Gryphony 2: Der Bund der Drachen - Michael Peinkofer - E-Book
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Gryphony 2: Der Bund der Drachen E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Band 2 der fesselnden Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autor Michael Peinkofer! Ein mysteriöser Fremder quartiert sich im Hotel von Melodys Großmutter ein und entpuppt sich als Agent des Drachenordens! Melody kann nicht verhindern, dass der Bund der Drachen ihren treuen Greif Agravain in Ketten legt und sogar ihren Freund Roddy entführt. Alle Hoffnung scheint verloren, als sie von unerwarteter Seite Hilfe bekommt. Folge dieser einzigartigen und fesselnden Reihe: Band 1: Im Bann des Greifen Band 2: Der Bund der Drachen Band 3: Die Rückkehr der Greife Band 4: Der Fluch der Drachenritter

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHOriginalausgabe© 2015 by Michael Peinkofer und Ravensburger Verlag GmbHDie Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.Umschlag- und Innenillustrationen: Helge VogtLektorat: Iris PraëlAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47677-0www.ravensburger.de

„Agravain?“

Melody flüsterte seinen Namen.

Hoffend, flehend, fast wie ein Gebet.

Doch die einzige Antwort, die sie erhielt, waren die Geräusche des nächtlichen Waldes.

Hier das Rauschen des Windes, der in die Baumkronen fuhr.

Dort ein Rascheln im Gebüsch, ein knackender Zweig.

Dann der heisere Schrei eines Kauzes.

Melody erschauderte.

Genau wie in all den Nächten zuvor, in denen sie sich nachts heimlich auf die Lichtung im Wald geschlichen hatte. Hier waren sie einander zuletzt begegnet.

Mehr als drei Monate war das her.

Drei Monate, in denen sie einander nicht gesehen hatten. Drei Monate, in denen Melody nicht eine einzige Nachricht von Agravain erhalten hatte, dem jungen Greifen, der so unvermittelt in ihr Leben getreten war.

Wehmütig musste Melody daran denken, wie sie das Greifen-Ei gefunden hatte und wenig später das Fabeltier, halb Adler und halb Löwe, daraus geschlüpft war. Auch wenn sie damals noch nicht das Geringste über Greifen gewusst hatte, eins war ihr sofort klar gewesen: Diese Begegnung würde ihrer beider Leben für immer verändern.

In den darauffolgenden Wochen war Agravain mit beängstigender Geschwindigkeit gewachsen. Zu dieser Zeit waren geheimnisvolle Männer in schwarzen Mänteln auf den Plan getreten, die den jungen Greifen um jeden Preis in ihre Gewalt bringen wollten. Vor drei Monaten hatten sie es zuletzt versucht.

Inzwischen hatte der Sommer auf der Insel Arran Einzug gehalten. Hier vor der schottischen Westküste lebte Melody mit ihrer Großmutter Faye unweit der kleinen Stadt Brodick. Dort betrieben sie eine kleine Pension an der Küstenstraße, das Stone Inn. Glücklicherweise war Melody durch Agravain auf einen uralten Greifenschatz gestoßen. Denn die Edelsteine aus diesem Hort hatten nicht nur vollends ausgereicht, um Granny Fayes Schulden zu begleichen. Sie hatte auch noch das Stone Inn gründlich renovieren können. Und so erstrahlte die alte Pension seit zwei Wochen in neuem Glanz und es hatten sich sogar schon einige Gäste eingefunden. Alles war gut geworden – und das hatte Melody einzig und allein Agravain zu verdanken. Umso trauriger machte es sie, dass er nichts mehr von sich hören ließ.

Hatte er nicht gesagt, dass er über sie wachen und sie beschützen wollte? Wo in aller Welt war er? Hatte sie womöglich etwas falsch gemacht und ihn verärgert?

Oft wachte sie nachts auf und blickte auf den magischen Greifenring, mit dem alles angefangen hatte. Aber der Ring hatte sein blaues Leuchten verloren. Sosehr Melody auch in sich hineinhorchte, nicht ein einziges Mal hörte sie Agravains Stimme. Und Mr Clue, der kauzige alte Trödler, der ihr den Ring geschenkt hatte, war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Angeblich verreist. Dennoch sorgte sich Melody um ihn, genauso, wie sie sich um Agravain sorgte.

Anfangs hatte sie noch geglaubt, die Nähe des Greifen zu spüren. Aber seit einigen Wochen schon nicht mehr – und allmählich fragte sie sich, ob sie all die Abenteuer wirklich erlebt hatte.

Hatte sie tatsächlich ein Greifen-Ei in dem uralten Steinkreis gefunden? Und war wirklich ein Fabeltier daraus geschlüpft? Melody konnte es selbst kaum mehr glauben. Gut, dass sie mit ihrem Freund Roddy McDonald ihr Geheimnis teilen konnte – auch wenn sie sich in letzter Zeit nur noch selten sahen. Roddy hing dauernd vor der Spielkonsole, die er sich von seinem Anteil am Greifenschatz gekauft hatte. Deshalb fühlte sich Melody oft einsam.

„Agravain?“, fragte sie noch einmal in die dunkle Stille des Waldes, aber auch diesmal erhielt sie keine Antwort.

War Agravain womöglich etwas zugestoßen? Hatten ihn seine geheimnisvollen Verfolger doch noch geschnappt? Wie immer bekam Melody bei diesem Gedanken Angst. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete.

Sie fuhr herum und spähte zitternd in die tiefe Dunkelheit. Als erneut ein Kauz schrie, erschreckte sie bis ins Mark. Sie wandte sich um und rannte zurück zum Waldrand, wo sie ihr Fahrrad abgestellt hatte. Sie wollte nur noch nach Hause ins Stone Inn, in die Sicherheit ihres Zimmers.

In der Schule war alles beim Alten geblieben.

Na ja, fast alles.

Ashley McLusky und ihre Zicken-Clique behandelten Melody zwar immer noch wie einen Menschen zweiter Klasse, aber wenigstens hatten sie ihr schon eine ganze Weile lang keine Streiche mehr gespielt. Seit ihr rosafarbener Toy-Pudel Pom Pom spurlos verschwunden war, warf Ashley Melody zuweilen verstohlene, manchmal sogar ängstliche Blicke zu. Sie ahnte wohl, dass Melody wusste, was mit ihrem Schoßtierchen geschehen war. Aber natürlich biss sie sich eher die Zunge ab, als Melody danach zu fragen.

Ashley und Melody mieden einander und das war vermutlich auch besser so. Zumal es Ashleys Vater, einem auf der Insel bekannten und ziemlich mächtigen Baulöwen, nicht gelungen war, sich Grannys Stone Inn unter den Nagel zu reißen. Er hatte es abreißen und an seiner Stelle ein Luxushotel mit allem Schnickschnack errichten wollen. Der Fund des Greifenschatzes, der Granny wieder mit Geld versorgt hatte, hatte dies in allerletzter Sekunde verhindert.

Schon bald nach dem großen Abenteuer, das Melody gemeinsam mit Agravain und Roddy bestanden hatte, war wieder der Alltag eingekehrt. An den Wochenenden und an den schulfreien Nachmittagen half Melody Granny Fay in der Pension. Und wenn am frühen Montagmorgen der Wecker rappelte, begann wieder alles von vorn: Schule und Arbeit. Granny Fay, die immer schon früh auf den Beinen war, um das Frühstück für die Gäste zuzubereiten, buk für Melody einen frischen Pfannkuchen. Dann ging es auch schon raus aufs Rad und zur Schule.

An diesem Morgen wartete Roddy an der Kreuzung auf Melody. Sein dunkles Haar sah eigentlich immer so aus, als hätte es noch nie einen Kamm aus der Nähe gesehen. An diesem Morgen jedoch stand es besonders wirr in alle Richtungen ab und seine Brillengläser waren beschlagen.

„Ja, sag mal, wie siehst du denn aus?“, erkundigte sich Melody verwundert.

„Hab verschlafen“, erklärte Roddy nur. Seine Eltern betrieben in Brodick eine Zoohandlung und waren ziemlich beschäftigt, sodass er sich morgens um sich selbst kümmern musste. „Hatte kaum noch Zeit fürs Frühstück.“

„Hast du dir deswegen was davon mitgenommen?“, fragte Melody und deutete auf die frischen Flecken auf seinem Schulpullover.

„Sehr witzig.“

Sie traten in die Pedale und nahmen den Küstenweg nach Lamlash, wo sie beide die Arran Highschool besuchten. Über dem Meer war die Sonne bereits aufgegangen. Ein warmer Sommertag kündigte sich an, wie geschaffen für ein paar Stunden am Strand. Aber daraus würde wohl nichts werden, denn am Nachmittag musste Melody wie immer in der Pension mithelfen.

Am frühen Morgen kam Melody der Schulhof immer vor wie ein Waschbecken voller Wasser, aus dem man den Stöpsel gezogen hatte: Von überall her strömten die Schüler herbei, nur um murmelnd und gurgelnd in den Haupteingang gesogen zu werden. Auf den Gängen herrschte aufgeregtes Geschnatter; die Jungen neckten sich, die Mädchen tauschten den neuesten Tratsch aus – und ein Gerücht machte in Windeseile die Runde.

„Habt ihr’s schon gehört?“, rief Troy Gardner ihnen entgegen. „Ein Neuer ist an der Schule – und er kommt in unsere Klasse!“

„Oje, der arme Kerl!“, raunte Roddy Melody zu. „Dann muss er sich erst mal Ashleys Mode-Check stellen. Und wehe, er fällt durch.“

Dieser Einschätzung konnte Melody nur zustimmen.

Ashley war die unumstrittene Königin nicht nur ihrer Klasse, sondern der gesamten Schule. Und das nicht nur, weil ihrem Vater, dem Bauunternehmer Buford McLusky, die halbe Insel gehörte. Sondern auch, weil sie mit Abstand das hübscheste Mädchen der Schule war, mit langem blondem Haar und Beinen bis zum Hals. Die meisten anderen Mädchen wollten so sein wie sie. Die Jungen flatterten um sie herum wie Motten um das Licht, auch wenn sie sonst behaupteten, dass sie Mädchen total doof fänden.

Ashley hatte auch schon einen Freund: Maxwell Fraser, ein wahrer Schrank von einem Jungen. Er war zwei Jahre älter als Ashley und der gefeierte Stürmer der Fußballmannschaft der Arran High. Egal, was Ashley und Maxwell sagten, es war sozusagen Gesetz an der Schule. Und man tat gut daran, sich danach zu richten. Schüler, die das nicht taten, wurden bestenfalls wie Luft behandelt. Schlimmstenfalls wurden sie übel gemobbt, so wie früher Melody. Ashley und ihre Zicken-Clique hatten sie regelrecht terrorisiert und ihr alle möglichen bösen Streiche gespielt – bis Agravain aufgetaucht war … Wahrscheinlich würde es dem Neuen auch so gehen. Doch sobald dieser in Begleitung von Rektor McIntosh das Klassenzimmer betrat, wusste Melody sofort, dass diese Gefahr nicht bestand.

Der Junge war gut einen Kopf größer als Melody, dabei sportlich und gut aussehend, mit braun gebrannter Haut und glattem schwarzem Haar, von dem ihm eine lose Tolle in das fein geschnittene Gesicht fiel. Seine blauen Augen waren schmal und ein hübsches Funkeln lag darin.

„Kinder, ich darf um Ruhe bitten!“, verschaffte sich Mr McIntosh Gehör. „Ich möchte euch euren neuen Mitschüler Colin Lefay vorstellen. Er kommt aus Frankreich, aber er spricht unsere Sprache sehr gut, wie ihr feststellen werdet. Also nehmt ihn gut auf und sorgt dafür, dass er sich bei uns wohlfühlt.“

Da schoss auf einmal Ashleys rechte Hand in die Höhe, dass ihre goldenen Armreife nur so klirrten.

„Ja, Ashley?“, rief Mr McIntosh sie auf.

Ashley stand auf. Ihr geschminktes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich sage: Herzlich willkommen, Connor.“

„Colin“, verbesserte der Rektor.

„Connor oder Colin – ist doch egal.“ Ihr Mund verzog sich zu einem derart süßlichen Lächeln, dass sie davon eigentlich hätte Zahnschmerzen kriegen müssen. „Hauptsache, er kommt bei uns gut zurecht, nicht wahr?“

Wenn der Neue von dieser Begrüßung beeindruckt war, ließ er es sich nicht anmerken. Rektor McIntosh verwies ihn auf den freien Platz in der letzten Reihe. Dann kam auch schon Mr Freefiddle, der Biologielehrer, und der Unterricht begann.

Es war einer jener Vormittage, die sich besonders zäh dahinschleppten. Obwohl es kurz vor den großen Ferien war, zogen die Lehrer das volle Programm durch. Mr Walsh, der Mathelehrer, ließ es besonders krachen. Er brummte der Klasse Berge von Hausaufgaben auf. Alle waren froh, als der Unterricht zu Ende war. Müde schlurften Melody und Roddy zu ihren Fahrrädern.

„So eine Gemeinheit, aber echt“, wetterte er. „Wo ich doch heute Nachmittag den nächsten Level von Hack und Cash erreichen wollte! Aber bei den vielen Hausaufgaben wird wohl nix draus.“

„Na ja“, meinte Melody, „jedenfalls hat unser neuer Mitschüler gleich den richtigen Eindruck von unserer Schule bekommen. Wie findest du ihn eigentlich?“

„Den Franzosen?“

„Colin“, verbesserte Melody und nickte.

Roddy zuckte mit den Schultern, während er das Zahlenschloss seines Fahrrads öffnete. „Irgendwie komisch, der Typ“, sagte er dann. „Hat den ganzen Tag über kaum was gesagt.“

„Du würdest auch kein Wort rausbringen, wenn du ganz allein in einer neuen Klasse wärst“, erwiderte Melody. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, den fremden Jungen verteidigen zu müssen. „Ich fand ihn eigentlich ganz nett.“

„Geschmackssache“, knurrte Roddy und wuchtete sein Fahrrad aus dem Ständer.

„Kommst du noch mit?“, fragte Melody.

„Wohin?“

„Zu Mr Clues Laden.“

Roddy seufzte. „Du meinst, wie gestern? Und vorgestern? Und an all den andern Tagen zuvor?“

„Ich will nur nachsehen“, beharrte Melody. „Irgendwann muss er doch mal wieder zurückkommen. Schließlich hat er versprochen, sich mit uns zu treffen, weißt du noch? Und jetzt ist er schon so lange verschwunden!“

„Drei Monate.“ Roddy nickte und gab sich geschlagen. „Also schön.“

Sie stiegen auf ihre Räder und fuhren die Zufahrt zur Schule hinab.

Zu Clues Kuriositätenladen war es nicht weit; nur ein paar Straßenzüge trennten die Schule von dem Antiquitätengeschäft, in dem Melody immer für ihr Leben gern gestöbert hatte. Die meisten Menschen sahen in den alten Sachen, die Cassander Clue verkaufte, nur wertlosen Trödel. Für Melody waren es wahre Schätze, denn alte Dinge und Geschichten interessierten sie. In seinem Laden hatte sie auch den Ring gefunden, der sie zu Agravains Ei geführt hatte. Oder vielleicht war es ja auch umgekehrt gewesen: Vielleicht hatte der Ring sie gefunden …

Als sie um die Hausecke bogen, hielt Melody gespannt den Atem an. Doch sie musste feststellen, dass der Laden noch immer geschlossen und die Schaufenster von innen zugeklebt waren. Und hinter der gläsernen Eingangstür hing noch immer das Schild mit der Aufschrift

AUF UNBESTIMMTE ZEIT VERREIST

„Na?“, fragte Roddy, der sein Fahrrad ruckartig zum Stehen brachte. „Bist du jetzt zufrieden?“

Melody nickte, enttäuscht und traurig zugleich. „Ich frage mich nur, wohin er so plötzlich verschwunden ist. Und warum verreist er ausgerechnet an dem Abend, an dem er uns mehr über Greifen erzählen wollte?“

„So seltsam ist das nun auch wieder nicht.“ Roddy zuckte die Achseln. „Er war doch immer schon ein komischer Typ. Und wir haben mehrmals bei der Polizei nachgefragt – jedes Mal ohne Ergebnis.“

Melody nickte: Auch das stimmte. Sie waren ein paarmal bei Officer Gilmore gewesen, einem befreundeten Polizisten. Doch der hatte ihnen immer nur erklärt, dass jeder Bürger ohne Ankündigung verreisen dürfe. Außerdem habe Cassander Clue seinen Laden in ordentlichem Zustand hinterlassen – nichts deute also auf ein Verbrechen hin. Dennoch ließ Melody die Sache keine Ruhe. Deshalb kam sie fast jeden Tag hierher.

„Guten Tag, Kinder.“

Sie zuckten zusammen und fuhren herum.

Auf der anderen Straßenseite, im Schatten eines der Natursteinhäuser, stand ein Mann in einem schwarzen Nadelstreifenanzug. Sein langes Gesicht war glatt rasiert, sein kastanienbraunes Haar sauber gescheitelt. Auch sonst sah er aus wie ein Gentleman.

„Wisst ihr zufällig, wann der Besitzer dieses Ladens zurückkommt?“, erkundigte er sich.

„Das wüssten wir selber gern“, erwiderte Roddy vorlaut.

Melody bedachte ihn mit einem strafenden Blick.

„Warum interessiert Sie das?“, fragte sie. „Kennen Sie Mr Clue etwa?“

„Oh, gewiss doch“, versicherte der Mann im Anzug und lächelte. „Er ist ein alter Freund von mir.“

„Ich habe Sie aber noch nie hier gesehen.“

„Nun, Geschäftsfreund trifft es wohl besser“, sagte der Mann und überquerte die Straße. Dabei griff er in die Innentasche seines Jacketts und zog ein Visitenkärtchen hervor, das er den Kindern hinhielt. Roddy nahm es entgegen.

„Malcolm Gant“, las er vor. „Rechtsanwalt.“

„Aus London“, fügte Gant hinzu. „Ich habe schon oft Antiquitäten bei Mr Clue gekauft. Er ist ein Meister seines Fachs.“

„Das ist er“, pflichtete Melody bei. Obwohl sie Mr Gant noch nie gesehen hatte, kam er ihr seltsam bekannt vor.

„Kommt ihr öfter hier vorbei?“, wollte Gant wissen.

„Fast jeden Tag“, erwiderte Roddy, noch ehe Melody etwas anderes sagen konnte.

„Nun, dann könnt ihr mich ja vielleicht anrufen, wenn Mr Clue zurückkommt. Meine Handynummer findet ihr auf der Visitenkarte.“

„Kein Problem“, meinte Roddy achselzuckend.

„Sehr gut.“ Gant nickte ihnen freundlich zu, dann wandte er sich zum Gehen.

Melody wartete, bis er um die Hausecke verschwunden war. „Irgendwie komisch, der Typ“, sagte sie dann.

„Wieso?“, fragte Roddy und sah sie mit großen Augen an.

„Na ja, warum ruft er nicht einfach an, wenn er wissen will, ob Mr Clue in seinem Laden ist?“

„Vielleicht telefoniert er nicht gern“, gab Roddy zu bedenken. „So wie du.“

„Quatsch.“ Sie schüttelte den Kopf. „Deshalb macht doch niemand den weiten Weg von London hierher. Und überhaupt, wenn er Mr Clue so gut kennt, wie er sagt, warum wusste er dann nichts von seinen Reiseplänen? Das passt nicht zusammen.“

„Ich weiß nicht. Wenn du mich fragst, fand ich den Typ ganz nett.“ Roddy warf einen Blick auf seine Uhr. „Und jetzt muss ich echt nach Hause – die nächste Runde von Hack und Cash wartet auf mich. Ich hab den Gangstern grade ein Auto gestohlen und bin auf dem Weg nach Las Vegas.“

„Schön für dich.“ Melody verzog das Gesicht. „Wollen wir uns nicht mal wieder nachmittags treffen? So wie früher, wenn wir …“

„Logisch“, meinte Roddy nur, während er schon halb auf seinem Fahrrad saß. „Schick mir ’ne Nachricht, okay?“

„Okay“, seufzte Melody.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Melody mit Mr Walshs Hausaufgaben und dem Bearbeiten neuer Buchungen für die Pension. Inzwischen gab es dafür einen Computer – das Geld aus dem Greifenschatz hatte auch dafür noch gereicht. Jetzt konnten die Leute endlich wie überall ihre Übernachtungen übers Internet reservieren.

„Mein liebes Kind!“, meinte Granny, während sie kopfschüttelnd auf den Flachbildschirm blickte. Sie hatte ganz rote Wangen. „Wie kannst du dich nur zurechtfinden in dem ganzen Durcheinander?“

„Aber Omi, da ist doch nichts dabei“, erwiderte Melody lächelnd und rief die letzten Einträge ab. „Ist das nicht toll? Nächste Woche haben wir acht neue Gäste“, gab sie bekannt.

Granny Faye schlug die Hand vor den Mund. „Aber das … das bedeutet ja, dass wir ausgebucht sind!“, stellte sie aufgeregt fest. „Zum ersten Mal nach so vielen Jahren … Mein Kind, du machst mich glücklich!“

„Ich mach doch gar nichts“, versicherte Melody. „Das macht alles das Internet. Lass uns mal zusammenrechnen, wie viel wir eingenommen haben. Also, zusammen mit den Buchungen von letzter Woche haben wir …“ Sie stutzte plötzlich.

„Was ist?“, fragte Granny Fay. „Was hast du?“

„Da ist noch eine weitere Anmeldung“, stellte Melody fest.

„Ja, ein allein reisender Gentleman, ein gewisser Mr Gant aus London“, sagte Granny Fay. „Er kam gestern vorbei und fragte, ob noch etwas frei wäre. Ich habe ihm die Nummer 21 gegeben, das Einzelzimmer zur Seeseite … Stimmt etwas nicht?“

„Nein, nein, alles in Ordnung“, versicherte Melody, während sie sich gleichzeitig fragte, ob das Auftauchen Gants im Stone Inn ein Zufall war. Oder sah sie jetzt schon Gespenster? Agravain hatte sie gewarnt …

Sie verdrängte den Gedanken, aber als sie später im Bett lag, hielt sie es nicht mehr aus. Sie griff zum Handy und rief Roddy an. Früher hatten sie einander abends oft noch gegenseitig besucht. Seit sie sich Handys leisten konnten, telefonierten sie nur noch oder schrieben sich kurze Nachrichten. „Was gibt’s?“, meldete Roddy sich. Er klang mürrisch. Vermutlich spielte er wieder an der Konsole und kam nicht weiter.

„Der Typ bei Mr Clues Laden“, sagte Melody nur.

„Was ist mit ihm?“

„Er wohnt hier bei uns im Stone Inn.“

„Echt jetzt?“ Roddy klang geistesabwesend. Vermutlich spielte er weiter, während er telefonierte.

„Hm“, machte Melody.

„Toller Zufall. Und jetzt?“

„Na ja“, druckste sie herum. „Ich habe mich gefragt … Ich meine, hältst du es für möglich, dass …?“

„Was?“, hakte Roddy ungeduldig nach.

„Nichts“, erwiderte sie. „Es kam mir nur einfach seltsam vor.“

„Auf dieser Insel passieren viele seltsame Dinge. Das weißt du besser als jeder andere“, meinte Roddy. „War’s das? Ich will nämlich weiterspielen.“

„Klar“, seufzte Melody. „Wenn’s sein muss.“

„Unbedingt. Ich hab grade ein neues Auto geklaut und bin kurz vor Las Vegas. Dann ist der Level komplett und ich verdiene hunderttausend Dollar.“

„Wow!“, sagte Melody nur. „Machen wir mal wieder was zusammen?“

„Zum Beispiel?“

„Na ja. Mal ins Kino oder so.“

„Na klar“, meinte Roddy mit einer Stimme, die verriet, dass er schon wieder auf den Bildschirm starrte.

„Dann bis morgen“, erwiderte Melody – und beendete das Gespräch. Traurig legte sie das Handy auf das Nachtkästchen zurück.

Allein, dachte sie.

Sie fühlte sich schrecklich allein.

Roddy und sie waren noch immer Freunde, dafür hatten sie zu viel zusammen durchgemacht. Aber wenn sie miteinander redeten, war es nicht mehr wie früher. Da hatte Roddy seine Nase mindestens ebenso gern in Bücher gesteckt wie Melody. Sie waren zusammen ins Kino gegangen und hatten alte Fernsehserien aus den Achtzigern geguckt. Aber inzwischen zockte er lieber am Computer, als seine Zeit mit ihr zu verbringen.

Melody war ihm nicht böse, aber enttäuscht war sie schon. Früher hätte Roddy sie wenigstens gefragt, ob sie nicht vorbeikommen und mitspielen wollte. Und obwohl sie sich nichts aus Ballerspielen machte, hätte sie wahrscheinlich Ja gesagt, nur damit sie zusammen waren und gemeinsam Spaß haben konnten.

Und Agravain war auch nicht da. Mit diesem traurigen Gefühl fiel Melody in einen unruhigen Schlaf.

Im Traum fand sie sich irgendwo im Hochland von Arran wieder, unterhalb der schroffen Berge. Graue Wolken ballten sich über ihr zusammen und es donnerte. Ein Gewitter stand bevor, und der Wind, der von der See landeinwärts strich, roch nach Salz und Fisch. Plötzlich verlor Melody den Boden unter den Füßen.

Sie warf die Arme hoch und versuchte vergeblich, sich festzuhalten. Eine Fallgrube hatte sich unter ihr aufgetan! Sie stürzte in die Tiefe – und landete in einer Höhle, deren Boden, Decke und Wände sich zu bewegen schienen.

Schlangen!, schoss es Melody durch den Kopf.

Überall um sie herum schlängelten sich geschuppte Körper, zischend und züngelnd. Schon hatten sich mehrere von ihnen um ihre Arme und Beine gewunden. Ihr war, als würde sie jeden Moment unter den zuckenden Leibern begraben. Ein spitzer Verzweiflungsschrei drang aus Melodys Kehle – und sie fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf.

Mit pochendem Herzen saß sie kerzengrade im Bett und beruhigte sich erst, als sie merkte, dass sie daheim in ihrem Zimmer war.

Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit sie eingeschlafen war? Melody warf einen Blick auf den Wecker – und erstarrte: Der Ring mit dem Greifensymbol, der daneben auf ihrem Nachtkästchen lag, leuchtete. So blau und intensiv, als hätte er nie etwas anderes getan.

„Echt jetzt? Er hat wieder geleuchtet?“

Staunend blickte Roddy auf den Ring an Melodys Zeigefinger, der jetzt wieder ganz normal und unscheinbar aussah. Mal abgesehen von der Klaue, die in den blauen Stein eingraviert war.

„Wenn ich’s dir doch sage“, bekräftigte Melody.

„Und was ist dann passiert?“, fragte Roddy, während sie auf ihren Fahrrädern nebeneinanderher fuhren, über die alte Küstenstraße in Richtung Schule. Der Wind hatte über Nacht aufgefrischt und trieb rauschende Wellen an die Küstenfelsen; der Himmel war bedeckt.

„Gar nichts ist passiert“, antwortete Melody. „Der Stein leuchtete auf und dann erlosch er wieder. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.“

„Vielleicht ist Agravain in der Nähe.“

„Dann würde er doch mit mir reden“, wandte Melody kopfschüttelnd ein. „Es muss was anderes sein. Etwas, was …“

„Sieh mal! Da vorn!“

Roddys Ruf ließ sie verstummen.