Guardian 1. Seelenwächter - Priest - E-Book

Guardian 1. Seelenwächter E-Book

Priest

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Beschreibung

Band 1 der Contemporary Fantasy-Romance-Trilogie um eine übernatürliche Mordserie und eine unsterbliche Liebe in einem Dark Academia-Setting Erstmals auf Deutsch, von priest, einer der erfolgreichsten Autorinnen Chinas: die Danmei-Light-Novel-Sensation – hochwertig ausgestattet mit beigelegter Charakterkarte und wunderschönen Innenillustrationen! Der junge Ermittler Zhao Yunlan leitet eine verdeckte Abteilung des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, die sich mit dem Übernatürlichen befasst. Gemeinsam mit seinem Team und seiner sprechenden Katze Daqing muss Yunlan die Grenzen zwischen der Welt der Sterblichen und der Unterwelt häufig überschreiten. Hinter Yunlans großspuriger, lässiger Art verbergen sich ein scharfer Verstand und ein Arsenal an arkanem Wissen, die er einsetzt, um seine Fälle zu lösen. Bei der Untersuchung eines furchtbaren Todesfalls an einer Universität trifft Zhao Yunlan auf den zurückhaltenden Professor Shen Wei. Zhao Yunlan ist sofort von Shen Weis gutem Aussehen und seiner geheimnisvollen Art fasziniert. Die Anziehungskraft zwischen den beiden ist unleugbar, auch wenn Shen Wei versucht, auf Distanz zu bleiben. Schon bald stellt Zhao Yunlan fest, dass er das Rätsel um Shen Wei lösen muss, wenn er seinen aktuellen Fall aufklären will – der ihn und den mysteriösen Professor tiefer als jemals zuvor in die Unterwelt führen wird.  Ein absolutes Must-Have für alle Fans von Mo Xiang Tong Xius The Grandmaster of Demonic Cultivation und Heaven Officials Blessing sowie alle Leser*innen, deren Herzen bei Boys Love-Geschichten höher schlagen! Diese Tropes erwarten dich: - Forbidden Love - Second Chances - Grumpy x Sunshine - Slow Burn Romance - Boys Love - Dark Academia - Mysteriöse Morde - Dunkle Geheimnisse Actionreich, emotional und voller unerwarteter Wendungen. Die Danmei-Trilogie erscheint in folgender Reihenfolge: - Guardian 1. Seelenwächter - Guardian 2. Gesandter der Unterwelt - Guardian 3. Das große Siegel

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Seitenzahl: 526

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Priest

Guardian 1. Seelenwächter

Übersetzt von Monika Li und Sarah Ozolnieks

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Über dieses Buch

»Seit Tausend Jahren habe ich dich nicht gesehen. Du hast dich kein bisschen verändert.«

Der junge Ermittler Zhao Yunlan leitet eine verdeckte Abteilung des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, die sich mit dem Übernatürlichen befasst. Gemeinsam mit seinem Team und seiner sprechenden Katze Daqing muss Yunlan die Grenzen zwischen der Welt der Sterblichen und der Unterwelt häufig überschreiten. Bei der Untersuchung eines furchtbaren Todesfalls an einer Universität trifft Zhao Yunlan auf den zurückhaltenden Professor Shen Wei. Zhao Yunlan ist sofort von Shen Weis gutem Aussehen und seiner geheimnisvollen Art fasziniert. Die Anziehungskraft zwischen den beiden ist unleugbar, auch wenn Shen Wei versucht, auf Distanz zu bleiben. Schon bald stellt Zhao Yunlan fest, dass er das Rätsel um Shen Wei lösen muss, wenn er seinen aktuellen Fall aufklären will – der ihn und den mysteriösen Professor tiefer als jemals zuvor in die Unterwelt führen wird.

Band 1 der weltweit erfolgreichen Danmei/Boys Love-Trilogie um eine übernatürliche Mordserie und eine unsterbliche Liebe

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de und www.bramblebooks.de

Inhaltsübersicht

Prolog Straße des Ruhms Nr. 4

Teil 1: Uhr der Wiedergeburt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Teil 2: Gebirgsflussahle

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

HILFE ZUR AUSSPRACHE

Die Welt von Guardian

CHARAKTERE UND NAMEN

ABTEILUNG FÜR SONDERERMITTLUNGEN (AFS)

SEELENSCHUTZORDEN

DRACHENSTADT-UNIVERSITÄT

UNTERWELT

WEITERE

ORTE

GUARDIAN-VOKABULAR

WESEN

GLOSSAR

GENRES

NAMEN IM CHINESISCHEN

VOLKSKUNDE, MYTHOLOGIE UND RELIGION

ALLGEMEINES ZUR CHINESISCHEN KULTUR

Prolog Straße des Ruhms Nr. 4

Es war der siebte Monat nach dem Mondkalender, der Himmel war noch dunkel. Die Uhus und Steinkäuze hatten sich bereits in ihre Nester zurückgezogen, und auch die sonst belebten Straßen der Drachenstadt waren menschenleer. Nur aus den Büschen ertönte ab und zu das Zirpen von Insekten, die in einem Moment zu hören waren, im nächsten verstummten und dann plötzlich wieder aufschreckten. Es war zwei Uhr morgens. Nebel zog auf und machte die Luft stickig und klebrig. Vielleicht war es der Wind, der die Schatten in den Ecken flackern ließ und das Gefühl hervorrief, als würde einem etwas in den Rücken starren, wenn man die Straße entlangging.

Da betrat Guo Changcheng die Straße des Ruhms Nummer 4, den Bescheid umklammernd. Er wirkte unscheinbar, ein ängstlicher Einzelgänger. Seine Eltern hatte er früh verloren, und so wuchs er ohne große Perspektiven bei Verwandten auf, die sich abwechselnd um ihn kümmerten, bis er die Universität abgeschlossen hatte. Leider war Guo Changcheng eine Enttäuschung; er besuchte mit Mühe eine schlechte Universität und erzielte dabei nur durchschnittliche Ergebnisse. Seine Erscheinung machte nichts her, und den Mund bekam er auch nicht auf. So enttäuschte Guo Changcheng keinerlei Erwartungen, als er sich nach seinem Abschluss nicht um Arbeit bemühte, sondern ein halbes Jahr zu Hause herumhing. Sein Onkel, der ins Ministerium für Öffentliche Sicherheit versetzt worden war, konnte das schließlich nicht länger mit ansehen und ließ seine Beziehungen spielen, um seinem nutzlosen Neffen irgendeine sinnlose Aufgabe zu geben, damit er endlich etwas zu tun hatte. Guo Changcheng hatte geglaubt, dass er bei seinem zukünftigen Job eine ruhige Kugel schieben würde: Von neun Uhr morgens bis fünf Uhr abends im Anzug Tee kochen, leichte Arbeiten verrichten und in den ausgiebigen Pausen dazwischen Patiencen legen. Bis eines Tages der mysteriöse »Zulassungsbescheid« ins Haus flatterte. Da muss sich jemand geirrt haben, dachte Guo Changcheng zunächst. Aber da stand es geschrieben, in amtlichem Rot:

Genosse Guo Changcheng,

wir beglückwünschen Sie zu Ihrer Aufnahme. In unserer Abteilung werden Sie das Gehalt und die Vergünstigungen eines Staatsbeamten erhalten und gleichzeitig große Verantwortung im Dienste des Volkes tragen. Wir hoffen, dass Sie von diesem Tag an die Anforderungen Ihres neuen Amtes mit Hingabe und Fleiß erfüllen, Ihre neuen Aufgaben zielstrebig angehen, die Anweisungen Ihrer Vorgesetzten befolgen und mit Ihren Kolleginnen und Kollegen kameradschaftlich und geschlossen Ihren Beitrag zur Stabilität unserer Gesellschaft und zum Wohlstand unseres Landes leisten.

Bitte kommen Sie am 31. August (7. Monat, 15. Tag nach dem Mondkalender) pünktlich morgens um 02:30 Uhr zu uns (Straße des Ruhms Nr. 4, Erdgeschoss, Personal- und Logistikabteilung) und bringen Sie Ihren Personalausweis und dieses Schreiben mit.

Im Namen der gesamten Abteilung heißen wir Sie herzlich willkommen und freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit.

 

Volksrepublik China

Abteilung für Sonderermittlungen

X Tag X Monat X Jahr

Jeder normale Mensch hätte es für einen Druckfehler gehalten, zu einer so seltsamen Zeit einbestellt zu werden, und hätte zumindest vorher angerufen, um sich zu vergewissern. Aber Guo Changcheng hatte soziale Kontakte immer schon gemieden und in den sechs Monaten, in denen er sich zu Hause verbarrikadiert hatte, eine Telefonphobie entwickelt. Sobald er nur daran dachte, jemanden anrufen zu müssen, verspürte er einen so starken psychischen Druck, dass er kein Auge mehr zubekam. So wartete er bis tief in die Nacht des 30. August, ohne den Anruf getätigt zu haben. Schließlich hatte er eine Idee, wie er das Beste aus der Situation machen konnte: Er beschloss, einfach nicht zu schlafen und um 2 Uhr morgens persönlich vorbeizuschauen. Wenn er niemanden antraf, würde er einfach im nächsten McDonald’s eine Runde schlafen und nachmittags um 2 Uhr wieder vorbeikommen. Eine der beiden Zeiten musste ja stimmen.

Um diese Zeit fuhr die städtische U-Bahn nicht mehr. Guo Changcheng war mit dem Auto gekommen. Nur mit der Hilfe des Navigationsgerätes und viel Mühe hatte er den Ort gefunden. Die Straße des Ruhms Nr. 4 lag nicht direkt an der Straße, sondern in einem ziemlich versteckten Hof. Guo Changcheng hatte eine gefühlte Ewigkeit vor dem Hoftor gesucht, bis er schließlich mit dem Licht seines Smartphone-Displays unter dem dichten Efeugestrüpp ein kleines Schild mit der Hausnummer entdeckte. Unter der Hausnummer war in der nächsten Zeile Abteilung für Sonderermittlungen in den Stein gemeißelt, darunter das Logo der Öffentlichen Sicherheit.

Der Hof war ansprechend eingerichtet. Am Eingang befand sich ein Parkplatz, und wenn man weiterging, kam man an einer Reihe üppiger Perlschnurbäume vorbei, die ein kleines Wäldchen bildeten und nur einen schmalen Pfad frei ließen. Als Guo Changcheng ihn zu Ende ging, entdeckte er ein kleines Wachhäuschen vor einem in die Jahre gekommenen Bürogebäude.

In dem Wachhäuschen brannte noch Licht. Im Fenster sah Guo Changcheng die Silhouette eines uniformierten Mannes mit einer Schirmmütze auf dem Kopf und einer Zeitung in der Hand, in der er von Zeit zu Zeit blätterte. Noch machte sich Guo Changcheng keine Gedanken darüber, warum der Angestellte im Wachhäuschen um diese Zeit noch nicht Feierabend gemacht hatte. Er atmete tief durch, vor Nervosität wurden seine Handflächen feucht.

»Ich bin hier, um meinen Dienst anzutreten, hier ist meine Benachrichtigung! Ich bin hier, um meinen Dienst anzutreten, hier ist meine Benachrichtigung!«, murmelte er immer wieder vor sich hin, als hätte er diesen Satz auswendig gelernt, und ohne sich von der Stelle zu rühren. Schließlich riss er sich zusammen und machte einen Schritt vorwärts. Mit zitternden Fingern klopfte er an das Fenster des Wachhäuschens. Sein Gegenüber hatte den Kopf noch nicht gehoben, da begann Guo Changcheng zu sprechen, als wäre er dem Tode nah und würde seine letzten Worte hauchen: »Ich bin hier, um meine Benachrichtigung anzutreten, hier ist mein Dienst …«

Verwirrt legte der Mann mittleren Alters im Wachhäuschen seine Zeitung ab: »Mmh?«

Guo Changcheng konnte noch nicht einmal die Worte richtig aussprechen. Ihm war zum Heulen. Sein Gesicht färbte sich lila wie eine Süßkartoffel.

Zum Glück hatte der Mann im Wachhäuschen den Zettel in Guo Changchengs Hand gesehen und sofort verstanden. Er ging auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich: »Ach, du bist der neue Kollege, der heute kommen soll! Wie heißt du? Ach ja, hier steht’s ja, Xiao-Guo1! Wir hatten hier schon seit Jahren keinen Neuen mehr. War ein bisschen schwierig, herzukommen, was?«

Guo Changcheng atmete erleichtert auf. Er mochte Menschen wie ihn, voller Wärme und Herzlichkeit. Solange der andere vor sich hinplapperte, brauchte er nur zu nicken, ohne sich Wörter zusammenreimen zu müssen.

»Ist heute dein erster Tag, was? Du hast echt Glück, sag ich dir, der Chef ist heute Abend zufällig da. Komm mit, ich stell dich ihm vor.«

Als Guo Changcheng das hörte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Wie Glück erschien ihm das nicht, eher wie eine Unheilswolke, die sich über ihm zusammenzog. Guo Changcheng war zu nichts zu gebrauchen, und am meisten fürchtete er sich vor starken Führungspersönlichkeiten. Schon als Kind hatte er immer Magenkrämpfe bekommen, wenn er einen Lehrer erblickte, und wenn er den Direktor auch nur in zwanzig Metern Entfernung entdeckte, machte er einen Umweg. Obwohl er ganz klar ein braver Bürger war, verhielt er sich jedes Mal wie eine Maus vor der Katze, wenn er am Nationalfeiertag bewaffnete Polizisten am Straßenrand stehen sah, und zog so die misstrauischen Blicke der Passanten auf sich.

Den Chef treffen? Na, da hätte man ihm auch ein Gespenst vorstellen können.

In diesem Moment wurde die Tür des kleinen Gebäudes von innen aufgestoßen, und ein junger Mann trat mit großen Schritten heraus, eine Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Hosentaschen. Er war groß, hatte eine aufrechte Haltung, dicke Augenbrauen über tiefen Augenhöhlen und einen hohen Nasenrücken. Sehr gut aussehend, auch wenn seine Miene ausgesprochen düster war. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lief er so schnell, als würde der Wind unter seinen Füßen blasen, und seine Körpersprache schien zu sagen: »Haltet mich nicht auf, nervt mich nicht und macht, dass ihr wegkommt!« Fatalerweise schaute Guo Changcheng ihn direkt an und war sofort erschrocken über diese schönen, aber kalten Augen. Seine Intuition sagte ihm, dass mit diesem heißen Kerl nicht zu spaßen war. Doch als er Guo Changcheng im Eingang stehen sah, hielt er plötzlich inne, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich auf wundersame Weise: Wo eben noch ein dunkles Gewitter aufzuziehen schien, klärte sich sein Blick nun, und bevor man auch nur blinzeln konnte, erschien ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht. Wenn er lächelte, bildeten sich zwei Grübchen in den Wangen. Die Zigarette zwischen den Lippen ließ seinen Mund ein wenig schief wirken, und mit den gerunzelten Augen wirkte er, als führe er nichts Gutes im Schilde, gerade genug, um nahbar zu wirken.

»Na, sieh einer an, wenn man vom Teufel spricht! Komm, junger Mann, lass mich dir unseren Chef vorstellen!«

Der Wachmann gab Guo Changcheng von hinten einen Stoß, sodass er mit leerem Kopf einen halben Schritt nach vorne stolperte. Laut hörte er hinter sich sagen: »Direktor Zhao, endlich haben wir einen neuen Mitarbeiter.«

Direktor Zhao streckte freundlich die Hand aus. »Hallo, hallo, herzlich willkommen!«

Guo Changcheng wischte sich den Schweiß von den Handflächen an der Hose ab, wodurch es schien, als könne er die eine Hälfte seines Körpers nicht bewegen, und blamierte sich, indem er die falsche Hand ausstreckte. Kurz bevor er den Handrücken seines zukünftigen Chefs berührte, zuckte er wie vom Blitz getroffen zurück. Unter den Achseln und auf dem Rücken brach er augenblicklich in Schweiß aus, der nach und nach eine Weltkarte auf seinem T-Shirt bildete.

Direktor Zhao lächelte verhalten, zeigte sich aber zuvorkommend und machte es Guo Changcheng nicht schwer, indem er einfach seine ausgestreckte Hand ergriff, ihm wie selbstverständlich auf die Schulter klopfte und ein paar lockere Höflichkeitsfloskeln von sich gab: »Keine Sorge, die Kollegen hier sind alle sehr teamfähig und nett. Da heute dein erster Tag ist, sollte ich dich eigentlich herumführen und allen vorstellen, aber wie du siehst, ist es heute etwas anders. Wir haben gerade ziemlich viel zu tun und können uns nicht so um dich kümmern. Ich hoffe, das stört dich nicht. Ich schmeiße später eine Willkommensparty für dich. Es ist zwar mitten in der Nacht, aber was hältst du davon, wenn Lao-Wu2 dich heute unter die Fittiche nimmt und dich zu Wang Zheng, unserer Personalchefin, bringt, damit sie deine Onboarding-Formalitäten erledigt? Dann kannst du erst mal nach Hause gehen und morgen wiederkommen, um anzufangen, okay?«

Guo Changcheng nickte eifrig.

Ganz gleich, wie sehr Direktor Zhao zuvor vor Ungeduld gebrannt haben mochte, jetzt stand er da, als würde er eine Rede beim montäglichen Fahnenhissen halten, und sprach in gemächlichem Tempo, weder zu schnell noch zu langsam, in einem angemessen herzlichen Ton, der ihn keineswegs kühl erscheinen ließ.

»Entschuldige mich bitte, ich muss los, ich habe etwas Dringendes zu erledigen. Lass mich wissen, wenn du etwas brauchst. Sei nicht schüchtern, wir sind jetzt eine Familie. Und sorry für die Umstände heute!« Direktor Zhao lächelte Guo Changcheng entschuldigend an, winkte Herrn Wu im Wachhäuschen zu und eilte davon.

Herr Wu war offenbar ein großer Fan von Direktor Zhao. Obwohl er nur leeres Geschwätz gehört hatte, das nichts mit ihm zu tun hatte, plauderte er unentwegt fröhlich vor sich hin, während er Guo Changcheng ins Gebäude führte: »Unser Direktor Zhao! So ein Jungspund. Der hat’s drauf, ist immer gut gelaunt und hat es nicht nötig, den großen Macker zu spielen.«

Guo Changcheng hatte sich von dem großen Schreck des Treffens mit dem Direktor noch nicht ganz erholt und hörte etwas abwesend zu. Und da er es nicht wagte, andere Menschen direkt anzusehen, hatte er noch nicht bemerkt, dass das Gesicht des alten Herrn Wu, der ihn herumführte, im Schein der Lampe so bleich war wie die Wandtapete und seine Lippen blutrot. Seine Mundwinkel zogen sich bis zu seinen Ohrläppchen, und wenn er den Mund öffnete und schloss, konnte man sehen, dass er keine Zunge hatte.

Die Menschen im Gebäude eilten hastig umher und schienen sehr beschäftigt zu sein.

Erst jetzt dämmerte Guo Changcheng langsam, dass hier irgendetwas merkwürdig war. Eigentlich war es nichts Außergewöhnliches, bis in die Nacht zu arbeiten, wenn es etwas Dringendes zu erledigen gab, aber mussten dann auch der Wachmann, die Personalchefin und alle anderen Überstunden machen?

Herr Wu, der Guo Changchengs zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkt zu haben schien, erklärte: »Xiao-Guo, nicht dass du das hier missverstehst … du wirst später hauptsächlich tagsüber arbeiten. Wenn nicht gerade ein großer Fall ansteht, machen wir selten mitten in der Nacht Überstunden. Es ist nur, weil wir gerade den siebten Monat nach dem Mondkalender haben, das sind jedes Jahr die einzigen Tage, an denen wir die Nächte nicht von den Tagen unterscheiden können. Außerdem gibt es auch einen Ausgleich dafür: Du bekommst das dreifache Gehalt für deine Überstunden und einen doppelten Bonus am Ende des Monats.«

Jetzt wunderte sich Guo Changcheng noch mehr. Was sollte das heißen, »im siebten Monat nach dem Mondkalender«? Hielten Kriminelle etwa auch Konsultationssitzungen zum Erfahrungsaustausch mitten im Sommer ab? Nach dem Mondkalender?

»Mmh.« Aus Angst, dumm zu wirken, traute er sich nicht, den Mund aufzumachen, und nickte nur verwirrt.

Herr Wu erklärte weiter: »Ich zum Beispiel mache immer die Nachtschicht. Tagsüber übernimmt jemand anderes im Wachhäuschen. Ich schätze, dass du mich in der Zukunft nicht mehr allzu oft antreffen wirst. Hach ja, dabei unterhalte ich mich so gern mit euch jungen Leuten. Hast du gerade deinen Abschluss gemacht? Auf welcher Universität warst du? Welche Fächer hast du studiert?«

Für einen Moment verdrängte Guo Changcheng seine Zweifel. Verschämt überreichte er sein nicht gerade vorzeigbares Diplom und fügte leise wie das Summen einer Mücke hinzu: »Ich war nicht so gut an der Uni …«

»Ach was, du bist doch Student!«, winkte Herr Wu ab. »Ich mag kultivierte junge Leute. Ganz anders als ich, meine Familie war arm. Mit sieben, acht Jahren habe ich in unserem Dorf ein paar Jahre die sishu bei einem Privatlehrer besucht, der aber bald sein Glück woanders gesucht hat. Alles, was ich gelernt habe, habe ich dem Privatlehrer schließlich zurückgegeben. Ich kann nicht mal die meisten Schriftzeichen lesen, nur mit Mühe verstehe ich, was in der Zeitung steht.«

Sollte das ein Scherz sein? Sishu war eine Privatschule für Kinder reicher Familien im antiken China. Das gab es doch heute gar nicht mehr.

Schon wieder hatte Guo Changcheng nicht wirklich verstanden, was er da gehört hatte, und traute sich nicht, genauer nachzufragen, weil er immer noch befürchtete, blöd dazustehen.

»Wir sind da!«, verkündete Herr Wu fröhlich.

Guo Changcheng blickte nach oben und sah »Personalabteilung« in großen roten Zeichen auf weißem Grund auf der Tür stehen. Irgendetwas an dem Rot stimmte nicht, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Er starrte die Zeichen eine Weile an, bis es ihn plötzlich durchfuhr: Das rostige Rot, das war doch … das war die Farbe von getrocknetem Blut!

Herr Wu klopfte an die Tür. »Xiao-Wang, bist du da? Ich habe hier einen neuen Kollegen, der bei uns anfangen wird. Können wir dich kurz stören, damit du sein Onboarding vervollständigen kannst?«

Nach einem Moment der Stille erklang eine feine Frauenstimme. »Ja, kommt herein.«

Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen und war gleichzeitig ganz nah an seinem Ohr. Unwillkürlich zitterte Guo Changcheng, kalt lief es ihm den Rücken hinunter. Trotzdem redete Herr Wu unverdrossen weiter: »Es tut mir wirklich leid, Xiao-Guo, dass du hier mitten in der Nacht aufkreuzen musst. Aber es geht einfach nicht anders. Xiao-Wang kann genau wie ich nur Nachtschichten arbeiten, deshalb können wir den Onboarding-Prozess nur um diese Zeit machen …«

Moment mal.

Was sollte das bedeuten, »kann nur Nachtschichten arbeiten«?

Wieder lief Guo Changcheng kalter Schweiß über den Rücken. Zitternd vor Angst, nahm er all seinen Mut zusammen und warf einen Blick auf die umhereilenden Mitarbeiter. Ihm wurde eiskalt. Mit nur einem Blick hatte er klar erkannt, dass eine Gestalt in einer Uniform an ihm vorbeigeschwebt war, ohne dass ihre Füße den Boden berührt hatten.

Oder hatte sie etwa … gar keine Füße?!

Die Bürotür vor ihnen öffnete sich quietschend, die Scharniere ächzten heiser. Eine junge Frau in einem weißen Kleid erschien im Türrahmen und sagte mit ihrer matten Stimme, die ihm Gänsehaut verursachte: »Hast du den Bescheid und deinen Ausweis dabei?«

Ein kalter, dunkler Hauch wehte aus dem Büro hervor. Guo Changchengs Herz hing ihm in der Kehle und hatte bereits aufgehört zu schlagen. Er begriff, dass er, wenn er sich auch diesmal taubstumm stellte, vielleicht wirklich der Dumme sein würde. Er hielt den Atem an und hob den Kopf. Sein Blick glitt über das weiße Kleid, an dem kein einziges Staubkorn klebte, bis zum nackten Hals der Frau. In der nächsten Sekunde stieß er einen Würgelaut aus, als würde er ersticken; den Mund halb geöffnet, konnte er noch nicht einmal mehr schreien. Die Augen waren so weit aufgerissen, dass sie fast herausfielen. Erschrocken stolperte er einen Schritt zurück, die Glieder zu Eis erstarrt, als gehörten sie nicht mehr zu ihm. Am Hals der Frau hatte er eine dünne rote Linie entdeckt. Es war kein Schmuck, denn die Linie klebte dicht auf ihrer Haut. Es war eine feine Naht, die ihren Schädel und ihren Hals zusammenhielt!

Eine kalte Hand legte sich auf Guo Changchengs Schulter, und Herr Wus Stimme drang an sein Ohr: »Hey, Xiao-Guo, was ist los?«

Guo Changcheng drehte den Kopf abrupt und starrte direkt in Herrn Wus Gesicht – ein Gesicht wie aus Pappmaché mit einem riesigen blutroten Mund, der bis zu den Ohren reichte.

Vorhin hatte Guo Changcheng noch geglaubt, den Chef zu treffen sei schlimmer, als ein Gespenst zu sehen. Jetzt wurde er eines Besseren belehrt. Er hatte nicht nur den Chef getroffen, sondern auch Gespenster gesehen.

Zwei Sekunden lang hielt er inne, ohne ein Wort zu sagen, dann wurde er einfach ohnmächtig. Kerzengerade fiel er zu Boden, und um dabei nicht allzu dumm auszusehen, unterließ er es, zunächst die Augen zu verdrehen.

Da hatte ihm sein lieber Onkel wirklich einen originellen Job besorgt.

Teil 1: Uhr der Wiedergeburt

1

Das Licht der Straßenlaternen war so schwach wie das Glimmen der Glühwürmchen. Es konnte die pechschwarze Nacht nicht erhellen, in der eine junge Frau über die hervorstehenden Pflastersteine stolperte, die mit den Jahren immer unebener geworden waren. Plötzlich wurde sie von etwas ins Straucheln gebracht und fiel schwer auf die Knie. Die heiße schwüle Sommernacht fühlte sich an, als befände man sich in einem Dampfgarer. Heftig keuchend zog Li Qian ihre Kleidung zurecht. Sie hörte ihren eigenen dröhnenden Herzschlag und – die Schritte einer anderen Person. Ein solches Schlurfen konnte nur von altmodischen Stoffschuhen mit weicher Sohle kommen. Sie lauschte genauer. Die Schritte hatten etwas Schleppendes, immer wieder schleiften sie über den Boden, als wären die Beine schwach. Li Qian drehte sich um, aber außer den Insekten, die wild im Licht der Straßenlaterne umhertanzten, war nichts hinter ihr. Li Qian war zart und adrett, eigentlich eine hübsche Frau, aber ihr zerzaustes, verschwitztes Haar klebte auf ihrer Haut, ihre Lippen waren so bleich wie ihr Gesicht, sodass auch die Grenzen ihres guten Aussehens deutlich wurden. Langsam veränderte sich ihr Gesichtsausdruck auf seltsame Weise. Ein kaltes, sarkastisches Lachen kam zum Vorschein, vermischt mit unaussprechlicher Angst.

»Denk noch nicht einmal daran, mir zu folgen!« Mit einem Ruck sprang sie auf und zischte zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Ich bin dich schon einmal losgeworden, und ich werde dich auch ein zweites Mal los.«

Die Schritte verstummten.

Li Qian krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch. Gänsehaut bildete sich auf ihrem hellen Arm. Irgendetwas in dieser schwülen Hochsommernacht ließ sie frösteln. Sie hob einen Pflasterstein vom Boden auf. Aus allen Richtungen kamen die Schritte und fraßen sich in ihre Knöchel wie Maden. Aber sehen konnte sie nichts. Das jagte ihr die größte Angst ein. Li Qian schrie, drohend schwang sie den Pflasterstein. Der Stein in ihrer Hand wurde immer schwerer, seine raue Oberfläche scheuerte ihre Handflächen auf. Ihr wurde schwarz vor Augen. Völlig erschöpft stützte sie sich vornübergebeugt mit beiden Händen auf den Knien ab und atmete schwer. Ziellos wanderte ihr Blick zu Boden. Da verengten sich ihre Pupillen, und ihr ganzer Körper begann heftig zu zittern. Der Stein in ihrer Hand fiel herunter und schlug auf die Zehen auf, die aus ihren Sandalen ragten, doch sie schien nichts davon zu spüren. Mit großer Mühe machte sie zwei Schritte rückwärts, ihre Knie gaben nach, und sie landete hart auf dem Boden.

Ein Schatten … es war ein Schatten!

Sie stand direkt vor der Straßenlaterne. Wie konnte es einen so scharfen Schatten direkt unter dem Licht der Straßenlampe geben? Er sah aus wie ein auf dem Boden ausgeschütteter Topf Tinte. Wer weiß, wie lange er schon da gewesen war und sie beobachtet hatte.

Li Qian lag wie gelähmt am Boden, der Schatten hingegen stand aufrecht.

Hast du etwas angestellt? Oder warum sonst fürchtest du dich so sehr vor einem Schatten?

Sie meinte, ein schrilles Lachen zu hören.

 

Vor Tagesanbruch, es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens, klingelte das Telefon neben dem Bett, als wollte es Tote wecken. Zhao Yunlan hatte sich nach einer Nacht voller Überstunden auf dem Bett gewälzt, ohne sich auszuziehen. Gerade erst hatte er sich hingelegt und wurde schon wieder geweckt! Ausdruckslos riss er die Augen auf, die so schwer waren, dass seine doppelten Augenlider besonders deutlich hervortraten. Hasserfüllt starrte er an die Decke. Drei Sekunden später richtete er sich auf. Sein Kopf fühlte sich breiig an, als er den Arm ausstreckte, um nach dem Smartphone auf dem Nachttisch zu greifen.

Zhao Yunlans Zimmer war so unordentlich, dass jeder Hund protestiert hätte, wenn man es als Hundehütte bezeichnet hätte. Bei den Kleidungsstücken, die überall auf dem Bett und auf dem Boden lagen, wusste man nicht so recht, ob sie noch getragen oder gewaschen werden sollten. Das große Doppelbett war mit allerlei Gerümpel vollgestopft, von dem vieles die Fantasie Normalsterblicher überstieg. Die einzelne Socke, die über dem Laptop hing, war eine Sache, die schwarze Sonnenbrille und der Regenschirm waren zunächst auch nichts Besonderes, aber das weiße Papier, das zu einem hohen Hut gefaltet war, und die große Dose Zinnober bedurften schon einer Erklärung. All diese Dinge bildeten einen großen Haufen, in den sich Zhao Yunlan ein Nest gegraben hatte, wahrscheinlich kurz bevor er sich hineingelegt hatte.

Zhao Yunlans Gesichtsausdruck war verärgert, als würde er gleich eine Schimpftirade loslassen. Doch als er den Anruf entgegennahm, war sein Tonfall wie immer, nur seine Stimme klang etwas heiser, offenbar, weil er solche Anrufe schon gewohnt war. »Ist schon wieder etwas passiert?«

Wang Zhengs Stimme kam aus dem Hörer. Ohne Umschweife kam sie gleich zur Sache: »Jemand ist gestorben.«

»Wann?«

»Entweder gestern Abend oder heute früh, also gerade eben.«

»Wo?«

»Universitätsstraße.«

»Mmh.« Zhao Yunlan rieb sich über das Gesicht. Sein Ausdruck war grimmig. »Lass erst Lao-Chu nachsehen.«

»Chu Shu ist geschäftlich in Xiangxi.«

»Und was ist mit Lin Jing?«

»Von der Unterwelt ausgeliehen.«

»Und Zhu Hong … nein, vergiss es. Gestern war Vollmond, da hat sie sich freigenommen. Wer ist noch da?«

»Ich«, sagte Wang Zheng, »aber die Sonne geht bald auf, ich muss gleich Feierabend machen. Sonst sind da noch Daqing und der Neuling, Guo Changcheng …«

Zhao Yunlan gähnte und sagte kraftlos: »Dann lass doch Daqing mit dem Neuling gehen. Der Kleine kann schon mal ein bisschen üben.«

»Unser Neuling Guo Changcheng kann im Moment nirgendwohin«, erklärte Wang Zheng ohne Umschweife. »Gestern Nacht ist er bei seinem Dienstantritt vor Schreck in Ohnmacht gefallen und hat dann wohl einfach weitergeschlafen. Jedenfalls ist er bis jetzt noch nicht wieder aufgewacht.«

»Was hat ihn denn so erschreckt, dass er ohnmächtig geworden ist?«, fragte Zhao Yunlan.

»Lao-Wu und ich«, berichtete Wang Zheng sachlich und fügte hinzu: »Ich habe schon vor langer Zeit gesagt, dass wir einen professionellen Bestatter beauftragen sollten, einen richtigen Körper für Lao-Wu anzufertigen. Zhu Hong hat zwei linke Hände, die Sandsäcke, die sie zusammengenäht hat, laufen alle aus, und die Figuren, die sie aus Pappmaché zusammengeklebt hat, ähneln vielem, aber bestimmt keinem Menschen.«

Benommen saß Zhao Yunlan für eine Weile auf der Bettkante. Dann atmete er tief durch. »Wenn ich da selbst auftauche, ist das nicht nach Protokoll, die Leute werden Angst haben. Aber wenn es nicht anders geht, dann muss es eben sein. Ich werde gleich da sein und nach dem Rechten sehen. Sag Daqing, er soll auf mich warten.«

Er legte auf, wusch und kämmte sich in drei Minuten und raste dann mit dem Auto zur Universitätsstraße.

Zhao Yunlan überquerte gerade eine Kreuzung und bremste ab, als ein schwarzer Schatten vom Himmel herabschnellte. Er sah nur noch, wie ein rundes Tier mit dem lauten »Peng« einer Handgranate auf seine Motorhaube prallte und einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte, hoffentlich, ohne einen Krater zu hinterlassen. Schnell trat Zhao Yunlan auf die Bremse. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und presste gequält zwischen den Zähnen hervor: »Das hier ist ein Kraftfahrzeug, dabei handelt es sich um ein Verkehrsmittel, nicht um ein Katzenklo. Könnten Sie es bitte etwas ruhiger angehen lassen?«

Auf der Motorhaube saß ein vollkommen schwarzer Kater. Auf einem Hals von eher subtiler Präsenz saß ein Gesicht, das wie die pelzige Version einer getrockneten Persimone aussah und zusammen mit der kugeligen Körperform auf den ersten Blick wie der kleine Bruder von Garfield wirkte. Man konnte nur sehen, wie der Kater die Hinterbeine streckte und mit großer Anstrengung überkreuzte. Erst nachdem er diese große Herausforderung gemeistert hatte, war er in der Lage, die im Verhältnis zum Bauch eher kleinen Vorderbeine auszustrecken, um so eine für Katzen ausreichend würdevolle Sitzposition einzunehmen. Nachdem sich der Kater mit dem getrockneten Persimonen-Gesicht von rechts nach links umgeschaut und festgestellt hatte, dass sonst niemand in der Nähe war, durchzuckte ein Zittern seine Schnurrhaare. Gemächlich öffnete sich sein Maul, und eine relativ tiefe Männerstimme kam heraus. »Red keinen Blödsinn, sondern steig schnell aus. Hast du das nicht gerochen?«

Tatsächlich lag ein unbeschreiblicher Gestank in der Luft, vergleichbar mit dem einer biochemischen Waffe. Zhao Yunlan parkte sein Auto am Straßenrand, stieg aus und hielt sich die Nase zu. Er runzelte die Stirn. »Wow, stinkt das! Hast du einen fahren lassen?«

Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, sprang der große schwarze Kater donnernd von der Motorhaube, den dicken Hintern auf ihn gerichtet, und tappte, wie es sich für eine Katze gehörte, majestätisch voran.

Auf der anderen Straßenseite hielten bereits einige Polizeiwagen, und am Eingang zu einer kleinen Gasse hatten Angestellte gerade eine Absperrung errichtet. Zhao Yunlan nestelte so lange an sich herum, bis er schließlich einen zerschlissenen Arbeitsausweis fand. Der junge Polizeibeamte, der an der Absperrung Wache hielt, stand mit dem Rücken zum Tatort. Offenbar war er noch nicht lange im Dienst und nicht nur grün hinter den Ohren, sondern auch im Gesicht. Auf den Ausweis konnte er nur einen flüchtigen Blick werfen, da hatte Zhao Yunlan ihn schon wieder in die Hosentasche gesteckt. Dann hielt der junge Polizist es nicht mehr aus, rannte los, lehnte sich an die Wand und übergab sich.

»Ruft mein wunderschönes Porträtfoto etwa solche Übelkeit hervor?« Verblüfft kratzte sich Zhao Yunlan am Kopf, der aussah wie ein von Hunden und Schweinen verwüsteter Hühnerstall.

Als der schwarze Kater, der ihm ein paar Schritte vorausgeeilt war, sah, dass er immer noch herumtrödelte und weiterhin Unsinn redete, drehte er sich um, sträubte sein Fell und gab ein lang gezogenes Miau von sich.

»Schon gut, schon gut, kommen wir zur Sache. Boah, meine Fresse, dieser Gestank bringt mich gleich um!« Zhao Yunlan bückte sich über die Absperrung. Als er dort ankam, kam ihm jemand mit einem Papiertaschentuch vor der Nase entgegen und fragte mit gedämpfter Stimme: »Sind Sie von der Abteilung für Sonderermittlungen?«

 

Im Ministerium für Öffentliche Sicherheit wusste jeder, dass es eine geheimnisvolle »Abteilung für Sonderermittlungen« gab. Es war eine hochrangige Abteilung, aber niemand wusste genau, was diese Leute taten und wie sie arbeiteten. Jedenfalls war es immer so, dass der Befehl von ganz oben kam, wenn jemand von der Abteilung für Sonderermittlungen auftauchte, und deswegen stellte ihn niemand infrage.

Wenn sie aber nicht kamen, gab es keine Möglichkeit, sie anzurufen.

Sie gehörten zwar zum Ministerium für Öffentliche Sicherheit, arbeiteten aber manchmal unabhängig davon. Sie waren gut organisiert und ihr Vorgehen undurchsichtig. Ohne Sondergenehmigung konnten die Medien noch nicht mal einen Blick auf die Abteilung für Sonderermittlungen werfen, geschweige denn nahe genug an sie herankommen, um ein Interview zu führen. Niemand wusste, wie ihre Strafverfolgung ablief. Wurde ihnen ein Fall übergeben, verschwand er in einer Black Box. Nur ein nebulöser Abschlussbericht über die Lösung des Falles war der Öffentlichkeit zugänglich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung für Sonderermittlungen erschienen manchmal noch rätselhafter als die Fälle, die sie zu lösen hatten. Ihre Abschlussberichte waren detailliert und beschrieben Ursache, den Verlauf, das Ergebnis, die Identität der Verdächtigen, die Umstände der Verfolgung und den Ablauf der Fahndung. Jeder Schritt wurde genau dargestellt, es waren keine Fehler zu entdecken.

Das Einzige, was einen misstrauisch werden ließ, war die Tatsache, dass die Täter am Ende des Falles alle tot waren.

Zwar wiesen die Fälle, mit denen die Abteilung für Sonderermittlungen betraut wurden, besonders widerwärtige Umstände auf, und die Verdächtigen traf eine besonders schwere Schuld. Trotzdem war es ein bisschen viel Zufall.

 

Dieses Mal war ein älterer Kriminalbeamter namens Yang für die Organisation der Tatortuntersuchung zuständig. Er schüttelte Zhao Yunlan herzlich die Hand und musterte ihn dabei neugierig. »Wie heißen Sie?«, fragte er höflich.

»Zhao, Zhao Yunlan. Nennen Sie mich einfach Xiao-Zhao.«

Herr Yang erschrak, als er den Namen hörte. Er hätte nicht gedacht, dass er es hier mit dem Direktor der Abteilung für Sonderermittlungen zu tun hatte, der noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Das war ziemlich jung im Verhältnis zu seinem Dienstgrad. Er war groß und schlank und sah gut aus. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Model aus der Werbung für Herrenbekleidung, nur dass die eine Hälfte seines zerknitterten Hemdes in die Hose gestopft war, die andere herausschaute und die ersten beiden Knöpfe oben offen standen. Mit seinen zerzausten Haaren, dem Nest auf seinem Kopf, in das gerade ein Ei gelegt worden war, sah er aus, als würde er sich nicht besonders um sein Äußeres kümmern. Aber Leuten mit diesem Rang kann man nicht sagen, dass sie ihr Aussehen vernachlässigen. Selbst wenn Direktor Zhao nackt aus dem Haus gegangen wäre, hätten die Leute mit niedrigerem Rang ihn dafür gelobt, dass er einen neuen Trend gesetzt hätte.

»Herrje! Sie sind also Direktor Zhao!«, rief Herr Yang. »Das … das ist ja … Meine Augen sind wirklich nicht mehr gut. Ich hätte nicht gedacht, dass unser Direktor ein so vielversprechender junger Mann ist …«

Zhao Yunlan, der an solche Sätze gewöhnt war, antwortete im Gegenzug mit einigen Galanterien.

In diesem Moment wurde jemand, oder besser gesagt, »etwas« ungeduldig. Herr Yang hörte nur ein Miauen und blickte nach unten, wo er einen schwarzen Schatten sah, der, schneller als der Blitz, an Zhao Yunlans Hosenbein hinauf auf seine Schulter kletterte. Es war ein schwarzer Kater mit dunkelgrünen Augen. Ein schwarzer Kater, der am Tatort eines Verbrechens auftaucht, war eigentlich sehr unheimlich. Aber dieses eigentlich furchterregende Kätzchen war so korpulent, dass sich bei seinem Anblick Ehrfurcht und Schrecken automatisch in ein Gefühl der Sorge um übermäßige Gallenflüssigkeit verwandelten.

»Das … das …« Herr Yang starrte den Kater für einen kurzen Moment an.

Verlegen zog sich Zhao Yunlan seine Hose hoch, die unter dem Gewicht des dicken Katers fast heruntergezogen worden war, und erklärte mit einem trockenen Lachen: »Das ist unser Kater, der Direktor. Er überwacht unsere Arbeit sehr genau und war nicht gerade erfreut, uns hier plaudern zu sehen.«

Herr Yang war sprachlos.

Kalt und gleichgültig miaute der Kater und wedelte ungeduldig mit seinem buschigen Schwanz hin und her. Überheblich streckte er den Hals, was etwas schwierig war, da man kaum von einem Hals sprechen konnte. Aber Zhao Yunlan verstand sofort. Er schob das dicke Fell und die Fettschichten um seinen Hals beiseite, zog ein kleines Emblem hervor, das er um den Hals trug, und zeigte es Herrn Yang. »Das ist eine Sondergenehmigung der Abteilung für Sonderermittlungen, mit der er jeden Tatort betreten darf. Keine Sorge, Lao-Yang, er ist ein alter Kater. Er weiß sich zu benehmen und wird keinen Ärger machen.«

Herr Yang brachte immer noch kein Wort heraus, doch langsam schwante ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Als ihm nach einigen Telefonaten versichert worden war, dass der Mann mit dem Vogelnest auf dem Kopf und dem Kater auf dem Arm kein Betrüger war, betrat er gemeinsam mit ihm den Tatort.

Je näher sie kamen, desto stärker wurde der Gestank.

In der engen Gasse lag die Leiche einer Frau, die ein T-Shirt mit der Aufschrift »Drachenstadt-Universität Erstsemester« trug. Die dumpfen Augen waren weit aufgerissen, und die Gliedmaßen bildeten das Schriftzeichen für »groß« 大. Der Mund war geöffnet. Ihr Bauch war mit einem scharfen Gegenstand aufgeschnitten und die Eingeweide entfernt worden, sodass sie einer menschlichen Puppe ähnelte, aus der die Watte herausquoll.

Herr Yang hielt sich wieder ein Taschentuch vor die Nase und verzog das Gesicht.

Der dicke Kater auf Zhao Yunlans Schulter gab ein lang gezogenes Miauen von sich, sprang auf den Boden und umkreiste die Leiche zweimal, bis er sich an einer bestimmten Stelle niederließ und Zhao Yunlan mit gehobenem Kopf anstarrte, wie ein geschulter Drogenhund, der einen Fund gemacht hatte. Zhao Yunlan kam näher und zog zerknitterte Handschuhe aus seiner zerknitterten Hosentasche. Zuerst tastete er die Stelle ab, an der der Kater saß, dann hob er vorsichtig einen Arm der Leiche an.

Herr Yang reckte den Hals und sah einen blutigen halben Handabdruck an der Stelle auf dem Boden, die vom Arm der Leiche verdeckt worden war. Es war auf keinen Fall der Abdruck einer menschlichen Hand. Die Handfläche hatte die Größe einer Kinderhand, aber die Finger waren mindestens zwanzig Zentimeter lang. In seiner ganzen Laufbahn als Kriminalbeamter hatte Herr Yang so etwas noch nie gesehen. Während er noch unter Schock stand, hörte er plötzlich Zhao Yunlan in ungewohnt strengem Ton sagen: »Ab sofort übernimmt die Abteilung für Sonderermittlungen diesen Fall. Die weiteren Formalitäten werden in zwei Werktagen erledigt sein.«

Noch bevor Herr Yang antworten konnte, deutete Zhao Yunlan auf eine kleine kaputte Tür in der Mauer und fragte: »Was ist das hier?«

2

Es handelte sich um die Seitentür der Drachenstadt-Universität. Die Drachenstadt-Universität war eine renommierte Universität mit einer langen Geschichte.

Da gerade Semesterbeginn war, wäre normalerweise viel los gewesen, aber wie andere Universitäten hatte auch die Drachenstadt-Universität ihre Fakultäten in die Außenbezirke der Stadt verlegt, sodass in der gut erhaltenen Altstadt nur noch ein kleiner Teil der Verwaltung verblieben war. Inzwischen kamen mehr Touristen als Studierende hierher.

Zhao Yunlan hatte den halben Tag mit dem Kater auf dem Arm am Eingang eines Studierendenwohnheims gewartet, bis Guo Changcheng endlich kam. Erst jetzt bemerkte Zhao Yunlan, dass der Neuling, den er gestern Nacht flüchtig kennengelernt hatte, nicht gerade vorzeigbar war. Guo Changcheng ging in sich zusammengesunken, mit hängenden Schultern, den Kopf so gesenkt, als würde er sich schämen, und die Haare so lang, dass sie seine Augen fast verdeckten. Zusammen mit seiner schwarzen Trauerkleidung verkörperte er den Inbegriff der Lethargie. Von Weitem sah er aus wie ein Pilz, der im Wind schwankte.

Zhao Yunlan kniff die Augen zusammen, als er Guo Changcheng auf sich zukommen sah, und sagte zu dem Kater auf seinem Arm: »Was glaubst du, was wohl Wang Zheng zu ihm gesagt hat? Er sieht aus, als hätte man ihn zu etwas Schrecklichem gezwungen.«

Der Kater gähnte träge. »Jetzt übertreibst du aber, Mama Zhao.«

Je näher Guo Changcheng Zhao Yunlan kam, desto mehr glich er jemandem, der von einer Räuberbande in die Berge entführt worden war und nun zwangsverheiratet werden sollte. »Ich soll mit dir zum Tatort gehen«, wimmerte er, den Tränen nahe.

Bewusst fragte Zhao Yunlan: »Wer hat dir das gesagt? Kannst du bitte lauter sprechen, oder brauchen wir ein Mikrofon?«

Guo Changcheng zitterte heftig. »Wang … Wang … Wang …«

Daqing miaute.3

Zhao Yunlan war enttäuscht. Als er seinem neuen Kollegen gestern Nacht auf die Schulter klopfte, hatte er nicht bemerkt, dass er nicht mal einen kompletten Satz herausbekam. Gespielt freundschaftlich fragte er: »Du kennst doch sicher schon die Umstände des Verbrechens, oder? Das hier ist das Wohnheim der Toten. Komm mit, wir sehen uns das mal genauer an.«

Noch während er das sagte, war er vorausgegangen, aber jetzt hörte er niemanden mehr hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er, wie Guo Changchengs Blick auf der unbehaglich dreinblickenden Wohnheimaufseherin ruhte. Vor lauter Angst war er verstummt.

Zhao Yunlan konnte seinen Zorn nicht länger unterdrücken. Ungeduldig gestikulierte er, als würde er einen Hund rufen. »Was stehst du da so blöd an der Tür herum? Ich habe schon mit ihr gesprochen, du brauchst dich nicht noch mal vorzustellen. Komm her!«

Das hätte er besser nicht gesagt. Als Guo Changcheng das hörte, richtete er sich sofort reflexartig auf. »Zu … zu Diensten.« Im nächsten Moment merkte er, dass er sich zum Affen gemacht hatte, versteifte vollkommen und stand nun wie ein vor Scham errötendes Sargbrett am Eingang des Wohnheims.

»Was für ein Vollpfosten« – diese vier Wörter fassten den ersten Eindruck des Neulings bei Direktor Zhao treffend zusammen.

 

Zimmer 202 war ein Standardzimmer für zwei Studentinnen. Der schwarze Kater sprang von Zhao Yunlans Arm herunter und untersuchte genaustens alles unter dem Bett und unter dem Regal, dann sprang er auf die Fensterbank und schnüffelte mit gesenktem Kopf herum. Plötzlich drehte er den Kopf zur Seite und nieste heftig.

Obwohl Guo Changcheng in der Nacht zuvor einen großen Schock erlitten hatte, hatte er inzwischen bei genauerer Beobachtung festgestellt, dass sein gut aussehender Vorgesetzter bei Tageslicht auch Schatten warf. Er fasste sich ein Herz und untersuchte Zhao Yunlan noch eingehender, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass er zwar von seiner Nachtschicht in Mitleidenschaft gezogen worden war, aber dennoch ein Mensch war. Diese Schlussfolgerung beruhigte Guo Changcheng, und so schwänzelte er seinem Boss hinterher.

Zhao Yunlan zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche, nahm geübt eine davon heraus, steckte sie sich in den Mund und zündete sie an. Dann ging er zur Fensterbank und klopfte dem Kater auf den Hintern, um ihm zu signalisieren, dass er zur Seite gehen sollte. Er lehnte sich an die Fensterbank und paffte mit zusammengekniffenen Augen eine Rauchwolke aus. Der Geruch war nicht erstickend, sondern mit Pfefferminze und frischen Kräutern vermischt. Zusammen mit einem dezenten Hauch von Kölnischwasser wirkte der Duft entspannend. Es zeugte von einem gewissen Talent, so verlottert und gleichzeitig anziehend zu wirken.

»Schau mal«, hörte Guo Changcheng Zhao Yunlan sagen.

Wie befohlen senkte Guo Changcheng den Kopf. Im selben Moment durchfuhr ihn ein Zittern am ganzen Körper. Auf der bis dahin makellosen Fensterbank hatte er einen Abdruck entdeckt – es war der Handabdruck eines menschlichen Skeletts!

Zhao Yunlan beugte sich darüber und schnüffelte. »Kein fauler Geruch. Nur ein alter, erfahrener Kater kann hier etwas riechen.«

Der Kater öffnete das Maul. »Das war es also nicht?«

Guo Changcheng riss den Kopf herum, sodass sein Hals knackte. Fassungslos starrte er den sprechenden Kater an. Plötzlich spürte er eine seltsame Taubheit in seinen Nerven.

Nachdenklich schüttelte Zhao Yunlan in der Rauchwolke den Kopf. »Ich fürchte, nein. Etwas, das töten kann, riecht nicht so.«

Er schob das Fenster auf. Unwillkürlich fiel dabei sein Blick auf das bleiche Gesicht von Guo Changcheng, dem die Sinne zu schwinden schienen. Seine Welt war offensichtlich aus den Fugen geraten, er war ein reines Nervenbündel. Doch Zhao Yunlan konnte es nicht lassen, ihn weiter zu piesacken. »Hey, Kleiner, komm mal her. Schau mal, was da draußen ist.«

»Äh …«, erwiderte Guo Changcheng.

»Was heißt hier äh! Jetzt stell dich mal nicht so an und komm her, aber dalli!«

Gurgelnd schluckte Guo Changcheng den Speichel in seinem Mund. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und stellte fest, wie weit oben der erste Stock war. Seine Knie wurden weich. Aber sich umzudrehen und zu sagen: »Ich traue mich nicht«, überstieg seinen Mut und seine kommunikativen Fähigkeiten. Schließlich sah das unglückselige Kind keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma, als langsam wie eine fleischige Schnecke auf die Fensterbank zu kriechen. Dort kauerte er und wagte nicht, sich aufzurichten, klammerte sich am Fenstergitter fest, als hinge sein Leben davon ab, und traute sich nur, den Hals zu bewegen. So gut er konnte, drehte er den Kopf hin und her, um zitternd die Umgebung zu betrachten. Und da sah er plötzlich, ganz deutlich, ein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Seine Haare stellten sich auf. Entsetzt stellte er fest, dass die Scheibe nicht nur ihn spiegelte!

Ein menschliches Skelett war zu sehen, das seltsamerweise dort lag, wo Guo Changcheng kauerte. Seine Handknochen gingen direkt durch seine Fußgelenke und passten genau zu dem Abdruck auf dem Fensterbrett. Es starrte hinein …

Schnell schaute Guo Changcheng nach unten, aber da war nichts!

Einen Moment konnte er nicht entscheiden, ob das, was seine Augen sahen, oder die Spiegelung in der Fensterscheibe falsch war. Seine Brust war eiskalt. Sein Atem zitterte. Und mit einem Mal drehte das Skelett den Kopf und sah Guo Changcheng direkt im Fenster an. Er blickte in die beiden leeren Augenhöhlen des Schädels und erkannte darin eine Gestalt. Sie trug einen Umhang und war in einen schwarzen Nebel gehüllt. Sie hielt etwas in der Hand … Doch bevor er erkennen konnte, was es genau war, rief jemand von unten: »Hey, bist du ein Student? Was kletterst du da am Fenster herum?«

Die plötzlich erklingende Stimme erschreckte Guo Changcheng, der bis dahin tapfer die Nerven behalten hatte. Ungünstigerweise wuchs auf dem Fensterbrett rutschiges Moos, auf dem Guo Changcheng mit einem Bein ohnehin nicht sehr fest gestanden hatte. Auf tragische Weise wurde er nun ein Opfer der Schwerkraft. Zhao Yunlan eilte sofort herbei, um Guo Changcheng festzuhalten, erwischte dabei aber nur einen Teil seiner helmartigen Frisur. »Aua!« Guo Changcheng schrie auf. Erschrocken ließ Zhao Yunlan ihn los, sodass er hinunterfiel.

Der schwarze Kater wedelte auf dem Fensterbrett mit dem Schwanz. »Miau!«

»Verdammte Scheiße! Dieser Vollidiot!« Fluchend rannte Zhao Yunlan nach unten.

Glücklicherweise hatte die Gestalt, die Guo Changcheng angesprochen hatte, seinen Sturz gesehen und war ihm zu Hilfe geeilt, sodass er nicht mit dem ganzen Körper auf den Boden fiel. Es war ein großer, schlanker Mann, der selbst im Hochsommer ein langärmeliges weißes Hemd unter einem gebügelten Anzug trug. Auf seiner geraden Nase saß eine randlose Brille. Eine insgesamt gepflegte, intellektuelle Erscheinung, die eine starke Aura des Gelehrten umgab. Unter dem Arm trug er Stundenpläne, die zu Boden gefallen waren, als er Guo Changchengs Sturz abgefangen hatte.

»Geht es dir gut? Das war ganz schön gefährlich!«, sagte er zu Guo Changcheng, doch der achtete nicht auf ihn, sondern drehte den Kopf und blickte zum Fenstersims im ersten Stock. Es war leer wie eh und je, nichts war zu sehen. Es war, als wäre das Skelett mit der Gestalt im schwarzen Gewand in den Augenhöhlen, das eben noch am Fenster gehangen hatte, einfach nur seiner Fantasie entsprungen. Guo Changchengs Beine wurden weich, und er plumpste auf sein Hinterteil.

»Hast du dir die Beine verrenkt? Pass besser auf!« Der Mann mit der Brille beugte sich leicht zu Guo Changcheng hinunter und redete geduldig auf ihn ein. »Außerdem ist es auf dem Universitätsgelände streng verboten, auf Gebäude zu klettern. Dasist viel zu gefährlich und wird normalerweise bestraft. Ich sehe dieses Mal davon ab. Soll ich dich in die Klinik bringen?«

»Nein, nicht … nicht nötig«, stotterte Guo Changcheng, der noch weniger als sonst in der Lage war, klar zu sprechen. Er ließ den Kopf hängen und fühlte sich wie ein geborener Nichtsnutz. Wahrscheinlich konnte er in dieser Welt nur überleben, wenn er anderen auf der Tasche lag. Schon an seinem ersten Arbeitstag war er dem Wahnsinn nahe.

Zhao Yunlan stürmte auf Guo Changcheng zu, packte ihn am Kragen wie ein Huhn, dem das letzte Stündchen geschlagen hatte, und zog ihn in die Höhe. Am liebsten hätte er ihm die Schuhe ausgezogen und diesem Idioten von Neuling zwei verpasst, aber er wollte sein glattes, ehrenhaftes Bild in der Öffentlichkeit nicht ruinieren. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich abzuwenden. Was er nicht sah, konnte ihn auch nicht ärgern.

»Guten Tag –« Er streckte dem Herrn mit der Brille seine Hand entgegen. »Zhao ist mein Name. Ich komme von der Öffentlichen Sicherheit. Mit wem habe ich die Ehre?«

Ihre Blicke trafen sich, und für den Bruchteil einer Sekunde erstarrten sie.

Etwas huschte über das Gesicht des bebrillten Mannes, wie eine überraschende Bestürzung, so flüchtig, dass man an seiner eigenen Wahrnehmung zweifelte. Er schien es instinktiv zu vermeiden, Zhao Yunlans Hand zu berühren, besann sich dann aber schnell. Er räusperte sich und reichte Zhao Yunlan für einen flüchtigen Moment die Hand, um sie dann sofort wieder loszulassen.»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Mein Name ist Shen, Shen Wei. Ich unterrichte an dieser Schule. Entschuldigen Sie, ich dachte gerade, der junge Mann sei ein Student, der in den Semesterferien hiergeblieben ist.«

Shen Weis Hand war eiskalt, wie die einer Leiche, die man gerade aus dem Kühlhaus geholt hatte. Zhao Yunlan starrte einen Moment ins Leere, dann konnte er nicht anders, als ihn noch einmal anzusehen. Obwohl Shen Wei sich sofort abwandte und zur Ablenkung die Stundenpläne einsammelte, die auf den Boden gefallen waren, bemerkte Zhao Yunlan, dass etwas in seinem Blick sonderbar war, ohne dass er es genau beschreiben konnte. Es war, als wäre ihm dieser Blick vertraut. Zhao Yunlan half ihm dabei, die Blätter aufzuheben, und beide griffen gleichzeitig nach demselben Papier. Unter diesen Umständen – einer von ihnen greift nach dem Papier, der andere versucht, dabei zu helfen – hätte Zhao Yunlan derjenige sein müssen, der sich zurückzieht. Stattdessen schnellte Shen Weis Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Seine Lippen waren blass, die Wangen aber rot gefärbt.

Er benahm sich wirklich seltsam für eine erste Begegnung. Es war, als hätte er Angst vor Zhao Yunlan, doch da war noch etwas anderes. Wenn ein Krimineller, der sich schuldig fühlt, einem Polizeibeamten begegnet, ist er nervös und versucht eher, die Reaktion des Polizisten anhand seines Blicks zu erahnen, statt ihm auszuweichen.

Das war alles sehr rätselhaft. Zhao Yunlan begann, Shen Wei genau zu beobachten.

Die Welt ist voller unterschiedlicher Schönheiten. Sonnig, erfrischend, kühn, zart – ihre Möglichkeiten sind endlos. Aber es gibt eine Art Porzellan, das auf den ersten Blick schön anzuschauen ist, ohne dabei zu bezaubern. Eine feine, elegante Schönheit hingegen fordert nicht frech Aufmerksamkeit, sondern fesselt den aufmerksamen Blick und fasziniert durch ihre Erlesenheit.

Das beschrieb Shen Weis Erscheinung. Je länger man ihn ansah, desto mehr Schönheit offenbarte sich.

Zhao Yunlan hatte keine Vorlieben für Männer oder Frauen, außerdem war er seit einigen Monaten Single. Sein misstrauischer Blick auf Shen Wei wich dem Verlangen. Trotz des unangemessenen Augenblicks blieb sein Herz für einen Moment stehen.

Obwohl Zhao Yunlan kein typischer Kriminalbeamter war, gehörte die Fähigkeit, Menschen zu erkennen, zu den Grundfertigkeiten seines Berufs. Wer in diesem Bereich arbeitete, fürchtete sich am meisten davor, sich nicht an Menschen erinnern zu können. Doch Zhao Yunlan konnte sich auch Gesichter ins Gedächtnis zurückrufen, denen er nur kurz begegnet war. Und er war sich sicher, dass er diesen Mann noch nie gesehen hatte.

Da kam der große kugelige schwarze Kater auf Shen Wei zugerannt. Er benahm sich, als hätte er etwas zu sich genommen, schmiegte sich eng an Shen Weis Beine, beschnüffelte sie ganz genau, umkreiste sie einige Male und gab schließlich ein kokettes Miauen von sich.

Dieser alte Kater hatte es immer verstanden, gut zu fressen und wenig zu arbeiten und den dummen Menschen stets mit vornehmer Kühle zu begegnen. Nie zuvor hatte er sich so verhalten wie ein … ja, wie ein Schmusekätzchen.

Verblüfft beobachtete Zhao Yunlan, wie sich der schwarze Kater schamlos und hingebungsvoll an Shen Weis Hosenbein rieb. Überraschend verführerisch hob er den Kopf und streckte die lächerlich kurzen Vorderbeinchen zu Shen Weis Knien hin, um so um eine Umarmung zu betteln.

Shen Wei bückte sich und nahm ihn auf den Arm. Es störte den Kater auch nicht, dass Shen Weis Hände kalt waren. Mit einem Miauen rollte er sich zu einer Kugel zusammen, kuschelte sich in seine Arme und blickte mit seinen dunkelgrünen Äuglein in Shen Weis Augen, die sich hinter den Brillengläsern verbargen.

Zhao Yunlan hatte das Gefühl, dass sie sich gegenseitig anstarrten.

Schweren Herzens übergab Shen Wei den schwarzen Kater schließlich in die Arme von Zhao Yunlan und kraulte den Kater am Kopf. »Was für ein kluger Kater. Hat er auch einen Namen?«

»Ja, Daqing«, antwortete Zhao Yunlan, ohne lange nachzudenken, »sein Kosename ist Dickerchen.«

Der schwarze Kater jaulte auf, seine Haare sträubten sich. Im Nu hatte er die verträumte Haustierchen-Attitüde abgelegt und wetzte seine Krallen an Zhao Yunlan.

Zhao Yunlan wich den Krallen aus, nahm den Kater in seine Arme und schaute Guo Changcheng bedeutungsvoll an.

»Oh, der kann aber kratzen!« Lachend griff Shen Wei nach der kratzenden Pfote und schüttelte sie sanft, woraufhin der schwarze Kater brav seine Krallen einfuhr und sich den Kopf kraulen ließ. »Ich habe gehört, dass es heute früh einen Todesfall gegeben hat. Was ist passiert? Ist es sicher, dass die tote Person von unserer Universität ist?«

Guo Changcheng starrte seinen Vorgesetzten an, riss sich zusammen und zog das Foto einer Studentin und einen Studierendenausweis heraus. Zitternd reichte er es Shen Wei und stotterte: »Pro… Professor Sh… Shen, könnten Sie bi… bitte einen Bl… Blick darauf werfen? Kommt Ihnen diese Person bekannt vor?«

Shen Wei schob seine Brille hoch, um einen Anflug von Panik zu verbergen und seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. »Ich kenne sie nicht. Ich glaube nicht, dass sie in einem meiner Kurse war. Stimmen die Gerüchte also, dass gestern Nacht einer Studentin etwas zugestoßen ist?«

Zhao Yunlan musterte ihn aufmerksam und achtete auf die kleinste Regung. »Ja. Dieser Ausweis wurde bei der Toten gefunden. Wo können wir mehr über sie erfahren?«

Shen Wei wich seinem fordernden Blick aus. »Sie können den Registrator fragen.«

»Wo finden wir ihn?«, fragte Zhao Yunlan sofort. »Wären Sie so freundlich, uns dorthin zu begleiten?« Shen Wei versteifte sich, aber Zhao Yunlan gab nicht nach. »Oder macht das zu viele Umstände?«

Shen Wei hielt inne. Sein Griff um die Stundenpläne wurde fester. »Folgen Sie mir«, sagte er schließlich zögernd.

3

Der ursprüngliche Campus der Drachenstadt-Universität war während der Zeit der Chinesischen Republik errichtet worden und blickte mittlerweile auf eine hundertjährige Geschichte zurück. Die dichten alten Bäume auf dem Campus schluckten das gesamte Sonnen- und Tageslicht. Die westliche Architektur der Universitätsgebäude stammte noch aus der Zeit der damaligen Europäischen Konzession und wirkte altehrwürdig und entrückt. Nur das Bürogebäude am Westtor war erst in den letzten Jahren fertiggestellt worden. Es ragte hinter einer Baumschicht in die Höhe und wirkte zwischen all den alten Gebäuden wie ein undefinierbarer Fleck, der das Bild des ganzen Campus störte.

Doch das nagelneue Gebäude der Universitätsverwaltung ließ Zhao Yunlans Augenlider unwillkürlich zusammenzucken. Es hatte achtzehn Stockwerke.4 Er brauchte nicht zu zählen, um das zu wissen.

Es hatte eine Zeit gegeben, als man die Zahl Achtzehn bei der Nummerierung der Stockwerke von hohen Gebäuden vermieden hatte, aber als dann die Wohnungspreise in die Höhe schossen und der Markt boomte, ging es nur noch darum, so viel zu bauen und zu verkaufen wie nur möglich, sodass sich nach und nach keiner mehr um solchen »Bau-Aberglauben« kümmerte. Nur jemand, der sich damit auskannte, konnte erkennen, wenn hier etwas nicht stimmte.

Eine dunkle, kalte Brise wehte ihnen entgegen, als sie das Gebäude betraten. War es die Klimaanlage? Daqing, der auf Zhao Yunlans Schulter saß, zitterte, und seine scharfen Krallen gruben sich fest in Zhao Yunlans Hemd.

Shen Wei brachte sie zum Aufzug und drückte auf den Knopf. »Laut Studierendenausweis war sie Studentin der mathematischen Fakultät. Die befindet sich ganz oben.«

»Fragen Sie sich eigentlich nicht, wie das alles passiert ist?«, fragte Zhao Yunlan plötzlich. »Die meisten Menschen, die von so etwas erfahren, wollen mehr darüber wissen.«

Shen Wei senkte den Kopf leicht und sagte leise: »Hier geht es um das Opfer. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um Ihnen zu helfen, alles andere geht mich nichts an.«

Zhao Yunlan legte seine Hand auf den Rücken des schwarzen Katers, abwesend streichelte er ihm über das Fell. »So hilfsbereite Mitbürger wie Sie gibt es selten. Daqing ist bei Fremden nie so zutraulich, aber an Ihnen scheint er einen Narren gefressen zu haben.«

Shen Wei lächelte sanft. »Keine Ursache.«

Für eine Weile schwieg Zhao Yunlan. Gleich zu Beginn war ihm aufgefallen, dass etwas mit Shen Wei nicht stimmte. Er hatte ihm von Anfang an nicht in die Augen schauen können und schien auch jetzt seinen Blick bewusst zu meiden.

Im vierten Stock ruckelte der Aufzug plötzlich und hielt unerwartet an. Das Deckenlicht flackerte, offenbar hatte es einen Wackelkontakt. Ängstlich schaute Guo Changcheng zu Zhao Yunlan, aber der – keine Ahnung, was mit dem los war – war ganz in Gedanken versunken und betrachtete, ohne mit der Wimper zu zucken, Shen Wei.

Da erklang eine schwache Männerstimme aus dem Aufzug. »Professor Shen, was möchten Sie im achtzehnten Stock machen?«

Shen Weis Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Auf dem Universitätsgelände ist ein Unfall passiert. Diese zwei Herren hier sind von der Öffentlichen Sicherheit. Ich bringe sie zur mathematischen Fakultät, damit sie sich ein umfassenderes Bild von der Lage machen können.«

»Oh.« Der Sprecher schien eine verlangsamte Reaktion zu haben. In einem schwachen, trägen Ton sagte er: »Verstehe. Bitte seien Sie vorsichtig, Professor Shen.«

Erst nachdem seine Stimme verstummt war, kehrte wieder Normalität ein. Das Licht ging wieder an, und mit einem lauten Knacken setzte der Aufzug seine Fahrt nach oben fort, als wenn nichts gewesen wäre.

»Hast du dich erschreckt?« Shen Wei wandte sich um, wobei er weiterhin nur Guo Changcheng anschaute und Zhao Yunlan verstohlen vermied. »Das war eben der Sicherheitsdienst des Gebäudes. Letztes Semester hat sich eine Studentin vom Dach gestürzt. Wenn nun jemand, der nicht zur mathematischen Fakultät gehört, grundlos in das oberste Stockwerk möchte, hält der Wachmann den Aufzug kurz an und stellt ein paar Fragen, um zu verhindern, dass ein weiteres Unglück passiert.«

Guo Changcheng atmete erleichtert auf und lachte verlegen. »Oh, das war also der Wachmann. Ich dachte schon …«

»Dass das etwas Übernatürliches war?« Shen Wei schmunzelte.

Guo Changcheng lief rot an.

Zhao Yunlan runzelte die Stirn.

Das Feng-Shui dieser Hochschule war extrem schlecht, und dieser Professor, der ihn die ganze Zeit nicht direkt anschaute, war sehr seltsam. Vielleicht war auch der sorgsame Wachmann, der alle befragte, die in die höheren Stockwerke wollten, alles andere als ein »Sicherheitsdienst«.

Ruckelig kamen sie im achtzehnten Stock an. Er war menschenleer. Noch nicht mal Mücken oder Geckos hatten sich hier angesiedelt. Es war düster, kalt und feucht.

Zhao Yunlan musste niesen.

Sofort wandte sich Shen Wei um. »Haben Sie sich erkältet?«

Diese Frage wirkte, trotz Shen Weis unsteten Augenkontakts, wenn er mit Zhao Yunlan sprach, außergewöhnlich ehrlich. Die Art, wie er dabei den Kopf senkte, hatte etwas von der Rechtschaffenheit eines Gentlemans und schuf einen seltenen Moment, in dem Shen Wei mit seiner Art keine Verunsicherung bei Zhao Yunlan hervorrief. Es war so angenehm, ihn einfach so zu betrachten, dass es Zhao Yunlan nahezu unvorstellbar vorkam, ihn zu verdächtigen.

Zhao Yunlan rieb sich die Nase. »Nein. Schon als wir das Gebäude betreten haben, ist mir dieser spezielle Geruch unerledigter Mathe-Hausaufgaben in die Nase gestiegen. Dagegen bin ich allergisch …«

Shen Weis Augen formten einen Halbmond, während er ein warmes Schmunzeln unterdrückte.

»Nicht lachen!«, scherzte Zhao Yunlan. »Ehrlich gesagt, waren die Lehrer während meiner Schulzeit meine natürlichen Feinde. Mein Klassenlehrer hat damals vorausgesagt, dass ich auf jeden Fall ein Gangster werde, wenn ich groß bin. Wer hätte gedacht, dass ich es mal zum Polizisten schaffe. Beim letzten Klassentreffen habe ich ihn getroffen und wollte ihm zeigen, wo der Hammer hängt. Raten Sie mal, was er gesagt hat!«

Shen Wei hörte aufmerksam zu. »Was denn?«

»Der alte Zyniker meinte nur: Schau einer an, unser Zhao ist jetzt ein astreiner Ganove in Uniform!«

Zhao Yunlan war es gewohnt, mit den unterschiedlichsten Leuten zurechtzukommen. Er war gesprächig und konnte sich gut artikulieren. Mit nur wenigen Worten gab er Menschen ein Gefühl von freundlicher Vertrautheit. Sogar Guo Changcheng spürte bei der Erwähnung von Mathe-Hausaufgaben eine Gemeinsamkeit.

Aber Shen Wei lauschte Zhao Yunlans Geplapper, als legte er jedes Wort auf die Goldwaage. Dabei wagte er es weiterhin nicht, ihn anzusehen, und nach einer Weile wirkte sein auf den ersten Blick sanftes Lächeln wie modelliert, als habe man es ihm ins Gesicht gemalt.

Zhao Yunlan befürchtete, dass Shen Weis Gesicht vor Lächeln bald erstarren würde.

Plaudernd gingen die drei weiter, während ihre Schritte von den Wänden des Flurs widerhallten. Das laute Lachen der Männer verdeckte dabei, dass sich die Schritte einer vierten Gestalt untergemischt hatten. Leise schlurfte sie über den Boden, wie die weichen Stoffschuhe einer älteren Person.

 

Das Verwaltungsgebäude war eine hohe, schmale Turmkonstruktion, mit dem Aufzug in der Mitte, von Fluren umzingelt.

Auf einmal bemerkte Guo Changcheng, dass sich Zhao Yunlans Uhr lautlos auf merkwürdige Weise veränderte. Aus der Mitte heraus, von der Stelle, wo sich der Stunden- und Minutenzeiger trafen, breitete sich eine rosenrote Farbe kreisförmig, wie sich kräuselnde Wellen im Wasser, nach außen hin aus, was seine Männerarmbanduhr wie ein teures Handwerksprodukt erscheinen ließ. An dem blassen, schlanken Männerhandgelenk strahlte die metallene Schnalle einen schwer zu beschreibenden unheimlichen Luxus aus.

Guo Changcheng zögerte kurz und flüsterte dann: »Di… Direktor Zhao … Ihre Uhr …«

»Was ist los? Hat sie sich rot gefärbt?« Zhao Yunlan wandte sich mit seinem für ihn typischen schelmischen Lachen um. »Weißt du, warum?«

Naiv schüttelte Guo Changcheng den Kopf.

Zhao Yunlan kicherte. »Böse Geister tragen Rot. Das Feng-Shui von diesem Gebäude ist schlecht. Vielleicht versteckt sich hier etwas Böses. Kann gut sein, dass der Schatten davon in der Uhr gespiegelt wird …«

Guo Changcheng erbleichte. Instinktiv blickte er auf das Ziffernblatt der Uhr, auf dem er nun eine alte Frau sah. Sie war mittelgroß und in Schwarz gekleidet. Ausdruckslos starrte sie ihn an.

Guo Changcheng blieb abrupt stehen.

Zhao Yunlan hingegen lief lachend weiter, als sei nichts geschehen. Er drehte an einem kleinen Knopf auf der Seite der Uhr, woraufhin Nebel aus der Uhr aufstieg und das Rot sofort verwässerte. Schon im nächsten Augenblick war wieder ein sauberes Ziffernblatt einer gewöhnlichen Männeruhr zu sehen, ohne seltsames Rot, ohne sich spiegelnden Frauengeist.

»Hast du noch nie eine Computermaus gesehen, die die Farbe ändert? Ist dasselbe Prinzip. Dir kann man echt alles erzählen.« Zhao Yunlan hörte plötzlich auf, sich über den Neuling lustig zu machen, und wandte sich an Shen Wei. »Professor Shen, als Gelehrter sind Sie sicher Atheist. Sie glauben bestimmt nicht an Geister, oder?«