Gut Friesenhain - Zwischen Traum und Freiheit - Lotte Grünewald - E-Book
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Gut Friesenhain - Zwischen Traum und Freiheit E-Book

Lotte Grünewald

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Beschreibung

Münsterland 1895: Zerrissen zwischen gesellschaftlichen Konventionen und dem Drang nach Freiheit kämpft eine junge Grafentochter für die Erfüllung ihres Traums …

Münsterland, 1895. Als älteste Tochter der Grafenfamilie von Scheweney ist Luises Leben vorbestimmt: Sie soll den Adligen Johan van Leeuwen heiraten und ihre Tage unter den feinen Damen der Gesellschaft verbringen. Doch die temperamentvolle Luise will ihre Zukunft selbst gestalten. Sie will Tiermedizin studieren und auf dem Gestüt ihrer Familie anpacken. Als sie heimlich an einer Veranstaltung der Frauenbewegung teilnimmt, lernt sie Max Brugge kennen. Der junge Sozialdemokrat hat für Luises Probleme nur Spott übrig, Johan wiederum entpuppt sich bei seiner Ankunft nicht nur als standesgemäß, sondern auch als weltoffen. Ein passender Ehemann scheint endlich gefunden – doch warum geht Max Luise einfach nicht aus dem Kopf?

Die große Münsterland-Saga von Lotte Grünewald:
Band 1: Gut Friesenhain – Zwischen Traum und Freiheit
Band 2: Gut Friesenhain – Zwischen Hoffnung und Vernunft
Band 3: Gut Friesenhain – Zwischen Liebe und Skandal

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Buch

Münsterland, 1895. Als älteste Tochter der Grafenfamilie von Scheweney ist Luises Leben vorbestimmt: Sie soll den Adligen Johan van Leeuwen heiraten und ihre Tage unter den feinen Damen der Gesellschaft verbringen. Doch die temperamentvolle Luise will ihre Zukunft selbst gestalten. Sie will Tiermedizin studieren und auf dem Gestüt ihrer Familie anpacken. Als sie heimlich an einer Veranstaltung der Frauenbewegung teilnimmt, lernt sie Max Brugge kennen. Der junge Sozialdemokrat hat für Luises Probleme nur Spott übrig, Johan wiederum entpuppt sich bei seiner Ankunft nicht nur als standesgemäß, sondern auch als weltoffen. Ein passender Ehemann scheint endlich gefunden – doch warum geht Max Luise einfach nicht aus dem Kopf?

Autorin

Lotte Grünewald ist das Pseudonym von Mirjam Müntefering. Das Suchen und Erfinden spannender Geschichten begleitet sie schon ein Leben lang – sei es während ihres Studiums der Filmwissenschaften, in den Jahren, in denen sie als Fernsehjournalistin tätig war, oder heute als Autorin. Wenn sie nicht gerade in ihrem Tinyhouse-Schreibwagen Romane zu Papier bringt, genießt sie das Leben mit ihrer Ehefrau und allerlei Tieren am grünen Rand des Ruhrgebiets. Die Friesenstute Jeltje – die beste Freundin ihrer eigenen Stute – diente als Inspiration für ihre Familiensaga-Trilogie »Gut Friesenhain«, in der es um ein malerisches Gestüt im Münsterland geht.

Weitere Informationen unter: www.mirjam-muentefering.de

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Lotte Grünewald

GUTFRIESENHAIN

Zwischen Traum und Freiheit

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 2023 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2023 by Lotte Grünewald

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Redaktion: Theresa Klingemann

Covergestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins Photography und stock.adobe.com (jackey, Lars Gieger, ivan kmit, AVTG, Rungsan, Konstiantyn, Rita Kochmarjova)

DK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28125-0V003

www.blanvalet.de

Für Jeltje

Prolog

Weißer Nebel steigt vom Flüsschen auf und wabert über die Wiesen am Fuße des Schafberges. An den Eichen und Buchen, die die Szenerie nahe des Städtchens Ibbenbüren umstehen, hat der Herbst das Laub bereits gefärbt. Im gerade heraufziehenden Morgenlicht schimmert es golden und blutrot.

Unter den so unbeteiligt stehenden Bäumen haben sich zwei kleine Gruppen von jeweils drei Herren eingefunden, die einander auf Distanz beäugen.

Ein Mann mit Doktorentasche geht von den einen zu den anderen, tauscht mit den Männern eindringliche, fast flehende Worte. Doch Kopfschütteln ist hier wie dort die Antwort.

Nicht lange, da löst sich aus jedem Bunde jeweils ein Mann und schreitet auf das taufeuchte Gras hinaus.

Von beiden Seiten kommend gehen sie steifen Schrittes. Ihre Stiefel streifen die Tropfen von den Halmen, bis nur noch zwei Meter die Männer trennen.

Kein Gruß, kein Lächeln. Nur das leichte Neigen ihrer Köpfe ist zu beobachten.

Dann drehen sie einander die Rücken zu. Warten.

Vom Waldrand her ertönt eine laute Stimme. »Eins. Zwei. Drei …«

Bei jeder Zahl ein Schritt.

Als die Zehn ertönt, wenden sie sich um.

Der eine, auch auf die Distanz von zwanzig Schritt deutlich kleiner als sein Gegenüber, hebt den Arm.

Doch er biegt ihn so weit zur Seite, dem Licht der aufgehenden Sonne entgegen, dass er sein Ziel unmöglich treffen kann.

Ein Schuss löst sich, verhallt am Waldrand.

Pulverdampf verfliegt.

Beide Männer stehen.

Der andere hält inne, zögert.

Kein menschlicher Laut dringt über die Ebene. Auch die längst erwachten Vögel, die gerade noch in den Wipfeln tirilierend den neuen Tag begrüßten, sind verstummt.

Es ist, als bliebe es auf ewig still.

Dann biegt auch der andere den Finger um den Abzug. Und schießt.

Luise 1

Gestüt Friesenhain zu Ibbenbüren, Tecklenburger Land im Spätsommer 1895

»Mich hält keiner auf! Ich bin die Erste am Tor!«, rief Luise und gab Jeltje die Zügel vor. Ihre Stute hatte auf dieses Zeichen nur gewartet und sprang freudig in den Galopp. Hinter sich vernahm Luise den überraschten Ausruf ihrer jüngeren Schwester Clara und Maries begeistertes Anfeuern ihres eigenen Pferdes. Die blühende Heide flog nur so an ihnen vorbei, und der hier noch sandige Boden spritzte in alle Richtungen. Doch schon hatten sie das Moorgebiet hinter sich gelassen, in dem zwischen Ibbenbüren und Osnabrück der sich ankündigende Herbst die Landschaft mit leuchtenden Farben übergoss. Das Gelände stieg an. Anstelle der niedrigen Gebüsche und Birkenwäldchen des Moores traten nun große Bestände aus Eichen, Pappeln und Buchen, die die ausgedehnten Wiesen Friesenhains säumten. Das Donnern der Hufe war weithin zu hören. Auf einem nahegelegenen Kartoffelacker hielten die Frauen und Kinder der Pächter in der Sammelarbeit inne und schauten ihnen mit in den Rücken gestemmten Händen gegen die Morgensonne blinzelnd nach, während sie zu dritt auf ihren edlen Tieren vorbeipreschten.

Feiner Nebel stand vor dem Waldrand und ließ den sanften Gelb- und Rotschimmer des Laubes wie die Tupfer eines Pinsels auf der Leinwand wirken.

Der Boden war vom Regen der letzten Tage schwer. Lehmige Klumpen lösten sich von den Pferdehufen, sausten durch die Luft und klatschten zurück auf den Grund. Luise sog tief den intensiven Geruch feuchter Erde ein. Es roch wie der bunte Herbst, wie sentimentaler Abschied und wilder Aufbruch zugleich. Eine Strähne ihres Haares löste sich aus dem Knoten, der unter ihrem Reithut festgesteckt war, flatterte um ihr Gesicht, verstärkte das unbändige Gefühl von Freiheit, das sie in diesem Moment ganz und gar erfüllte. Sie jauchzte und stellte sich leicht in die Steigbügel. Die behandschuhten Hände mit den lockeren Zügeln neben Jeltjes stets stolz aufgerichtetem Hals weit vorgestreckt, beugte sie sich über die wehende, rabenschwarze Mähne. Luise genoss die fließenden Bewegungen ihrer Friesenstute und deren spürbare Lust an der wilden Hatz. Jeltje hatte offenbar genauso viel Spaß an den weiten Sprüngen wie sie selbst.

Der rauschende Wind der Geschwindigkeit trieb Luise Tränen in die Augen, doch gleichzeitig lachte sie laut über das Rufen hinter ihr, als Marie mit dem großen Hannoveraner Fuchswallach aufzuholen versuchte. Clara auf ihrer Schimmelstute war bereits abgeschlagen, was natürlich an ihrem scheußlichen Sattel lag, in dem sie im Damensitz saß. Zu dritt preschten sie über die nach der zweiten Mahd abgeernteten Wiesen und fegten über den Feldweg hinweg in den Park, der mit seinen hohen Bäumen und den sorgfältig gepflegten Rasenflächen das Gestüt Friesenhain umgab. Als sie durch das große schmiedeeiserne Tor auf die lange Auffahrt zum Gebäude einbogen, drosselte Luise das Tempo ihrer Stute.

Marie tauchte auf dem Jagdpferd neben ihr auf, außer Atem und mit geröteten Wangen, was ihr mit ihrem weißblonden Haar ausgezeichnet stand. Ihre haselnussbraunen Augen leuchteten.

»Bei einem gerechten Start hätten Komet und ich dich eingeholt«, keuchte sie und klopfte den Hals des riesigen Wallachs. Dessen Hals glänzte vor Schweiß und seine Nüstern blähten sich.

Luise lachte. »Aber nur, weil du ihn reitest. Sobald Wilhelm auf ihm sitzt, läuft er nicht mal halb so schnell.«

»Das liegt nur daran, dass er seinen Herrn nicht so gut kennt wie mich. Wenn Wilhelm nur mehr Zeit mit ihm verbringen würde. Für mich würde er alles tun, nicht Komet?!«, säuselte Marie ihrem Reittier zu.

Luises fünf Jahre älterer Bruder Wilhelm nahm zwar pflichtbewusst an den üblichen Jagdveranstaltungen teil, zu denen die Grafenfamilie von Scheweney im Frühjahr und späten Herbst einlud, doch seine Aufgaben auf dem Gestüt hielten ihn davon ab, sein Jagdpferd zu trainieren. Das überließ er gern Marie, der Tochter des Stallmeisters, die diese Aufgabe nur zu gern übernahm. Pferde waren ihre große Leidenschaft. Und Komet liebte sie besonders.

»Nun gib zu, dass ich gewonnen habe!«, verlangte Luise mit einem breiten Grinsen und rupfte den Handschuh herunter. Mit den Fingern fuhr sie Jeltje durchs schweißnasse Fell am stolz getragenen Hals. Der wohlige Geruch des warmen Pferdekörpers stieg zu ihr auf. Sie fühlte sich ihrer Stute immer innig verbunden, aber nach einem solchen Ritt meinte sie regelrecht, ihre Seele zu spüren.

»Ich finde, Clara hat diesen Pokal verdient«, erwiderte Marie und wandte sich nach der Dritten im Bunde um, die sich ihnen auf ihrer zierlichen Schimmelstute in flottem Trab von hinten näherte.

»Clara, Luise und ich gestehen dir den Sieg zu«, rief Marie und Luise sah, wie die gemeinsame Freundin ihrer jüngeren Schwester zuzwinkerte.

»Wie das? Ich bin doch die Letzte«, antwortete die. Auch ihre Wangen waren gerötet. Wie machte sie es nur, dass ihr schweres kastanienbraunes Haar trotz des wilden Galopps immer noch so ordentlich frisiert wirkte? Sicher hatte Agnes, ihr gemeinsames Kammermädchen, den Knoten mit doppelt so viel Kämmen festgesteckt wie Luise selbst es ertragen könnte.

»Du bist die Einzige von uns, die elegant und angemessen gekleidet ist«, erwiderte Marie mit einem schiefen Seitenblick zu Luise.

Sie musste lachen und klopfte sich auf die Hosen, die sie ebenso wie Marie trug, welche als Tochter des Stallmeisters selten in anderer Kleidung zu Pferde unterwegs war. »Marie hat recht, Clara. Damit würdest du als Einzige vor Mutters Musterung bestehen. Und das allein zählt! Sie ist es doch, die bei der Jagd den Sieger ehrt.«

Clara lächelte breit, sah fröhlich und gelöst aus, was viel zu selten vorkam, fand Luise. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester war so ganz anders als sie selbst. Sah man sie zusammen, hätte kaum jemand sie für Schwestern gehalten. Neben der wesentlich kleineren Clara, die so zerbrechlich wirkte, kam Luise sich und kräftiger vor. Doch hinter Claras zarten Erscheinung verbarg sich ein stets besonnener Geist, der die junge Frau so wohlüberlegt durch ihre Tage gehen ließ, als sei sie mindestens zehn Jahre älter. Jede Lebensentscheidung überdachte Clara gründlich und klug, ehe sie handelte. Leidenschaftliches Aufbrausen kannte sie nicht – etwas, das sich Luise mit ihrem hitzigen Temperament kaum vorstellen konnte. Jetzt pustete Clara nur kurz zu ihrer Stirn hinauf, während Luise sich mit ihrer nackten Hand bereits durchs Gesicht gestrichen hatte und bestimmt ebenso zerzaust wirkte, wie sie sich innerlich fühlte: aufgewühlt, frisch und von der fragilen Freiheit beglückt, die sie in solchen Augenblicken ganz und gar erfüllte.

Nebeneinander ritten sie die von Platanen gesäumte Auffahrt Friesenhains hinab.

Die Südfront des großen Vierkanthofes beherbergte das Herrenhaus, dessen weiße Fensterrahmen mit dem Rostrot der Mauerziegel im Morgenlicht um die Wette leuchteten. Der Treppenaufgang zum Hauptgebäude war mit einer eleganten Veranda versehen, in der bunte Glaseinsätze die Sonnenstrahlen aufblitzen ließen.

Rechts und links des imposanten Baus in der Mitte, der von einem hübschen Glockenturm gekrönt wurde, zogen sich etliche Fenster im Hochparterre dahin. Hinter denen befanden sich Frühstückszimmer, Speisezimmer, Salon und Bibliothek, während in der Beletage darüber die Wohn- und Schlafräume der Grafenfamilie von Scheweney lagen. Oben, unter dem für diesen Landstrich am Mittellauf der Ems so typisch abflachenden Dach, befanden sich die Kammern der Dienerschaft.

So vertraut der Anblick des Gebäudes für Luise auch war, schien an diesem Morgen ein besonderer Glanz darauf zu liegen und sie spürte ein sonderbares Kribbeln im Bauch, wie eine Vorahnung auf etwas Großes.

Für einen kurzen Moment wähnte sie, in der oberen Etage ein Gesicht am Fenster zu sehen. Doch als sie genauer hinschaute, war da nichts, und sie folgte rasch Clara und Marie, hinter denen sie sich während ihrer stillen Betrachtung ein wenig hatte zurückfallen lassen.

Gemeinsam umrundeten sie den Hof auf dessen Ostseite, wo sich das Gebäude ebenso lang erstreckte wie an der Front. Nur, dass es hier lediglich eine Etage gab, welche die Stallungen beherbergte, ebenso wie auf der Westseite.

Im Norden, wohin sie sich jetzt wandten, besaß das Gemäuer eine breite und hohe Hofeinfahrt wie einen kurzen Tunnel. Durch den ritten sie nun in den quadratischen Innenhof der Gestütsanlage. Hier lag mittig eine rechteckige Rasenfläche, die von einem breiten Kiesweg vom Gebäude getrennt war. Es gab einen Platz, auf dem die Stallburschen die Pferde trockenführen konnten, neben dem Brunnen eine Putzstelle und natürlich Sattelkammer und Unterstand für die Kutschen.

Aus einigen der knapp hundert Boxen schauten neugierig ein paar der Reit- und Kutschpferde heraus. Die tragenden Hannoveraner Stuten, mit deren Abfohlung in den nächsten Tagen und Nächten zu rechnen war, durften sich auf den Koppeln nahe am Haus bewegen – das war wichtig vor der Geburt.

Jene Stuten, die in diesem Jahr nicht zur Zucht eingesetzt wurden oder die ihre Jungtiere bereits bei Fuß hatten, waren weiter draußen auf den weitläufigen Weiden. Die Hengste des Gestüts, drei Hannoveraner und ein Friese, standen getrennt von ihren weiblichen Artgenossen auf den Koppeln am Hengststall neben der größten Scheune. So herrschte in der Regel Ruhe zwischen den Geschlechtern und es kam auch unter den Hengsten nicht zu Streitigkeiten.

Auch hier im Innenhof war gleich auszumachen, dass die Südseite des Hofes vom herrschaftlichen Wohngebäude der Grafenfamilie eingenommen wurde. Eine breite Freitreppe, nur wenig schmaler als die repräsentative vorn an der Alleeauffahrt, führte zum hinteren Eingang hinauf.

Etliche Meter weiter lag der Eingang für die Dienstboten und Lieferanten, zu dem es ein paar Stufen hinab waren, denn Küche, Gesindestube, Nähraum und Vorratskammern lagen im Souterrain.

Die gesamte Anlage war sorgfältig gepflegt, der Rasen frischgrün, die Blumen in den gewaltigen Kübeln an seinen vier Ecken hübsch in Gelb und Orange.

Als die beiden Grafentöchter und ihre Freundin im Innenhof erschienen, eilten sofort zwei der Stallburschen herbei, um die Pferde der jungen Herrinnen anzunehmen. Luise sprang, ebenso wie Marie, aus dem Sattel. Nur Clara brauchte ein wenig länger, da sie ihr Bein über das Horn des Damensattels heben und langsam herunterrutschen musste. Der größere der beiden Jungen, Rudi, griff nach Tessas Zügel und reichte Clara dienstbeflissen die eilig an der Hose abgewischte Hand zur Hilfe.

Der andere, wesentlich kleinere Junge hatte sich Luise zugewandt, war jedoch dann wie angewurzelt stehen geblieben. Mit großen Augen starrte er zuerst Luise in ihrem Reitanzug samt Hosen an und behielt dann ängstlich Jeltje im Blick, als erwarte er von ihr irgendein Unheil.

»Du bist neu hier, nicht wahr?«, stellte Luise fest. Der Junge war blass mit jeder Menge Sommersprossen auf Nase und Wangen und so spindeldürr, dass sie ihm die harte Arbeit im Stall nicht zugetraut hätte. Die zerschlissene Hose und der grau verfärbte Kittel waren ihm viel zu groß. Sicher eine milde Gabe eines der erwachsenen Stallburschen. Auch seine Holzschuhe wirkten alt, als seien schon etliche andere Füße darin herumgelaufen. Er nickte scheu und senkte den Blick.

Der vierzehnjährige Stallbursche Rudi war in den letzten Monaten deutlich in die Höhe geschossen. Er arbeitete bereits seit zwei Jahren unter Stallmeister Paas. Nun trat er mit Claras Schimmelstute am Zügel zu ihnen und stieß dem deutlich Jüngeren unsanft in die Rippen. »Jawohl, Komtess, musst du sagen!«

»Jawohl, Komtess«, wiederholte der Gerügte leise.

»Wie heißt du?«, erkundigte Luise sich mit freundlicher Stimme, um ihm ein wenig die Scheu zu nehmen.

Der Kleine blinzelte unter den verfilzt wirkenden Haaren von unten herauf, sah jedoch nicht sie an, sondern beobachtete Jeltje, die seinen Blick neugierig erwiderte.

»Alfred«, murmelte er.

»Ich heiße Alfred, Komtess«, raunzte Rudi ihm zu.

»Ist schon gut, Rudi«, sagte Luise als der Jüngere zum Wiederholen ansetzte. »Alfred wird das sicher noch lernen.«

»Jawohl, Komtess«, antwortete Rudi mit einem Kopfnicken, das jedoch besagte, dass er sich da nicht so sicher war.

»Und wie gefällt es dir, als Stallbursche auf Gestüt Friesenhain zu arbeiten, Alfred?«, erkundigte Clara sich bei dem vielleicht Elfjährigen. »Hast du es bequem in der Unterkunft?«

Das war wieder ganz ihre jüngere Schwester, befand Luise. Clara hatte sicher schon von dem neuen Stallburschen gewusst und auch seinen Namen in Erfahrung gebracht. Das gesamte Personal mochte sie, weil sie sich stets nach ihnen erkundigte – nach der Gicht der alten Waschfrau ebenso wie nach den Heiratsplänen, die der zweite Hausdiener für seine Tochter hegte. Auch jetzt wirkten ihre Worte wahre Wunder und der Bursche heftete seinen ängstlichen Blick auf sie wie ein Ertrinkender auf eine rettende Hand.

»Oh ja, ich teile mir einen großen Strohsack mit Rudi. Und jeder von uns hat eine eigene Decke. Mir gefällt es sehr gut hier, … Komtess«, stammelte er.

Clara lächelte ihn an und eroberte damit sicher ein weiteres Herz auf Gestüt Friesenhain.

Luise entging jedoch nicht, dass Alfreds Blick erneut rasch zu Jeltje huschte. Sie legte den Kopf schief und betrachtete den Knirps.

»Du hast doch wohl keine Angst vor meinem Pferd, Alfred?«, forschte sie nach. Seine Augen weiteten sich. Er zögerte. Dann sagte er leise: »Ich dachte erst, es wär das Spukpferd aus dem Seewald.« Luise stutzte. Rudi biss sich auf die Lippen und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ein Spukpferd? Im Seewald?« Marie, die als Tochter des Stallmeisters mit den Burschen recht vertraut war, schüttelte überrascht den Kopf und wandte sich an den älteren. »Was hat es damit auf sich, Rudi?«

Der wand sich sichtlich. »Ach, es ist wohl nichts, Fräulein Paas. Alfred behauptet, er hat neulich zwischen den Bäumen ein schwarzes Teufelspferd gesehen, das Feuer und Dampf aus den Nüstern geblasen hat.« Er warf dem Jüngeren einen vorwurfsvollen Blick zu, denn schließlich war der schuld daran, dass er nun eine so lächerliche Geschichte präsentieren musste. »Ich glaub ja, er hat zu viel im Wasser geplanscht und sich verguckt.«

Der Kleine murmelte in einem kindlichen Anflug von Trotz: »Ich weiß sehr wohl, was meine Augen sehn!«

»Ein schwarzes Pferd zwischen den Bäumen?«, wiederholte Luise. Sie wusste, welches Waldstück Rudi meinte. Es lag nahe an den Ländereien des Nachbarguts von Thebe. Der kleine Weiher mittendrin war ein beliebter Badeort für die Burschen und Diener aus beiden Herrenhäusern, wenn sie im Sommer ihren freien Tag hatten. Wenn der See im Winter zugefroren war, bot er ausreichend Fläche, um auf Schlittschuhen übers Eis zu gleiten – ein herrliches Vergnügen, das Luise schon als Kind geliebt hatte, wenn Wilhelm, Clara und sie dort übten. Sogar ihre aus den Niederlanden stammende Mutter war oft mit von der Partie gewesen, denn Eislaufen war in deren Heimatregion Friesland eine alte Tradition, die auch der Adel nicht verschmähte.

Dieser Teil der Länderei, wo der Waldsee sich im Unterholz versteckte, lag jedoch weit ab vom Gestüt. Das Gelände war zu moorig für die Landwirtschaft, bot nur an einigen Stellen ausreichend gute Weideflächen. Es gab dort eine hoch eingezäunte Koppel, die sie in der Zeit nutzten, wenn die Junghengste von ihren Müttern abgesetzt wurden. In dieser sensiblen Phase hatte es sich als hilfreich erwiesen, wenn Stuten und Fohlen sich nicht gegenseitig rufen hören konnten.

»War’n riesig großer Schreck. Bin hinter’n dicken Stamm der gestürzten Eiche gesprungen, die da liegt«, berichtete Alfred, offenbar ermutigt durch ihr Interesse. »Aber wie ich wieder vorluge, ist es weg, einfach in Luft aufgelöst. ’s muss’n Spuk gewesen sein.« Erneut fing er sich einen Rippenstoß von Rudi ein. »Komtess«, setzte er schnell hinzu.

Luise schüttelte den Kopf und sagte beruhigend: »Was immer du da im Wald gesehen hast, Alfred, Jeltje war es sicher nicht. Komm doch mal ein bisschen näher!«

Als Alfred zögerte, schob Rudi ihn ein Stückchen vorwärts.

Das blasse Gesicht zu Boden gesenkt, stand der magere Junge vor ihr.

»Schau sie dir doch mal an«, schlug Luise vor. »Wie lieb und brav sie ist, von Feuer und Rauch keine Spur. Und wenn du ihr die Hand hinhältst, kann sie dich kennenlernen. Schau, so.« Sie machte es ihm vor und Jeltje senkte interessiert ihren Kopf, um an ihrer Hand zu schnuppern.

Ein schüchterner Blick zu Luise. Und dann streckte Alfred mit ein bisschen Überwindung ebenfalls seine Hand aus.

Jeltje beschnupperte seine Finger, dann seinen Arm und dann sein Haar, das in alle Richtungen abstand. Sie schnaubte sanft und zog sich dann wieder zurück, die Höflichkeit in Person.

Auf Alfreds Gesicht erschien ein kleines Lächeln. Er hob den Kopf und sah der schwarzen Stute in die sanften Augen.

Luise hielt den Atem an und beobachtete, wie die Augen des Jungen und die ihres Pferdes einander begegneten. Sie wusste genau: Es war einer dieser magischen Momente, die Wesen unterschiedlicher Art manchmal teilen durften, wenn sie sich kennenlernten und gleich mochten.

Der Blick dauerte zwei, drei, fünf Sekunden. Wieder schnaubte Jeltje und senkte erneut den Kopf. Diesmal zögerte Alfred nicht, streckte die Hand aus und strich ihr über die Wange bis zum Hals.

Luise spürte, wie ein Lächeln auch an ihren Mundwinkeln zupfte. »Weißt du, ich war bei ihrer Geburt dabei und seitdem ist sie mein Lieblingspferd. Hättest du Lust, dich um sie besonders gut zu kümmern?« Ein zaghaftes Nicken. »Wunderbar! Wenn ich also von meinem täglichen Ausritt mit ihr zurückkomme, ist es von nun an deine Aufgabe, sie zu versorgen, egal, was du gerade sonst zu arbeiten hast. Abgemacht?« Wieder nur ein Nicken. Rudi verkniff sich offenbar nur mit Mühe eine weitere Korrektur seines Schülers. »Wenn sie so erhitzt ist wie jetzt, musst du sie nach dem Absatteln natürlich trocken führen. Danach reib sie gut ab, ehe du sie auf die Weide bringst, hörst du?«, erklärte Luise dem Neuen. Als sie ihn erneut musterte, setzte sie mit einem Schmunzeln hinzu: »Wenn du nicht bis zum Rücken hinaufreichst, nimmst du dir einen Schemel.«

Sie sah den Jungen aufmerksam an. Rudi räusperte sich. »Jawohl … Komtess«, beeilte Alfred sich zu sagen und schielte unsicher zu seinem strengen Einweiser hinüber, der einigermaßen zufrieden schien.

»Na dann los!« Luise winkte die beiden Jungen Richtung Trockenplatz.

»Jawoll, Komtess Luise«, antwortete Rudi mit einer zackigen Verbeugung und führte die Schimmelstute fort, während Alfred ihm mit Jeltje am Zügel folgte.

»Ist er nicht noch zu klein für die Stallarbeit?«, überlegte Luise an Clara und Marie gewandt. Die sich entfernende schmale Gestalt des neuen Burschen wirkte neben ihrer stolzen, großrahmigen Friesenstute winzig.

Marie tätschelte dem Fuchswallach den Hals. »An der Größe würde ich es nicht festmachen«, sagte sie. »Ich selbst war bestimmt noch einen Kopf kleiner als Alfred, als ich anfing, Papa mit den Kutschpferden zu helfen.«

Luise betrachtete schmunzelnd, wie das große Jagdpferd ihres Bruders mit seinem weichen Maul liebevoll an Maries Schulter knabberte und sie es lächelnd geschehen ließ. »Ich glaube nicht, dass du der rechte Maßstab bist, Marie. Du bist doch regelrecht im Stall aufgewachsen und konntest noch nie genug von den Tieren kriegen. Für Alfred ist es wohl nur eine Arbeit, deren Lohn er zu seiner Familie heimtragen muss. Er glaubt noch an Spukgeschichten von Feuer schnaubenden Pferden, die im Wald lauern.«

Nun sah auch Clara auf, die ihren Reitrock ordnete und glatt strich. »Was die Geschichten angeht: Da solltest du mal hören, was Frau Rühl und die Mägde sich unten in der Küche so erzählen. Da wimmelt es nur so von unheimlichen Geschehnissen. Und sie behaupten, dass alles wahrhaftig so passiert ist. Alfred ist immerhin schon zwölf Jahre alt, wenn auch klein für sein Alter, das stimmt. Er hat zuvor als Aushilfe bei diesem abscheulichen Leute-Schinder Reuben gearbeitet. Da wird er die Arbeit, die Paas ihm hier gibt, ganz sicher schaffen.«

Da konnte Luise nur nicken. Clara war über die Belange des Gestüts immer besser informiert als sie. Ihre Schwester interessierte sich brennend für alles, was das Gut anging. Schon als Kind war sie ihrem Vater überallhin gefolgt, um so viel es ging aufzuschnappen darüber, wie ein großes Gestüt wie dieses zu führen war.

Während Luise nach dem täglichen Schulunterricht in den Park gestürmt war, um vom Baumhaus aus auf große Fahrt über die sieben Weltmeere aufzubrechen, wilde Räuber zu stellen oder neue Tierarten zu entdecken, hatte Clara aufmerksam dabeigesessen, wenn ihr Vater mit den Pächtern über die zu erwartenden Erträge sprach oder mit den schneidigen Offizieren des Kavallerieverbandes die Preise für die Nachzuchtpferde aushandelte. Als Sechsjährige wusste sie bereits, dass die wertvollsten Stuten und nur die vielversprechendsten Hengste auf dem Gestüt verblieben, während die Zwei- und Dreijährigen ans Dragoner-Regiment veräußert wurden. Eigentlich kein Wunder, dass Clara das Lieblingskind ihres Vaters, des Grafen von Scheweney, war. Sein Stolz, mit ihren erstklassigen Pferden zum Schutze des Kaiserreichs beizutragen, pochte auch in Clara.

Außerdem war die gleichaltrige Marie von Kindesbeinen an Claras enge Vertraute. Neuigkeiten die Ställe betreffend fanden auf diesem Wege ganz selbstverständlich ihren Weg zum jüngsten Abkömmling der Grafenfamilie.

»Übermorgen, am Montag, ist ja wieder Französische Konversation. Du wirst doch dabei sein?«, fragte Luise, während Marie Komets Sattel abnahm und auf den bereitstehenden Bock legte. Als Stallmeistertochter würde sie sich selbst um den Wallach kümmern, für dessen Pflege sie gern zuständig war.

»Wenn es möglich ist, sehr gerne, Luise.« Marie tauschte das Zaumzeug gegen ein Führhalfter.

»Wieso sollte es nicht möglich sein?«, hakte Luise leicht beunruhigt nach. Sie hatte darauf gebaut, dass Marie bei der Stunde dabei sein und Clara unterstützen würde, denn sie selbst hatte für den Montagnachmittag eigene Pläne.

Die Freundin zuckte kurz mit den Schultern. »Jetzt, wo Vater mit den erwachsenen Burschen auf dem Weg zur großen Pferdeschau in Hannover ist, muss ich ein Auge auf alles hier haben. Ein paar von den Stuten stehen kurz vor dem Abfohlen.«

»An die Schau habe ich ja gar nicht mehr gedacht!«, entfuhr es Luise.

Clara stieß sie neckend an. »Dass du das vergessen kannst! Vater redet von nichts anderem. Dass unsre Dreijährigen der Kavallerie vorgestellt werden, ja, das ist das eine. Aber diesmal wird sogar der Kaiserliche Stallwirtschafter auf der Schau erwartet. Sicher wählt er neue Kutsch- und vielleicht sogar Reitpferde für den Kaiserhof aus. Wie wunderbar wäre es, wenn endlich auch Pferde vom Friesenhain dabei wären!«

Beklommen lauschte Luise den Worten ihrer Schwester. Sie hatte diesen Umstand tatsächlich verdrängt – so sehr auf ihr eigenes Ziel ausgerichtet.

»Aber für eine einzige Stunde wirst du aus den Stallungen doch fortkönnen?« Dabei versuchte sie, recht zuversichtlich zu wirken. »Die jungen Burschen wären doch in einer Minute im Haus, um dich zu holen.«

Marie lächelte über ihren Eifer. »Ich werde alles daransetzen, n’est-ce pas?« Damit winkte sie ihnen noch einmal zu und führte den Fuchs hinüber zum Trockenplatz, wo die Stallburschen bereits mit Jeltje und Tessa ihre Runden drehten.

Während die Grafentöchter sich umwandten, um hinüber zum Eingang des Wohnhauses zu gehen, biss Luise sich auf die Unterlippe.

Dass Marie für die Französischstunde nicht fest zusagen konnte, setzte ihrem Gewissen zu, denn sie wollte Clara ungern allein die Konversation mit dem spitznasigen Monsieur Dupont durchstehen lassen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie für besagten Nachmittag nämlich ganz andere Pläne. Pläne, die sie schon seit Tagen in freudige Aufregung versetzt hatten.

Wie sollte sie nun damit umgehen?

Schweigend gingen sie auf die breite Treppe zu, die zu der doppelflügeligen Tür hinaufführte, deren Glaseinsatz von einem floralen Eisenmuster geschützt wurde.

Links und rechts vom Eingang hoben sich die weiß umrandeten Fenster stilvoll von der Ziegelwand ab. Das rechte Fenster gehörte zum Arbeitszimmer des Grafen. Doch es war noch zu früh für die Geschäfte. Wahrscheinlich kleidete er sich gerade mit Hilfe seines Kammerdieners an.

Als sie die ersten Stufen nahmen, wandte Clara den Kopf und sah sie forschend an. »Du bist so still, Luise. Und das nach so einem Ausritt. Da plapperst du doch sonst immer. Was bedrückt dich?« Sie war nicht nur klug, sondern besaß auch ein außerordentlich feines Einfühlungsvermögen, ihre jüngere Schwester.

Luise knautschte mit ihren schlanken Fingern die Reithandschuhe aus weichem Hirschleder zu einem kleinen Knäuel zusammen. »Ach, es ist nur … Mit dreiundzwanzig Jahren fühle ich mich langsam zu alt für Schulunterricht.«

Clara lachte. »Du meinst wegen der Stunde mit Monsieur Dupont? Das darfst du so nicht sehen. Für Schule sind wir tatsächlich zu alt. Aber hin und wieder eine Auffrischung der französischen Sprache ist fast zu wenig. Wenn wir Besuch von Onkel und Tante aus Straßburg bekommen, können wir uns eigentlich nur blamieren.«

»Trotzdem. Noch habe ich nicht endgültig entschieden, ob ich Montag dabei sein will«, wich Luise aus.

Clara warf ihr einen Seitenblick zu. »Du überlegst doch nicht, zu dieser Versammlung in Osnabrück zu fahren, die Fräulein Gehmlich neulich erwähnte und von der du im Anschluss so viel geredet hast?«

Am liebsten hätte Luise über sich selbst mit den Augen gerollt, doch solche Gesten hatte sie sich seit der Kindheit dank der strengen Aufsicht ihrer Mutter abgewöhnt. Den Impuls dazu spürte sie trotzdem, wenn sie mal wieder in ein Fettnäpfchen getreten war. Warum nur hatte sie ihren Mund nicht halten können? Fräulein Gehmlich, welche die Grafenkinder und Marie einige Jahre als Hauslehrerin unterrichtet hatte, war ihrerseits stets so behutsam mit ihren Andeutungen. Die gebildete Lehrerin hatte damals registriert, wie interessiert die jugendliche Luise an dem Thema der Frauenrechte war. Heimlich hatte sie ihrer hitzköpfigen Schülerin hin und wieder etwas von ihren eigenen Aktivitäten im Allgemeinen Frauenverein erzählt. Luise hatte von Frauen erfahren, die studieren und Ärztinnen, Physikerinnen und wissenschaftlich ausgebildete Lehrkräfte werden wollten. Fräulein Gehmlich hatte ihr nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit von ihren eigenen Aktivitäten in der Bewegung berichtet, denn sicher hätten Graf und Gräfin von Scheweney es nicht gutgeheißen, wenn die Lehrerin neben Fremdsprachen, Religion, Handarbeit und Zeichnen ihren Töchtern auch solche Flöhe ins Ohr setzte. Fräulein Gehmlich hatte bei ihrer letzten Konversationsstunde in Französisch erwähnt, dass sie zur nächsten ihren jungen Kollegen Monsieur Dupont schicken würde, da sie selbst bei einer Versammlung sprechen würde. Von da an hatte Luise an nichts anderes denken können, als selbst in diesem Saal zu stehen. Solidarisch Seite an Seite mit anderen jungen Frauen, die ebenso wie sie nicht hinnehmen wollten, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde, was sie aus ihrem Leben machen durften und was nicht. Diese Vorstellung hatte sie beflügelt und war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und ihrem Temperament entsprechend floss dann leider auch ihr Mund von dem über, was sie so beschäftigte.

Clara war so entsetzlich aufmerksam. Sie vergaß nie, wenn Luise ganz nebenbei etwas fallen ließ, und sie hatte einen feinen Sinn für alle ungewöhnlichen Vorhaben ihrer älteren Schwester.

»Und wenn ich dorthin wollte? Was wäre dagegen einzuwenden?«, erwiderte Luise nun. Sie ärgerte sich über den Trotz in ihrer eigenen Stimme. Frauenrechte waren keine kindische Idee, sondern ernst zu nehmen. Allerdings würden ihre Eltern darüber gewiss anders denken. Daher würde sie sich heimlich davonstehlen müssen.

Clara zögerte, die Hand bereits auf der Klinke der hohen Eingangstür. Mit gesenkter Stimme erwiderte sie genau das, was Luise selbst auch schon durchdacht hatte: »Du weißt, dass Vater das nicht gern sieht. All die Frauen, die ohne jede Begleitung dort sind und ganz offen Reden schwingen, als wären sie Männer.«

Luise blieb abrupt stehen. »Schieb doch nicht Vater vor! Was ist mit dir? Du hast doch sicher eine eigene Meinung dazu. Findest du nicht, dass der Allgemeine Deutsche Frauenverein für uns Wichtiges zu erstreiten versucht? Sollte es nicht auch uns Frauen erlaubt sein, die Bildung zu erhalten, die Männern seit jeher offensteht? Und sollten nicht auch wir die Auswahl all der interessanten und wichtigen Berufe haben, so wie sie?«

Ihre Schwester wich ihrem bohrenden Blick aus. »Ich finde die Konversationsstunden wichtig, ob es nun Französisch oder Englisch ist«, beharrte sie und öffnete die Tür. »Wir müssen in der Lage sein, die Kontakte zu unserer Verwandtschaft im Ausland zu pflegen. Das ist eine unserer Pflichten hier.«

»Oh, du meine Güte, Clara!«, entfuhr es Luise. »Du kannst doch nicht immer und ständig an deine Pflichten denken. Möchtest du denn niemals etwas tun, das nur deinen Wünschen entspricht?«

Clara antwortete nicht, doch an ihrer verschlossenen Miene erkannte Luise, dass sie wohl zu heftig gewesen war, wie oft, wenn etwas sie beschäftigte.

Beide nun ein wenig beklommen traten sie ein und gingen den Gang entlang, der am Arbeitszimmer des Grafen und der Treppe hinunter in den Dienstbotentrakt vorbeiführte. Er mündete in die große Halle, die an den vorderen Eingangsbereich mit dem prächtigen Portal anschloss. Die mit goldenen Mustern verzierten, weißen Türen zum Salon, Frühstücks- und zum großen Speisezimmer gingen von ihr ab. Ebenso die breite Treppe hinauf in die Beletage. Weiße Marmorsäulen stützten die Empore, die in der ersten Etage einmal herumlief. Im Karree standen vier hüfthohe Kübel, in denen Palmen das Flair des modern Exotischen verbreiteten, während der Boden in weißblauem Schachbrettmuster gefliest war, ein Tribut an die friesische Heimat der Gräfin. Zwei von der Decke hängende Kronleuchter vermochten mit ihrem Gaslicht in den Abendstunden die Halle festlich zu erleuchten.

Hinter einer der Palmen hervor sprang ihnen jetzt mit langen Sätzen der grauschwarze Doggenrüde Gimpel entgegen. So wie Bismarck, der Fürst und Reichsgründer persönlich, hatte auch Graf von Scheweney immer schon ein Faible für diese imposanten Hunde besessen und Gimpel war ein besonders beeindruckendes Exemplar seiner Gattung – was der etwas alberne Name nicht schmälern konnte. Der zweijährige Gimpel erkannte alle, die zum Haus gehörten, schon am Schritt. Obwohl er pflichtgetreu mit dröhnender Stimme alle Fremden meldete, wurde er bei den beiden Töchtern der Familie wieder zu einem fröhlichen Junghund, der sie jetzt mit freudigem Wedeln umschmeichelte.

Clara, die kleinere Reibereien mit ihrer Schwester am liebsten einfach überging, wandte sich sofort dem Tier zu. Sie zauste ihm die Ohren, die er im Gegensatz zu seinen Artgenossen unkupiert tragen durfte, weil Luise und sie sich damals gegen die grausame Behandlung eingesetzt hatten, und vielleicht auch, weil Graf von Scheweney es guthieß, wenn seine eigenen Hunde sich zumindest in diesem Punkte von denen des Fürsten unterschieden.

Jetzt säuselte Clara der Dogge ein paar liebevolle Worte zu, die das Tier mit Begeisterung annahm.

»Ist er nicht etwas ganz Besonderes?«, sagte sie. »Die anderen folgen Vater auf Schritt und Tritt, aber Gimpel scheint uns alle in sein großes Herz geschlossen zu haben. Ich wage sogar zu sagen: besonders uns zwei. Vielleicht ist er von Natur aus ein Damenhund?«

Doch Luise durchschaute das Ablenkungsmanöver ihrer Schwester. Sie fuhr ebenfalls mit der Hand über das glatte Fell des großen Tieres und schüttelte dann unwillig den Kopf, um nahtlos an ihr Gespräch anzuknüpfen.

»Kontakte zu unserer Verwandtschaft im Ausland pflegen. Tz.« Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Was ist das für eine Aufgabe? Was bedeutet schon der Austausch von Höflichkeiten gegen all das Wissen, das du über das Gestüt besitzt? Wilhelm hat nicht halb so viel Ahnung davon wie du. Trotzdem wird irgendwann er das Gut übernehmen.«

»Er ist der Älteste. Und so ist nun einmal das Gesetz«, erwiderte Clara mit einem Schulterzucken, während sie mit klappernden Absätzen ihrer Stiefel die weißblauen Fliesen der Halle überquerten.

Sie mussten einem der Palmwedel ausweichen, der weit in den hohen Raum hineinhing und der luxuriösen Eleganz der Halle etwas exotisch Ungebändigtes gab.

»Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht der Grund ist, aus dem er Titel und Ländereien erben wird«, widersprach Luise und fühlte den vertrauten Groll in sich heraufkriechen. Wie oft hatte sie diesen Ärger schon verspürt? Aber sie schien in der Familie die Einzige zu sein, die diese Sache so ganz anders sah, als es in ihren Kreisen üblich war. »Er wird das Gestüt übernehmen, weil er der Sohn ist. Der Mann. Wir zwei sind nur die Töchter, die Frauen der Familie, die zu nichts anderem da sein sollen als …«

»Luise?«, ertönte da eine scharfe Stimme über ihnen. Sie zuckten beide wie ertappt zusammen. Auf dem Rundgang im ersten Stock stand hoch aufgerichtet ihre Mutter, Gräfin Anna von Scheweney.

Trotz der frühen Stunde war sie bereits tadellos gekleidet und frisiert. Sie trug ein hochgeschlossenes Kleid mit schmaler Taille und gewaltigen Ballonärmeln, dessen sattes Dunkelgrün ihr in einem Knoten hochgestecktes Haar wie weiches Karamell leuchten ließ. Zum Unterarm verengten sich die Ärmel stark und reichten bis zum Ansatz ihrer schmalen Finger. Eine ihrer elfenbeinweißen Hände auf das Geländer, die andere auf ihren flachen Bauch gelegt, blickte sie streng auf ihre Töchter herab. Luise seufzte leise. Clara warf ihr einen raschen Seitenblick zu. Nebeneinander gingen sie zur Treppe hinüber und die Stufen hinauf. Ihre Mutter hatte in derselben Zeit den Umlauf umrundet und erwartete sie.

»Guten Morgen, Mutter«, sagte Clara und Luise beeilte sich, ebenfalls zu grüßen. Ein widerstrebendes Echo, das der Stimme ihrer Schwester nachhallte.

»Wo wart ihr?«, verlangte ihre Mutter zu wissen, wobei sie nur sie, Luise, ansah.

»Ausreiten. Wir sind beide früh erwacht, und der Morgen war so herrlich«, antwortete sie. Wenn sie ihrer Mutter gegenüberstand, schien es ihr immer ein wenig, als blicke sie in einen leicht verzerrten Spiegel. Die Gräfin war ebenso hochgewachsen wie sie, dabei aber zarter und feingliedriger, so wie Clara. Doch davon abgesehen waren es dieselben seidigen, hellbraunen Locken, die hohen Wangenknochen und der helle Teint.

»Ausreiten«, wiederholte ihre Mutter mit schmalen Lippen. »In Hosen?«

Luise sah an sich herunter. »Es ist so viel praktischer«, argumentierte sie, obwohl sie wusste, dass das in den Augen der Gräfin nicht zählen würde. »Und Marie hat auch …«

Anna von Scheweney unterbrach sie mit schneidender Stimme: »Marie Paas ist die Tochter des Stallmeisters und hat ihre Kindheit zwischen den Pferden verbracht. Willst du dich etwa mit ihr vergleichen? Nur weil euer Vater mit seinem guten Herzen aus Dankbarkeit gegen Paas erlaubt hat, dass Marie mit euch unterrichtet wird und Umgang mit euch haben darf, ist sie nicht euresgleichen. Schau dir Clara an. Sie schafft es stets, in angebrachter Bekleidung schicklich unter die Leute zu gehen.« Clara verschränkte die Hände über ihrem Reitrock, spürbar beschämt, mal wieder als leuchtendes Beispiel für die ältere Schwester herhalten zu müssen.

»Wir waren nicht unter Leuten, Mama«, widersprach Luise und ärgerte sich im selben Moment, dass sie in die Ansprache aus Kinderzeiten fiel. »Wir haben nur einen Ausritt über die Felder gemacht. Niemand hat uns gesehen außer ein paar Bäuerinnen.«

Der strenge Zug um den Mund ihrer Mutter vertiefte sich. »Das sind die Frauen unserer Pächter. Was sollen sie denken, wenn die Komtess in Hosen und wildem Galopp an ihnen vorbeireitet?« Herrje, sie musste sie von einem der oberen Fenster aus beobachtet haben. Daher hatte sie sie also abgefangen.

»Clara, sicher willst du dich zum Frühstück umkleiden?«, entließ die Gräfin ihre jüngere Tochter. Clara zögerte kurz, als wolle sie lieber bleiben und Luise beistehen, doch dann knickste sie rasch und verschwand. Luise wartete auf den Rest der Standpauke, der nun kommen würde. Doch zu ihrer Überraschung schwieg ihre Mutter eine ganze Weile. Sie musterte ihre ältere Tochter, ihr zweitgeborenes Kind, und wandte sich dann zur Galerie, wo sie die Ölgemälde betrachtete, als sehe sie sie zum ersten Mal an, nachdem sie schon Hunderte Male an ihnen vorbeigegangen war. Die Portraits zeigten die Vorfahren der Grafen von Scheweney. Der Titel der Familie ging zurück bis ins vierzehnte Jahrhundert, und so gab es auf den Bildern jede Menge stolzer, hochnäsiger und düsterer Gesichter zu sehen. Luise folgte dem Blick ihrer Mutter und versuchte zu ergründen, was sie an dem vertrauten Inventar plötzlich so interessant fand.

Es war gewiss nicht das erste Mal, dass Luise allein zu einer Unterredung zitiert wurde. Doch meist fanden die im Salon ihrer Mutter statt, nach einem Gespräch mit einer verzweifelten Gouvernante mit den Eltern, dessen Ergebnis zu übermitteln der Graf gern seiner Frau überließ. Schon als Kind war Luise als jähzorniger Trotzkopf so manches Mal zur Hausherrin über Friesenhain gerufen worden. Niemand außer der strengen Mutter schien dem lockenköpfigen Wildfang Einhalt gebieten zu können. Viel zu oft hatte sie sich wieder einmal stürmisch gebärdet, hatte dem Kindermädchen und später der Gouvernante Widerworte gegeben, unangemessene Fragen gestellt oder sich geweigert, mit den hochnäsigen Cousinen zu spielen, die nur im Sinn hatten, ihre hübschen Kleidchen nicht zu beschmutzen.

Rügen, Tadel und diverse Strafen hatten sich durch ihre Kindheit und Jugend gezogen, waren an ihrem innersten Wesen jedoch abgeperlt wie Regentropfen an den Lotusblättern im Gewächshaus. Doch nun, da sie erwachsen war, schlug ihre Mutter immer öfter einen anderen Tonfall an. Den Appellen an die erwachsene Tochter mischte sich eine Resignation bei, die Luise beunruhigender fand als den gewohnten Tadel und die Enttäuschung, die auf sie niedergingen.

Dass ihre Mutter so lange schwieg, machte Luise nervös. Trotzdem hakte sie nicht nach. Es konnte nur etwas Unangenehmes sein, was jetzt folgte, und sie hätte es liebend gern so lange wie möglich hinausgezögert.

»Ich habe dir etwas mitzuteilen«, eröffnete ihre Mutter schließlich. »Der Sohn meiner Cousine Maxime wird uns noch vor dem Winter besuchen, Johan van Leeuwen. Erinnerst du dich an ihn? Ihr seid euch als Kinder ein- oder zweimal begegnet.«

Luise stutzte. »Johan van Leeuwen? Das ist doch der jüngere Bruder von Alexander, also der zweite Sohn?« Eine verschwommene Erinnerung tauchte vor ihr auf, an einen stillen, schmächtigen Jungen mit wässrig blauen Augen und ungelenken Grashüpferbeinen, die auch für ihren heimlichen Spitznamen für ihn gesorgt hatten: Krabbelchen. Bei ihrer ersten und bisher einzigen Begegnung vor vielen Jahren hatte er sich an die Hand seines Kindermädchens geklammert, als Luise versucht hatte, ihn zum Anschlagspielen zu animieren.

»Er ist dreiundzwanzig, euch trennen nur wenige Wochen, und er ist weit mehr als nur der zweite Sohn. Er hat schon als junger Mann die Kolonien bereist, war in Suriname und Niederländisch Indien. Jetzt ist er zurück und möchte den Kontakt zu seinen Verwandten in Europa vertiefen. Auf dem Weg nach Hannover und Berlin, wo Tanten und Onkel wohnen, macht er auch bei uns Halt und wird mindestens eine Woche bleiben. Dein Vater und ich möchten, dass du ihm hier alles zeigst. Vielleicht bleibt sogar Zeit, ihn in die hiesige Gesellschaft einzuführen.« Ihre Mutter sah sie mit ihren hellen Augen aufmerksam an. Luise kannte diesen Blick mittlerweile. Und sie verstand. Seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr war ihr bereits eine ganze Reihe von jungen Männern präsentiert worden, die ihre Eltern für ihre ältere Tochter als angemessene Ehemänner auserkoren hatten.

Da war der stets auf ihr Dekolleté schielende Neffe eines Großonkels mit zukünftigem Grafentitel gewesen, drei oder vier Söhne der den von Scheweneys verbundenen Adelsfamilien aus der näheren und weiteren Umgebung, sogar ein entfernter Cousin des Fürsten von Schaumburg-Lippe, welcher im Schloss Bückeburg residierte, hatte das Gestüt zusammen mit dem Fürsten für mehrere Dinners besucht.

Jedes Mal hatte ihre Mutter sie nach diesen Treffen in ihren Salon kommen lassen, über die Pflichten einer jungen Komtess gesprochen und sich dann, wie beiläufig, nach Luises Eindruck zum jeweiligen Kandidaten erkundigt.

Luise hatte in jedem einzelnen Fall so deutlich wie möglich zum Ausdruck gebracht, dass weder ein geifernder Grafensohn noch der nur von seinen Heldentaten im Krieg schwadronierende Fürstencousin als Ehemann für sie infrage kamen. Bei ihren ersten Ablehnungen hatte ihre Mutter noch milde reagiert. Doch hatte sie auch erwähnt, dass die eigene, romantische Neigung bei einer so wichtigen Wahl nicht den Ausschlag geben sollte. Mit vollster Überzeugung hatte Anna von Scheweney davon gesprochen, dass Zuneigung in einer Ehe wachsen müsse, ja, ganz gewiss wachsen würde, wenn nur die Grundlagen stimmten: Gegenseitige Achtung wie auch die angemessene Herkunft seien das, was zur Entscheidung zähle. Genau so sei es beim Grafen und ihr selbst gewesen, und was für ihre Eltern rechtens gewesen sei, sei doch sicher auch für die Tochter des Beste.

Aber je öfter Luise diese Sätze hörte, die mit jedem Mal eindringlicher vorgetragen wurden, desto heftiger regte sich in ihr ein Wunsch. Und der zielte weder auf gegenseitige Achtung noch auf Romantik ab. Auch wenn sie die Kammermädchen und Mägde über junge Männer reden und kichern hörte, war so eine Art von Verklärung beim Anblick von muskulösen Armen oder schneidigem Auftreten nicht das, was sie im Sinn hatte. Nein, wenn Luise an ihren zukünftigen Ehemann dachte, dann kamen ihr Worte wie Freundschaft und Respekt in den Sinn. Sie träumte nicht davon, in schönen Kleidern bewundert zu werden oder in mütterlichen Pflichten aufzugehen. Luise wünschte sich von Herzen Unabhängigkeit und eine Zukunft, die sie selbst für sich bestimmen konnte. Schon seit sie denken konnte, wusste sie, dass sie mehr sein wollte als die Ehefrau von jemandem, dessen Namen sie trug. Was genau das sein sollte, hatte sie bisher noch nicht ergründet. Wie sollte sie auch? Hier im Haus hatte sie oft kaum Luft zum Atmen, geschweige denn den Raum, eigene Pläne für ihr Leben zu entwickeln. Und auch wenn ihr noch die konkrete Vorstellung fehlte, wusste sie doch, dass sie sich ihre Zukunft so ganz anders vorstellte, als ihre Eltern es für sie vorsahen.

Passte da ein Ehemann hinein? Keiner derjenigen, die ihre Eltern bisher für sie ausgesucht hatten, kam dieser Vorstellung auch nur im Entferntesten nahe.

»Aber Mutter«, protestierte sie nun. »Es ist doch gerade erst vierzehn Tage her, dass ihr mir den Grafen Teutoburg vorgestellt habt.«

»Den du nach nur einem einzigen gemeinsamen Dinner abgelehnt hast!«, fuhr ihre Mutter dazwischen.

Luise schnappte bei diesem Argument nach Luft. »Er ist fast dreißig Jahre älter als ich! Ein verknöcherter alter Kerl, der die ganze Zeit auf meine Taille geglotzt hat, als wolle er prüfen, ob ich ihm seinen ersehnten Erben schenken kann – nachdem seine arme Frau bei der Geburt der achten Tochter gestorben ist …«

»Luise! Du vergisst dich!«, herrschte Anna von Scheweney sie an und sah sich rasch auf der Empore um. »Sei froh, dass dein Vater dich nicht hört. Der Graf ist ein alter Freund von ihm.«

Eine heiße Welle stieg in Luise empor. »Da hast du es! Vaters alter Freund! Aber doch kein geeigneter Ehemann für mich!«, empörte sie sich und wollte noch mehr hinzusetzen, doch ihre Mutter hob die Hand und wandte den Kopf zur Seite. Diese Geste war Luise nur allzu vertraut. Die Gräfin würde sich kein weiteres Wort dazu anhören. Luise hielt sich mühsam zurück. Zu oft hatte sie die Erfahrung gemacht, wie unbarmherzig kalt ihre Mutter reagieren konnte, wenn sie diese Grenze überschritt. Sie atmete also tief durch. Ihre Mutter dagegen musterte sie kühl. Wie sie da voreinander standen, wie ein junges und ein etwas älteres Ebenbild, Luise mit vor Wut und Aufregung erhitzten Wangen, ihre Mutter mit aufrechter, ungerührter Haltung, war es typisch für sie: Anna von Scheweney behielt immer die kühle Kontrolle, während Luise stets mit aufbrausendem Temperament in Flammen stand. Alles in ihr bebte und ihre Hände, die sie krampfhaft zu Fäusten geballt an ihrer Seite hielt, zitterten. Wie gern würde sie ihrer Mutter entgegenschmettern, dass sie niemals einen Ehemann akzeptieren würde, der sie einengen und verbiegen wollte. Das euphorische Gefühl von Freiheit, welches sie beim Ritt erfüllt hatte, war vollkommen verflogen. Nur mühsam unterdrückte sie den Impuls, sich herumzuwerfen und die Treppe hinunterzueilen, durch die Halle, hinaus in den Hof, um auf Jeltje davonzugaloppieren. Doch wohin?

»Dein Vater und ich sind sehr beunruhigt über deine Entwicklung«, fuhr die Gräfin fort. Sollte sie ahnen, welcher Sturm in Luise tobte, so zollte sie ihm keinerlei Beachtung. »Er ist der Meinung, dass nun genügend passende junge Männer vorgesprochen haben, von denen keiner dir einen zweiten Blick wert war.« Ein zweiter Blick? Auf all die Dummköpfe, Lüstlinge und hässlichen Gestalten, die bisher um sie geworben hatten? »Dass du auch seinen Freund verschmäht hast, hat deinem Vater wohl gezeigt, dass er selbst die Zügel in die Hand nehmen sollte. Ich rate dir, mein Kind: Du tust gut daran, dir Mühe zu geben. Versuche, Johan besser kennenzulernen. Er ist ein vernünftiger, junger Mann mit beträchtlichem Einkommen. Solltest du ihn auch verschmähen, garantiere ich nicht dafür, wen dein Vater dann für dich wählen wird.«

»Aber Mama …« Ärgerlich biss Luise sich auf die Lippen, weil ihr wieder diese kindliche Anrede entschlüpfte.

»Geh jetzt auf dein Zimmer. Ich schicke dir Agnes hinauf, damit sie dir hilft, etwas Anständiges anzuziehen. Du siehst aus wie diese neumodischen Frauen, die in unziemlicher Weise auf Fahrrädern unterwegs sind. Sei froh, dass dein Vater dich so nicht zu Gesicht bekommen hat. Wir sehen uns beim Frühstück.« Anna von Scheweney wandte sich um und schritt ohne ein weiteres Wort über die Galerie zum Westflügel, wo sich ihre Räume befanden.

Luise war froh, dass ihre Mutter sich nicht mehr umblickte, denn sie spürte Tränen in ihren Augen brennen. Tränen der Ohnmacht. Nur mit Mühe schluckte sie sie hinunter und lief in die andere Richtung des Flures, wo im Ostflügel ihr eigenes Zimmer neben dem Claras lag. Sie war froh, dass ihr Kammermädchen Agnes sie im Gegensatz zur Gräfin offensichtlich nicht hatte kommen sehen und noch nicht auf sie wartete, und lehnte sich bebend von innen gegen die Tür. Wie gern hätte sie sich eingeredet, dass sie nur aus Wut über die Anmaßung und Strenge ihrer Mutter derart am ganzen Körper zitterte. Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass auch ein anderes Gefühl dabei eine große Rolle spielte. Ein Gefühl, das sie zeit ihres jungen Lebens so gut wie nie gekannt und stets verachtet hatte.

Und es wurde ausgelöst durch die Erkenntnis, dass ihre Eltern ernsthaft ungeduldig wurden. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie dem preußischen Gesetz nach nicht volljährig und somit voll und ganz dem elterlichen Willen unterstellt. Und die fragten leider nicht nach den Träumen, die Luise selbst für ihr Leben hegte. Träume, von denen sie selbst noch nicht einmal wusste, welchem großen Ziel sie folgen würden.

Hatte Luise seit ihrer Einführung in die Gesellschaft mit ihrem achtzehnten Lebensjahr Trost in dem Glauben gefunden, sie habe noch ausreichend Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, irgendwann jemandes Ehefrau zu sein, so wurde ihr nun mit einem Schlag klar, was sie in den letzten Monaten schon kommen gewähnt hatte: Die Zeit der Schonung war vorüber.

Das Gefühl, das sie neben ihrer ohnmächtigen Wut über ihre Hilflosigkeit so beben ließ, nahm allmählich überhand.

Luise hatte Angst.

Clara 2

Clara hätte gern gewusst, warum das gemeinsame Frühstück an diesem Morgen so ungewöhnlich schweigsam verlief. Die ganze Familie saß beisammen an dem großen rötlich glänzenden Kirschholztisch im Frühstücksraum: Graf und Gräfin von Scheweney, Wilhelm, Luise und Clara selbst. Neben dem langgezogenen Büfett, auf dem sich frisches Brot, Rosinenbrötchen, Butter, Wurst, Käse und Obst türmten, stand der erste Hausdiener Hannes Ranke, von allen nur beim Nachnamen genannt. Dieser schien Rankes Gestalt so ganz und gar zu entsprechen, denn er wirkte stets biegsam und beweglich wie Efeu. Unter seinen bereits lichten, rotblonden Haaren beobachtete er mit Argusaugen, dass bloß keine der Zutaten auszugehen drohte, ehe nicht alle Familienmitglieder ausreichend davon genommen hatten. Eine heiter wirkende, zartgelbe Tapete zierte die Wände des Raumes und gab vor, dass auch hier drinnen feines Laub sich vom Boden zur hohen, mit kunstvollem Stuck verzierten Decke streckte. Darin saßen allerlei exotische Vögel, die Schnäbel graziös zu tonlosem Gesang geöffnet. An den Wänden waren etliche elegante Gasleuchter angebracht, die sich wie Schwanenhälse aus ausgebreiteten Flügeln in den Raum reckten. Doch der Morgen war strahlend hell und das Sonnenlicht fiel durch die Reihe der fast bodentiefen Fenster, sodass keine zusätzliche Beleuchtung nötig war.

Anders als im großen Besuchersalon waren die Stühle hier im Frühstückszimmer bequem, die Blumenbuketts unaufdringlich und niemand achtete sonderlich auf Etikette – denn hier waren sie in der Regel unter sich. Trotzdem wollte am heutigen Morgen keine Unterhaltung zwischen den Familienmitgliedern aufkommen.

Dass ihr Vater und Wilhelm nicht viel zur Konversation beitrugen, fiel nicht weiter auf. Obwohl sie sich in ihrer Größe sehr unterschieden, der Graf eher klein und gedrungen, Wilhelm groß und schlank, waren beide ihrem Naturell entsprechend nicht gesprächig. Wie immer aß der Graf mit Appetit. Er saß der Tafel vor und beschäftigte sich nebenbei bereits mit der Morgenpost und dem Landwirtschaftlichen Anzeiger. In letzterem studierte er eine Seite besonders ausführlich, faltete das Blatt dann sorgsam und legte es zu seiner Linken an Wilhelms Teller. Clara, die Wilhelm schräg gegenübersaß, neben ihrer Mutter und mit dem Rücken zur Fensterfront, versuchte einen Blick auf die Schrift zu werfen. Nur die Titel waren für sie auszumachen. Interessierte ihren Vater der aktuelle Weizenpreis? Oder gar die dampfbetriebenen Traktoren?

Im Gegensatz zu ihr, die gern gewusst hätte, was davon für Friesenhain von Belang war, schien Wilhelm die Lektüre nicht zu reizen. Gelassen kauend ließ er den Blick aus seinen meerblauen Augen, die unter dem kastanienbraunen, dichten Haar umso leuchtender schienen, immer wieder zu den großen, weißen Sprossenfenstern schweifen. Woran dachte er wohl, wenn er auf die lange, von Platanen gesäumte Allee des Gutes hinaussah? Schon als Kind war er eher in sich gekehrt gewesen, hatte weder Luises Abenteuerlust noch Claras enormen Wissensdurst zu allen Abläufen auf dem Gestüt geteilt. Nur Bücher hatten ihn auf eine Weise fasziniert, die Clara von sich selbst nur kannte, wenn es um Belange Friesenhains ging.

Während also von den beiden männlichen Mitgliedern der Familie ohnehin nicht viel zu erwarten war, was die morgendliche Unterhaltung anging, wunderte Clara sich, dass auch Luise und ihre Mutter beharrlich schwiegen.

Luise rührte kaum einen Bissen an. Derweil saß ihre Mutter trotz des bequemen Stuhles mit steif durchgedrücktem Rücken auf ihrem Platz. Sie führte energisch kleine Häppchen mit der Gabel zum schön geschwungenen Mund, als sei das Frühstück eine weitere der ernst zu nehmenden Pflichten, denen eine Gräfin nachzukommen hatte.

Worüber hatten die beiden wohl gerade auf der Empore noch gesprochen? Luise mit ihrem Dickkopf würde sich von einer Zurechtweisung aufgrund ihrer unangemessenen Reitkleidung doch nicht in ein Schneckenhaus zurückziehen. Das sähe ihr gar nicht ähnlich. Üblicherweise ertrug sie alle mütterlichen Tadel mit unterdrückter Ungeduld und tat danach alles weiter so, wie sie es wollte.

Und Mutter, ja, die ließ sich sonst ihre Verstimmung nach einer weiteren der üblichen Kollisionen mit ihrer älteren Tochter auch nicht derart anmerken. Das entsprach nicht ihrem Anspruch an sich selbst und an alle anderen Familienmitglieder, in jeder Situation Contenance zu bewahren. Was war also vorgefallen?

Luise hatte ihrer Mutter doch nicht von dieser Versammlung der Frauenrechtlerinnen erzählt, die ihr offenbar im Kopf herumspukte? Das würde freilich den unterdrückten Zorn erklären, den Clara neben sich deutlich spürte.

Ihre Schwester war manchmal ein solcher Dickkopf, dass ihr alles zuzutrauen war. Schon als Fräulein Gehmlich das erste Mal sehr vorsichtig ihre Aktivitäten im Deutschen Allgemeinen Frauenverein erwähnte, hatten Luises seegrüne Augen aufgeblitzt. Und Clara war klar gewesen, dass hier ein Problem heranziehen könnte. War es jetzt etwa so weit gekommen und Luise hatte ihrer Mutter gegenüber etwas angedeutet?

Clara beschloss, Luise nach dem Frühstück in der oberen Etage abzufangen, um zu erfahren, was geschehen war.

Mit diesem Vorsatz vorerst zufrieden, wandte sie sich an ihren Vater: »Für wann hat Triest sich angekündigt?«

Der befreundete Pferdezüchter aus dem Hannoveraner Umland wollte heute vom Bahnhof des zwanzig Kilometer entfernten Osnabrück aus herüberkommen. Er brachte ihnen per Pferdewaggon mit dem Zug und dann über Land den neuen Deckhengst aus seiner eigenen Zucht, der das Blut der Friesenhain-Pferde auffrischen sollte. Clara hatte vor ein paar Wochen das Glück gehabt, Vater und Bruder auf der kleinen Reise nach Hannover begleiten zu dürfen, wo ihnen diverse edle Tiere vorgeführt worden waren und sie schließlich diesen Hengst ausgesucht hatten. Er war groß und kräftig, wie ein Kavalleriepferd sein musste, und hatte bereits bewiesen, dass er Gelassenheit, Mut und gute Führigkeit an seine Nachkommen weitervererbte. Die ideale Voraussetzung, um mit den vielversprechendsten Friesenhain-Stuten charakterstarke und zudem schöne Fohlen hervorzubringen. Clara hoffte sehr, dass ihr Vater nach diesem kleinen Hinweis auf die Idee kommen würde, ihr zu erlauben, bei der Ankunft des Tieres dabei zu sein. Während sie Messer und Gabel neben den Teller legte, wartete sie gespannt auf seine Antwort.

Jetzt wandte der Graf sich um und schaute auf die vergoldete und hübsch verschnörkelte Uhr, die den Kaminsims zierte.

»Schon neun?«, brummte er mit seinem ungewöhnlich tiefen Bass, der allen, die seine Stimme zum ersten Mal hörten, gleich Respekt einflößte. Er tupfte sich mit einem Zipfel der Serviette die Mundwinkel, wobei er sorgfältig darauf achtete, den nach Vorbild Kaiser Wilhelms II. an den Enden hochgezwirbelten Schnurrbart nicht zu beschädigen. »Gut, dass du mich erinnerst, Clara. Bevor Triest hier ankommt, wollte ich noch ein paar Dinge erledigen. Er wird sicher gleich hier sein. Ihr findet mich im Arbeitszimmer.« Das bedeutete wohl, dass er bis zur Ankunft des Züchters nicht gestört werden wollte. Er sah zu seiner Frau, in seinem Blick eine leise Frage. Offenbar war auch ihm aufgefallen, wie beherrscht die Gräfin heute Morgen wirkte. Doch obwohl sie sein Zögern bemerkt haben musste, erwiderte sie seinen Blick nicht. Also legte er die Serviette neben seinen Teller und stand auf.

Clara zog die Unterlippe zwischen die Zähne und ließ es gleich wieder, als ihr auffiel, was sie da tat. Nun war sie in einer Zwickmühle. Trotz ihres Hinweises hatte ihr Vater ihren Wunsch nicht erkannt.

Sie holte Luft und sagte rasch, ehe er zur Tür hinaus verschwunden war: »Ich würde gerne dabei sein, wenn der neue Hengst ankommt, Vater.«

Ihr Vater sah sie einen Moment lang zerstreut an, mit den Gedanken bestimmt bereits bei der Arbeit, die auf seinem Schreibtisch wartete. Graf Hermann von Scheweney war nur mittelgroß, für einen Mann sogar eher klein, doch seine breiten Schultern, die tiefblauen Augen und der prächtige Backenbart samt Schnäuzer machten aus ihm eine eindrucksvolle Gestalt. Dass seine zweite Tochter und jüngstes Kind stets höchstes Interesse an den Belangen des Gestüts hegte, war er von Claras Kindheit an gewohnt. Doch gab es durchaus Geschäftsangelegenheiten, bei denen er sie ausschloss. Früher war ihre Anwesenheit nicht ins Gewicht gefallen – im Gegenteil, das kleine, eifrige Mädchen hatte sämtliche Geschäftspartner entzückt und amüsiert, weil sie ihr Interesse für eine Art niedliches Spiel gehalten hatten, in dem sie ihrem bewunderten Vater nachzueifern schien. Doch seit Clara erwachsen war, stieß ihre Beteiligung an gewissen Gesprächen zunehmend auf Befremdung. Besonders seitdem Wilhelm vor sechs Jahren, damals zweiundzwanzigjährig, nach Rückkehr von seiner freiwilligen einjährigen Ausbildung bei den Gardedragonern in Berlin zurückgekehrt und mehr und mehr in die Gestütsgeschäfte eingestiegen war. Dass er bei Verhandlungen anwesend war, nahmen alle für selbstverständlich – schließlich würde der junge Graf später den Besitz übernehmen, während es Claras vordringliche Aufgabe war, sich um eine vorteilhafte Ehe zu bemühen. Einen kurzen Moment lang durchzuckte Clara die Erinnerung an das Gespräch mit Luise vorhin auf den Stufen zum Haus. Obwohl sie es nicht gern eingestand, hatte ihre Schwester auch in ihr eine empfindsame Stelle berührt: All ihr Wissen und noch so großes Engagement nutzten Clara wenig, wenn die Männer etwas unter sich ausmachen wollten. Denn sie war nur die Tochter, nur eine Frau, der im Leben andere Aufgaben zufallen würden.

Doch an dem nun freundlichen Aufblitzen in den Augen ihres Vaters erkannte Clara, dass heute nicht einer dieser für sie düsteren Tage war, an denen sie in die hintere Reihe verwiesen wurde.

»Triest wird nichts dabei finden. Du hast uns ja auch in Hannover begleitet, als wir das Pferd ausgewählt haben. Natürlich darfst du seine Ankunft miterleben«, entschied er. »Außerdem will Triest sich zwei unserer Absetzer aussuchen. Besser, wir haben zu dritt ein Auge drauf, dass er uns nicht die besten entführt, jetzt, wo Paas nicht hier ist.« Er zwinkerte ihr zu und ein Ende seines Schnurrbarts wippte.

Clara lächelte ihren Vater dankbar an. Der sah noch einmal fragend zur Gräfin, die nur kurz die Brauen hob und mit milder Resignation zustimmend nickte. Die Erwiderung des Lächelns ihres Mannes fiel ein wenig dünn aus. Offenbar war sie tatsächlich durch etwas ernsthaft verstimmt. Und so verließ Graf Hermann das Frühstückszimmer, ohne dass noch ein weiteres Wort gefallen wäre.

»Mich ruft ebenfalls die Pflicht«, sagte Wilhelm.

Luise erhob sich zeitgleich mit ihm und murmelte nur einen leisen Gruß, ehe sie, blass, mit zusammengepressten Lippen, dem Bruder hinaus folgte.

Kaum hatte die Tür sich hinter den beiden geschlossen, wandte Gräfin Anna den Kopf und musterte Clara durchdringend. Die stellte wie schon so viele Male fest, dass Luise ihre schönen Augen von ihrer Mutter geerbt hatte. Doch während bei ihr Lebendigkeit und Temperament aus dem seegrünen Blick sprachen, wirkten die eine Nuance helleren Augen der Gräfin oft kühl. Clara hatte schon früh gelernt, in ihnen zu lesen und einem möglichen Tadel zuvorzukommen.

»Ich werde besser noch Toilette machen, ehe Triest kommt«, erklärte Clara jetzt und wollte sich erheben.

Doch ihre Mutter hob die Hand. »Du siehst entzückend aus, Clara, und bist einem Gang übers Gestüt mit einem altbekannten, befreundeten Züchter durchaus angemessen gekleidet.« Sie drehte den Kopf. »Ranke, Sie können gleich abräumen. Wir brauchen nur einen Moment.«

Mit geneigtem Kopf antwortete der: »Jawohl, Gräfin«, und schloss bereits die Tür hinter sich.

Clara straffte die Schultern und sah ihre Mutter aufmerksam an.

»Gutes Kind«, sagte die Gräfin mit einem freundlichen Blick. »Im Gegensatz zu Luise gibst du deinem Vater und mir nie Anlass zur Klage. Ebenso wie dein lieber Bruder.« Bei der Erwähnung Wilhelms trat ein leichtes Lächeln in die feinen Züge ihrer Mutter. Doch auch ein Seufzen mischte sich hinein. »Luise aber scheint allen Widerspruchsgeist in sich zu vereinen, der gut für euch drei gemeinsam gereicht hätte.«