H'mong - Gebhard Friebel - E-Book

H'mong E-Book

Gebhard Friebel

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Beschreibung

Der Inhalt zeigt in äußerst spannender Form, wie der Autor und sein Neffe, als Protagonisten und uninformierte Touristen, auf eine kleine Gruppe von H'mong-Menschen in der Ebene der Tonkrüge trifft, von denen eine Anzahl durch laotische Soldaten niedergemetzelt wurde. Sie fassen den naiven Entschluss, diesen Leuten zur Flucht zu verhelfen. Diese Fluchthilfe führt sie in ein dramatisches, abenteuerliches und gefährliches Geschehen in Laos und Vietnam, bei der die Handvoll H'mong zu einer Gruppe von mehr als tausend Menschen angewachsen ist.Der zweite Teil des Romans schildert die gnadenlose Rache eines Militärs an seinen hochrangigen Kameraden in Spanien und der USA, wie schliesslich den vergeblichen Versuch, die beiden Protagonisten in Deutschland zu eliminieren.Die erschütternden Leiden des H'mong Volkes in Laos sind Realität bis zum heutigen Tag.Die Handlung des Buches ist fiktiv. Aber sie könnte sich so zugetragen haben. Der Autor will Lesern der westlichen Welt die Augen für das Los dieser Menschen öffnen; er will sie bewegen, einige Übel in diesem Teil der Welt zur Kenntnis zu nehmeDer Autor hat sich beruflich und als Tourist häufig in Thailand und Kambodscha aufgehalten. 1998 bis 1999 lebte er als Übersetzer im südlichen China. Seine vielfältigen Erfahrungen in diesen Ländern hat er in seine bisher drei erschienenen Thriller "Blutiger Reis", "Ein weisser Koffer" und "Der Flug mit dem roten Drachen" einfliessen lassen. Anstoß zu seinem vierten Asien-Thriller gaben ihm die auf seinen Reisen erfahrenen Kenntnisse über die noch immer verfolgten Volksgruppen der H'mong in den verschiedenen Ländern. So bereiste er Laos mehrere Male ausschliesslich, um sich in diesem Land eingehend zu informieren, weil hier wohl der stärkste Druck auf diese Menschen ausgeübt wird.-

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Gebhard Friebel

H'mong

Flucht ins Leben

Die Leiden der H‘mong

Universal Frame

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright 2016

Verlag Universal Frame

Zofingen

ISBN 9783905960815

Zu diesem Buch:

Die erschütternden Leiden des H’mong Volkes in Laos sind Realität bis zum heutigen Tag.Die Handlung des Buches ist fiktiv. Aber sie könnte sich so zugetragen haben.Der Autor will Lesern der westlichen Welt die Augen für das Los dieser Menschen öffnen; er will sie bewegen, einige Übel in diesem Teil der Welt zur Kenntnis zu nehmen.

Der Handlung liegt die Realität zu Grunde:Die H’mong, (in China: Miao; in Thailand: Meo, hill tribe; in Vietnam Flower H’mong, Black H’mong und White H’mong, entsprechend ihrer bevorzugten Kleidung), werden in Laos bis zum heutigen Tage unbarmherzig verfolgt. Grund ist der Kampf auf französischer und danach amerikanischer Seite in Französisch Indochina bis zur Niederlage in Dièn Bien Phu bzw. dem Fall Saigons (Ho Chi Minh Stadt), in Vietnam. Außerdem kämpften H’mong im Laotischen Bürgerkrieg auf Seiten der Royalisten. All dies wird ihnen noch heute angelastet, obwohl vier bis sieben Jahrzehnte seitdem vergangen sind und von den alten Kämpfern fast keiner mehr lebt. Das kommunistische Regime in Vientiane betreibt die blutige Verfolgung und systematische Ausrottung der H’mong.

(Siehe: Jane Hamilton- Merrit: Tragic mountains; Rebecca Som- mer: Hunted like animals; Veröffentlichungen der GfbV, Göttingen, New York. Auch Wikipedia: H’mong).

Teil 1

Die Flucht

Das Bier war lauwarm. Christian bat den Theker um zwei Eiswürfel, und hielt ihm verärgert das Glas entgegen.

„Ah, Landsleute. Hallo! Kaltes Bier ist hier Mangelware.“

Die sonore Stimme übertönte die Musik. Gerhard saß neben seinem Neffen auf einem wackeligen Barhocker. Er musterte verblüfft den hochgewachsenen Mann neben sich.

„Die Welt ist klein.“

Er ergriff die entgegengestreckte Hand. „Guten Tag. Gerhard Frings aus Saarbrücken.“

Er sah belustigt zu seinem aufgebrachten Neffen. „Mein Neffe Chris. Sie sind Thüringer?“

„So ähnlich. Ich bin Sebastian Haller aus Dresden.“

„Dresden. Was treibt einen Sachsen in dieses müde Kaff?“

„Joo, Sachse! Ein Kamikazesachse sogar. Jetzt werden Sie sich fragen: Wieso Kamikazesachse? Es ist der Job.“

Chris sah ihn fragend an.

Leutselig fuhr der Sachse fort: „Ich bin Minenräumer. Wir arbeiten für eine Hilfsorganisation.“

Gerhard nahm einen Schluck vom warmen Bier. „Wenn der Job so gefährlich ist: warum machst Du ihn dann?“

„Einer muss es machen. “Er stockte, dachte nach.“

„Aber die Kohle stimmt. Und kaputt gearbeitet hat sich bei uns noch keiner. Höchstens kaputt gesprengt. Das passiert täglich. Aber es sind immer die Ungeduldigen, die Unerfahrenen. Verfluchte Minen.“

Gerhard leerte sein Glas.

„Ihr seid Touristen? Heute frisch angekommen?“

„Aus Luang Prabang. Wir wollen morgen zur Ebene der Tonkrüge.“

„Morgen? Morgen ist schlecht. Morgen gibt es keine geführten Touren. Morgen ist Feiertag. Übermorgen auch. Niemand arbeitet. Alle fahren zu ihren Familien.“

Chris wandte sich an Gerhard : „Dann fahren wir ohne Führer. Warum haben wir einen Mietwagen? Laut ‚Lonely Planet’ stehen einige dieser Krüge auch an der Straße.“

„Was ist ‚Lovely Planet?’”

„Lovely Planet? Lonely Planet, unser Reiseführer. Es soll drei sichere, minenfreie Wege geben. Die wären beschildert.“

„Quatsch!“ Der Sachse hob sein Glas und trank. „Schilder stehen nur selten da. Und deine sicheren Wege sind bei starkem Regen überflutet. Mit dem Schlamm und Geröll werden Minen angeschwemmt. Die kleinen, heimtückischen. Die sehen aus wie bunte Keksdosen. Für Kinder, die damit spielen wollen, sind sie tödlich. Auch bei Erwachsenen wirken sie. Todsicher, sozusagen.“

Er sah zur Tür. „Vorgestern hat es in Strömen gegossen. An Eurer Stelle würde ich nicht fahren. Es sind sowieso kaum andere Touristen da, denen man dort den Vortritt lassen könnte, damit die ausprobieren, ob Minen rumliegen.“ Ein bösartiges Grinsen umspielte seine Mundwinkel.

Er leerte sein Glas. „Die Touris kommen erst ab Oktober wieder.“

Er sah auf seine Armbanduhr. „Es wird Zeit für mich. Wenn ihr unbedingt dahin wollt, verlasst zumindest die Strasse nicht. Alles andere wäre Wahnsinn! Bis morgen vielleicht, Tschüss!“

Er verschwand durch die Ausgangstür.

*****

Der Wagen fuhr langsam auf dem schlechten Schotterweg. Am Rand der schmalen Piste stand wieder eines der Warnschilder, das auf Minen hinwies. Rechts war ein großer Behälter zu erkennen. Chris schüttelte den Kopf. „Das soll ein Tonkrug sein?“

Gerhard zuckte mit den Schultern. „Im Reiseführer steht, dass es sich um große Behälter handelt. Sie sind nicht aus Ton, sondern aus Stein. Woher der Begriff‚ ‚Ebene der Tonkrüge’ stammt, weiß keiner. Der Behälter da fasst mindestens 10‘000 Liter. Es muss lange gedauert haben, so was aus einem Felsen zu meißeln. Wenn der voll Bier wäre!“

Sein Neffe griff sich an den Kopf und stöhnte: „Hör bloß auf mit Alkohol!“

„Vielleicht solltest Du doch zwei Aspirin einwerfen. Es war mindestens vier Uhr gestern Abend.“

Christian korrigierte: „Heute morgen. Verdammter Whisky!“

Es war eine staubige, öde Gegend, durch die der Wagen rumpelte. Vereinzelt durchbrachen verkrüppelte Bäume den grauen Boden. Sie quälten sich aus Bodenvertiefungen dem farblosen Himmel entgegen. Zerfurchte Äste mit ein paar graubraunen, zerzausten Blättern ließen die Zeiten vergessen, da üppiger, grüner Wald und dichtes Unterholz diese Ebene bedeckt hatte. Resignation hatte sich in dieser feindlichen Marslandschaft breit gemacht. Die Natur hatte ihren Kampf verloren; hatte aufgegeben.

„Was ist denn da vorne los?“

Christian kuppelte aus.

Ein Soldat mit einer roten Kelle in der erhobenen Hand stand hinter einem Militärjeep auf der Straße. Fünf Meter vor ihm kam der Wagen zum Stehen.

Gerhard zog seinen fleckigen Strohhut in den Nacken und reckte den Kopf. „Hoffentlich dauert das nicht bis morgen. Wir hätten dem Sachsen glauben sollen. Dann hätten wir nicht eine Stunde vor dem Tourismusbüro mit Warten verplempert.“

Christian schlug mit seinen Fingerknöcheln im Takt der Musik. Aus dem vorsintflutlichen Radio klang es wie orientalische Jammermusik.

Gerhard stützte sich auf das feuchte Lenkrad. Er machte es sich im Sitz so bequem wie möglich und schloss die Augen. „Das wird noch länger dauern. Wenn es nicht bald weitergeht, drehen wir um. Verdammte Hitze!“

Entfernt waren Schüsse zu hören. Christian öffnete die Augen und sah seinen Onkel fragend an. Der zuckte mit den Schultern und stieg aus.

„Muss mir etwas die Beine vertreten.“

Bei jedem Schritt wurden kleine Staubwolken hochgewirbelt. Er kam ins Grübeln. Eine feindliche Umgebung! Minen und Staub. Staub und Minen. Über Staub redete man nicht viel. Er kam. Und verschwand wieder. Man sah ihn. Unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Minen dagegen schon. Sie waren versteckt. Unsichtbar, aber allgegenwärtig.

*****

Nach etwa einer halben Stunde ging der Soldat zu seinem Jeep, stieg ein und ruckelte davon.

Gerhard sagte: „Na endlich.“

Er umfuhr im Schritttempo ein tiefes Schlagloch. Dann mussten sie anhalten: Vom Boden, zwanzig Meter vom Weg entfernt, erhob sich eine ausgemergelte Frau. Sie schaute angestrengt in ihre Richtung, hob beide Arme, und winkte aufgeregt.

Chris stoppte.

Sie rief schrill: „Doktor! Doktor!“

Hinter einem weiteren Steinbehälter erschien eine männliche Gestalt. Der ausgemergelte Körper in der verschmutzten, zerrissenen Kleidung passte zu einem Landstreicher. Der Mann hinkte keuchend heran. Eine hellrote Blutspur markierte seinen Weg. Er fragte in passablem Englisch: „Sind Sie Ärzte?“

Beide schüttelten die Köpfe. Sie sahen seine blutverschmierte, zerfetzte Hose an.

„Was ist mit Ihnen passiert?“,fragte Chris. „Wo haben Sie sich verletzt? Steigen sie ein, wir bringen Sie ins Krankenhaus nach Phonsavan.“

Der Mann antwortete zögernd: „Ich kann dort nicht hin, dort wird man mich sofort erschießen.“

Chris stieg aus dem Wagen.

Gerhard folgte. „Ihr Bein sieht übel aus.“

Gerhard zog seinen Gürtel aus dem Hosenbund und legte ihn oberhalb des Knies mehrmals um das Bein.

Das schweißnasse Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Schmerz. Er stöhnte. Gerhard zog die Gürtelenden fest zusammen und verknotete sie, so stramm er konnte. „Jetzt wird die Blutung aufhören. Warum, denken Sie, dass man Sie erschießen würde? Was haben sie verbrochen?“

Zunächst antwortete der Mann nicht. Doch dann sprudelten die Sätze bitter und immer schneller. „Weil wir H’mong sind. H’mong, die aus Angst vor den Soldaten in den Wäldern oder in den verminten Gegenden leben. Vorhin waren Soldaten hier; sie haben uns entdeckt und auf uns geschossen. Sie schießen sofort, wenn sie uns irgendwo sehen.“

„Warum schießen sie auf Euch?“

„Weil wir vom Stamm der H’mong deren Feinde sind. Manche unserer Väter und Großväter haben auf Seiten der Franzosen und der Amerikaner in Vietnam gegen die Kommunisten gekämpft. Manche haben auch gegen die kommunistischen Pathed Lao gekämpft. Fast alle sind umgekommen. Die kommunistische Regierung von Laos hat uns H’mong das Kämpfen nie verziehen.“

Die Frau trat neben ihn. Er stützte sich auf ihre Schulter.

„Jeder, der irgendwie mit den Kämpfern verwandt war, wird verfolgt. Es reicht schon der Verdacht, aus dem selben Dorf zu stammen.

Auch wer nie gegen die Kommunisten gekämpft hat, wird brutal verfolgt. Es reicht heute, H’mong zu sein. Es gibt keine Wahrheit, die gegen Vorurteile ankommt. Sie töten uns, sobald sie uns finden.“

Seine Worte klangen verzweifelt: „Sie töten alle, wenn immer sie können. Auch Frauen und Kinder!“

Gerhard erwiderte zweifelnd: „Im Norden gibt es doch einige H’mong Dörfer; da herrscht Ruhe. Man kann in jedem Reisebüro Touren in diese Dörfer buchen.“

„Die Leute wurden zwangsweise angesiedelt. Es sind Vorzeigedörfer der Regierung für Touristen. Die Dörfer dürfen von den Bewohnern nicht verlassen werden.“

Die Frau ergriff den Arm des Verletzten. Seine Stimme zitterte.

„Die Dörfer stehen unter strenger Kontrolle der Polizisten, die in der Nähe wohnen. Diese Polizisten stehlen das Geld von den Dorfbewohnern, das die von Touristen bekommen. Sie vergewaltigen Kinder und Frauen, wenn sie betrunken sind.“

Es machte ihm Mühe zu sprechen. Er holte tief Luft. „Oft schießen die Polizisten wild um sich. Sie verletzen und töten immer wieder Menschen aus den Dörfern. Sie behandeln die Leute wie Tiere. Die Bestien werden für ihre Untaten nie bestraft.“

Gerhard sah den Mann betroffen an.

Chris murmelte: „Unglaublich!“

„Unsere Landsleute in den Dörfern dort hassen die Polizisten. Sie leben in ständiger Furcht. Sie leben nicht gerne in diesen Siedlungen. Wir H’mong waren immer ein freies, stolzes Volk; wir wohnten abgeschieden in großer Höhe, wo es kühler ist. Solange wir zurückdenken können, liebten wir waldreiche, gebirgige Gegenden. Aber die Wälder sind verschwunden.“

Er holte tief Luft. Sein Gesicht war müde. Dem Verletzten fiel es schwer, weiter zu sprechen. „Nur dort konnten wir uns gut ernähren. Wir jagten Enten, große Vögel, Fische und Frösche, Affen und andere Tiere des Waldes und der Flüsse. Aber heute, was sollen wir machen? Wovon sollen wir leben? Es leben nur noch wenige Tiere dort.“ Erschöpft schwieg er wieder.

„Waren es Minen, denen die großen Tiere zum Opfer fielen?“,Gerhards Stimme war gedämpft. „Ich habe gelesen, dass es vor nicht allzu langer Zeit viele wilde Elefanten gab.“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Es waren Männer aus den Städten. Sie töteten die Elefanten, weil sie viel Geld für das Elfenbein bekamen.“

Wieder eine Pause – er dachte nach.

Langsam fuhr er fort: „In ihrer Not webten die Frauen Stoffe nach uralten Mustern. Sie versuchen Kleider, Hosen und Umhängetaschen zu verkaufen. Aber sie wurden von den Märkten vertrieben. Manche stellten auch Silberschmuck her. Wir konnten kaum vom Verkauf dieser Sachen leben.“

„Warum leben Sie hier, inmitten der gefährlichen Minen?“ fragte Chris.

„Die Soldaten trauen sich nicht hier herein. Aber wir kennen einige Pfade,die sicher sind. Manchmal geht eine Gruppe von uns hierher zur Straße, um selbstgefertigte Sachen an Touristen zu verkaufen. Wenn wir Soldaten sehen, verschwinden wir sofort. Auch heute kamen wir zum Verkaufen her. Doch diesmal kamen die Soldaten mit einem Minibus. Mit solchen Bussen kommen normalerweise die Touristen.“

Die Frau nickte.

Der Mund des H’mong verzog sich zu einem schmalen Strich. Sein Blick wurde kalt. „Die Soldaten sprangen aus dem Bus. Sie haben sofort geschossen und mit Macheten zugeschlagen. Dahinten liegen drei tote Mitglieder unserer Gruppe. Wir müssen sie nun bestatten. Dann ist da noch eine verletzte Frau. Deswegen haben wir Sie gerufen. Wir dachten, Sie sind vielleicht Ärzte. Neulich waren zwei Ärzte aus Frankreich hier. “Sichtlich erschöpft und noch heftiger zitternd verstummte er.

Gerhard sah auf seine Uhr, dann zum Himmel. Das gleißende Licht der weißgelben Mittagssonne hatte sich rötlich verfärbt. Es würde bald der Dämmerung weichen. Er sagte zu Chris: „Es ist kurz vor sechs Uhr. Die Zeit wird nicht reichen, um noch bei Helligkeit die Stadt zu erreichen. Im Reiseführer stand in dem Absatz über Minen in Laos: Bei Dunkelheit ist für Ausländer die Gefahr groß, vom Weg abzukommen und auf eine Mine zu fahren.“

Der H’mong sprach wieder mit festerer Stimme. „Es ist jetzt tatsächlich zu spät für Euch, um noch sicher zur Stadt zu kommen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr bei uns die Nacht verbringen.“

Chris fragte zögernd. „Wo wohnt Ihr denn?“

„Nicht weit von hier. Es sind nur zehn Minuten Fußweg.“

„Aber die Minen?“

„Wir kennen mehrere Pfade, die minenfrei zu unserem Lager führen.“

Chris war unschlüssig. „Besser, wir bleiben hier, bevor wir vielleicht auf eine Mine fahren. Was denkst Du?“

„Gut, dann bleiben wir hier.“

Er fuhr den Wagen möglichst weit an den Rand des Weges.

Der H’mong beobachtete ihn, als er den Wagen abschloss.

„Das war nicht nötig. In zehn Minuten wird es dunkel sein. Nachts kommt hier nie jemand durch, auch keine Soldaten.“

Verächtlich fügte er hinzu: „Die haben zu viel Angst. Angst vor Minen und vor den Geistern unserer Vorfahren.“

Er sah Gerhard und Chris in die Augen. „Bleibt genau und dicht hinter mir. Dann kann Euch nichts passieren.“

*****

Chris, Gerhard und die Frau gingen hinter dem hinkenden Laoten her. Nach ungefähr dreißig Metern erstarrte Gerhard vor einem verkrümmten Körper. „Stopp! Da liegt jemand!“

Ihn packte das Grauen. Nicht weit vor seinen Füßen lag eine Frau. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Offenbar war sie hochschwanger. Quer über ihrem Bauch klaffte eine dreißig Zentimeter lange, tiefe Wunde. Eingeweide und Teile eines Kindes waren mitten im Blut zu erkennen. Die Augen der Frau lagen in dunklen Höhlen. Ab und zu durchlief ein Zucken den Körper.

Chris wandte sich ab. Gerhard drehte seinen Kopf zur Seite.„Verdammt. “Er schluckte und übergab sich. Gleichzeitig schossen ihm Tränen in die Augen. So etwas war unbegreiflich.

Der Führer drehte sich um, und betrachtete beide mit verzweifeltem Blick. „Weil sie schwanger war, konnte sie nicht schnell genug weglaufen. Einer der Soldaten hat sie eingeholt, und sofort mit der Machete auf die Frau eingeschlagen. Sie wird bald tot sein.“

Chris stammelte: „So eine Sauerei. In einer Notfallklinik wäre sie vielleicht noch zu retten. Aber hier...“

„Vielleicht helfen ihr die Geister des Waldes oder der Berge. “flüsterte der H’mong.

Zwei weitere Gestalten erschienen: gebückte, ältere Frauen. Sie schlurften heran und betrachteten mit gramvollen Gesichtern die Weißen. Die Deutschen legten eine Bambusstrohmatte neben die verletzte Frau und rollten die Stöhnende unter beruhigendem Murmeln darauf. Sie griffen die Matte an den vorderen Enden und zogen sie langsam über den Boden davon.

Die Männer schlossen auf. Hinter dem nächsten großen Steingefäß lag leblos mit offenen Augen ein kleiner Junge. Man hatte ihn in den Rücken geschossen. Der Führer hob die Leiche auf seine Arme. „Kommt weiter!“

Nach weiteren zehn Metern wies er auf zwei auf dem Boden liegende tote Frauen, sie waren ebenfalls erschossen.

„Können Sie die mitnehmen?“ fragte er.

Chris und Gerhard nickten. Sie bückten sich, und jeder hob vorsichtig eine tote Frau über seine Schulter.

„Das ist unfassbar“ murmelte Chris.

Die Toten waren erstaunlich leicht, sie wogen höchstens vierzig Kilo.

„Unterernährt“ flüsterte Gerhard.

Die traurige Karawane zog etwa zehn Minuten weiter zu einer anderen Senke, die durch Büsche von der Straße abgeschirmt war.

Sie wurden von drei Frauen erwartet, die in leises Schluchzen ausbrachen, als sie die traurige Last erkannten.

Der H’mong zeigte mit einer Hand nach rechts; die beiden folgten ihm ungefähr fünfzig Meter weit. Hier gab es weder Sträucher noch Bäume. Der Boden war mit Steinen bedeckt. Der Mann blieb stehen, und legte vorsichtig den kleinen, toten Jungen auf den Boden. Mit einer Handbewegung bat er die Weißen, ihre Last daneben zu legen.

Er bückte sich – und fing an, Steine auf die Leichen zu häufen. Chris und Gerhard taten automatisch das Gleiche.

Nach fünf Minuten waren die Körper von den Steinen bedeckt. Immer noch mit Tränen in den Augen, schlug Chris ein Kreuz in Richtung des Steinhügels. Mit zusammengebissenen Zähnen kniete Gerhard davor. Seine Stimme klang belegt.

„Dass die sogar Kinder und Frauen erschießen.“

Beide schwiegen. Sie gingen langsam zu der hinter Büschen versteckten Senke zurück. Die Frauen hatten unter einer alten Plane ein kleines Feuer entzündet.

„Wir können nur nachts richtige Feuer machen, und nur unter einer großen Plane. Ihre Flugzeuge kommen manchmal auch bei Dunkelheit,.“ sagte der H’mong müde. „Wenn sie ein Feuer sehen, werfen sie eine Bombe. Manchmal fallen auch Gasgranaten. Wenn wir tagsüber Feuer machen würden, könnten sie den Rauch sehen.“

Als habe er ein Kommando gegeben, ertönte leises Brummen, das schnell anschwoll.

Die Frauen zogen die Plane an den Rändern tiefer, so dass das Feuer auch von den Seiten nicht zu sehen war.

„Hinlegen“ flüsterte der H’mong in dringlichem Ton und legte sich auf den Rücken. „Im Mondlicht könnten sie sehen, dass jemand hier steht.“

Plötzlich hielt er ein Gewehr in den zitternden Händen. Der Lauf war verrostet; der Schaft von Würmern zerfressen. Er richtete es zum Himmel.

Chris und Gerhard legten sich neben ihn auf den Rücken, und schauten zum Himmel. In ungefähr 100 Metern Entfernung flog langsam ein kleines, einmotoriges Flugzeug über das Gelände.

Gegen das fahle Mondlicht konnte man auf der Seite eine aufgemalte, laotische Fahne erkennen. Vorne waren die dunklen Umrisse des Piloten zu sehen. Aus der geöffneten Seitentür drohte silbrig der Lauf eines Maschinengewehres. Das Flugzeug entfernte sich langsam.

„Zu weit für einen gezielten Schuss, schade. Ich habe schon zwei von diesen Flugzeugen abgeschossen“ bedauerte der H’mong, der sich erhoben hatte.

„Übrigens, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lia Ler Pao. Der Name Lia bezeichnet unseren Stamm, also den Familiennamen. Ler Pao sind meine Vornamen. Nennt mich einfach Ler, so haben meine Eltern mich auch genannt, bevor sie...“

Er schwieg wieder.

Es war ein beredtes Schweigen.

Beide ahnten, was er noch hatte sagen wollen. Sie nannten ebenfalls ihre Vornamen und schüttelten seine Hand.

„Das ist das andere Laos. Das, von dem die Touristen nichts wissen.“

„Wieso sprechen Sie so gut Englisch?“ wollte Chris wissen.

„Nachdem die Amerikaner ihren Krieg verloren hatten, haben mich meine Eltern nach Bangkok geschickt. Ich sollte Geographie studieren. Aber in Thailand habe ich es nicht ausgehalten. Da waren zu viele Leute.“

Er setzte sich auf den Boden und betrachtete sein verletztes Bein. Ein heiseres Lachen kam aus seinem Mund. „Ich bin wieder in die Heimat zurückgekehrt, und wollte beim Aufbau meines Landes helfen. Aber die Kommunisten haben mich in ein Umerziehungslager verfrachtet. Von dort bin ich geflohen, hierher. Ich wurde in der Nähe geboren; nicht weit von hier stand mein Elternhaus. Ich fand alles zerstört vor.“

Deprimiert sah er zu Boden. „Ob von den Amerikanern, oder von den Kommunisten, weiß niemand. Die meisten meiner Verwandten und Freunde waren tot oder verschwunden. Keiner wusste Genaues. So bin ich hier bei dieser Gruppe gelandet. Später fand ich meinen Bruder wieder. Er zog mit uns. Wir gehören fast alle dem Stamm der Lia an. Einige kannten mich noch von früher.“

Er machte eine kurze Pause. Seine Stimme zitterte.

„So erging es vielen H’mong. Die meisten sind tot. Oder sie sind ins Ausland gegangen: nach Thailand, Vietnam oder China.“

Eine der Frauen kam. Sie flüsterte Ler etwas ins Ohr. Er nickte, und schlug die Hände vor die Augen.

„Die verletzte Frau ist eben gestorben. Ich werde sie auch beerdigen; neben dem kleinen Jungen. Es war ihr Sohn.“

Gerhard würgte. Das Atmen fiel ihm schwer. Sie war auch tot. Unerträgliche Beklemmung nahm ihm die Luft.

Er war so überflüssig, dieser Tod. Dieser vielfache Tod!

Er schluckte, sah Chris an.

Er hatte den Tod schon oft gesehen. Zu Hause und unterwegs.

Hundertfach nach einer Überschwemmung in Bangladesh. Tausendfach in Cambodia. In Pol Pot’s Todeslager Tuol Sleng bei Phnom Penh. Tausendfach waren Totenschädel übereinandergestapelt. Viele Meter hoch. Aber das waren nur bleiche Totenschädel. Unpersönlich. Fotografieren und weiterfahren! Tod war immer schlimm, immer schrecklich.

Der Tod hier war privat; Mutter und Kind; er berührte ihn persönlich. Er versuchte etwas zu sagen. Er konnte nicht und schloss die Augen. Er stand da, die Handballen auf die Ohren gepresst. Die Zeit stand still.

„Wir helfen Dir“ sagte Chris zu Ler.

Die drei Männer zogen die Plane mit der Toten zu den frischen Steinhügeln und entfernten die Steine, die über dem kleinen Jungen aufgeschichtet waren. Ler legte ihn neben den Körper seiner Mutter. Als beide mit Steinen bedeckt waren, verneigten sich Chris und Gerhard. Es war eine hilflose Geste den Toten gegenüber. Sie gingen zurück zu den drei Frauen, die sich leise unterhielten.

Eine von Ihnen trat zu Ler und redete eindringlich auf ihn ein. Ler nickte und sagte: „Die Frauen wollen heute Nacht nicht hier bleiben. Sie fürchten die Geister der Toten, und besonders den des Kindes. Geister von toten Kindern sind oft besonders zornig. Die Frauen wollen in das Hauptlager. Ihr könnt hier bleiben. Ich bin morgen früh noch vor Tagesanbruch zurück und führe Euch zur Straße. Die Frauen haben große Angst.“

„Aber jetzt ist es dunkel; ihr könnt den minenfreien Pfad nicht mehr erkennen.“

„Das ist kein Problem für uns. Wir haben gute Augen. Auch wenn kein Mond scheint, finden wir den Weg.“

„Wie weit ist Euer Hauptlager von hier entfernt? Ich möchte selbst nicht gern hier in der Nähe der Toten bleiben.“

„Eine halbe Stunde. Wollt ihr mit uns kommen?“

Chris sah Gerhard fragend an. Der nickte zögernd.

„Es wäre uns ganz recht.“

*****

Das kleine Feuer war inzwischen niedergebrannt. Ler trat die restlichen Flammen aus. Zwei Frauen hoben Bambusstangen mit an den Enden hängenden Töpfen über ihre Schultern. Die kleine Gruppe setzte sich lautlos in Bewegung.

Dunkle Leere, wohin man schaute. Keine Geräusche, nur von Zeit zu Zeit Ler’s Keuchen und Stöhnen. Er hinkte mit gesenktem Kopf voran.

Im Zickzack irrte das verlorene Häuflein trauriger Gestalten durch eine fast kahle Landschaft. Nach zwanzig Minuten war irgendwo im Nirgendwo ein schwacher Feuerschein zu erkennen.

Die Vegetation veränderte sich. Große Bäume, zwischen denen dichtes Gebüsch wucherte, bildeten eine schwarze Wand. Gedämpftes Stimmengemurmel: Das Lager befand sich am Rande eines Waldes.

Ler rief Worte in die Dunkelheit. Gleich darauf waren die Neuankömmlinge von Erwachsenen und Kindern umgeben. Er führte die Weißen direkt an eine Feuerstelle.

Man musterte sie neugierig, nicht feindselig. Ler stand neben einem alten Mann, redete auf ihn ein. Als außer leichtem Prasseln des Feuers Schweigen herrschte, blickte er Chris und Gerhard an.

„Das ist der Älteste unserer Gruppe. Ihr würdet Anführer sagen. Er heißt euch herzlich willkommen;er bedauert sehr die unglücklichen Umstände, die euch hergeführt haben. Bitte nehmt am Feuer Platz. Es wird gleich zu essen geben.“

Ler rief einer Frau etwas zu. Sie verschwand und kam mit einer Plastikflasche und vier verbeulten Blechtassen zurück. Ler goss sie mit zitternden Händen randvoll. Er schwang den Arm und verschüttete den Inhalt einer der Tassen in weitem Bogen.

„Das erste Glas ist für die Geister bestimmt. Wir wollen sie milde stimmen.“

Er reichte Chris und Gerhard je eine Tasse. Dann hob er seine in deren Richtung. Er leerte sie mit einem einzigen Zug. Die beiden taten es ihm nach.

Chris holte tief Luft.

„Das Zeug brennt höllisch – es ist der reinste Raketentreibstoff. Aber nach solch einem Tag!“

Er hielt Ler seine leere Tasse hin.

Nach und nach gesellten sich drei weitere Männer und der Älteste zu den Neuankömmlingen. Die Frauen saßen auf der anderen Seite des Feuers. Eine stellte ein eisernes Dreibein über das Feuer, an dem ein großer, eiserner Topf hing. Sie kochte das Essen.

*****

Gerhards Magen knurrte. Das Essen wurde verteilt. Jeder erhielt eine Handvoll Klebereis auf einem großen Blatt. Eine Schüssel mit zerschnittenen Wurzeln wurde herumgereicht. Sie waren gewaschen und teilweise gekocht; aber es waren Wurzeln. Keine Schwarzwurzeln, Mohrrüben oder Rettiche. Es waren Wurzeln von Büschen, Sträuchern oder Bäumen.

Man aß den Reis, und kaute auf den Wurzeln. Einige schmeckten bitter, andere süß. Dazwischen gab es Wasser, und den höllisch brennenden Schnaps. Am Ende der Mahlzeit wurde eine weitere Schüssel herumgereicht.

Ler bemerkte die skeptischen Blicke von Chris und Gerhard.

„Dies sind Nüsse, Betelnüsse. Das Kauen auf diesen Nüssen ist traditionelle asiatische Zahnhygiene. Wir haben hier keine Zahnbürsten oder Zahncreme. Außerdem – sie wirken gegen den Hunger und sind auch gut für den Kopf.“

Sie griffen zögernd zu: Ein etwas bitterer Geschmack. Aber doch erträglich. Beim anschließenden Ausspucken erschrak Chris.

Was er da ausgespuckt hatte, war Blut.

Ler beruhigte ihn. „Das sieht aus wie Blut. Aber es ist die rote Farbe der Hülle.“

Seltsam: in Verbindung mit dem Reisschnaps wirkten diese Nüsse beruhigend.

Als Chris an die Toten vom Nachmittag dachte, erschienen ihm die furchtbaren Erlebnisse nicht mehr so furchtbar. Sie waren schlimm, aber weit entfernt. Weit zurückliegend, in einer anderen Welt.

*****

Gerhard beobachtete Ler neben sich. Er lag, wie die anderen H’mong auch, auf dem Rücken. Seine Augen blickten starr zum Himmel.

„Ler, eine Frage noch: „Wenn ihr hier verfolgt werdet, warum seid Ihr nicht auch ins Ausland gegangen, zum Beispiel nach Thailand?“

Die Antwort kam fast unhörbar. „In Thailand wird man in ein Lager gesteckt. Manchmal wird man zwangsweise zurück geschickt. Dann wird es schlimm. Wenn man zurückkommt, erwarten einen Gefängnis, Folter und oft der Tod.“

Bitternis klang in seinen Worten nach. „Außerdem hat keiner einen Pass, und die meisten der Leute sind zu schwach, um so weit laufen zu können.“

Er schüttelte den Kopf. „Geld hat hier niemand. In den ersten Jahren konnten die Frauen noch eigenen Silberschmuck verkaufen, Das war sehr gefährlich, weil sie in die nächste Stadt mussten. Dort sind überall Soldaten und Polizisten. Viele der Frauen kamen nicht mehr zurück.“

Chris nickte geistesabwesend. Gerhard wurde schläfrig.

Wegen der Betelnüsse? Wegen des Schnapses? Wegen der Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren? Er konnte es nicht sagen.

Sie sahen nach rechts und links. Fast alle Leute hatten sich zurückgelegt und schliefen. Obwohl der Boden hart war, fielen ihnen die Augen zu.

*****

Nach einem traumlosen Schlaf wachte Gerhard benommen auf. Das Feuerwasser vom gestrigen Abend wirkte nach.

„Gewöhnungsbedürftig.“

Ihn fror. Er sah auf die Armbanduhr: halb sechs. Das Feuer brannte hell. Bis auf einige Kinder, die um das Feuer herum schliefen, waren Chris und er alleine. Er sah zu Chris, der sich streckte. Sein Neffe sah sich um und murmelte mit rauer Stimme: „Ich muss hier weg.“Langsam. Sie werden bald zurückkommen. Alleine finden wir nicht zum Auto zurück. Denk’ an die Minen.“

Kurz darauf kamen die Gruppenmitglieder einzeln zurück zum Feuer.

Eine der Frauen hatte einen Eimer Wasser mitgebracht. Eine andere trug ein großes Bündel Wurzeln unter dem Arm. Die Wurzeln wurden gewaschen und in frischem Wasser gekocht.

Das Essensritual vom vorherigen Abend wiederholte sich .Allerdings wurde auf Schnaps verzichtet. Die Handvoll Reis war kalt.

Chris und Gerhard aßen den Reis, um das Hungergefühl zu überwinden. Zu dem Essen wurde das heiße Wasser getrunken, in dem die Wurzeln gekocht worden waren.

Als das ‚Frühstück‘ beendet war, meinte Ler: „Wenn ihr zurück wollt, können wir los. Bald wird es hell sein!“

Beide nickten zum Abschied in die Runde der um das Feuer Sitzenden. Sie standen auf, und folgten Ler.

Als sie sich umschauten, folgten ihnen traurige Augen.

*****

Aus Senken quoll Morgennebel. Es ging langsam zurück, zurück zur Straße. Nach zehn Minuten gab die Morgendämmerung den Blick frei. Es war ein bedrückender Anblick einer trostlosen Landschaft, die um sie herum Konturen annahm.

Vereinzelt tauchten verkrüppelte Bäume im gelblichen Nebel auf, in Bombenkratern in giftiger Erde gewachsen.

‚Gelber Regen’, yellow rain’, hatten sie es damals genannt. ‚Agent orange’, das Gift der Amerikaner.

Gerhard unterdrückte aufkommende Panik. Eine Landschaft durch milchiges Glas betrachtet. Unwirklich! Gestern hatte er dieses Empfinden des Verlorenseins nicht so stark gespürt. Doch jetzt...

Traurigkeit überfiel ihn. Trauer über diese geschundene Landschaft. Stärker noch: Trauer um diese Menschen. Und er spürte Zorn. Zorn auf die Franzosen, die Amerikaner, die Kommunisten!

Irgendwo links tauchte schemenhaft der Umriss des Wagens auf. Erleichtert dachte er an eine warme Dusche, an ein westliches Frühstück, ein sauberes Bett. Und dann: schlafen, schlafen. Schlafen und vergessen.

Als sie neben dem Wagen standen, schüttelten sie Ler die Hände. Die Stimme Gerhards klang rau, brüchig. „Wir kommen wieder. Übermorgen, gegen Mittag, hier? Wir bringen etwas zu Essen mit. Und ein paar Medikamente. OK?“

Ler sah ihn mit großen Augen an. Er antwortete, zögernd, bestätigend. „Gegen Mittag, OK!“

Als sie im Wagen saßen, fragte Chris: „Du willst wirklich hierher zurückkommen?“

Gerhard antwortete nicht; er war in Gedanken versunken. Chris ließ den Wagen an, wendete, und fuhr los.

Es ging zurück, zur Stadt. Zurück ins Hotel. Zurück. Weg. Weg aus dieser gespenstigen Gegend, wo vielfacher Tod lauerte. Weg, von dieser verfluchten Touristenattraktion. Weg von dieser ‚Ebene der Tonkrüge’. Weg!

*****

Während sie langsam zurückfuhren, fiel kein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Auch beim gemeinsamen Frühstück fiel kein Wort über das Erlebte. Sprachlosigkeit.

Erst als Chris zum Erstaunen des Kellners zwei große Flaschen Bier bestellte, brach Gerd das Schweigen.

„Man müsste diesen Leuten irgendwie helfen. Nur, wie?“

Chris nickte mit dem Kopf. „Ausfliegen lassen in ein anderes Land, oder sonst was.“

„Wie willst Du ein Flugzeug beschaffen? Wo soll es landen? Auf der buckeligen, gewundenen Schotterstraße vielleicht? Und alles ohne Erlaubnis.“

„Dann halt ein Hubschrauber.“

„Einen Hubschrauber haben die in wenigen Minuten abgeschossen. Du hast ja gesehen, die Flugzeuge des Militärs fliegen sogar nachts. Außerdem wäre so etwas viel zu teuer.“

Chris schwieg.

„Lass uns noch einen trinken, und ein paar Stunden schlafen. Vielleicht fällt uns inzwischen etwas Machbares ein“ sagte Gerhard.

Chris nickte, und bestellte zwei weitere Bier.

„Seltsam ist das. Bei uns zu Hause weiß keiner was von den Sachen, die hier passieren. Niemand hat den Namen ‚H’mong’ je gehört. Die zu Hause lesen nur in den schönen Reiseprospekten vom Land der ‚eine Million Affen.’“

„Elefanten“ korrigierte Gerhard ihn.

„Von mir aus auch Elefanten, von mir aus könnten es auch rosa Elefanten sein. Das ändert nichts daran, dass ich noch nie so viele Tote gesehen habe.“

Chris sah Gerhard mit zornigem Gesichtsausdruck an.

„Ich habe eine Tote auf meinen eigenen Schultern zum Grab unter Steinen getragen. Es ist derartig skurril! Niemand würde es glauben!“

„Vor allem passt das so gut in unsere sogenannte ‚Moderne Zeit’. Man hält die hehren Werte der Menschlichkeit hoch. Zu Hause würde uns das tatsächlich keiner abnehmen, Du hast recht, niemand.“

„Schlimm, schlimm, verdammt!“

Chris stand auf. „Komm, lass uns ein paar Stunden schlafen gehen. Treffen wir uns gegen Mittag wieder. Hier, OK?“

„OK“

Chris ging.

Gerhard sah ihm lange nach. Wieder und wieder schüttelte er verzweifelt den Kopf.

*****

Gegen Mittag war Chris im Restaurant und bestellte sich sofort ein Bier. Gerhard erschien wenig später und setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Na, gut geschlafen?“

Chris grinste gequält. „Nur ganz wenig. Das war gestern zu viel auf einmal.“Ich konnte überhaupt nicht schlafen.“ Gerhards Stimme klang gereizt. „Ich war den ganzen Vormittag im Internet-Raum. Im Web findet man ungeheuer viel über diese H’mong. Alles, was dieser Mann erzählt hat, stimmt.“

Er senkte seine Stimme. „Da geschehen ungeheuerliche Verbrechen, und die Öffentlichkeit schweigt dazu. Da werden die Reste eines ganzen Volkes endgültig ausgerottet! Alles nur wegen der verdammten Vergangenheit. Franzosen, Amerikaner und Kommunisten! Wenn ich das höre. Verdammtes Pack, verdammte Kriege!“

Chris schenkte Bier nach. „Prost!“

„Prost.“Gerhards Mine verfinsterte sich. „Alle diese Verbrechen sind bekannt. Anscheinend schon seit Jahren. Nur keiner nimmt es zur Kenntnis und tut etwas. Nicht so wie in Afrika, Chris. Erinnerst Du Dich noch, an die Gemetzel zwischen Hutu und Tutsis? Vor einigen Jahren, weißt Du noch?“ Es klang höhnisch.

„Diese H’mong haben keine Lobby. Laos ist weit entfernt von Deutschland. Welches Schulkind weiß überhaupt, wo Laos liegt? Viele haben offenbar nie den Namen ‚Laos’ gehört. Afrika liegt näher. Es ist außerdem spektakulärer, über zwei Millionen tote Neger zu berichten, als über zweitausend tote Asiaten. Die Menge macht’s.“

„Ja, davon waren die Zeitungen voll. Es wurden Sammlungen veranstaltet. Millionen Euro wurden nach Rwanda gepumpt. Von den Verbrechen hier redet keiner. Ich habe noch nie etwas im Fernsehen oder in den Zeitungen über H’mong gesehen oder gelesen. Anscheinend geht das den Journalisten bei uns am Arsch vorbei.“

„Reg’ Dich nicht zu sehr auf, Onkel. Es sind die Quoten im Fernsehen. Bei den Zeitungen ist es die Auflage. Wenn Du als Chefredakteur die Wahl hättest, einen Reporter nach Nigeria zu schicken, oder einen nach Laos? Er soll einen Bildbericht machen. Nigeria winkt mit drei Millionen, Laos aber nur mit einigen Tausend Opfern. Was ist ertragreicher? Welches Magazin verkauft sich besser?“

Gerhard ereiferte sich: „Du bist ein verdammter Zyniker.“ Hastig leerte er sein Bier. „ Aber irgendwie hast Du Recht. Und trotzdem, ich versteh’s nicht. Verrückterweise gibt es da in Deutschland die GfbV, die Gesellschaft für bedrohte Völker. Dann das UNHCR, das ist für Flüchtlinge zuständig. Und es gibt die ‚Médecins sans frontières’. Die wissen scheinbar von all diesen Verbrechen. Dein Chefredakteur brauchte keinen teuren Reporter nach Laos zu schicken. Er müsste nur seinen Reporter dazu bringen, im Internet nachzuschauen. Da steht alles schwarz auf weiss. Mit Bildern.“

„Aktuelle Berichte verkaufen sich besser.“

„Wenn es zu teuer ist? Das Fernsehen hätte es ebenfalls leicht. Ein Programmdirektor müsste lediglich etwas Sendeplatz bereitstellen. Ich habe einen Dokumentarfilm über die Leiden der H’mong bei YouTube gefunden. Eine Deutsche, Rebecca Sommer hat ihn in Laos unter Lebensgefahr gedreht. Der Film heißt: Hunted like animals. So etwas müsste mal im Fernsehen kommen.“

„Die Zuschauer sehen sich lieber Seifenopern an oder ‚Dalli, Dalli’.“

„Die Zuschauer sind doof. Man müsste irgendwie Öffentlichkeit herstellen, aufrütteln.“

„Wer ist ‚man’? Was ist ‚irgendwie’? Willst Du in Deutschland Zeitungen anrufen? Aufmerksam machen?“

„Warum nicht? Etwas in der Art spukt in meinem Kopf herum.“

„Mit Misserfolgsgarantie! Hundertprozentig sicher!.“Chris brach in schallendes Gelächter aus. „Komm, trink lieber noch Einen.“

„Warum nicht. Ich bin so zornig.“ Gerhard fixierte das Gesicht von Chris. Er wurde lauter. „Weder UNHCR noch GfbV bekommen Visa für Laos. Sie sollen nicht herausfinden können, was die Laoten mit den Flüchtlingen anstellen.“ Er stand auf. „Ich gehe jetzt auf jeden Fall zurück in den Internet Raum und schaue mir das Ganze noch etwas an.“

„Ich komme mit“ kündigte Chris an: „Wo stehen die Computer?“

„Wir müssen den Einäugigen wecken. Erschrecke ihn nicht wieder. Komm’ mit.“

„Der einäugige Hektiker mit ohne Auge! Hoffentlich bekommt der vierhundert Kilo Schwabbel keinen Herzanfall.“

„Wer schläft, sündigt nicht.“

„Er könnte überhaupt nicht sündigen. Es wäre viel zu viel Arbeit!“

*****

In der leeren Eingangshalle döste der einäugige Rezeptzionist. Er war wie immer an seiner langen Empfangstheke eingenickt: Der Kopf lag auf dem Arm.

Ungeduldig hieb Chris mit der flachen Hand auf die Theke. Gerhard grinste. Er flötete: „Nicht aufregen!“

Im Zeitlupentempo wuchtete sich der massige Schädel vom Arm. Feindselig musterte das verbliebene Auge die beiden Gäste.

Er knurrte: „Auschecken?“

Gerhard knurrte zurück: „Entschuldigen Sie die Störung. Internet. Aber keine Hektik.“

Unter Stöhnen öffnete der einäugige Kloß eine Schublade und wühlte sie durch. „Business Center. Ein Dollar, eine Stunde!“

Sein Auge blieb auf der Uhr an der gegenüberliegenden Wand hängen. „Noch vier Stunden! Oh Gott“ murmelte er gequält. Er legte einen Schüssel auf die Theke und sank wieder in sich zusammen.

Gerhard flüsterte: „Danke, gute Nacht!“

*****

Im ‚Business Center’ schaltete Gerhard das Licht an.

„70 Grad, mindestens“ konstatierte Chris, „ich mache das Fenster auf.“

„Window no have; Aircon no have“ spottete Gerhard. „Lass die Tür auf.“

Chris stöhnte ergeben und musterte die beiden Computer. Sein Blick blieb an den schweren Monitoren hängen. „Dampfbetrieben, Vorkriegsmodell. Ich meine den ersten Weltkrieg.“

Er zog einen Stuhl herbei und setzte sich. „Mindestens einhundert Jahre alt.“

Er schaltete einen Computer an und stand wieder auf. „Der braucht zum Hochfahren eh’ eine Stunde. Ich hole ein Bier; für Dich auch?“

Gerhard nickte grinsend. „Hier wird man zum Stoiker. Bring’ besser einen ganzen Kasten. Das hier, das dauert länger. Wo sind denn die Lochkarten, verdammt noch mal.“

Beide verbrachten den ganzen Nachmittag an den unsäglich langsamen Computern. Ab und zu informierten sie sich gegenseitig über ihre neuesten Erkenntnisse.

„Hier wird auf ein Buch über das Thema hingewiesen. Von einer Amerikanerin, Jane Hamilton Merrit. Sie ist Professorin, eine ehemalige Senatorin. Es heißt: ‚Tragic Mountains’. Wenn ich in der Zivilisation zurück bin, werde ich es kaufen und vielleicht hier im Internet ein Blog einrichten,.“meinte Gerhard. „Außer Appellen im Internet, die nicht beachtet werden, kommt scheinbar nichts.“

„Was sollen die auch viel tun, außer ‚Appellieren’. Hier ist ein Bericht über eine andere Sauerei. Es geht um das Paradies Thailand: Das UNHCR bezahlt viel Geld an das Land, damit die drei Lager für Flüchtlinge aus Laos nicht geräumt werden. Die Thailänder müssen keinen Baht für Unterkunft und Versorgung aufbringen. Trotzdem schieben sie immer wieder Leute nach Laos zurück. Die verschwinden dann. Tschüss aus!“

*****

Am frühen Abend suchten sie ein Restaurant in der Nähe auf. Als sie das Essen bestellt hatten, fragte Chris: „Und wie soll’s jetzt weitergehen?“

„Ich würde gerne morgen früh für die Leute ein paar Säcke Reis und andere Lebensmittel kaufen. Was hältst Du von ein paar gefrorenen Hähnchen und einem Styropor-Behälter, damit die Flattermänner nicht gleich stinken. Sie sollen mal was Richtiges zu knabbern haben.“

Er dachte nach. „Auch frischen Salat und Gemüse. Und wir holen Vitamintabletten für alle, besonders für die Kinder.“

Chris fügte hinzu „Und vielleicht aus einer Apotheke noch was gegen Durchfall.“

„Gut. Wir sollten auch ein paar Flaschen Fischsauce mitnehmen. Das Zeug ist hier wichtig, habe ich mal gelesen. Es wirkt gegen Schilddrüsenerkrankungen. Jetzt frag’ mich bitte nur nicht, was die Schilddrüsen sind.“

„Na ja, das hat wohl was mit dem Schwimmer zu tun, ha ha.“Er schlug sich auf die Oberschenkel.

Gerhard schwieg überrascht. Dann sagte er: „Das war übrigens das erste Mal heute, dass Du gelacht hast.“

Nach dem wieder schweigsam eingenommenen Essen, sagte er nachdenklich: „Vielleicht sollten wir wirklich mehr tun, als nur Reis und Flattermänner dahin zu bringen.“

Chris nickte zustimmend. „Und an was denkst Du da?“

„Ich weiß nicht genau. Aber ich fühle mich verdammt schlecht, wenn ich an diese armen Leute da draußen denke. Wir sitzen hier und essen uns eine Wampe an, und die essen Wurzeln und rote Nüsse gegen den Hunger.“ Gerhard betrachtete nachdenklich die halbleeren Essensschüsseln vor sich.

„Was würdest Du dazu sagen, wenn wir tatsächlich versuchen würden, diese Gruppe von hier hinaus zu bringen? Zum Beispiel nach Thailand? Sie sehen schließlich genauso aus wie die Leute von dort. Sie können dort untertauchen.“

Er sah seinen Neffen fragend an, der auf einem großen Teller sein Essen hin und her schob. „Pässe können wir ihnen keine beschaffen. Aber ich habe im Internet gelesen, dass viele Laoten illegal in Thailand leben. Wir müssten unseren Leuten nur ein paar Klamotten kaufen, damit sie nicht auffallen. Und im Nordosten, im Issan, sprechen sie eine Sprache, die identisch ist mit der Laotischen. Sie haben gemeinsame Vorfahren, die Leute aus Laos und aus Nordostthailand.“

Seine Augen blitzten auf, als er fortfuhr: „Irgendwann werden sich die politischen Verhältnisse in ihrer Heimat ja auch mal ändern. Dann können sie zurück. Oder sie können nach ein paar Jahren vielleicht auch in Thailand bleiben. Im Norden von Thailand leben Menschen des gleichen Stammes. Sie heißen dort ‚Meo’. Bei Chiang Mai gibt es Dörfer dieser Leute, aber Dörfer ohne Polizeiaufsicht. Dörfer mit Schulen, und ohne Zwang. Man lässt sie dort in Ruhe leben.“

„Alles schön und gut. Nur: wie willst Du sie ohne Pässe über die Grenze bringen?“

„Natürlich können sie nicht über einen Grenzübergang nach Thailand. Aber man könnte sie heimlich mit einem Minibus bis in die Nähe der Grenze bringen. Dann geht es zu Fuß weiter. Beide Länder haben über Hunderte von Kilometern eine gemeinsame grüne Grenze“

„Aber dieser Ler hat doch gesagt, dass sie zu schwach sind für weite Wege“ warf Chris ein.

„Man müsste mal auf einer Karte schauen, wo in der Nähe der Grenze eine Straße verläuft. Oder wo an der Grenze ein Ort liegt. Dort gibt es dann sicher eine Straße. Ein paar hundert Meter zu Fuß halten sie schon durch; es sind keine Schlaffsäcke wie wir Europäer.

Sie könnten auch durch den Grenzfluss, den Mekong, schwimmen. Der bildet viele Kilometer lang die Grenze zwischen beiden Ländern.“

„Aber sie haben Kinder dabei. Wenn die nicht schwimmen können?“

Gerhard wischte die Bedenken weg: „Dann versucht man es mit einem Boot; das könnte man alles organisieren; das könnte klappen. Und alles bei Nacht; man müsste es nur konsequent durchziehen.“

Gerhard kam in Fahrt. „Ich will noch etwas im Internet stöbern; mal sehen, ob ich eine Google-Landkarte mit der Grenze finde.“

„Ich komme mit. Hier sinnlos die Zeit totzuschlagen, bringt uns nichts.“

Chris hatte sich verändert. Seine, seit gestern melancholischen Augen versprühten wieder das alte Feuer; seine vorher dumpfe Stimme klang sehr lebhaft, um nicht zu sagen, begeistert.

*****

Als beide spät am Abend ins Hotel zurückkamen, ertönten laute Stimmen aus der Bar.

Chris sah Gerhard an, und sagte: „Komm, einer geht noch. Das hört sich nach der Clique um den Sachsen an.“

Sie hatten noch nicht das erste Bier in der Hand, als der ‚Kamikazesachse’ schon näher kam.

Er grüßte freundlich: „Hallo, und wie war euer Tag? Habt Ihr die Krüge besichtigt.“

Chris bestellte ein zusätzliches Bier für ihn. „Wir waren am Anfang der Ebene. Dort haben wir einen Verletzten gefunden, und später mehrere tote Frauen und ein Kind. Das waren H’mong. Sie sind von Soldaten überfallen worden.“

In Sebastian, dem Sachsen, ging eine Veränderung vor sich. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

Chris sah ihm verständnislos ins Gesicht; er fuhr fort: „Wir wollten den Verletzten in ein Krankenhaus bringen. Aber dort wollte er partout nicht hin. Er hatte Angst vor der Polizei und den Soldaten. Die springen hier ganz übel mit diesen Leuten um.“

„Am besten vergesst Ihr das schnell wieder. Das kann Euch großen Ärger bringen. Über diese Leute redet man nicht. Hier jedenfalls nicht!“ Er wandte sich abrupt ab.

Christian legte dem Sachsen, der wieder neben seinen beiden Kollegen stand, die Hand auf die Schulter: „Du bist doch schon länger in diesem Land. Diese H’mong: erzähl’ mir was über sie.“

Der Sachse fuhr herum und zischte wütend: „Kannst Du nicht hören. Man redet nicht darüber. Schluss. Und quatsch’ mich nicht noch mal an. Basta! Sonst knallt’s.“ Seine Augen funkelten böse.

„Habt Ihr mich verstanden? Noch mal zum Mitschreiben: Über diese Leute redet man nicht!“

Die Begleiter des Sachsen hatten zugehört. Sie sahen sich an und standen von ihren Hockern auf. Kopfschüttelnd gingen sie zum Ende der Theke und tuschelten. Der Sachse nahm ihre Gläser von der Theke und folgte ihnen.

Gerhard war der Szene aufmerksam gefolgt und sah Chris verwundert an. „Was hat er denn, der gute Mann?“

„Ziemlich schlechte Nerven.“

„Komm, wir gehen auf’s Zimmer.“

Er legte das Geld für das Bier auf die Theke und verließ, gefolgt von Chris, die Bar.

„Ich verstehe nicht, warum der so ausgerastet ist. Wir gehen morgen früh auf jeden Fall einkaufen. Vielleicht sollten wir hier über diese Leute wirklich mit niemandem reden. Das, was wir vorhin besprochen haben, können wir überschlafen. Bis morgen früh dann.“

Als Christians Zimmertür zufiel, murmelte Gerhard: „Solch ein Elend, solch ein abgrundtiefes Elend.“

*****

Am nächsten Morgen standen beide schon früh auf. Nach dem Morgenkaffee fuhren sie zu einem der beiden großen Supermärkte. Gerhard öffnete die Tür zum klimatisierten Verkaufsraum. Chris folgte mit einem Einkaufswagen. Eine dichte Wolke undefinierbarer Gerüche, die von fauligem Fischgestank überlagert wurde, schlug ihnen entgegen.

Gerhard atmete durch den Mund ein. „Chris, mach sofort Deine Hose zu. Auf der Stelle!“

„Alt, aber immer noch nicht gut. Lass’ Dir doch gelegentlich einen besseren Witz einfallen!“ sagte Chris grinsend und sah zur Raumdecke, von der tausende getrocknete, aufgeschnittene Fische herabbaumelten. „Sag nur, so etwas willst Du für die armen H’mong kaufen. Die sind schon krank.“

Gerhard ließ sich von der Verkäuferin, die ihnen misstrauisch folgte, zehn dieser getrockneten Fischleichen zusammen mit einem Kilo vertrockneten Octopussen einpacken.

„Sie muss unbedingt eine luftdichte Tüte nehmen“ merkte Chris mit zugehaltener Nase an, „man ist schneller erstunken als ertrunken.“

Er ging eilig weiter. Nach fünf Metern blieb er stehen und fragte Gerhard amüsiert: „Und jetzt?“ Er wies auf über einer Länge von drei Metern nebeneinander ordentlich aufgereiht stehende offene Säcke mit Reis. „Nehmen wir grünen, roten, schwarzen oder gelben? Lang, mittel oder kurz? Da steht auch weißer, dick oder dünn? Oder gesprenkelten? Das sind mindestens dreißig verschiedene Sorten.“

Gerhard betrachtete ratlos die Säcke. „Wir müssen uns entscheiden, ich halte es nicht mehr lange aus,“ sagte er und sah mit gerümpfter Nase auf den Fisch, der auch hier von der Decke baumelte. Er hob wahllos vier zehn Kilogramm schwere Säckchen mit Reis in verschiedenen Farben in seinen Einkaufswagen. „Eine Sorte wird ihnen bestimmt schmecken. Besser als Wurzeln.“

Sie ließen sich noch zehn Tüten nie vorher gesehene Obst- und Gemüsesorten einpacken und gingen in Richtung Kasse.

„Stopp, jetzt hätten wir um ein Haar gefrorene Hähnchen vergessen, Augenblick,“ sagte Chris und verschwand nach hinten. Mit sechs gefrorenen Hühnern, einer Gefrierbox, Milch und Süßigkeiten kam er zurück und legte alles auf die Theke an der Kasse. Die Kassiererin, die in einem dicken Pullover dahinter saß, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.

„Für die Kinder,“ sagte er, „Picknick.“

Der Gesichtsausdruck der Dame veränderte sich. Sie lächelte und hämmerte auf eine riesige Tastatur ein. Die Kasse aus der Vorkriegszeit klingelte freudig. „Sechsundneunzig Dollar bitte.“

Gerhard zögerte. „Sechsundneunzig Dollar?“

„Ja, sechsundneunzig Dollar,“ flötete sie.

„Mach schon,.“drängelte Chris.

„Viel zu viel,“ murmelte Gerhard, zahlte aber.

Zu Zweit schoben sie ihren überfüllten Einkaufswagen aus dem Laden zum Auto. Vor dem Geschäft atmeten sie tief durch und verstauten alles im Kofferraum. Gerhard breitete sorgfältig eine dunkle Plane über die Lebensmittel.

„Na denn los,“ meinte Chris mit ungeduldiger Stimme.

„Vielleicht ist es noch zu früh,.“erwiderte Gerhard mit einem Blick auf seine Uhr. „Lass uns bis elf Uhr warten. Wir brauchen eine Stunde bis zur Ebene. Wenn wir jetzt losfahren, müssen wir vielleicht zwei Stunden auf die Leute warten. Wenn uns Soldaten kontrollieren sollten, könnten sie misstrauisch werden. Stell’ Dir mal vor, die schauen in unseren Kofferraum. Wenn einer den Deckel hebt, und unter die Plane sehen will, fällt er tot um. Der Duft von frischem trocknen Fisch, der riecht, als wäre er zweihundert Jahre alt.! Dass wir ein Picknick machen, würden sie nie glauben; nicht in dieser Gegend. Nein, lass uns besser bis elf warten. Wir gehen ein Bier trinken.“

Chris pflichtete nach kurzem Überlegen bei. Sie gingen in ein Gasthaus.

Als sie saßen, meinte Gerhard.: „Das war viel, Chris. Fünfundneunzig Dollar sind drei durchschnittliche Monatsgehälter.“

„Der Supermarkt war modern und westlich. Nicht so eine kleine Bude wie sonst überall: Doppelter Preis. Klimatisiert: Doppelter Preis. Ausländeraufschlag: nochmal doppelter Preis. Und übers Ohr gehauen: wieder doppelter Preis. Summa summarum: Fünfundneunzig Dollar. Was willst Du? Wir haben immerhin grünen und roten Reis in Laos gekauft. Wer kann das schon von sich behaupten? Hat doch was, oder?“

Für alle Fälle nahmen sie ein Paar Flaschen Bier mit auf den Weg, als sie die gastliche Stätte verließen.

*****

Unterwegs auf dem schmalen Pfad kamen ihnen drei Armeelastwagen entgegen. Zehn Meter vor ihnen hielt der erste LKW an. Der Fahrer bedeutete ihnen durch Handzeichen, nach rechts auszuweichen. Chris fuhr ungefähr zwanzig Zentimeter nach rechts auf den Randstreifen des Weges. Der Fahrer hupte ungeduldig, Er winkte heftig mit dem Arm, weiter auszuweichen. Chris blieb stur stehen.

„Wenn das mal keinen Ärger gibt,“ meinte Gerhard.

„Was ist, wenn da Minen liegen, nee, nee.“

Ein junger Soldat mit silbernen Schultertressen sprang aus der Beifahrertür.

„Fahren Sie weiter rechts ran,“ herrschte er Chris in gebrochenem Englisch an.

„Nein, da können Minen liegen.“

Der Offizier schrie etwas auf Laotisch. Chris stieg aus und bedeutete ihm mit einer einladenden Handbewegung, selbst zu fahren. „Komm raus Gerd; wenn der unbedingt Platz braucht, soll er selbst fahren.“

Der Militär nahm seine Schirmmütze ab und kratzte sich am Kopf.

Er fluchte, und schrie ein Kommando in Richtung des ersten LKW. Die hintere Ladebordwand öffnete sich. Vier Soldaten sprangen herab.

„Jetzt gibt’s doch Ärger,“ sagte Gerhard.

Chris blieb gelassen. „Nein, schau mal.“

Den abgesessenen Soldaten wurden aus dem LKW Minensuchgeräte herabgereicht. Sie suchten akribisch den Boden links vom Straßenrand über eine Länge von ungefähr zehn Metern und zwei Metern Breite ab. Als sie nicht fündig wurden, ging der Offizier langsam an der abgesuchten Fläche vorbei.

„Jetzt sucht er bestimmt nach Plastikminen“ meinte Chris, „auf die reagieren die Metalldetektoren nicht.“

Als der Offizier nichts gefunden hatte, gab er ein neues Kommando. Weitere zehn Mann sprangen vom LKW. Sie schritten langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, im Gänseschritt noch einmal die durchsuchte Fläche ab.

Danach gab der Offizier dem Fahrer des ersten LKW ein Handzeichen. Der Lastwagen setzte sich in Bewegung und fuhr, nachdem die restlichen Soldaten abgestiegen waren, ungefähr zehn Zentimeter neben dem PKW der beiden vorbei.

Die Soldaten der beiden anderen LKW sprangen ebenfalls ab. Die schweren Fahrzeuge setzten sich langsam in Bewegung. Der hintere Truck passierte die Straße fünfzig Zentimeter neben dem PKW. Als er an dem Wagen fast vorbei war, gab es einen dumpfen Knall.

Chris und Gerhard zuckten zusammen.

„Ein Rad hat eine Mine hochgehen lassen,“ bellte Gerhard ärgerlich

„Von uns wollte diese Schweinebacke, dass wir einfach ins Feld fahren, um Platz zu machen.“

Der Fahrer des LKW gab in Panik Gas. Der Wagen beschleunigte und schlingerte hinter dem PKW auf den Weg zurück. Er stoppte abrupt. Es herrschte Stille. Der Offizier schrie den Fahrer des dritten LKW an und begutachtete den Schaden. Die beiden hinteren Zwillingsreifen waren zerfetzt. Er schrie Kommandos. Die Fahrer der ersten beiden LKW sprangen mit Wagenhebern und Radkreuzen aus den Führerhäusern.

„Komm, nur weg von hier“ rief Gerhard Chris zu.

Sie winkten freundlich grinsend in Richtung des Offiziers, stiegen in ihr Auto und fuhren los. Gerhard holte tief Luft.

„Das war wohl eine dieser kleinen Clusterminen. Die sind nicht sehr gefährlich für LKW, nur für Menschen. Wenn das ein chinesischer LKW war, erst recht nicht. Die haben Blech, das ist fünf Millimeter dick.“

„Aber das Blech unseres Hasenwagens hier...“ meinte Chris nachdenklich.

*****

Mit fünf Minuten Verspätung erreichten sie den vereinbarten Treffpunkt.

Die baum- und strauchlose Gegend war menschenleer, nur die Sonne brannte unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel.

Chris schaltete die Zündung aus.

Aus seinem Fenster heraus schrie Gerhard: „Ler!“

Niemand war zu sehen. Wenig später blickte Chris in den Rückspiegel. „Da kommt der Bursche.“

Von links kam Ler auf sie zu. Er humpelte nur noch schwach. Er hatte sich hinter einem Steinbehälter verborgen gehalten.

„Wir haben etwas für Euch zum Essen dabei.“

Ler sagte „Danke“ und sah staunend in den Kofferraum

Er rief laut „Mi“und „Ma.“

Zwei der Frauen, die sie am Vortag am Feuer gesehen hatten, erschienen. Zu fünft schleppten sie die mitgebrachten Lebensmittel hinter den nächstgelegenen Steinbehälter.

„Alle werden sich freuen,“ sagte Ler. Er wollte gehen, aber Chris sagte „Stopp.“

Ler drehte sich um und sah ihn fragend an.

„Wir wollen mit Dir reden. Aber nicht hier auf der Straße, wo vielleicht noch mal Soldaten vorbeikommen. Das könnte Verdacht erregen. Lass uns irgendwohin fahren, wo wir uns ungestört unterhalten können. Kennst Du einen solchen Ort?“

„Ja, fahrt einfach zehn Minuten weiter. Da ist der Platz, wo die Minibusse der Touristen warten. Da sind keine Minen mehr, und Schatten ist dort auch.“

Er sagte etwas zu den Frauen, stieg ein und setzte sich nach hinten. Chris fuhr los. Nach fünf Minuten kam ihnen ein weiterer Militär- LKW entgegen. Chris murmelte: „Verdammt“ und hielt an.

Der LKW wich aus und fuhr langsam an ihnen vorbei. Ler hatte sich vor der hinteren Sitzbank auf den Fahrzeugboden gelegt. Als der LKW zehn Meter hinter ihnen war, rief Gerhard: „Du kannst wieder hochkommen, Ler. Sie sind vorbei.“

„Entweder war der Fahrer doof, oder er wusste, dass dort keine Minen lagen,“ stellte Chris lakonisch fest.

Kurz darauf erreichten sie einen großen, schattigen Platz. Auf einem blauen Schild war er auf Englisch, Französisch und Laotisch als ‚Parking Area’ ausgewiesen.

Grosse, wunderbar rot blühende Flamboyant Bäume bildeten in ihrer Farbenpracht einen krassen Gegensatz zur Einöde ringsherum. In ihrem Schatten hielt der Wagen.

*****

Sie schauten sich um. Der Platz war menschenleer. Chris zog seine Jeans Jacke aus. Er reichte sie Ler. „Zieh’ sie ruhig an. Wenn eine Kontrolle kommen sollte, sehen sie Dir sonst an, dass Du aus dem Busch kommst.“

Ler nickte und zog die Jacke über. Er ging vor zu einem Steintisch mit zwei Bänken.

Chris fuhr fort: „Euer Schicksal hat uns sehr berührt. Wir würden Euch gerne helfen, aus diesem verdammten Land herauszukommen.“

Ler blickte auf: „Ich verstehe Dich nicht.“

„Wir haben uns überlegt, wie wir Euch heraus helfen können.“

„Ich glaube, ihr wisst nicht, worauf Ihr Euch einlassen wollt. Wenn Ihr auffallt, sperrt man Euch für mindestens zehn Jahre ins Gefängnis. Ob ihr dort nur ein Jahr übersteht, ist fraglich.“

Ler’s Stimme klang schroff, abweisend. „Wenn Ihr in ein Umerziehungslager kommt, dann gute Nacht. Dort wird gefoltert. Sie machen auch vor Ausländern nicht halt. Lasst das bitte sein.“

„Mache Dir um uns keine Sorgen. Wir hatten vierzig Jahre lang in unserem Land ein kommunistisches Regime, die DDR. Auch dort zog man keine Samthandschuhe über die blutigen Hände. Wir sind uns des Risikos bewusst.“

Mit Nachdruck fuhr Chris fort.

„Wir haben genau überlegt. Wir wollen nicht nach Hause fahren, und Euch Eurem Schicksal überlassen. Über kurz oder lang werdet Ihr hier umkommen. Was hältst Du davon, wenn wir Euch in einem Minibus zum Mekong an die Grenze bringen?“

„Ihr setzt Euer Leben auf’s Spiel.“

„Dort setzen wir bei Nacht über den Fluss. Die Geister, an die Ihr glaubt, werden Euch und uns schützen. Wenn wir Thailand erreicht haben, bringen wir Euch in den Isaan. Dort sprechen viele Leute Eure Sprache. Viele Laoten leben dort illegal. Vielleicht habt Ihr Verwandte dort, bei denen Ihr unterkommen könnt?“

„Dort sind Verwandte von uns, sogar Leute von unserem Stamm. Einige leben dort legal. Aber die meisten Flüchtlinge, die es bis dorthin geschafft haben, hausen in Lagern. Sie dürfen sie nicht verlassen.“

Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann hellte sich seine Mine auf.

„Einige von uns sind von den Amerikanern, als der Vietnamkrieg verloren war, mitgenommen worden. Sie sind jetzt echte Amerikaner mit Pass.“

„Vielleicht gibt es etwas wie Familienzusammenführung. In Europa findet man das.“

Ler sprang begeistert auf. „Du denkst, wir können nach Amerika?“

„Ich sagte: Vielleicht. Wenn ihr dort enge Verwandte habt.“

„Sonst müssten wir in Thailand in einem Lager bleiben?“

„Ich habe gestern gelesen, dass es an der Grenze zu Burma acht oder zehn Lager mit Burmesen gibt. Da sind 50‘000 Burmesen eingesperrt. Sie dürfen die Lager ebenfalls nicht verlassen.“

Gerhard stand auf und ging zum Wagen. Er kam mit Zigaretten und einer Landkarte zurück.

Er breitete die Karte auf dem Tisch aus und zeigte auf verschiedene Punkte. „Hier sind diese Lager. Die thailändische Regierung erwägt, die Leute aus den Lagern zu entlassen. Man will sie in der Land- und der Fischwirtschaft arbeiten lassen. Unter dem thailändischen Ministerpräsidenten Thaksin wäre es beinahe dazu gekommen. Aber dann kam vor vier Jahren der Putsch. Thaksin ist jetzt im Ausland.“

Gerhard redete sich in Rage.

„Mensch Ler, überleg‘ mal! In Thailand braucht man Arbeitskräfte. Wenn sie den 50‘000 Burmesen erlauben wollen, zu arbeiten, warum sollten sie das den 20‘000 Laoten verbieten. Ihr habt überdies mit den Thailändern aus dem Norden die gleichen Vorfahren.“

„Das stimmt. Aber: Niemand von uns will in ein Lager!“

„Wenn wir drüben sind, fällt uns vielleicht noch Besseres ein. Ich habe Freunde in Maha Sarakham. Das liegt bei Korat, der größten Stadt des Isaan. Sie werden vielleicht auch helfen. Ihr müsst jedenfalls aus dem Busch raus. Hier kommt Ihr langsam – aber sicher – alle um.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich muss mit dem Ältesten reden. Von ihm hängt jede Entscheidung ab.“

„Gut, rede mit ihm. Aber beeilt Euch bitte. Uns gefällt es von Tag zu Tag weniger in diesem Land. Je mehr man mitbekommt, desto hässlicher wird es. Wir bringen Dich jetzt zurück.“

Ler zog die Jacke von Chris aus.

„Nein, nein.“ Chris weigerte sich. „Behalte die Jacke. Im Hotel habe ich noch eine. Nachts wird es hier kalt. Das haben wir gestern gespürt. Du musst gesund bleiben, wenn ihr fliehen wollt.“

„Danke für Dein Geschenk. Je länger ich über Euren Vorschlag nachdenke, um so besser klingt er. Wir könnten endlich wieder Ruhe und Frieden finden. Vielleicht sogar arbeiten! Es wäre wunderbar. Aber soweit sind wir leider noch nicht. Was wird der Älteste denken? Und die Anderen? Gut wäre es sicher, für uns alle. Wenn ich nachher unserem Führer davon erzähle, werde ich dafür kämpfen. Es geht vor allem um die Zukunft der Kinder! Das müssen, das werden sie einsehen!.“Seine Augen leuchteten hoffnungsfroh.

Sie fuhren zurück.

Als Ler ausstieg, sagte Gerhard: „Können wir uns morgen wieder treffen, am selben Platz wie heute? aber schon um elf Uhr. Macht heute ein großes Festmahl mit den Lebensmitteln, damit Ihr mehr auf die Rippen bekommt. Wir wollen nicht, dass unterwegs jemand von Euch an Unterernährung stirbt. Und wenn Ihr in Thailand seid, gibt es besseres Essen als Wurzeln und Nüsse.“

„Gut.“ Er strahlte. „Dann bis morgen um elf Uhr.“

Er ging gedankenverloren davon.

„Warum schon um elf Uhr morgen früh, statt zwölf Uhr?“ fragte Chris auf der Rückfahrt nach Phonsavan.

„Was ist, wenn die LKW auf dieser Straße auf Routinepatrouille waren? Wenn sie täglich zur selben Zeit hier vorbeikommen? Ich habe keine Lust, den Soldaten noch einmal zu begegnen. Wenn sie uns öfter hier sehen, können sie misstrauisch werden.“

„Verstehe, ganz schön clever. Man merkt doch manchmal, dass Du mit mir verwandt bist!“

Den Rest des Tages schlenderten beide durch Nebenstraßen der trostlosen Stadt. Hier standen nur wenige heruntergekommene Steinhäuser. Von verwaschenen Fassaden, von denen die vergrauten Farben abblätterten oder schon abgewaschen waren, fiel in großen Fladen der Putz ab. Senkrechte und quer verlaufende Risse ließen die Zeiten des Neubaus in weite Vergangenheit rücken.

Die Mehrzahl der Unterkünfte, die phantasielose Menschen aus Holz zusammengezimmert hatten, duckten sich windschief gegen- und auseinander. Vereinzelt dazwischen stehende neuere und alte Automobile konnten den maroden Eindruck der Behausungen nicht vergessen machen.

Windböen, die Strauchbündel und Mülltüten gelegentlich vor Staubwolken her durch schmutzige Straßen trieben, erinnerten an den allgegenwärtigen Sand, der die Landschaft draußen in der Ebene, der Tonkrüge unbarmherzig einem feindlichen Belag überzog.

In den Lücken zwischen den Häusern wartete Müll auf eine Müllabfuhr, die nie kommen würde. Magere Ratten und verwahrloste Hunde durchwühlten die Müllhaufen auf der Suche nach Fressbarem. Lethargischer Zerfall schwebte über diesem Stadtviertel.

Gerhard und Chris hatten einen geöffneten Imbissstand gefunden.

„Durst“ sagte Chris. Ganz schön deprimierend, was?“

„Ähnlich war es in China auf dem Land. Alles war heruntergekommen. Atombomben haben die Chinesen. Aber keinen Pfennig für die armen Leute.“

Eine löchrige Plane, aufgespannt hinter einer roh gezimmerten,schiefen Holzbank, bot teilweisen Schutz gegen Unrat und Staub. Wenige Menschen schlichen mit teilnahmslosen, abweisenden Gesichtern vorbei. Sonst in asiatischen Städten allgegenwärtiges Kinderlachen fehlte. Unter einigen auf Pfählen gebauten Holzhütten schlichen Schweine umher. Sogar deren Quieken klang müde, als warteten sie auf den nahen Tod.

Gerhard und Chris versorgten sich aus einem defektem Kühlschrank mit warmem Bier. Sie legten das Geld dafür auf den Tisch im Innenraum, auf dem der Inhaber döste. Ein müdes Kopfnicken entließ sie.

„Komm trink schneller,“ sagte Gerhard „und dann nix wie weg.“

„Nicht unfreundlich, aber völlig lethargisch, diese Leute,“ konstatierte Chris, als er auf der Straße stand. „Hier könnte ich nicht leben. Was hier fehlt, ist die emsige Geschäftigkeit und das freundliche Lächeln, wie überall in Thailand.“

*****

Am nächsten Morgen machten sich Gerhard und Chris um zehn Uhr auf den Weg. Kein Konvoi, nicht mal ein einzelner Militär LKW war zu sehen.

„Ich bin gespannt, wie sich der Alte entschieden hat. Solch eine Chance wird ihm nie mehr geboten werden.“ Gerhard sagte diese Sätze sehr nachdenklich. „Ob er noch genug Kraft hat, sich für das Leben zu entscheiden?“

Chris blieb stumm.

Am vereinbarten Treffpunkt kamen Ler und der Alte sofort hinter dem nächsten Steinbehälter hervor. Sie nickten zum Gruß und stiegen zu. Sie fuhren zum Rastplatz weiter. Der alte Mann zeigte auf die Bänke.

Als Ler saß, zeigte er auf den Alten. „Er spricht kein englisch, nur etwas französisch von früher. Er ist einer der wenigen, die aus Dièn Bièn Phu zurückgekommen sind.“

Er blickte Gerhard eindringlich an. In scharfem Ton fuhr er fort: „Das weiß niemand. Das darf niemand erfahren. Im Norden machen manchmal Vietnamesen Jagd auf uns. Auch die können und wollen nicht vergessen.“

Chris sah Ler lange an. „Wie steht es bei Euch, wollt Ihr oder wollt Ihr nicht weg?“