Strafverfolgung durften genetische Spuren ausschließlich zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters, der Abstammung und des Geschlechts sowie zum Abgleich mit Vergleichsmaterial genutzt werden (§ 81e Absatz 1 Satz 1 StPO a.F.). Mit anderen Worten durfte eine DNA-Spur an der Tatwaffe darauf überprüft werden, ob die Spur von einem Mann oder einer Frau stammt, ob die Spurengeber*in mit dem Opfer verwandt war oder ob die Spur mit der DNA einer verdächtigen Person übereinstimmt – nicht aber auf andere Merkmale wie ethnische Herkunft, Erbkrankheiten oder mögliches Aussehen. Die DNA wurde also verglichen, aber mit Ausnahme des Geschlechts nicht ausgelesen. Auch außerhalb von Strafverfahren, in der durch Landesgesetze geregelten polizeirechtlichen Gefahrenabwehr, wurde diese Grenze (bis zum bayerischen Vorstoß) gesetzlich noch nicht überschritten.

Der Zugriff auf das, was jenseits dieser Schwelle liegt, wird als erweiterte DNA-Analyse bezeichnet. In Sicherheitskreisen wird damit die Hoffnung verbunden, ein Bild der unbekannten Spurengeber*innen zeichnen zu können, also etwa anhand eines Bluttropfens zu bestimmen, wie die dazugehörige Person aussieht, wie alt sie ist und wo sie herkommt – ein vermeintliches »genetisches Phantombild«. Zu diesem Zweck ermöglicht es die Gesetzesänderung erstmals, entsprechendes Material für Strafverfahren im Hinblick auf die Haar-, Augen- und Hautfarbe sowie das Alter auszuwerten (das bayerische PAG erlaubt zudem die Ermittlung einer »biogeographischen Herkunft«).

Gewichtige Eingriffe

Die erweiterte DNA-Analyse ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zunächst stellt die vom Labortisch aus erfolgende Untersuchung einen gewichtigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1GG dar. Zwar sind einige dieser Eigenschaften unter Umständen auch äußerlich erkennbar. Die Erkenntnisse werden hier aber eben nicht von außen gewonnen, sondern durch ein invasives Auswerten ansonsten nicht zugänglicher genetischer Daten. Zudem muss dazu – anders als bisher – auf den sogenannten codierenden Teil der DNA zugegriffen werden, der weitaus mehr erbliche Informationen enthält. In diesem Bereich befinden sich aber nicht nur die gesuchten Anhaltspunkte zum Aussehen eines Menschen, sondern zum gesamten Erbmaterial und damit potenziell auch zu Krankheitsrisiken, Veranlagungen, Herkunft oder Lebenserwartung. Das Bundesverfassungsgericht hatte bislang festgehalten, dass eine Analyse so lange nicht in den durch Artikel 1 Absatz 1GG absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit eingreift, wie sie nur den weniger aussagekräftigen nichtcodierenden Anteil der DNA betrifft. In der Forschung wird mittlerweile darauf hingewiesen, dass schon dieser nichtcodierende Bereich weitreichendere Rückschlüsse als bisher bekannt ermögliche. Es sprechen jedenfalls gute Gründe dafür, die DNA-Analyse verfassungsrechtlich anders zu bewerten, wenn nun der codierende Anteil ausgewertet wird.

Wird dem entgegengehalten, dass es sich bei Augenfarbe usw. um relativ harmlose Daten handele und tieferes Schürfen (noch) nicht erlaubt sei, stellt sich die Frage, ob die Untersuchung überhaupt effektiv auf die neuen Merkmale beschränkt werden kann. Sollte ein derartiger Zugriff technisch bedingt auch Einblicke in die weiteren dort gespeicherten Informationen verschaffen, ist eine isolierte Bewertung des Eingriffsgewichts einzelner Erhebungsmerkmale Augenwischerei. Die DNA ist keine nach Stichworten durchsuchbare Datenbank – wer Gensequenzen auf der Suche nach bestimmten Informationen auswertet, erhält dabei möglicherweise zwangsläufig auch weitergehende Erkenntnisse.

Ungenauigkeit und Diskriminierungsgefahr

Eine Bestimmung des tatsächlichen Aussehens erlaubt die DNA-Untersuchung ohnehin nicht. Genmolekulare Analysen arbeiten grundsätzlich mit Wahrscheinlichkeiten. Mit ihnen lässt sich nie feststellen, sondern immer nur statistisch schätzen, welche Merkmale die Spurengeber*in aufweisen könnte. Befürworter*innen behaupten, die Augenfarbe könne in bis zu 90–95 Prozent, die Hautfarbe in bis zu 98 Prozent und die Haarfarbe in 70–90 Prozent der Fälle erfolgreich vorhergesagt werden; es handele sich bei der DNA quasi um eine stumme Zeugin. Schon nach diesen überaus optimistischen Quoten wird das vermeintliche Phantombild aber regelmäßig mit mindestens einem dieser Merkmale danebenliegen. Kritiker*innen weisen zudem darauf hin, dass die Genauigkeit in der Praxis weitaus niedriger sein dürfte. Hat man es – wie bei den meisten Menschen – nicht mit Stereotypen wie sehr dunkler Haut oder sehr hellen Haaren zu tun, verringert dies die Prognosequalität stark. Ist die DNA eine Zeugin, dann offenbar eine kurzsichtige mit zwei Promille. Laut Gesetzgeber dient die Methode deshalb »lediglich der Vermehrung der Erkenntnismöglichkeiten«. Inwieweit die Feststellung, die Spurengeber*in könnte eventuell blaue Augen haben, Erkenntnisse vermehrt, ist allerdings fraglich. Entweder wirkt sich dieses vage Analyseergebnis auf die Ermittlungsarbeit aus und eröffnet damit ein erhebliches Risiko der Irreführung – oder es wirkt sich nicht aus, womit die Methode nutzlos und der mit ihr verbundene Grundrechtseingriff nicht gerechtfertigt wäre. Hilfreich sind all diese Anhaltspunkte ohnehin nur dann, wenn sie den Kreis der Verdächtigen aus der Gesamtpopulation wesentlich verengten. Das vermag die Spur aber nur dann zu leisten, wenn sie nicht auf ein Mitglied der Bevölkerungsmehrheit deutet.

Es ist also offensichtlich, worauf sich das Ermittlungsinteresse tatsächlich richtet: auf die Feststellung, dass die Spurengeber*in einer abgrenzbaren Minderheit angehören könnte, und zwar anhand der Hautfarbe. Obwohl die generierten Profile also bloß ein mögliches Szenario darstellen und zudem äußerst fehleranfällig sind, werden sie die Ermittlungen entscheidend (fehl)lenken – nämlich immer dann, wenn sie auf eine erkennbare Bevölkerungsminorität deuten. Wie sich solche Ermittlungsstrategien in der Praxis niederschlagen, lässt sich anhand vieler Beispiele illustrieren. Erwähnt sei hier nur der Kiesewetter-Mord, bei dem die Ermittelnden alle Hinweise auf die rechtsradikalen Hintergründe ignorierten und sich stattdessen auf die antiziganistische These versteiften, die Tat führe ins »Zigeunermilieu«. Eine Ermittlungsmethode, die von vornherein nur funktioniert, wenn sie sich gegen Minderheiten richtet, ist mit dem Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Absatz 3 Satz 1GG