8,99 €
"Der hellste Stern an unserem Nachthimmel wird dunkel", dachte ich, während ich die Sonnenfinsternis betrachtete. Jedoch wusste ich noch nicht, was das für mich bedeuteten würde. Woher hätte ich auch ahnen sollen, dass ich eine Gabe in mir trug? Aber natürlich ist diese Gabe auch an eine Aufgabe geknüpft. Die 15-jährige Nina führt nun ein über 500 Jahre altes Vermächtnis fort. Aber dafür wird sie Hilfe brauchen. In meiner Jugend-Fantasy Roman Reihe erwartet euch eine spannende Geschichte von Jugendlichen, die gemeinsam und mit ihren Gaben eine Aufgabe, die ihnen vor über 500 Jahren auferlegt wurde, zu Ende bringen wollen. Manuel Nett, Autor
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2016
Manuel Nett
Grüne Augen
Die Iris Trilogie
www.tredition.de
© 2016 Manuel Nett
Umschlag, Illustration: Manuel Nett
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
Paperback
978-3-7323-3390-5
Hardcover
978-3-7323-3391-2
E-Book
978-3-7323-3392-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Jede Ähnlichkeit zu realen Namen, Orten, Daten oder Vergleichbarem ist rein zufällig und unbeabsichtigt.
Ich bin sehr stolz, Ihnen mein 2. Buch präsentieren zu dürfen. Nach meinem ersten Buch, Schrittweise zum YouTuber, welches im Herbst 2014 erschienen ist, ist nun ein etwas anderes Genre gefragt.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen meines Fantasieromans,
Grüne Augen.
Ich widme dieses Buch meinen Brüdern Fabian und Dominik, auf die ich mich immer verlassen kann.
Danke!
Inhaltsverzeichnis
NINA
SCHUTZENGEL
DIE AUSERWÄHLTEN
ZWEI WEGE
DIE LETZTE KUGEL
GRILLABEND
WEICHE ZIELE UND HARTE SCHLÄGE
LIEBE MACHT BLIND
GEHEIMNISSE DER VERGANGENHEIT
LEBEN UND LEBEN LASSEN
BILDUNG
DAS WAPPEN DER VIER
WERKE EINES PHILOSOPHEN
FILMABEND MIT RÄTSELN
IN GEHEIMER MISSION
DAS MEDALLION I
DIE ERSTE WAFFE
DAS MEDALLION II
Es war still und vollkommen dunkel. Ich konnte nichts sehen, an nichts denken, nichts tun. Und doch fühlte ich mich sehr gut. So, als würde mir ein Stein vom Herzen fallen. Ich legte den Zeigefinger auf seine Lippen, woraufhin er langsam seinen Kopf hob und geradewegs in mein Gesicht sah. Obwohl er Lippen, Ohren und überhaupt meine gesamte Kopfform nur erahnen konnte, sah ich doch ein Körperteil ganz genau. Er sah mir genau in die Augen, in meine tiefgrünen Augen.
Erster Teil der
Iris-Trilogie
Nina
Glatte, schwarze Haare, eine kleine Nase, tiefgrüne Augen, schmale Lippen, immer in einem süßen Top und einem Rock, 15 Jahre alt, sowie immer in Begleitung meiner besten Freundin Sarah, das war ich, Nina Brons.
Ich ging in die 10. Klasse eines Gymnasiums in München und wohnte in einem kleinen Häuschen mit meiner Mutter, meinem Vater und meinem 11 jährigen Bruder Benjamin.
Eigentlich gibt es nicht besonders viel über mich zu wissen. Mein Leben verlief bisher ziemlich ereignislos. In der heutigen Zeit ist es vielleicht ein wenig ungewöhnlich, mit 15 noch keinen Freund gehabt zu haben, aber das war auch schon alles. Außerdem bemühte ich mich, im Gegensatz zum Großteil der restlichen Schüler, schon immer in der Schule. Naja, bisher hat mir das noch nicht so viel gebracht, aber immerhin.
Aber dann sollte sich etwas ändern. Ich sollte etwas erfahren, etwas sein, was nicht ganz so gewöhnlich war wie mein bisheriges Leben. Es begann im April 2015.
Wie an jedem Schultag klingelte früh morgens der Wecker. «Nina, aufstehen!», rief meine Mutter kurz darauf die Treppe hinauf. Das Haus hatte zwei Etagen. Unten sind die Haustüre, die Küche, das Esszimmer, sowie das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer meines Vaters. Im 1.Stock findet man mein Zimmer, das meines Bruders, das Schlafzimmer meiner Eltern, sowie das Badezimmer. Murrend stand ich auf. Ich hasse Montage, dachte ich, als ich mich aus dem Bett quälte.
Irgendwie fühlte ich mich komisch. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass mein Zimmer genau so aussah wie immer. Mein Bett stand unter einer Schräge und am Fußende war ein Fenster, durch welches ich auf die Straße sehen konnte. Des Weiteren waren da noch mein Schrank, mein Schreibtisch, auf welchem mein Laptop stand, ein Spiegel, eine Kommode, sowie meine Stereoanlage. Und natürlich durfte der kleine Fernseher, der so an der Wand angebracht war, dass ich ihn gemütlich von meinem Bett aus sehen konnte, nicht fehlen. An der Wand hingen ein Poster und diverse Fotos, auf denen ich mit meiner Familie oder mit Freunden zu sehen war.
Ich verließ mein Zimmer, ging ins Bad und wusch mir erst einmal den Schlaf aus den Augen. Etwas später kam ich auch schon an den Esstisch, wo der Rest meiner Familie bereits frühstückte.
«Morgen Schatz!», sagte meine Mutter, während sie mir einen Teller Waffeln reichte. Ich setzte mich wortlos und begann müde an einer Waffel herumzuknabbern. «Alles in Ordnung?», fragte mein Vater, woraufhin ich nur ein leises «Müde» murmelte. «Kopf hoch, zumindest wird es heute mal ein interessanter Schultag», erklärte mein Vater. «Warum?», «Na wegen der Sonnenfinsternis. Habt ihr davon noch nichts gewusst?» Ich schüttelte den Kopf, «Nein, noch gar nichts.» «Es wird heute eine partielle Sonnenfinsternis zu sehen sein, und soweit ich weiß werdet ihr die heute auch in der Schule betrachten dürfen. Mit Schutzbrillen natürlich.» Cool, wenigstens mal kein langweiliger Unterricht wie Mathe, Englisch oder Französisch. «Bin ja mal gespannt» erwiderte ich, bevor ich mich wieder meinen Waffeln widmete. Ich aß zu Ende, schnappte mir meine Tasche und verließ mit einen hastigen «Tschüss!» das Haus.
Wie jeden Tag wartete Sarah bereits vor der Tür. «Na, auch schon fertig?», fragte sie mit einem Lächeln im Gesicht, während sie gerade ihr Handy in einer ihrer Jackentaschen verstaute. Während Ich nur etwa 1,68m Groß war, wollte Sarah scheinbar gar nicht mehr aufhören zu wachsen. Mit 1,80m konnte sie leicht über mich hinwegsehen. Sarah war ebenfalls 15 und hatte langes, blondes Haar, wobei sie einige lila Strähnen eingeflochten hatte. Meist war sie mit Jeansjacke und Mütze unterwegs. Sie war mehr der lockere, draufgängerische Typ, und weniger der ernste Typ wie ich. Aber dafür war sie absolut zuverlässig und die beste Freundin, die man sich nur wünschen konnte. «Denke schon. Hast du eigentlich gewusst, dass heute eine Sonnenfinsternis stattfindet?» «Klar, du nicht?» Ich lief leicht rot an und konnte ein verlegenes Grinsen nicht verhindern. «Komm, lass uns gehen», forderte ich Sarah auf.
Wir gingen die Straße entlang und kamen wenige Minuten später auch schon zur U-Bahnstation. Mit den typischen 3 Minuten Verspätung kam kurz darauf auch die nächste U-Bahn, in welche wir einstiegen.
Die U-Bahn war nicht einmal halb voll. Für Arbeiter war es zu spät und die meisten Schüler stiegen immer erst während der Fahrt zu.
Wir unterhielten uns während der Fahrt vor allem über unser bevorstehendes Biologie Referat. Das Thema lautete Stoffwechsel des Menschen und war alles andere als langweilig für uns. Keine von uns beiden war ein Partygänger, auch einen Freund hatte bis jetzt noch keine von uns gehabt. Wenn wir nicht gerade etwas gemeinsam unternahmen, lernte oder las ich. Naja, oder ich malte etwas. Ich malte und zeichnete schon immer gerne, und auch wenn meine Bilder anfangs noch alles andere als künstlerisch waren, war ich mittlerweile gar nicht mal so schlecht.
Wie immer füllte sich die U-Bahn langsam, Station für Station. Während ich kurz darauf Musik hörte, nutzte Sarah die Zeit, um sich mit ihrem Handy über Sonnenfinsternisse zu informieren.
Als wir die Endstation erreicht hatten, stiegen wir aus und folgten dem Strom von Schülern, die ebenfalls auf dem Weg zur Schule waren.
«…ist kein Witz. Die Tusse war so besoffen, dass sie sogar angefangen hat zu singen», erzählte gerade ein Junge seinen Freunden, während diese gerade vor uns den Berg zur Schule hinaufgingen. Der Junge hieß Felix und ging mit Sarah und mir in die Klasse. «So ein Vollidiot», murmelte ich Sarah zu. Was natürlich vollkommen überflüssig war, denn ein Blick zur Seite, und ich wusste, dass sie meine Meinung teilte. Doch leider war ich wohl nicht leise genug, denn Felix drehte sich zu uns um. «Wer? Ich? Warum warst du vorgestern eigentlich nicht auf der Party, Nina?», fragte Felix. «Ich hatte etwas bessere zu tun», entgegnete ich genervt. Das stimmt eigentlich nicht, denn ich hatte Zuhause gesessen und mir einen Film angesehen. Aber ist Zeit mit seinem Bruder zu verbringen nicht wichtiger als eine Party? Ok, er schlief nach fünf Minuten ein, aber das zählte doch trotzdem. «Na dann komm doch wenigstens zu meiner Party übernächstes Wochenende», lud er mich ein. «Mal schauen», meinte ich. Bevor ich jedoch hinzufügen konnte, dass ich es vermutlich eh nicht schaffen würde übernächstes Wochenende auf die Party zu gehen, fing die Schulglocke an zu klingeln und wir gingen in unsere Klasse.
Unser Schulgebäude war längst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Schon seit Jahren sollte es generalsaniert werden, aber bisher wurde es immer wieder verschoben. Zwar befand sich mittlerweile in jedem Raum ein eigener Beamer, und einige Fenster wurden auch erneuert, aber das war auch schon alles.
In der ersten Stunde stand Physik auf dem Stundenplan. Unser Lehrer, Herr Huber, betrat das Klassenzimmer und begrüßte die Klasse. Herr Huber war ein netter, kleiner Mann Ende vierzig. Er hatte kurze, braune Haare und einen großen Kopf. Auf seiner Nase thronte eine Brille mit braunem Gestell. Wie immer trug er sein braunes Jackett und eine Anzughose. Grässliche Kombination, dachte ich mir deshalb fast täglich.
«Guten Morgen liebe Schüler.» «Guten Morgen Herr Huber», antworteten die Schüler im typischen Chor. «Wie manche von euch sicher schon wissen haben wir heute mal einen etwas anderen Schultag vor uns liegen. Heute wird es eine partielle Sonnenfinsternis geben, was heißt, dass sich der Mond teilweise vor die Sonne schiebt, sie aber nicht vollständig bedeckt.» Die nächste halbe Stunde erzählte Herr Huber eine Menge über Sonnenfinsternisse. Auf die Frage von Hannes, einem anderen Jungen aus meiner Klasse, welche coolen Geschichten es den über Sonnenfinsternisse gäbe, antwortete Herr Huber zögernd. «Es gibt viele Mythen, die vor allem in Verbindung mit übernatürlichen Wesen wie Hexen oder Werwölfen stehen. Auch gibt es manche Fanatiker, die eine Sonnenfinsternis als Auslöser für Übernatürliches betrachten, oder sie gar für eine Naturkatastrophe verantwortlich machen.» Kurz vor Ende der Stunde teilte Herr Huber Schutzbrillen für die Sonnenfinsternis aus. «Die Sonnenfinsternis wird in etwa einer halben Stunde anfangen. Egal wie dunkel oder hell es wird, ihr dürft niemals direkt in die Sonne schauen. Setzt die Brillen auf und genießt das Spektakel, aber nehmt sie während der Sonnenfinsternis nicht ab! Verstanden?» Es klingelte und jeder verließ, die Brillen sicher verstaut, das Klassenzimmer.
«Was denken die den? Etwa, das wir freiwillig direkt in die Sonne schauen? Für wie blöd halten die uns eigentlich?», flüsterte mir Sarah zu, die sich dabei ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen konnte.
Dann hatten wir Englisch. Als wir das Klassenzimmer betraten, stand unsere Lehrerin, Frau Rengt bereits an der Tafel und schrieb einige englische Wörter auf.
Nach etwa 15 Minuten Unterricht gingen wir, also unsere ganze Klasse, gemeinsam mit Frau Rengt in den Pausenhof, wo bereits einige andere Klassen herum standen.
Jeder holte seine Brille hervor und setzte sie auf. Neben der normalen Betrachtung durch die Brille, gab es auch Projektionen der Sonne auf Leinwände. Immer mehr Schüler und Lehrer strömten auf den Pausenhof. Als endlich auch der letzte Schüler auf dem Pausenhof stand, fing der Direktor an, über ein Mirofon eine kleine Ansprache zu halten.
«Liebe Schüler, liebes Kollegium. Ich freue mich, dass wir alle heute dieses wunderbare Naturereignis miterleben dürfen. Aber ich möchte und muss erneut darauf hinweisen, nicht ohne Schutzbrille direkt in die Sonne zu schauen. Innerhalb weniger Sekunden entsteht ein irreparabler Schaden. Im schlimmsten Fall kann es zur Erblindung führen. Ich hoffe, dass wir diesen Tag ohne solch einen Unfall überstehen und wünsche allen viel Spaß.» Sarah lehnte sich zu mir hinüber und flüsterte: «Wenn ich noch 1 Mal höre, dass ich nicht in die Sonne schauen soll, flippe ich aus!» Wir gingen zu zweit zu einer der Projektionen. Mit Hilfe eines Teleskops sah man die Sonne ganz genau auf der dahinter liegenden weißen Leinwand. Langsam sah man den ersten schwarzen Schatten, der sich über die Sonne schob. Ich blickte von der Projektion auf und sah zum Himmel. «Ist es nicht schön?», fragte ich Sarah. Nun sahen wir beide zum Himmel. Stück für Stück verdunkelte sich die Sonne.
Auf einmal begann es stark an meiner Schläfen zu pochen. «AU!» «Was ist los?», fragte Sarah, während ich mir mittlerweile den Kopf hielt. Die Finger an der Schläfe antwortete ich: «Kopfschmerzen. Wird schon wieder.» Ebenso schnell wie die Schmerzen kamen, verschwanden sie auch schon wieder. Auf einmal fühlte ich mich wieder richtig wohl. Seltsam! Was war denn das?Der Mond schob sich immer noch Stück für Stück vor die Sonne. Dann erreichte er den Punkt, an dem er die Sonne zu etwa 80% verdeckte. Er hatte den Höhepunkt dieser partiellen Sonnenfinsternis erreicht.
Die Schüler und Lehrer applaudierten und überall hörte man «Ahh» und «Ohh». Als der Mond zu seinem Höhepunkt vor der Sonne kam, begann alles vor meinen Augen zu verschwimmen. Erst wurde das Bild vor meinen Augen hell wie die Sonne. Es war, als würde vor meinen Augen ein neuer Stern geboren werden. Dann wurde es dunkel, pechschwarz wie die Nacht. Nicht ein einziger heller Punkt ließ sich mehr ausmachen. Der Himmel verschwand und ich sah die Sterne, als würde ich in der freien Natur, nachts, in den Himmel schauen. Dann verschwamm das Schulgebäude, und alles, was ich sah, wurde zu Farbklecksen. Ich hatte keine Schmerzen dabei, aber ich bekam Angst. Ich war unbeschreiblich nervös, aber instinktiv nahm ich die Brille ab und sah hinauf zum Himmel, genau in die Sonne. Also zumindest in den großen, gelben Fleck, von dem ich mittlerweile annahm, dass es sich um die Sonne handeln musste. Ich spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Die Brille glitt mir langsam und sanft aus den Fingern. Ich hörte das Aufschlagen der Brille auf dem Boden so laut, als wäre der Ton tausendfach verstärkt worden. Seltsamerweise war das aber auch das einzige Geräusch, das ich wahrnehmen konnte.
Daraufhin schloss ich meine Augen. Langsam und ruhig senkten sich meine Augenlieder. Es fühlte sich gut an.
Aber dann erschrak ich entsetzlich. Ich erschrak, wie ich es noch nie in meinem Leben getan hatte. Meine Augen waren geschlossen, aber noch immer sah ich alles so, wie ich es mit offenen Augen tat. Das Bild was gestochen scharf. Dann, nur Sekunden später, war es urplötzlich wieder vorbei. Ich sah nur das Innere meiner Augenlieder. Es war dunkel, aber ich merkte, wie ich langsam nach hinten glitt. Während ich ohnmächtig auf dem Boden aufschlug, hörte ich noch Sarah schreien: «Hey! Nina, was ist los?».
Ich schlug die Augen auf. Ich lag auf einer Liege im Krankenzimmer des Gymnasiums. Um mich herum standen Sarah, meine Lehrerin Frau Rengt und, ausgerechnet, Felix. «Na endlich bist du wach. Erinnerst du dich was passiert ist? Du wurdest auf dem Pausenhof ohnmächtig. Frau Rengt und Felix haben dich vor etwa einer Stunde hier her getragen», erklärte mir Sarah.
«Danke!», stammelte ich noch etwas unsicher und verwirrt. Meine Gedanken überschlugen sich. Mein Puls muss rasen. Was war das? Ich setzte mich auf und trank einen Schluck Wasser aus dem neben mir stehenden Becher. Mir war weder schwindlig, noch hatte ich Schmerzen. «Es geht mir gut», sagte ich vorsichtig. Das stimmte sogar. Was war da nur mit mir passiert? Ein Sonnenstich vielleicht? Frau Rengt schickte die anderen beiden aus dem Zimmer und stellte die typischen Fragen: Hast du genug gegessen und getrunken? Warst du in letzter Zeit Krank? Nimmst du zurzeit irgendwelche Drogen und, oder Medikamente? Ich beantwortete sie alle wahrheitsgemäß und versicherte ihr, dass es mir gut ginge. Ich blieb noch etwa eine halbe Stunde liegen, dann stand ich auf, nahm meine Tasche, die neben meiner Liege stand und verließ das Zimmer. Ich war immer noch verwirrt, und unfähig zu verstehen, was mit mir passiert war.
Es war immer noch Unterrichtszeit. Fast alle Schüler waren in ihren Klassenzimmern. Auch die Aula war menschenleer. Was war das während der Sonnenfinsternis? Warum habe ich all diese Farbenkleckse gesehen und warum konnte ich durch meine Augenlieder sehen? All diese Fragen schossen mir im Kopf herum. Ich ging zum anderen Ende der Aula und kaufte mir eine Flasche kühles Mineralwasser. Habe ich mir das alles eingebildet? So muss es eigentlich gewesen sein, aber warum bin ich dann ohnmächtig geworden? Habe ich das nur geträumt?
Dann suchte ich mein Klassenzimmer auf, in dem der Rest meiner Klasse gerade Mathematikaufgaben löste. Nun ja, zumindest sollten sie das tun. Aber wer weiß, eventuell dienten die Handys ja nur als Taschenrechner. Ich klopfte an die Tür und öffnete sie. «… also ist x=4. Ah, Nina, geht es dir besser?», fragte mein Mathematik Lehrer. Ich ging an meinen Platz und setzte mich. «Mir geht es gut, danke.», versicherte ich ihm nachdrücklich. Dem anschließenden gekränkten Blick nach, reagierte ich eventuell etwas zu abweisend, aber mir war jetzt nicht danach, immer und immer wieder das Selbe sagen zu müssen. In unserem Klassenzimmer gab es drei Sitzreihen mit je 4 Tischen à 2 Schülern. Ich saß in der mittleren Reihe, vom Pult aus gesehen am 2. Tisch von Links neben Sarah. «Was hab ich verpasst?», fragte ich Sarah, während sich unser Mathelehrer wieder den Gleichungen an der Tafel zuwandte. Sarah zeigte mir den Hefteintrag, an welchem sie gerade arbeiteten. «Bruchgleichungen, das langweiligste Thema, das er hätte wählen können.» Ich schrieb den Hefteintrag ab und wurde glücklicherweise noch vor Unterrichtsende damit fertig. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich es noch schaffen würde, da Sarah mich ganz verstört anstarrte. Sie verstand nicht, warum ich die Gelegenheit eine Schulstunde zu verpassen, nicht genutzt hatte.
Als die Klingel ertönte, gingen die meisten Schüler direkt nach Hause oder zu Freunden. Sarah und ich jedoch, wir gingen in die Schulbibliothek um für unser Biologiereferat zu recherchieren.
Da man aber bekanntlich nicht mit leerem Magen lernen kann, beschlossen wir zuerst etwas zu Essen. Wir nahmen unsere Taschen, verließen gemeinsam mit unseren Klassenkameraden das Klassenzimmer, sowie das Schulhaus.
Vor der Schule war erstmal ein großer Platz, dann kamen die Bushaltestellen und noch ein Stück weiter die Parkplätze für Lehrer und Eltern. Wenn man aber dann noch ein Stück weiter geht, kommt man zur Straße. Kannte man sich aus, gab es auch noch einen kleinen Schleichweg, seitlich an der Straße vorbei, sodass man den großen und lauten Schülermassen entgehen konnte.
Bereits hier, also von der Straße aus, konnte man die Burger von Fredys riechen. Direkt auf der anderen Straßenseite stand es. Fredys war ein kleines Restaurant mit nur 6 Tischen und einer Theke. Hier gab es alles von Spiegeleiern bis hin zu leckeren Burgern. Viele Schüler aßen hier während den Mittagspausen. Wir überquerten die Straße, öffneten die Tür und stellten glücklicherweise fest, dass es nicht so voll war, wie gedacht. Nur 4 der Tische waren belegt und ein Mann saß am Tresen. Wir setzten uns an einen der übrigen Tische. Zwar lag vor uns eine Speisekarte auf dem Tisch, einlaminiert und mit appetitanregenden Bildern, aber wir waren schon so oft hier gewesen, dass wir sie nicht brauchten. Kurz darauf kam auch schon eine Bedienung. Ich bestellte einen Burger mit Pommes und einer Cola, Sarah das Selbe und einen kleinen Salat. «Bevor du ohnmächtig wurdest, hast du da eigentlich in die Sonne gesehen? Also, ohne Brille, meine ich», fragte Sarah neugierig,«Es sah irgendwie so aus.» «Ich glaube ja. Aber nur kurz, die Brille rutschte mir aus der Hand. Wie kommst du jetzt darauf?», antwortete ich. «Deine Augen! Ich weiß nicht, woran es liegt, aber sie wirken gereizt und irgendwie schauen sie noch grüner aus. So grün wie in einem Malkasten. Manchmal sind sie tiefgrün und dann wieder so hell, aber nicht minder stark grün wie die frischen Nadeln einer Tanne. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass deine Bindehaut ziemlich rot, also ziemlich gereizt aussieht, aber ich habe das Gefühl, als wären sie noch grüner als heute Morgen.» Wow, solche bildhaften Beschreibungen habe ich schon lange nicht mehr gehört. Ich holte einen kleinen Schminkspiegel aus meiner Tasche und betrachtete mein Spiegelbild. Es stimmte, meine Augen waren noch viel grüner geworden, zumindest wirken sie so. Zwar hatte Sarah auch damit recht, dass meine Bindehaut geradezu blutrot war, aber ich konzentrierte mich nur auf meine Iris. Es war wunderschön. Ich war seltsamerweise froh darüber. Aber wie konnte das passieren. Ist das ein Anzeichen dafür, dass ich erblinde, oder warum wirken sie so?
«Ich finde es toll! Aber glaubst du, das hat etwas mit der Sonne zu tun?» «Naja, du bist danach ja immerhin ohnmächtig geworden. Ich weiß es nicht», antwortete Sarah, die aber dann durch die Bedienung unterbrochen wurde. Die Burger, welche nun neben einem kleinen Berg von Pommes auf den Tellern vor uns lagen, dufteten herrlich. Ich trank zuerst einen Schluck von der kühlen Cola und machte mich dann über den Burger her. Ich liebe diesen Imbiss, dachte ich und biss dabei gierig ab.
Wir blieben etwa eine halbe Stunde sitzen und verließen dann das Restaurant, um wie geplant zur Schulbibliothek zu gehen.
Dazu mussten sie nur wieder über die Straße, durch den Haupteingang der Schule, die Treppe nach oben, und dann einen breiten Gang entlang gehen. Bevor dieser Gang am Ende in die Mensa der Schule endet, gab es eine Tür nach Links, durch welche man in die Bibliothek gelangte. Sarah öffnete diese und wir gingen hinein.
Erfreut stellten wie fest, dass wir die einzigen waren. Vor uns standen lange Reihen von Bücherregalen. Geordnet nach Genre und Erscheinungsjahr. Am anderen Ende des Raumes waren 3 große Fenster, durch die das Licht direkt auf mehrere Stühle, aber auch auf eine Hand voll Sitzsäcke, fiel. Es war völlig still. Also genau so, wie es in einer guten Bibliothek auch sein sollte. «Also, fangen wir an. Jeder nimmt sich jeweils ein Buch zum Thema Stoffwechsel des Menschen und schreibt sich die wichtigsten Notizen heraus. Später vergleichen wir sie und fassen das Wichtigste zusammen», erklärte ich und schnappte mir das erste Buch. Widerwillig machte Sarah sich auf die Suche.
Ich nahm einen der Sitzsäcke, rückte ihn ans Fenster, so dass noch mehr Licht auf ihn fiel und ließ mich gemütlich hineinfallen.
Auch Sarah fand endlich ein Buch und setzte sich in einen der anderen Sitzsäcke. Wir beide holten je einen Block und einen Stift aus unseren Taschen hervor. Irgendwo mussten wir unsere Notizen ja machen.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde war es Sarah, die mit ihrem Buch zuerst fertig war. Sie legte es zur Seite und begutachtete ihre Notizen. Es waren über eine Seite Stichpunkte. Zufrieden legte sie den Block weg und stand auf, um sich zu strecken. «Also ich bin fertig, und wie sieht es bei dir aus?» «Mir fehlen noch etwa 25 Seiten. Brauche eventuell noch um die 15 Minuten.» «Gut, dann gehe ich mal kurz auf die Toilette. Kipp nicht um, während ich weg bin», meinte Sarah spöttisch. «Hahaha!», entgegnete ich sarkastisch, wobei ich jedoch ein kleines Lächeln nicht unterdrücken konnte.
Aber auch ich wollte mich mal wieder strecken und stand kurz auf.
Da war es wieder. Dieses Gefühl. Etwas war wieder seltsam, aber ich konnte nicht genau sagen was. Ganz langsam verschwammen die Bücherregale und alles Weitere vor meinen Augen. Ich blinzelte hastig, doch es veränderte sich nichts.
Ich wurde nervös und mein Herz begann zu rasen. Dann wurden die Regale, sowie die Bücher, die Stühle und auch die Sitzsäcke wieder scharf. Aber die Türe, und vor allem die Wände, waren noch immer unscharf.
Ich rieb mir ungläubig die Augen. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Oh Gott, hoffentlich werde ich nicht blind. Dann veränderte sich etwas. Es war, als würde ich durch sehr heiße Luft schauen wie über einem Lagerfeuer. Die Wände waren nicht mehr unscharf, sondern sie flimmerten. Erst schwach und langsam, dann immer stärker und schneller. Was geschieht mit mir? Was ist das? Langsam verschmolzen die Wände, die Türe und alle Bilder an den Wänden zu einer einzigen, weiß schimmernden Fläche. Dann hellte sich diese Fläche noch weiter auf. Ich erschrak, doch innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde war es auch schon wieder vorbei. Ich sah mich um. Mein Kiefer klappte nach unten. Ich rieb mir meine Augen erneut und hoffte, dass ich mich irrte, aber es schien wahr zu sein. Oh, mein Gott!
Zwar sah ich alles scharf, auch die Regale vor mir und die darin enthaltenen Bücher, aber eben auch die Schüler, die sich in der Mensa gerade ein Tablett mit etwas zum Essen holten. Ich konnte auch Sarah sehen, wie sie etwa 10 Meter weiter rechts von mir am Waschbecken stand, um sich die Hände zu waschen. Dann trug sie neuen Lippenstift auf und ging anschließend einige Schritte in Richtung Türe.
Alle Wände, und alles, was an diesen hing, waren durchsichtig geworden. Ich konnte alles sehen, was außerhalb der Wände vor sich ging. Ich hatte große Angst vor dem nächsten Schritt, aber mit etwas Überwindung wagte ich es.
Ich sah nach unten.
Tatsächlich, ich stand wortwörtlich in der Luft. Unter mir sah ich ein leeres Klassenzimmer. Wieder hielt ich kurz inne. Ich wusste, dass ich es tun musste, aber ich hatte Angst, so unglaublich große Angst. Aber ich musste es wissen, also hob ich den Kopf und sah nach oben. Über mir sah ich, wie gerade eine Putzfrau ein Klassenzimmer aufräumte. Ich sah auch ihre Schuhsolen, denn für mich sah es so aus, als würde die Putzfrau mitten in der Luft schweben, also genau so wie ich selbst. Ich schloss die Augen.
Das ist nicht war, ich habe mir das nur eingebildet. Ich werde jetzt meine Augen öffnen, und alles wird wie vorher sein.
Ich öffnete meine Augen, doch noch immer konnte ich durch jede Wand hindurch sehen.
Dann blitzte es zwei Mal hell vor meinen Augen auf und alles war wieder normal. Mein Herz klopfte mittlerweile abwechselnd mal schnell und mal wie in Zeitlupe. Ich wusste nicht, was ich denken und glauben sollte, also sah ich mich wortlos und gedankenleer weiterhin um. Ich wollte sichergehen, dass ich auch wirklich wieder normal sehen konnte.
Die Tür war am richtigen Platz. Unter mir war der weiche Wollteppich und neben mir die weiße Wand mit dem Harry Potter Poster.
Mein Herz überschlug sich fast, so schnell pumpte es. Ich atmete tief ein, und fest aus. Noch mal. Und ein letztes Mal. Kaum hatte ich mich wieder beruhigt, öffnete sich auch schon die Tür und Sarah kam herein. «Also die Putzfrauen waren offensichtlich noch nicht in diesem Teil des Schulgebäudes. Was ist los, warum schaust du als hättest du einen Geist gesehen?» Zuerst sank ich wortlos zurück in meinen Sitzsack. Dann erzählte ich ihr ganz genau, was passiert war, bis ins kleinste Detail. Dabei redete ich so schnell auf Sarah ein, dass ich mehrere Wörter verschluckte. «… und die Putzfrau über mir, und du, wie du dir die Hände gewaschen hast.» «Oh mein Gott! Und du hast wirklich mich gesehen? Krass, eventuell hat das etwas mit der Sonnenfinsternis zu tun. Ich meine, du hast reingesehen und bist danach umgekippt, vielleicht hast du dir den Kopf dabei verletzt und hast dir das gerade nur eingebildet.» «Egal woran es liegt, ich habe mich so erschrocken, dass ich beinahe an einem Herzinfarkt gestorben wäre. Was, wenn es wieder passiert, und ich ohne es zu wissen direkt gegen eine Wand laufe?» «Gute Frage, konntest du denn nur durch die Wände sehen oder auch durch sie hindurchgehen?», wollte Sarah nun wissen. Ich jedoch konnte noch nicht einmal so weit denken. Ich hing immer noch daran, die Ereignisse von eben irgendwie zu verarbeiten. Aber Sarahs Skepsis entging mir dennoch nicht. Hier stimmt etwas nicht. Und das macht mir leider unglaublich große Angst. Sarah glaubt mir nicht. Aber ich würde mir vermutlich selbst nicht glauben. «Das habe ich nicht getestet», antwortete ich, als ich mich schließlich etwas gefangen hatte, jedoch noch immer völlig außer Atem.
«Was, wenn es wieder passiert? Das ist einfach unheimlich. Du darfst es niemandem erzählen. Entweder wird es keiner glauben, oder ich werde zum Nadelkissen von irgendwelchen Regierungs- Wissenschaftlern. Versprich es mir!» «Ja, Nina, ich verspreche dir, dass ich davon niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen erzählen werde», versprach Sarah.
«Für den Fall, dass es sich wiederholen sollte, werde ich erstmal versuchen, ob ich die Wand berühren, oder sogar durch sie hindurch langen kann.» «Du meinst, bis es ein zweites Mal passiert wirst du es einfach ignorieren?» «Ja!», antwortete ich vorsichtig. «Ja das werde ich!» Ich wusste nicht, ob es die richtige Entscheidung war, abzuwarten, aber ich wollte es wohl einfach nicht wahrhaben.
Als wir uns wieder beruhigt hatten und uns darüber einig geworden waren, diesen Vorfall vorerst zu ignorieren, bis er ein zweites Mal auftrat, verglichen wir unsere Notizen und verfassten eine Vorlage für unser Referat, die ich später Zuhause an meinem Laptop abtippen und ausdrucken wollte. Für die meisten war so ein Referat nur ungewollte Arbeit. Vor allem, wenn es um so ein spezielles Thema, wie zum Beispiel den Stoffwechsel des Menschen, geht. Mich dagegen interessierte so etwas schon immer brennend.
Wir verließen die Bibliothek, gingen den Gang zurück, die Treppe hinunter und durch den Haupteingang der Schule hinaus.
Wir stiegen in den Bus und fuhren nach Hause.
Als der Bus bei unserer Haltestelle ankam, stiegen wir beide aus und verabschiedeten uns. Sarah ging nach rechts, während ich nach links gehen musste. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren einer der größten Vorteile in unserer Wohngegend. Egal ob U-Bahn oder Bus, zur Schule und wieder zurück war für uns kein Problem. Glücklicherweise beschränkten sich diese Möglichkeiten nicht nur auf die Schule.
Mittlerweile neigte sich der Nachmittag langsam dem Ende zu. Es war fast 18 Uhr und ich sah die Sonne als glühende, mittlerweile orange bis rot leuchtende Scheibe hinter den Dächern der Häuser, an denen ich gerade vorbeiging, untergehen. Zuerst bemerkte ich es gar nicht, aber ich war doch schon ziemlich froh, die Dächer der Häuser tatsächlich sehen zu können.
Es sah schön aus. Am liebsten würde ich mehr davon sehen. Kaum hatte ich daran gedacht, flimmerte auch schon das Bild vor meinen Augen. Nicht schon wieder! Es ging viel schneller, als beim ersten Mal. Nach wenigen Sekunden lösten sich die Häuser scheinbar in nichts auf. Zwar sah ich die Menschen, die in den Häusern waren, alles andere jedoch war durchsichtig geworden. Manche Kinder saßen in der Luft, so manche Frau kochte gerade, und auch eine ältere Dame sah ich, wie sie gerade eine unsichtbare Treppe hinaufstieg. Ich blieb stehen und sah nach oben. Jetzt konnte ich die komplette Sonne sehen. Mein Herz klopfte, und ich hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Es erschien mir zuerst einfach nicht normal, nicht richtig.
Dann aber fühlte es sich gut an, ich war glücklich darüber. Wer kann schon so etwas, außer mir. Noch immer voller Angst davor, was passieren könnte, beschloss ich, es für den Moment einfach zu genießen. Ich betrachtete die Sonne, wie sie sich stückchenweise über den Horizont schob. Dann erinnerte ich mich daran, was ich mir für diesen Fall vorgenommen hatte.
Ich näherte mich einem jener Häuser, in denen keiner zuhause war. Ich trat bis zu dem Punkt vor, an dem die Mauer sein musste. Dann streckte ich ganz langsam und vorsichtig die Hand aus. Aus der Angst heraus, mich könnte jemand sehen, schaute ich mich mehrmals um.
Ich zitterte am ganzen Körper. Selbst meine Zähne fingen zu klappern an, fast so, als würde ich frieren. Meine Finger begannen zu kribbeln. Es war wie ein Musikstück, bestehend aus allen Geräuschen, die Angst so hervorrufen konnte. Es war so beeindruckend und aufregend als wäre ich wieder ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal den Ozean erblickt. Ich hob unsicher den Arm und streckte ihn ganz langsam aus. Ein Stück nach vorne, noch ein Stück und noch eins. Dann war ich mir sicher. Ich kann durch Wände greifen. Ich kann durch sie hindurch sehen und greifen, aber ich kann ich auch durch sie hindurch gehen?
Schnell zog ich den Arm zurück. Erneut flackerte das Bild vor meinen Augen. Dabei wurde mir kurz schwindelig, und ich sah für einen kurzen Moment nur ein weißes Licht, sonst nichts.
Auf einmal stand ich vor einer massiven, weißen Hauswand. Ich streckte erneut den Arm aus, aber diesmal ging es nur bis zur Wand, und nicht weiter. Die kühle, massive Mauer versperrte mir den Weg. Soll ich es ausprobieren? Oder muss ich es nicht sogar ausprobieren? Das nächste Mal versuche ich es. Ich bin gespannt, ob ich auch durch die Wände hindurchgehen kann.
Noch immer war ich völlig durcheinander. Ich wollte keinen Schritt weitergehen. Innerhalb eines Tages war ich zuerst umgekippt und konnte anschließend zweimal durch Wände sehen. Durch massive Mauern. Das war einfach zu viel für mich.
Und wie immer, wenn mir etwas zu viel wurde, verdrängte ich es. Probleme anzugehen war noch nie eine meiner Stärken gewesen, und leider hatte sich das bis heute nicht geändert.
Ich ging zurück auf den Fußgängerweg und folgte diesem bis zu unserem Haus. In der Einfahrt stand bereits das Auto meines Vaters. Ich ging zur Haustüre, zog meinen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Tür. Anschließend ging ich erstmal in die Küche, um mir ein Glas Apfelschorle einzuschenken. Das ist so unglaublich. Was mach ich bloß? «Nina, alles in Ordnung mit dir, geht es dir gut? Die Schule hat mich im Büro angerufen, darauf hin bin ich direkt nach Hause gefahren», erklärte mein Dad, der gerade hinter mir in die Küche kam.
Mein Dad war ein angesehener Anwalt. Er arbeitete in einer großen Kanzlei und vertrat nur die wichtigsten Kunden. Manchmal begutachtete ich einige der Verträge, die in seinem Büro lagen. Ich verstand zwar nur sehr wenig davon, und ich war deshalb auch immer sehr schnell beeindruckt, aber ich musste es nicht verstehen, um immer wieder Stolz darauf zu sein. Darum war es auch etwas besonderes, wenn er denn doch mal früher nach Hause kam. «Ja, es geht mir wieder gut», beruhigte ich ihn. «Ich weiß gar nicht mehr richtig, was da passiert ist. Ich bin einfach umgekippt, aber mir war danach weder schwindelig, noch hatte ich Schmerzen.» «Das ist gut. Auch keine Wunde am Kopf?» «Nein, alles heil.» Ich trank das Glas in zwei großen Zügen leer.
Ich hatte beschlossen, vorerst mit niemandem, außer mit Sarah über meine neue «Gabe» zu reden. Ich unterhielt mich noch etwas mit meinem Vater über den restlichen Schultag, die Sonnenfinsternis und seine Arbeit. Dabei versuchte ich weiterhin energisch, ihn zu beruhigen. Schließlich fragte ich neugierig. «Wo sind Mom und Benjamin eigentlich?» «Mama fährt Benjamin gerade ins Fußballtraining, wie jeden Montag.» Mein Bruder Benjamin hatte vor einigen Monaten seine neue Leidenschaft für das Fußballspielen entdeckt und wurde kurzerhand bei einem naheliegendem Verein angemeldet. Ich hatte mich jedoch noch nicht daran gewöhnt. «Ich bin in meinem Zimmer» sagte ich eine Weile später zu meinem Vater und ging die Treppe nach oben.
Dort setzte ich mich an den Schreibtisch und startete meinen Laptop. Natürlich wurde zuerst das Passwort abgefragt. Niemand außer mir kannte es, nicht einmal Sarah, und das soll schon etwas heißen. Ich gab es ein und, der Computer fuhr hoch. Zuerst tippe ich unser Bio-Referat ab, und danach suche ich mal nach allem, was ich zu durchsichtigen Wänden finde. So verrückt es klingt, irgendetwas muss ich ja machen.
Gedacht, getan. Zwar musste ich über mich selbst lachen, doch was außer «durchsichtige Wände», wäre wohl treffender. Ich tippte zuerst das Biologie-Referat ab, und druckte es über den Drucker im Arbeitszimmer meines Vaters aus.
Neben unseren Notizen für den Vortrag hatten wir auch noch ein kleines Handout ausgearbeitet. Nachdem ich die Blätter gemeinsam mit meinen anderen Heften in meiner Tasche verstaut hatte, setzte ich mich wieder an meinen Laptop und öffnete den Internetbrowser. Ich suchte nach Durch Wände sehen. Leider brachte mir das nicht viel. Einige Suchergebnisse führten mich zu Shopping- Seiten für Fantasy-Romane, andere wiederum erklärten verschiedene Zaubertricks. Ich überlegte einen Moment und fügte schließlich meiner Onlinesuche noch das Stichwort Sonnenfinsternis hinzu. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Ereignisse irgendwie zusammenhängen mussten. Erstaunlicherweise fand ich sogar einen Beitrag mit dem Titel: Die Sage der Sonne.
Das musste eine dieser mystischen Geschichten sein, die sich mal irgendein Verrückter einfach ausgedacht hatte. Herr Huber hat doch heute so etwas Ähnliches erzählt.
Trotzdem beschloss ich, mal einen Blick zu riskieren und klickte den Beitrag an, um ihn vollständig lesen zu können. Alleine die Überschrift, die Sage der Sonne, machte mich neugierig genug. Es klang wie aus einem Märchen oder einer alten Sage. Bei einem Titel wie, die Sage der Sonne, ist das irgendwie auch naheliegend.
«… Die meisten Menschen sind Kinder der Erde. Doch auch der Rest des Universums wollte seinen Anteil an den Menschen, so sind manche Menschen Kinder der Sonne, andere Kinder des Mondes. Um genau zu sein, gibt es immer genau 4 Kinder der Sonne und 4 Kinder des Mondes.
Während die Erde ihre Kinder im Stich lässt, schenken Sonne und Mond den Ihren übernatürliche Kräfte. Diese hängen von den Positionen aller Himmelskörper ab. Bereits von Geburt an sind diese Kinder gezeichnet. Um ihre Kräfte jedoch zum ersten Mal nutzen zu können, müssen sie einen besonderen Moment gemeinsam mit Sonne oder Mond erleben. Je nachdem, wessen Kind man ist. Diese besonderen Momente können Sonnen, oder Mondfinsternisse sein. Aber auch andere, selten auftretende Naturphänomene von Sonne oder Mond. Diese Kinder der Sonne und des Mondes erkennt man…….»
Der Eintrag endete hier schlagartig. Anstatt normalen Sätzen standen hier nur noch zufällig aneinander gereihte Buchstaben. So endete dieser Satz beispielsweise mit «… erkennt man gt jkt Gzmkt.»
Was könnte das bedeuten? Hat das irgendwas mit mir zu tun?
Was wenn das doch keine verrückte Geschichte ist, sondern auf schräge Weise doch stimmt. Was auch immer heute mit mir passiert ist, es muss etwas mitdieser Sonnenfinsternis zu tun haben. Aber was genau?
Es klackte. Meine Mom und Benjamin waren nach Hause gekommen und haben die Tür ins Schloss fallen lassen. Ich schrak kurz auf, widmete mich dann aber wieder der unglaublich erscheinenden Geschichte. Ich speicherte die Seite mit dem Beitrag unter meinen Favoriten und ging wieder zurück zur Startseite. Diesmal suchte ich nach Sonnenfinsternis, Übernatürliches.
Ich stieß auf einen Beitrag vom 12. August 1999. Es dauerte nicht lange, und ich erfuhr, dass dies der Tag nach der letzten totalen Sonnenfinsternis war. In einem Forum über Übernatürliches schrieb jemand: «Denkt ihr, dass es möglich ist, durch eine Sonnenfinsternis übernatürliche Kräfte zu erlangen? Ich denke nämlich, dass mir ähnliches gestern passiert ist.»
Ich schrak auf. Eventuell war ich nicht die einzige, der so etwas passiert ist. Ich las aufgeregt weiter. «Während der Sonnenfinsternis verschwamm alles vor meinen Augen, dann wurde ich ohnmächtig. Zunächst fühlte ich mich gut, doch etwa eine halbe Stunde später wollte ich mir ein Glas kaltes Wasser holen. Ich starrte es an und dachte über die Sonnenfinsternis nach. Auf einmal fing das Wasser an zu kochen. Obwohl es extrem heiß war, verbrannte es mich aber nicht. Abends konnte ich sogar meinen Kamin anzünden, nur indem ich michdarauf konzentrierte. Kann mir von euch jemand sagen, ob ich verrückt bin, oder ob ihr auch andere kennt, denen ähnliches passiert ist?»