Gspusis, Gspür und wilde Gschichten - Omar Khir Alanam - E-Book

Gspusis, Gspür und wilde Gschichten E-Book

Omar Khir Alanam

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Beschreibung

Menschen aus allen Ländern dieser Welt verbindet eine Sache: die Liebe. Aufgeklärt, modern und offen, so stellte sich Omar Khir Alanam das europäische Liebesleben vor. Bis er hierher kam. Voll Witz und Verständnis für seine neuen Landsleute zeigt er, wie viel beide Welten in Sachen Liebe, Lust und Leidenschaft verbindet und unterscheidet. Von den Tiroler Dorfdiscos bis zu den Kellercafés in Damaskus. Vom One-Night-Stand bis zu »bis dass der Tod euch scheidet«. Mit viel Humor und Tiefsinnigkeit laden diese Geschichten zum Lachen, Staunen und Nachdenken ein.

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GSPUSIS, GSPÜR UND WILDE GSCHICHTEN

Omar Khir Alanam:

Gspusis, Gspür und wilde Gschichten

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Satz: Bastian Welzer

Lektorat: Sophia Volpini de Maestre

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

12345—27262524

ISBN: 978-3-99001-694-7

eISBN: 978-3-99001-695-4

Omar Khir Alanam

GSPUSIS, GSPÜR UND WILDE GSCHICHTEN

Ein Syrer entdeckt das österreichische Liebesleben

edition a

Für meinen Baba!

Eine träumende und sanfte Seele in einem erdrückenden System.

Ich spürte dich immer.

Nun kann ich dich auch verstehen.

INHALT

Wie alles begann

Die zwei Seiten

Was ist Liebe

Das Kennenlernen

Gspusis, Sex und One-Night-Stands

Monogamie vs. Polygamie

Bezahlte Liebe

Liebe kennt keine Grenzen

Bis dass der Tod euch scheidet

Liebeskummer

Sprache als Werkzeug des Friedens

WIE ALLES BEGANN

Sag: »Ich liebe dich«

قولي أحبك

Kazem Al-Sahir

Sag mir: »Ich liebe dich«, damit meine Hand in Gold

aufgeht und wie eine Laterne leuchtet meine Stirn.

Sag es sofort, nein, zögere nicht!

Manche Liebe kann nicht warten.

Auch den Kalender ändere ich.

Wenn du mich liebst, ändere ich

die Jahreszeit oder erfinde neue.

Die alten Zeiten wären vorbei.

Du wärst die Königin und ich wäre der König,

wenn du meine Liebste wärst.

Ich würde die Sonne mit Schiffen und Pferden erobern.

Zögere nicht, gib mir diese Chance!

Damit ich unter den Liebenden ein Prophet wäre.

Vermutlich würde meine Großmutter diese Geschichte besser erzählen, ja auch meine Mutter Basma oder ihre Schwester Marah, selbst mein Vater Junis und sein Bruder Samir. Dennoch möchte ich versuchen, dir diese ganz besondere Geschichte in meinen eigenen Worten zu erzählen. Eine Geschichte, die in meiner Familie bei jedem Zusammentreffen immer und immer wieder zum Thema wurde und die ganze Familie zum Schmunzeln brachte, egal wie oft sie erzählt wurde. Fast wie bei einem Kind, dem sein Lieblingsbuch auch nach dem zwanzigsten Mal Vorlesen noch Freude bringt, konnte meine Familie jedes Mal aufs Neue herzlich darüber lachen. Du kannst es dir so vorstellen: Die Familie kommt zusammen, Tanten, Onkel, Neffen, Nichten, Cousinen, Cousins und alle, die dazugehören. Es wird Tee getrunken und Sonnenblumenkerne werden mit den Zähnen geknackt. Irgendwann springt der am besten Gelaunte auf und beginnt die Geschichte zu erzählen, ja fast schon wie ein Theaterstück vorzuspielen. Doch er bleibt nicht lange alleine, denn schon bald steigt die ganze Familie in die Erzählung, die wir alle schon so oft gehört haben, mit ein. Wir verlieren uns in den Zusammenhängen und Verstrickungen, die uns hierhergeführt haben. Denn gäbe es diese Geschichte nicht, würde es meine Familie in dieser Zusammenstellung, und vor allem auch mich, gar nicht geben. Das wäre sehr schade, denn wer würde dir dann diese Geschichte erzählen?

Meine Großmutter väterlicherseits war schon immer eine dominante Frau. Sie zog sechs Kinder auf, teilte das Geld ein, kontrollierte den Tagesablauf und regelte das Familienleben. Sie war sozusagen die Chefin. Eine arabische Frau als Chefin? Ja, du hast richtig gelesen. Ich kannte viele davon, auch wenn die Männer bei ihren Kartenspielrunden oft versuchten, das Gegenteil zu behaupten. Meine Großmutter war jedenfalls eine richtige Powerfrau. Nachdem mein Großvater das Haus verlassen hatte, übernahmen die drei ältesten Söhne seine Aufgabe, das Geld nach Hause zu bringen. Für meine Oma änderte sich dadurch nichts, denn sie hatte ja schon davor die Rolle des Familienoberhaupts übernommen. Wie es in Syrien oft üblich ist, lag ihr auch etwas an der Partnerwahl ihrer Kinder, denn wer, wenn nicht die eigene Mutter, würde den perfekten Partner ausfindig machen können?

Eines Tages besuchte meine Oma ein Fest. Unter den vielen Gästen stach vor allem eine Frau heraus, in die sich meine Großmutter sofort verliebte. Basma. Eine dynamische, aufgeweckte Frau, die einen Raum mit Leben und Freude füllte. Eine Frau, die ich stolz meine Mutter nennen darf. Meine Großmutter väterlicherseits war jedenfalls begeistert von der jungen Dame und wollte sogleich ihre Familie kennenlernen. Immerhin hatte sie zwei ledige Söhne, Basma schien die perfekte Wahl für ihren ältesten unverheirateten Sohn Samir zu sein. Kurze Zeit später besuchte Oma die Familie meiner Mutter. Zur gleichen Zeit gab es im Haus meiner Mutter ein paar Unstimmigkeiten. Marah, die ältere Schwester meiner Mutter, sollte heiraten.

Zur damaligen Zeit in Syrien und teilweise auch heute noch nicht unüblich, war sie von ihrem Vater mit einem ihrer Cousins zusammengeführt worden. Die beiden heirateten, doch Marah fühlte sich nicht wohl. Sie war zutiefst unglücklich und konnte ihrem Mann keine Liebe zeigen. Auch wenn es in Syrien als ehrenlos gilt, die Scheidung einzureichen – vor allem als Frau –, auch wenn sie dadurch ihr Wort brach, folgte die Trennung.

Nun verhandelte meine Oma väterlicherseits mit meinem Opa mütterlicherseits. Sie wollte Basma als Ehefrau für ihren älteren Sohn Samir. Mein Großvater, ein kluger Mann, witterte eine Chance. Er wollte sich seiner Schuldgefühle der missglückten Zusammenführung seiner älteren Tochter bereinigen, wollte Marah helfen, ihr einen Mann vorstellen, mit dem sie hoffentlich endlich glücklich werden konnte. Also sagte er: »So lange die ältere Tochter nicht verheiratet ist, kann die jüngere nicht heiraten. Marah steht bereit, nicht aber Basma.« Meine Großmutter wollte aber unbedingt Basma für Samir, denn sie war die Strahlende, die Charismatische, die, die eine solche Energie mit sich brachte, dass man die Augen nicht von ihr nehmen konnte. Im Arabischen sagt man, jeder trägt die Bedeutung seines Namens als Charakterzug in sich. Bei meiner Mutter stimmt dies, denn »Basma« bedeutet auch »die Lächelnde«. In Gedanken vertieft machte sich meine Großmutter nach dem nicht zufriedenstellenden Gespräch auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, setzte sie sich auf ihren Lieblingsplatz – die Couch –, die Beine fest am Boden verankert, und dachte nach. Ihre drei Söhne waren schon mit der Arbeit fertig, zwei von ihnen bereits gewaschen, Junis, mein Vater, noch im Bad. Er wusch sich, stellte sich dabei aber nicht, wie wir es hierzulande kennen, unter eine laufende Dusche, sondern spülte seinen Körper mit Wasser aus einem Gefäß. Ein Baderitual, das mehr Zeit in Anspruch nimmt als das schnelle »Unter-die-Dusche-Hüpfen«, das wir aus Österreich kennen, aber auch mehr Genuss und Wertschätzung des Waschens und Wassers mit sich bringt. Plötzlich kam meiner Großmutter die Idee. Wie ein Blitz schlug der Gedanke ein, der sie vermutlich fast »Heureka« rufen ließ, denn er war für sie nicht weniger bedeutend als für Archimedes seine Entdeckung oder für Newton der Apfel, der auf seinen Kopf fiel. Sie stand auf, hetzte Richtung Badezimmer und klopfte energisch an. »He Junis, möchtest du heiraten?«, schrie sie aufgeregt durch die Tür. Mein Vater öffnete, blickte seine Mutter verwundert an und grinste: »Natürlich möchte ich heiraten, Mama!« Heute bin ich mir zwar nicht ganz so sicher, ob mein Vater mit seinen damals zwanzig Jahren tatsächlich unbedingt heiraten wollte, oder ob es nicht andere, hormonelle Gründe dafür gab, dass er so aufgeregt war, die Freude war aber jedenfalls sehr groß und meine Großmutter schien die perfekte Lösung für das kleine Dilemma gefunden zu haben.

So führte Oma anstatt Basma und Samir, so wäre es ja ursprünglich geplant gewesen, die beiden älteren Geschwister Marah und Samir zusammen und Basma traf auf Junis. Die richtige Schwester kam nun mit dem passenden Bruder zusammen. Oma war hocherfreut. Beide Paare heirateten und meine Eltern sind bis heute glücklich zusammen. Romantisch, nicht wahr?

DIE ZWEI SEITEN

Mein Schatz, ich will …

ع بالي حبيبي

Elissa

Mein Schatz, ich träume von dem Abend,

wo ich für dich das Brautkleid trage.

Mein Schatz, ich will ein ganzes Leben

und noch länger an deiner Seite sein

und dass meine Liebe mit dem Alter wächst

und ich will, dass wir zusammen ergrauen,

und mein Alter mit deinem abschließt.

Ich will, dass du mich vervollständigst,

mich mit deinem Familiennamen angesprochen

werden lässt, mich in deinem Herzen verbirgst

und mich gegen die Welt schützt

und jeden Moment in meinem Leben,

den ich ohne dich gelebt habe, ablöschst.

Und ich will, dass du mich verletzt,

um mich nachfolgend durch eine zärtliche Berührung

oder eine verrückte Umarmung wieder aufzumuntern,

bis ich meine Augen in deiner Umarmung schließe.

Du wirst noch erkennen, dass wir Araber sehr romantisch sind. Unsere Musik, unsere Art und Weise uns auszudrücken sowie unsere Geschichten und Erzählungen weiterzugeben, ist lyrisch, emotional und sehnsüchtig. Dieser Romantik steht allerdings eine Problematik gegenüber. Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Nicht jede Liebesgeschichte ist herzerwärmend. Vor allem in Sachen Liebe und Beziehung gibt es zwei Seiten. Egal ob in Wien oder in Damaskus, in Graz oder in Ost-Ghouta, wo ich geboren und aufgewachsen bin.

Die Geschichte, wie sich meine Eltern kennenlernten, erzähle ich gerne. Sie ist amüsant, war meine Mutter doch eigentlich für einen anderen Sohn vorgesehen. Außerdem ist sie schicksalhaft, sie wirkt erheiternd und gleichzeitig regt sie zum Nachdenken an. Denn auch diese Geschichte hat zwei Seiten. Meine Großmutter war glücklich, für ihre Söhne zwei Frauen gefunden zu haben. Auch ihre Söhne schienen glücklich, doch meine Mutter war nicht von Anfang an so begeistert, wie sie es vielleicht damals zu vermitteln versuchte.

Meine Mutter war sehr jung, als sie meinen Vater kennenlernte. Gerade einmal 16 Jahre alt. Sie fühlte sich noch nicht bereit für eine Ehe, ein so wichtiges Commitment, aber sie traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen und sich dem Willen ihres Vaters und ihres älteren Bruders zu widersetzen. Sie verspürte großen Druck, war doch auch die gesellschaftliche Ehrenrettung ihrer bereits geschiedenen Schwester von ihr abhängig. Denn hätte sie der Hochzeit nicht zugestimmt, hätte auch die Hochzeit ihrer Schwester nicht stattgefunden. Das Schicksal ihrer so geliebten Schwester lag in den Händen meiner Mutter. Deshalb willigte sie ein. Sie heiratete meinen Vater, gebar fünf Kinder und ist, trotz vieler Streitigkeiten und Probleme, heute noch glücklich. Der Weg zur Ehe war aber mit viel Druck und Zwang verbunden. Leider ist das kein Einzelfall. Aber dazu später mehr.

Ich bin immer der, der anders ist

Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich nicht aus Syrien geflüchtet wäre? Diese Frage stelle ich mir selbst sehr oft, sie wird mir aber auch regelmäßig von meinen Mitmenschen gestellt. Ich finde, es ist eine interessante, aber zugleich auch unmöglich zu beantwortende Frage. Vielleicht hätte ich in Syrien geheiratet und bereits zwei oder drei Kinder. Bestimmt würde ich einem völlig anderen Beruf nachgehen. Genau weiß ich es allerdings nicht, das kann niemand wissen, und genau das ist auch das Schöne am Leben. Verliebt hätte ich mich bestimmt. Einmal, zweimal, vermutlich sogar öfter. Ich war schon immer ein Mensch, der die Liebe liebte, egal ob in Syrien, in Österreich oder irgendwo anders auf dieser Welt.

Ich war immer der, der anders ist. Schon als Kind und als Jugendlicher war ich in den Augen meiner Mitmenschen ungewöhnlich und ausgeflippt. Mit schrägen Frisuren, zerrissenen Jeans und auffälligen Hüten fiel ich schon immer auf. Ich wollte immer Teil einer Gruppe sein, aber ich lebte stets im Dazwischen. Zwischen zwei Welten.

Wäre ich nie aus Syrien weggegangen, dann wäre ich mit Sicherheit nicht der Omar, der ich heute bin. So viel steht fest. Denn durch meine Flucht lernte ich unglaublich viele Menschen kennen. Ich lernte völlig neue Kulturen, neue Charaktere, neue Bräuche und Gepflogenheiten und interessante Zugänge zum Thema Liebe, Sex und Zärtlichkeit kennen. Nur so konnte ich reflektieren, über mich selbst, mein eigenes Leben und meine eigenen Erfahrungen sowie über meine Mitmenschen, die beiden Kulturen, die mich auszeichnen, und die Arten und Weisen, in denen sie sich unterschieden oder in denen sie miteinander verschmelzen. Auch wenn ich lange Zeit darunter gelitten habe, so zähle ich das »Dazwischensein« heute zu meinen Stärken. Ich bin immer zwei. Der Erlebende und der Beobachter. Manchmal auch nur der Beobachter. Ich bilde mir eine Meinung, aber ich verurteile nicht. Denn sowohl in Österreich als auch in Syrien habe ich in Sachen Liebesgeschichten schon so einiges erlebt und gesehen. Egal ob amüsant, schockierend oder romantisch, beide Kulturen haben so einiges zu bieten, wenn es um die großen Gefühle geht.

Österreich, das Land der freien Liebe

Bevor ich nach Österreich kam, hatte ich bereits ein Bild vor Augen, was mich dort in Sachen Liebe und Körperlichkeit erwarten könnte. »Im Westen haben sie Sex auf der Straße«, wurde uns von klein auf erzählt. Es herrsche eine wahre Form von Apokalypse, von Anarchie, wo jeder das tut, was er will, wo er will, wann er will und mit wem er will. Menschen aus dem Westen, also aus West- und Mitteleuropa, sowie Amerika, seien verrückt. Sie würden ihre Werte verlieren, von Sex besessen sein und von wahrer Liebe, Anstand und dem heiligen Bund der Ehe kaum etwas halten. Die Männer würden verweichlichen, die Frauen härter werden. Sämtliche Geschlechterrollen würden verschwimmen und das Leben sei völlig zügellos. Alles, was in Filmen oder pornografischen Inhalten wahrgenommen wurde, wurde automatisch auf die gesamte westliche Gesellschaft übertragen. Wie Vorurteile nun mal funktionieren, hatte auch ich ein verzerrtes Bild der westlichen Liebeskultur.

Über Österreich im Speziellen wusste ich nicht viel. Ich dachte auch nicht allzu viel über das Liebesleben der dort wohnhaften Menschen und deren Kultur nach. Als ich flüchtete, hatte ich andere Sorgen. Trotzdem war ich gespannt. Ich war schon immer neugierig. Ich wollte wissen, ob diese Horrorgeschichten über die freie westliche Liebe wirklich wahr sind. Ob die Menschen auf der Straße ihre Körperlichkeit bis zum Exzess ausleben, ob das Leben und Lieben wie auf den Filmen der Hippie-Festivals aus den 1970ern ist. So wie es uns erzählt wurde.

Anders als erwartet

In Österreich angekommen, war ich verwundert. »Wo sind die ganzen Menschen, die Sex auf der Straße haben?« Nein, diesen Gedanken hatte ich keineswegs, ich habe auch nicht darauf gewartet, wusste auch tief im Inneren, dass diese Veranschaulichungen, Warnungen und Erzählungen über den Westen etwas überspitzt sein mussten. Nach meiner Ankunft war die Liebe auch das Letzte, woran ich dachte. Ich wollte Freundschaften schließen und Menschen kennenlernen. Keine Romanze anfangen, zumal ich noch nicht einmal der deutschen Sprache mächtig war. Anstatt auf freizügige Frauen, die in der Öffentlichkeit ihre Sexualität auslebten, traf ich relativ schnell auf Bekanntschaften, die auf einer platonischen, freundschaftlichen Ebene beruhten.

Ein paar Wochen nach meinem Eintreffen in Graz hatte ich das Glück, eine nette Gruppe von Mädels kennenzulernen. Ich war viel mit ihnen unterwegs, es war unglaublich lustig. Wir fuhren mit dem Auto herum, trafen uns in Bars, machten Ausflüge und ich sang für sie emotionale arabische Lieder. Trotz meiner schrecklichen Gesangsstimme waren sie überzeugt von meiner Darbietung. Sie machten mir sogar Komplimente dafür. Da war keine sexuelle Spannung, es gab keine Avancen oder Hintergedanken. Ich fühlte mich nicht zu ihnen hingezogen, weil mir zu dem Zeitpunkt andere Themen wichtiger waren. Dennoch fiel den Mädels auf, dass ich prinzipiell in Sachen Liebe und Sex offener zu sein schien als manch andere arabische Männer, auf die sie bereits getroffen waren, ja sogar als so mancher Österreicher.

Für die Araber bin ich zu unkonventionell, für die Österreicher meistens auch. Ich schäme mich nicht, über meine Liebe, über Sex, über Gspusis, G'spür und wilde G'schichten zu sprechen, denn sie gehören zum Leben dazu, sie machen das Leben aufregend und spannend und sie verbinden uns alle miteinander.

Liebe kennt keine Sprache

Auch wenn es viele kulturelle Unterschiede, die ich bereits in meinen anderen Büchern ausführlich analysiert und beschrieben habe, zwischen meinem Herkunftsland Syrien und meiner mittlerweile neuen Heimat Österreich gibt, so gibt es eine Sache, die auf der ganzen Welt verstanden wird. Nein, eben nicht verstanden, sondern gefühlt, gespürt und erlebt. Die Liebe. Ob es nun die Liebe zur Familie, den Eltern, dem eigenen Kind, oder aber die Liebe zu einem ganz besonderen Menschen, das erste Verknalltsein, die körperliche Liebe oder der Trennungsschmerz ist. Überall auf der Welt gibt es dieselben Gefühle, egal wie diese nach außen getragen, gezeigt oder gelebt werden.

Dort wo Gefühle sind, entsteht allerdings auch oft Chaos. Ich selbst war einige Male mittendrin und erlebte bereits die ein oder andere Geschichte, über die ich heute glücklicherweise schmunzeln kann. Egal ob in Österreich oder in Syrien. Meine Neugierde versetzt mich immer wieder in die Beobachterrolle, aber auch in die Rolle des Erlebenden. So konnte ich feststellen, dass Liebe zwar keine Sprache kennt, aber gewisse Abläufe, Rituale, Tabus oder Normen, die von Kultur zu Kultur ziemliche Unterschiede aufweisen können. Während die Österreicher vielleicht oft Alkohol brauchen, um den ersten Schritt zu machen, warten die Syrer wie verrückt auf den Donnerstag, einen ganz besonderen Wochentag, was das Liebesleben betrifft. Auch in Sachen Romantik, Ehe, Scheidung, aber auch bei der bezahlten Liebe und beim Umgang mit alternativen Beziehungs- und Liebesmodellen gibt es doch den ein oder anderen Unterschied sowie die ein oder andere interessante Geschichte, die mein Leben bereits prägte. Ich bin kein Love Doctor, diese Rolle habe ich schon nach meiner Schulzeit abgelegt, wie du später erfahren wirst, kein Beziehungsexperte und kein Liebesguru, aber ich habe viel gesehen, viel zugehört, viel erlebt, viel gelacht und auch viel geweint. Und all diese Geschichten möchte ich mit dir teilen.

WAS IST LIEBE?

Wenn die Sonne des Tages aufgeht!

كل مابتشرق شمس النهار

Wael Kfoury

Wenn die Sonne aufgeht, spiegelt sie dich.

Die Nacht wird verrückt

und die Sterne werden eifersüchtig.

Sie wollen nur dich als Mond auf ihrem Himmel!

Du, mein Leben!

Geh auf und verwandle die Nacht in den Morgen.

Du, meine Liebe. Es gibt viele Monde.

Vor dir waren sie Monde.

Aber ihr Strahl verschwindet in deinem!

Du, die Königin aller Sterne!

Mein ganzes Leben liegt in deinen Händen!

Deine Stimme gleicht dem Flüstern einer Brise.

Und es liegt Zärtlichkeit in deinen Augen!

Ich werde deinen Namen singen.

Der Duft des Lebens! So wie im Märchen.

Aber echt bist du!

Der Morgen blickte dich an, nennt dich

seine beste Freundin.

Meine erste große Liebe war meine Musiklehrerin. Immer wenn ich sie sah, fühlte ich mich, als würde ich schmelzen. Vielleicht waren es meine Hormone oder meine Neugier, aber sie faszinierte mich. Sie war atemberaubend schön, so unglaublich strahlend, und ihre Stimme glich der eines Engels. Diese feuerroten Locken. Das Parfüm, das wie eine Umarmung in deine Seele eindringt und dich in einem Wirbel der Trance in den Himmel hebt. So ähnlich habe ich es ihr auch in einem Brief geschrieben, der dem oben angeführten Liedtext von Wael Kfoury in seiner Romantik und in seinem Kitsch in nichts nachstand. Ich war 14, die Musiklehrerin war 23, und sie machte uns Burschen verrückt. In meinem Brief offenbarte ich ihr meine Gefühle. Leider habe ich bis heute keine Antwort bekommen, doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, denn wie wir wissen: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das Tabu

Ein offener Umgang mit dem Thema der körperlichen Liebe existiert in meinem Geburtsland kaum. Unverheiratete Menschen dürfen und sollen sich nicht sexuell annähern. Rein körperliche Beziehungen sind gesellschaftlich verpönt und Liebe wird erst dann akzeptiert, wenn eine Verlobung oder eine Heirat im Raum steht.

Gleichzeitig bin ich mit Musik aufgewachsen, die unvergleichlich romantisch ist. Mit Liebesgedichten und Liedtexten, die schnulziger und kitschiger nicht sein könnten. Auch jene arabischen Männer, die eher nicht über ihre Gefühle sprechen, die Stärke verkörpern und keine Sensibilität zulassen wollen, wachsen mit Musik auf, die etwas völlig anderes zum Ausdruck bringt. Lieder, in denen über Schmerz und Leid, Liebe und die ganz großen Gefühle gesungen und fast schon geweint wird. Die Sänger dieser Lieder, die am ehesten mit den in Österreich bekannten Schlagern verglichen werden können, bekommen nicht ohne Grund Titel wie »Der König der Traurigkeit« verpasst. Du wirst später noch verstehen, warum gerade dieser Titel sehr treffend ist.

Ich wuchs jedenfalls mit Liedern und Gedichten auf, die ich als Araber niemals als kitschig, sondern als romantisch bezeichnen würde. Der Österreicher in mir sagt allerdings mittlerweile, dass vielleicht doch ein kleiner Hauch Kitsch drinsteckt.

Liebe war und ist in der arabischen Kultur omnipräsent.

Und auch wenn die Liebe in der Musik, in Gedichten, Büchern und auch in Filmen allgegenwärtig ist, so ist sie gleichzeitig ein Tabu. Die Liebe wird zwar in der Popkultur immer wieder dafür verwendet, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen, wenn es aber um die eigenen Gefühle geht, werden diese schnell verleugnet.

Elterliche »Fürsorge«

»Die anderen Kinder werden deine Seele verderben«, sagte meine Mutter zu mir, nicht wissend, dass meine Seele ihrem Verständnis nach längst verdorben war. Jeden Sommer kam die Schwester unserer Nachbarin auf Besuch. Wir Burschen waren damals 15 oder 16 Jahre alt, und alle wussten: Sobald die Ferien beginnen, kommt die schöne Nachbarsschwester. Sie saß immer auf dem Balkon, las ein Buch oder trank einen Tee. Die Nachbarsburschen standen unter diesem Balkon, auf der Gasse, sie spielten Fußball oder andere Spiele und versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Jeder wollte mit ihr in Kontakt treten. Wir schrieben Sprüche auf kleine Zettel und warfen sie den Balkon hinauf. Doch meine Mutter wollte mich nicht daran teilhaben lassen. Sie wollte nicht, dass ich mit den schlimmen Kindern spiele, dass ich die Nachbarsschwester mit verliebten Augen ansehe, sie wollte nicht, dass meine Seele verdirbt. Generell war meine Mutter stets sehr um meine Reinheit bemüht. Ich sollte mich an die Regeln halten, gehorsam sein, um später ins Paradies kommen zu können. Meine Neugierde und mein Talent dafür, immer wieder in skurrilen Situationen zu landen, bereiteten ihr stets Sorgen. Einmal meinte sie sogar, sie würde mich am liebsten in ihren Bauch zurückschieben, um auf mich aufpassen zu können. Meine Mutter und ich haben sehr verschiedene Auffassungen von Liebe. Wir gestalten und praktizieren unsere Leben ganz unterschiedlich und auch wenn ich mittlerweile ihre Welt nicht mehr ganz verstehe, liebe ich sie von ganzem Herzen. Bestimmt habe ich auch vieles von ihr und ihrer Art der Liebe mitgenommen. Wahrscheinlich ist die Liebe das, was uns unterscheidet, aber gleichzeitig auch das, was uns verbindet. Trotz der großen Unterschiede ist sie glücklich mit ihrem Leben und ich mit meinem. Beruhigend ist nur, dass sie kein Deutsch versteht und dieses Buch nicht lesen kann. Was würde sie wohl dazu sagen? Bestimmt würde sie meinen: »Mein Sohn ist verdorben.«

Die Definition des Undefinierbaren

Wenn mich Menschen fragen, was Liebe für mich ist, dann fällt es mir oft schwer, eine konkrete oder für mein Gegenüber zufriedenstellende Antwort zu liefern. Über die Liebe wird schon seit jeher geschrieben, erzählt und philosophiert. Im Deutschen ist das Wort »Liebe« auf die althochdeutschen Begriffe liubī (9. Jahrhundert) und lioba (11. Jahrhundert) zurückzuführen. Es stand für Wohlgefallen, für die stärkste Zuneigung und Wertschätzung. Der antike griechische Philosoph Platon nahm sich der Sache noch früher an und beschrieb sie wie folgt:

»Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit«

- Platon (427–348 v. Chr., griechischer Philosoph, Schüler des Sokrates)

Ich musste schmunzeln, als ich Platons Definition der Liebe las. Er beschreibt die Liebe in weiteren Überlieferungen auch noch etwas romantischer, spricht, wenn er über die Liebe philosophiert, auch von Selbsterkennung, Schönheit und davon, dass selbst ein Mensch ohne Muse dank der Liebe zum Dichter wird. Als selbsternannter Liebesdichter, der schon seine Musiklehrerin mit tragischen Liebesbekundungen beglückte, kann ich dem alten Philosophen hier nur zustimmen.

Ich finde, Liebe ist schwer definierbar. Sie hat, im Gegensatz zu den meisten anderen Worten, keine genaue Definition. Liebe hat nämlich viel mit Gespür zu tun, sie ist ein Gefühl. Was ich für Liebe halte, ist für dich vielleicht keine. Was ich selbst vor einiger Zeit für Liebe hielt, bezeichne ich nun vielleicht anders. Denn selbst das eigene Verständnis der Liebe entwickelt sich immer weiter, oder nicht?