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»Hadal Zone: Ein entsetzlicher Albtraum, der unter die Haut geht« Lara Engels kämpft seit ihrer Jugend mit mentalen Problemen und steht nun vor einer Entscheidung: Wird sie Teil der dunklen, sadistischen Spiele ihres Freundes Bernd, der eine Teenagerin entführt hat, um sie in einer abgelegenen Hütte gefangen zu halten? »Gefangen in der Hölle: Eine blutige Reise in die Tiefen der menschlichen Psyche« Hadal Zone ist ein verstörendes psychologisches Thriller-Debüt, das tief in die Abgründe menschlicher Psyche blickt. Eine düstere Reise in die Untiefen der Seele, in der nichts ist, wie es scheint und die Grenzen zwischen Opfer und Täter verschwimmen. Ein beklemmendes Buch für Fans von Gillian Flynn, Paula Hawkins und Karin Slaughter. »Entführt und gefangen: Ein Horrortrip in die dunkelsten Abgründe der Seele« Marcel Hartlage wurde im Jahr 1994 in Ostwestfalen geboren und wuchs in den nördlichen Gefilden der Region auf. Schon im Kindesalter entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben und fand schnell seine Vorliebe für Horrorliteratur heraus. Seine größten Inspirationen sind dabei die Werke von Stephen King und H.P. Lovecraft. »Mörderische Obsession: Ein Urlaubstrip wird zum Alptraum« In seinen Geschichten lässt er häufig übernatürliche Elemente Einzug halten und setzt sich mit den dunklen und primitiven Seiten des menschlichen Wesens auseinander. Marcel Hartlage arbeitet als freiberuflicher Autor und hat bereits mehrere erfolgreiche Bücher veröffentlicht. »Perversion und Wahnsinn: Eine Geschichte von Lust und Gewalt« Depressionen, morbide Fantasien, ein Suizidversuch: Seit ihrer Jugend kämpft Lara Engels mit mentalen Problemen. Um ihrer Beziehung neuen Schwung zu verleihen, stimmt sie deshalb dem Vorschlag ihres Freundes Bernd zu, ein paar entspannte Tage in der ab-gelegenen Hütte seines Onkels zu verbringen. »Dunkle Triebe: Wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen« Doch schon der Hinweg entwickelt sich zu einem Höllenritt, denn aus heiterem Himmel entführt Bernd eine Teenagerin, die siebzehnjährige Mandy Kramp, um diese für gemeinsame sadistische Spiele in der Hütte gefangen zu halten. Wider Erwarten erweichen sich Laras Skrupel in dem Moment, als sie erkennt, dass ein hübsches, junges Mäd-chen genau das sein könnte, was sie und Bernd brau-chen: Jemanden, an dem sie ihre dunkelsten Triebe end-lich ausleben können. »Ein Grausamer Plan: Die perfekte Beziehung durch Entführung und Folter«
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Veröffentlichungsjahr: 2023
REDRUM
HADAL ZONE
2. Auflage
(Deutsche Erstausgabe)
Copyright © 2022 dieser Ausgabe bei
REDRUM BOOKS, Berlin
Verleger: Michael Merhi
Lektorat: Jasmin Kraft
Korrektorat: Susi Swazyena
Umschlaggestaltung und Konzeption:
MIMO GRAPHICS unter Verwendung einer
Illustration von Shutterstock
ISBN: 978-3-75792-619-9
E-Mail: [email protected]
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Marcel Hartlage
HADAL ZONE
Zum Buch:
»Hadal Zone: Ein entsetzlicher Albtraum, der unter die Haut geht«
Depressionen, morbide Fantasien, ein Suizidversuch: Seit ihrer Jugend kämpft Lara Engels mit mentalen Problemen. Um ihrer Beziehung neuen Schwung zu verleihen, stimmt sie deshalb dem Vorschlag ihres Freundes Bernd zu, ein paar entspannte Tage in der abgelegenen Hütte seines Onkels zu verbringen.
Doch schon der Hinweg entwickelt sich zu einem Höllenritt, denn aus heiterem Himmel entführt Bernd eine Teenagerin, die siebzehnjährige Mandy Kramp, um diese für gemeinsame sadistische Spiele in der Hütte gefangen zu halten.
Wider Erwarten erweichen sich Laras Skrupel in dem Moment, als sie erkennt, dass ein hübsches, junges Mädchen genau das sein könnte, was sie und Bernd brauchen: Jemanden, an dem sie ihre dunkelsten Triebe endlich ausleben können.
Zum Autor:
Marcel Hartlage wurde im Jahr 1994 in Ostwestfalen geboren und wuchs in den nördlichen Gefilden der Region auf. Schon im Kindesalter entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben und fand schnell seine Vorliebe für Horrorliteratur heraus. Seine größten Inspirationen sind dabei die Werke von Stephen King und H.P. Lovecraft. In seinen Geschichten lässt er häufig übernatürliche Elemente Einzug halten und setzt sich mit den dunklen und primitiven Seiten des menschlichen Wesens auseinander. Marcel Hartlage arbeitet als freiberuflicher Autor und hat bereits mehrere erfolgreiche Bücher veröffentlicht.
Inhaltsverzeichnis
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Damals
Heute
Epilog
VERLAGSPROGRAMM
Marcel Hartlage
HADAL ZONE
Horror
»Von Skorpionen voll ist mein Gemüt.«
– William Shakespeare, Macbeth
Ausgeweidete Tiere geben Rätsel auf – Polizei schließt Kultaktivität nicht aus
Lübbecke. Am vergangenen Abend stießen zwei Spaziergänger in einem Waldgelände nahe des Wiehengebirges auf eine Vielzahl ausgeweideter Vogelkadaver, die ›zurechtgemacht‹ in mehreren aus Zweigen und Blut angeordneten Pentagramm-Symbolen lagen. Zu ähnlichen Funden war es bereits letzte und vorletzte Woche gekommen, wobei jeweils Eichhörnchen, Spechte, Waldmäuse und eine entlaufende Hauskatze diesen Taten zum Opfer fielen.
»Es ist anzunehmen, dass sich Jugendliche hier einen makabren Scherz erlauben«, gibt Polizeisprecher Martin Klein Einblick in die Ermittlungen. »Die Regelmäßigkeit dieser Taten, als auch die überraschende Schonungslosigkeit, mit der sie ausgeführt werden, schließen jedoch auch die Aktivität selbst ernannter Kultisten nicht aus. Wir gehen jeder Spur nach.« Genauere Erkenntnisse über diesen Verdacht wollte Klein nicht preisgeben, verwies jedoch auf den erstmaligen Vorfall dieser Art, der bereits in der diesjährigen Walpurgisnacht im Umland von Hiddenhausen mit einem Specht stattgefunden hatte.
An dem Tag, an dem die Stimmen sie zum Sprung lockten, gehorchte Lara ihnen, bis sie nur noch ein einziger Schritt vom Abgrund trennte – fünfzehn Meter Tiefe, und dann nichts als friedvolle, glückselige Dunkelheit. Der Wind umsäuselte ihr Haar und streichelte ihre Wangen, liebkoste sie, als wolle er sie für ihren Entschluss, endlich den Mauervorsprung des Parkhausdaches erklommen zu haben, mit zärtlichen Berührungen belohnen. Er trug einen Geruch von warmer Stadtluft herauf; altvertraute, Erinnerungen weckende Gerüche, die sie an Imbissstände mit fettverklebten Anreichen und verschwitzten Mitarbeitern erinnerten, an überfüllte Innenstädte und pöbelnde Betrunkene, die vor irgendwelchen Clubs herumlungerten und im Rhythmus des vibrierenden Basses, der aus dem Innern schallte, in die Ecken pissten. Lärm und Menschen. Endlose Geschäftigkeit. Trubel und Gelächter. Würde sie sich eine Handvoll Nähnadeln ins Ohr rammen, würde es nicht halb so sehr schmerzen wie die Kakophonie jener Menschen.
Der Gedanke ließ sie beinahe auflachen – sie schwankte kurz, ihre Chucks rutschten mit den Spitzen über die Kante, und ihr zierlicher Körper vollzog einen reflexartigen, tollkühnen Akt, um das Gleichgewicht zu wahren. Doch sie ließ das Kichern trotzdem entweichen. Warum auch nicht? Die Welt vibrierte. Atmete. Gebäude schwankten, der Horizont waberte, Gesichter verflüssigten sich wie schmelzendes Wachs. Sie roch die warmen Kohlen des nahen Bahnhofs, hörte das Rauschen des Verkehrs, vernahm die nuschelnden Durchsagen auf den Gleisen, so als seien ihre Sinne auf diesen letzten Metern noch einmal besonders geschärft. Stand plötzlich die eigene Sterblichkeit zur Debatte, betrachtete man alles nuancierter. Ruhiger.
Ein Säuseln. Ein Flüstern. Stimmen, die ihr Rückenmark hinaufglitten und durch ihren Kopf wuselten.
Jene Ruhe hatte Lara am meisten überrascht – keine Nervosität. Keine Angst. Mit jedem Schritt, den sie sich dem Parkhaus genähert hatte, hatte sich das Flattern in ihrer Magengrube gelegt, hatten sich ihre Glieder und Gedankengänge seltsam entspannt – jetzt schienen sie hinter einer Wolke zu wabern, weder klare Strukturen noch Emotionen zu transportieren, und das war unheimlich, aber irgendwie auch tröstend. Befreiend. Ihre Gedanken waren dort, und sie war hier, und hier trug sie jemand anderes durch die Welt, auf Füßen, die nicht die ihren waren, mit einer Distanz, als hätte man sie bereits ausgeschlossen, als wäre sie nur noch eine stumme Beobachterin, ein Geist. Morgen würde alles weitergehen wie bisher, nichts würde sich ändern, und niemand, der sie auf ihrem Weg zum Parkhaus gesehen hatte, würde sich noch an ihr Gesicht erinnern. War das nicht sogar das Erleichterndste von allem daran?
Jetzt, flüsterten sie. Jetzt, jetzt, jetzt, jetzt.
Lara drückte das Kinn auf die Brust und schaute im Neunziggradwinkel nach unten. Klinkerpflaster und Asphalt, dazwischen eine Bordsteinkante. Mindestens fünfzehn Meter entfernt. Eine respektable Höhe. Würde sie sich im Flug drehen und mit dem Kopf voran aufschlagen? Musste sie zum Sprung ansetzen wie auf dem Fünfmeterbrett? Warum, verflucht, hatte sie sich überhaupt für diesen Ort entschieden? Für diese Vorgehensweise?
Es wird erst dann problematisch, wenn du dir über das ›Wie‹ Gedanken machst. Wer hatte ihr das gesagt? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nicht einmal, ob diese Behauptung stimmte. Sie konnte sich nur daran erinnern, dass sie, als sie diesen Satz gehört hatte, ein heftiges kaltes Flattern im Magen vernommen hatte, eine kolossale Realisierung, die sich als heißes Rauschen in ihrem gesamten Kopf ausgebreitet hatte. Wie oft hatte sie abends im Bett gelegen, manchmal stundenlang, und die zarte Knospe jenes aufkeimenden Gedankens Nacht um Nacht mit immer prägnanteren Details begossen? Wie liebevoll hatte sie diese Pflanze heranwuchern und ihren Kopf ausfüllen lassen, bis an jeder Synapse und jedem Nervenstrang ihre fauligen und rabenschwarzen Ranken gehangen hatten? Wie lange hatte sie sich unter dieser stetig wachsenden Last vorangeschleppt, Tag für Tag die stinkenden, giftigen Pollen inhaliert, die ihren Kopf vernebelten, nur um als Nebenwirkung zugleich ein penetrantes Stechen hinter der Stirn zu vernehmen?
Es wird erst dann problematisch, wenn du dir über das ›Wie‹ Gedanken machst.
Sie hob den Blick und schaute ein letztes Mal in die Ferne. Die Lichter der Stadt. Der kobaltblaue, sich verdunkelnde Himmel. Die Düfte der überfüllten Innenstadt und der warmen Gleise des Bahnhofs. Ein milder, friedvoller Sommerabend. Das waren schöne letzte Eindrücke, fand sie.
Gleich hast du es geschafft, Süße. Sie schluckte und reckte ihre Schultern.
Es soll nicht wehtun. Sie wusste nicht, an wen sie diese letzten Gedanken richtete. Bitte, lass es schnell vorbei sein.
Sie schloss die Augen und hob den Fuß. Das Herzrasen kam so schnell und plötzlich, dass sie wimmerte.
Ein Schritt. Ein Schritt …
Jetzt.
Und dann noch mehr Schritte. Noch mehr Stimmen. Hinter ihr.
Es begann mit dem Klopfen. Später, bei mehr als einer Gelegenheit, würde Lara Engels an dieses Klopfen zurückdenken und sich in Erinnerung rufen, dass dieser gesamte Albtraum – das Chaos, das er mit sich brachte, die Dunkelheit, in die er sie zog – mit diesem einen Klopfen begann. Die erste Anomalie in einer Reihe ungeplanter Abweichungen, die ihre mühselig aufgebaute Zufriedenheit – und dieses zaghafte Wagnis von Vorfreude – von einem Moment auf den anderen vernichtete, wie bei einem fein erarbeiteten Gemälde, auf das blindlings ein übergroßer Farbklecks spritzte.
Sie schaute gerade durch die Windschutzscheibe, blickte dem vorbeiziehenden Verkehr hinterher und war in Gedanken versunken, wie so häufig in den letzten Wochen und Monaten, und dann: Bamm! Sie fuhr zusammen und blickte aus dem Beifahrerfenster, dort stand Bernd. Bernd und ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren, dessen zierlichen, strampelnden Körper er an den seinen gepresst hielt. Mit einer Hand erstickte er die Schreie, die aus ihrem Mund drangen, und Lara sah den Speichel an seinen Fingern, der im Sonnenlicht des Nachmittages glänzte wie die zuckrige Fettglasur auf einem Kuchen. Obwohl ihr Verstand noch nicht vollends begriffen hatte, was sich dort vor ihr abspielte, öffnete sie den Mund und wollte etwas sagen – was, wusste sie nicht. Im selben Moment hob Bernd jedoch erneut die Hand und klopfte, klopfte, klopfte.
»Komm!« Das Glas dämpfte seinen Schrei. »Hilf mir. Verflucht Lara, hilf mir!«
Mit zittrigen Fingern tastete sie nach dem Griff und stieg aus. Sie stellte fest, dass ihre Beine weich wie Wackelpudding waren. »Was hat sie? Was ist mit ihr?« Es musste ein Anfall oder so etwas sein. Vielleicht war die Kleine auf ihn losgegangen.
»Zum Kofferraum, schnell.« Bernd zog das Mädchen mit sich. Lara starrte ihm einen Augenblick hinterher, und wieder verhedderte sich etwas in ihrem Kopf. »Was tust du?«
»Mach den verfluchten Kofferraum auf, Lara! Mach schon!«
Sie stolperte vorwärts, stotterte zusammenhangslose Silben und packte nach dem Griff des Kofferraums. Ihre Finger waren feucht. Als sie die Luke öffnete, blickte sie sich auf dem Parkplatz der Tankstelle um. Leute betankten ihre Fahrzeuge, weniger als zwanzig Meter entfernt. Autos fuhren auf der Bundesstraße vorbei. Zwischen ihnen und der Fahrbahn lag lediglich eine hüfthohe Buchsbaumhecke.
»Bernd …«
»Schmeiß unsere Sachen raus. Los!«
Sie spürte, wie Eiseskälte ihre Glieder umschloss und alles in ihrem Kopf zu rauschen begann. »I … Ich … aber …«
»Schmeiß die Scheiße da raus, Lara, beeil dich!«
Sie zuckte bei seiner lauten Stimme zusammen, und mit Fingern, die sich so klamm anfühlten, als wären sie gefroren, tastete sie nach den Koffern. Eine Reisetasche von Adidas, ein Rollkoffer mit verklemmtem Griff. Bettwäsche, rot-schwarz kariert. Sie hatte sie erst heute Morgen aus der Waschmaschine geholt und zum Trocken auf den Balkon gehängt. Jetzt landete sie auf dem von Rollsplit überhäuften Asphalt des Parkplatzes.
Bernd drängte sich neben sie. »Pack sie an den Beinen.«
»Bernd, was tust du da?« Endlich kam der Satz über ihre Lippen. Ihre Zunge fühlte sich wie dicker Pelz an.
»Pack sie, Lara. Schnell, bevor …«
Er schrie auf. Lara tat es ihm gleich und wich zurück, ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war. Die Kleine hatte ihm in den Finger gebissen. Blut rann an seiner Hand hinab. Wut flackerte in Bernds Augen auf, er schlang einen Arm um ihren Hals und begann sie zu würgen. Das Mädchen krächzte. Schnell packte er sie mit der anderen Hand unterhalb der Kniekehlen, hievte sie empor und schleuderte sie in den Kofferraum. Sie schlug sich den Kopf an der Kante an, und ein entlegener Teil von Lara, der in diesem Moment des Denkens bemächtigt war, nahm entsetzt zur Kenntnis, wie massiv sich dieser Knall anhörte. Die Augen des Mädchens flatterten, bevor sie stöhnend auf dem Rücken liegen blieb.
»… die Decke. Lara!«
Lara fuhr zusammen und starrte Bernd an. »Was?«
»Gib mir die Decke!«
Mit den routinierten, mechanischen Griffen einer Einzelhandelskauffrau, die es gewohnt war, Produkte übers Band zu ziehen, kniete sie sich zu der Bettwäsche nieder und reichte Bernd die rot-schwarz karierte Decke. Bevor er sie über dem Mädchen ausbreitete sah Lara, wie er in die Tasche ihrer schwarzer Röhrenjeans griff und ein Smartphone herausnestelte. Er steckte es ein und schlug dann die Klappe zu. Klonk!, einfach so. Lara starrte auf den Kofferraum, als erwartete sie, er würde gleich jeden Moment wie ein Schachtelteufel aufspringen und ihr eine wahnwitzige Clownsfratze entgegenschleudern.
»Die Koffer auf die Rückbank und Abmarsch.« Bernd öffnete eine der hinteren Türen und bugsierte die Taschen hinein. Die Tüte mit den Getränken kippte um, und eine angebrochene Orangensaftflasche fiel mit dem Hals voran in den Fußraum und gab ein leises, gluckerndes Geräusch von sich. Saß der Deckel fest genug? Ein Teil von Lara beschäftigte sich mit der äußerst wichtigen Frage, wie sie die möglichen Flecken wieder herausbekommen könnte, sollte das Ding auslaufen. Und wenn das Glas einen Sprung bekam …
Schläge erklangen an der Kofferraumklappe.
Erneut schrie Lara auf, doch diesmal in einem lang gezogenen, kläglichen Ton. Sie hielt sich die Hände an die Schläfen und krallte ihre Finger ins Haar, taumelte mehrere Schritte zurück, während jedes erneute Poltern – jedes erneute Klopfen – Salven von Adrenalin durch ihren Magen schleuderte. Sie spürte, wie ihr übel wurde.
Bernd schlug die Tür zu und eilte ihr entgegen. »Lara, Schatz… «
»Sie soll aufhören! Wer ist das? Wer ist das?«
»Lara… «
»Wer ist das, Bernd?«
Bernd gab ihr eine Ohrfeige. Nur eine ganz leichte, doch Lara verstummte und blinzelte ihn an, unschlüssig, aus welchem Grund sie es tat.
Er nahm ihre Hand. »Steig jetzt ein. Vertrau mir. Steig ein.«
Mit eiligen Schritten führte er sie zur Beifahrerseite, um den Kofferraum herum, aus dessen Innerstem noch immer gegen die Klappe gehämmert wurde. Ein Murren und Grölen mischte sich dazu. Lara krallte ihre Finger um Bernds, dass sich ihre Nägel in sein Fleisch bohrten. Dabei spürte sie etwas Warmes an der Außenseite ihres Zeigefingers und erinnerte sich wieder an das Blut. Er öffnete ihr die Tür, doch sie stieg nicht ein. Sie beugte sich vor und übergab sich. Überreste ihres Subway-Sandwiches von heute Mittag platschten auf den Asphalt, getränkt von einer schäumenden Pfütze aus Magenflüssigkeit.
Ihre Lippen zitterten, als sie sich räusperte und eine schweißnasse, aschblonde Haarsträhne beiseite strich. »T…Tut mir leid.«
Er half ihr in den Wagen und schlug die Tür zu. Sekunden später drehte er den Schlüssel. Der Motor erwachte just in dem Moment, als ein anderes Fahrzeug an ihnen vorbeituckerte. Der Fahrer, ein Mittdreißiger mit Sonnenbrille, kaute auf einem Kaugummi herum und schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Seine Beifahrerin war in ihr Smartphone vertieft.
Sie rollten vom Parkplatz. Die Schläge aus dem Kofferraum richteten sich jetzt gegen die Lehnen der Rücksitzbank. Gedämpfte Schreie waren zu hören, von einer verheulten, angsterfüllten, viel zu jungen Stimme. Taubheit übernahm von Lara Besitz, von den Zehen bis in die Haarspitzen. Als sie in den Rückspiegel sah, war ihr Gesicht kalkweiß.
Bernd drehte das Radio auf.
***
Für Lara hatte der Tag bereits trügerisch begonnen. Schon gegen halb sieben war sie wach gewesen, hatte an die Zimmerdecke gestarrt und zugesehen, wie die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster hereinfielen, getüncht ins orangefarbene Spektrum der Gardinen. Sie mochte die frühen Morgenstunden, während die Stadt noch schlief und sie mehr Vogelgezwitscher als Verkehrslärm hören konnte. Bernd hatte neben ihr gelegen und leise geschnarcht. Sein Handrücken hatte den Saum ihres T-Shirts (das eigentlich ihm gehörte) auf Höhe ihres Oberschenkels berührt. Sie mochte die Wärme, die er ausstrahlte, die Rauheit seiner Finger auf ihrer glatten Haut.
Sie hatte an die Zimmerdecke gestarrt, nachgedacht und sich gefragt, ob sie jener Vorfreude, die sich im Laufe der Tage wie ein scheuer kleiner Funken in ihrem Magen gebildet hatte, trauen konnte. Sie wollte an die Heilkraft ihres bevorstehenden Ausflugs glauben, wollte hoffen, dass er die Löcher flicken konnte, die sich im Laufe der letzten Wochen in ihre Beziehung gerissen hatten. Gleichzeitig fürchtete sie sich davor, enttäuscht zu werden.
Es war ihre Schuld.
Sie drehte sich auf die Seite und starrte mit leerem Blick an die Wand. Gewissensbisse fraßen sich durch ihren Magen, als sie an ihre Untätigkeit im Mai zurückdachte. All das hatte mit den Anrufen ihrer Mutter begonnen – womit auch sonst? Wer auch sonst hätte die Saat für dieses Chaos legen können, wenn nicht Maria Gisel Engels? Warum hast du ihr unsere Nummer überhaupt gegeben, Lara?, hatten Bernds anfängliche Beschwerden noch gelautet. Warum, wenn du ihr doch sowieso aus dem Weg gehst?
Der Drahtseilakt, einerseits zu ihm zu halten und andererseits ihre Mutter nicht gänzlich aus ihrem Leben zu bannen, hatte sie zerrissen. Es wird Gründe haben, dass sie sich nun wieder meldet, oder?, hatte sie gesagt. Sie hat … ich meine, nachdem sie uns all die Jahre in Frieden gelassen hat …
Natürlich hat sie ihre Gründe, hatte Bernd erwidert. Dieselben, die sie immer hatte: dass ich damals für dich da war und nicht sie. Sie wird nicht aufgeben, Liebes. Sie wird weitermachen, bis du und ich getrennte Wege gehen und dir nichts anderes übrig bleibt, als wieder bei ihr anzukriechen. Du musst dich endlich entscheiden, Lara.
Aber sie hatte sich nicht entschieden – nicht rechtzeitig, zumindest. Die Dinge, die im Frühsommer geschehen waren – die sie verdrängt hatte –, hatten sie in ein dunkles Loch geworfen, in jenes einsame kalte Tal, durch das sie schon einmal gewatet war. Sie hatte Bernd die kalte Schulter gezeigt und ihn nicht mehr an sich rangelassen. Er hatte ihr daraufhin Zeit und Raum geben wollen – das war ihr rückblickend klar –, doch zu jenem Zeitpunkt, als jener kalte Schlick ihre Gedankenwelt bereits wieder umschlungen hatte, hatte sie ihm Dinge an den Kopf geworfen. Auch jetzt noch, so viele Monate später im Oktober, beschämte es sie auf eine Art, dass sie innerlich erschauderte. Doch sobald diese Dinge in ihrem Kopf wucherten, konnte sie sie nicht mehr bändigen; es war, als würde ein Parasit durch ihren Verstand kriechen und ihn infizieren.
Du faselst wirres Zeug, Lara. Da ist niemand anderes.
Lügner.
Hör zu, deine Mutter…
Meine Mutter, meine Mutter, meine Mutter. Geht es dir immer nur um die Mütter der Mädchen, die du fickst? Ich weiß,was ich sehe. Red mir nicht ein, dass es anders wäre.
Ich gebe dir doch nur Raum! Ich…
Du nutzt es aus! Noch heute lief ihr bei diesem Vorwurf Säure durch den Magen. Nutzt aus, dass ich kaum aufstehen kann! Mich verkrieche! Dass es mich beherrscht!
Lara, Liebes…
Wann haben wir zuletzt miteinander geschlafen, hm? Vor sechs Wochen? Sieben? Du erträgst es nicht. Du vergnügst dich mit einer anderen. Du hast mich allein gelassen.
Dämonen, die in ihrem Kopf spukten. Sie hatte gelernt, sie auszuschließen, sie in die Untiefen ihres Verstandes zu verbannen – doch manchmal fanden sie ihren Weg kurzzeitig an die Oberfläche zurück. Manchmal schlüpften sie durch, redeten auf sie ein … flüsterten. Flüsterten und flüsterten und flüsterten. Dunkle Verführer, die einen süßen, verqueren Zauber webten.
Am Ende hatte sie es nur dank Bernd geschafft – erneut. Der Vorschlag dieses Ausfluges kam am Ende jener dunklen, trägen Phase, nachdem sie durch den tiefsten Schlund von allen gewatet war, und ihr Freund sie auf der anderen Seite wieder emporgezogen hatte. Sie besiegelten ihren Entschluss mit einer Umarmung, einem durch Versöhnung und Körperkontakt unterzeichneten Vertrag, und schon am nächsten Tag hatte sie ihre Reisetaschen aus dem Schrank gekramt und sie entstaubt, erfüllt von jenem scheuen Gedanken, dass es vielleicht funktionieren würde, dass es ihr guttun würde, dass es ein Neuanfang sein könnte. Für sie und Bernd.
Wen habe ich, außer ihn? Sie lag im Bett und starrte an die Wand, und einem Impuls folgend drehte sie sich um und schaute ihm ins Gesicht. Markante Wangen, Bartstoppeln, dunkles dichtes Haar. Nächstes Jahr würde er dreißig werden, und sie würden bereits acht Jahre zusammen sein, sich seit vieren eine gemeinsame Wohnung teilen. Schon damals war er der Einzige gewesen, der sie herausgezogen hatte – aus jenem dunklen kalten Tal, in dem die Stimmen flüsterten –, und obwohl er nach gesellschaftlicher Akzeptanz viel zu alt für sie war, hatte sie sich davon nicht abschrecken, sondern höchstens nur noch mehr anspornen lassen, erfüllt von jenem Übermut, wie nur Teenager ihn besaßen. Es hatte sich nicht nur gut angefühlt, sondern auch richtig. Er war zur richtigen Zeit erschienen, und sie hatte sich für ihn entschieden. Nur für ihn.
Die Decke raschelte, als er sich regte und langsam erwachte. Lara bettete ihr Gesicht dicht vor seins und streichelte ihm über die Wange.
Zunächst schien er es nicht zu merken, doch dann blinzelte er seine Schlaftrunkenheit fort, und sein müdes Lächeln war süß und warm. »Freust du dich?«
Die Sonne war ins Zimmer hineingeschienen, hell und warm, und Lara hatte die Augen geschlossen und Bernd einen langen Kuss gegeben. Seine Hand war über ihren Schenkel gestrichen, hatte leicht ihr Fleisch massiert, und es war in Ordnung gewesen, an jenem Morgen, an dem sie weiterhin seichte Skepsis gespürt, aber auch zaghaft gehofft hatte.
»Es wird schön«, hatte er gesagt, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. »Es wird schön, Lara.«
***
Es wird schön, Lara.
Vor einer Weile war das Klopfen verstummt. Seit zehn Minuten fuhren sie schweigsam vor sich hin – seit zehn Minuten war die Welt eine andere. Auf der Gegenspur brauste nur wenig Verkehr vorbei, größtenteils Lkw und überdimensionale Schlepper mit Maisanhängern, deren donnernder Lärm bis in Laras Magen vibrierte. Jenseits des Asphalts: die schnöde, platte Landschaft Ostwestfalens. Maisfelder und braune, umgepflügte Ackerflächen, dazwischen Kuhwiesen und Entwässerungsgräben und – wie verirrte kleine Klötze, die der Wind vorbeigeweht und herabfallen lassen hatte – einsame Wohngrundstücke und Bauernhöfe. Im Radio sangen R.E.M. vom Ende der Welt.
Lara sah in den Rückspiegel. Der bewaldete grüne Streifen des Wiehengebirges war nur noch eine dünne, am Horizont verblassende Linie, eine Mauer zum übrigen, millionenbevölkerten Rest Nordrhein-Westfalens. Vor ihnen lag nichts außer matschfarbige, triste Provinz. Hier draußen gab es zu wenig Häuser und zu viele weite Felder. Die Häuser, die es gab, stammten zum Großteil noch aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und teilten sich kaum mehr als eine Handvoll Familiennamen: Grote, Strathman, Klasing, Feldmann … Haushalte, in denen die älteste Generation Plattdeutsch sprach und die zweit- und drittältesten der Gewohnheit wegen mitsprechen konnte. Bei jeder Durchfahrt bekam Lara nicht nur den Eindruck, in der Zeit zurückgereist zu sein, sondern auch in jede Richtung fliehen zu können, ohne jemals irgendwo anzukommen.
Sie lehnte sich im Sitz zurück und starrte teilnahmslos aus dem Fenster. »Sag mir, was da eben passiert ist, Bernd.«
Bernd schwieg. Er hatte beide Hände ums Lenkrad gelegt, und seine Finger waren weiß und steif wie Marmor, mit Ausnahme der rotverkrusteten Spur aus Blut, die an seinem Zeigefinger abblätterte.
»Bernd.« Ihre Mundhöhle schmeckte, als kaue sie auf Pappe. »Bernd, sag es mir. Sag mir, wobei ich dir da eben verflucht noch mal geholfen habe.«
Ein Seufzen. Leicht zittrig. »Ich werde es dir in Ruhe erklären…«
»In Ruhe erklären?«Sie starrte ihn an. »In unserem Kofferraum liegt ein junges Mädchen. Ein Mädchen, das womöglich Todesängste leidet. Wir haben jemanden entführt.«
»Bleib ruhig, okay?«
»Wir müssen anhalten. Jetzt. Und sie laufen lassen.«
Seine Zunge wanderte in den rechten Mundwinkel. »Das fällt dir ja sehr früh ein.«
Einen Moment war ihr Kopf so leer wie die Gegend, die sie durchfuhren. »Sehe ich in deinen Augen aus wie jemand, der weiß, wie er sich jetzt zu verhalten hat? Ich dachte, sie hätte dich angegriffen oder so etwas. Einen Anfall oder einen Wutausbruch gehabt oder – keine Ahnung – irgendwelche Drogen genommen, vielleicht. Aber das hier … Ich weiß nicht mal, wer sie ist.«
»Ich auch nicht«, sagte er.
Sie blinzelte. »Du…«
»Sie ist mir aufgefallen, als ich bezahlt habe. Sie stand hinter mir an der Kasse. Wollte sich nur eine Flasche Wasser und Kaugummi oder so was holen. Ich bin raus, und dann…«
Lara wartete. »Dann was?«
Ein kurzes Zögern. »Dann habe ich mich neben den Eingang gestellt und auf sie gewartet.«
Ein Lkw donnerte auf der Gegenspur vorbei, doch Lara zuckte nicht zusammen.
»Einfach … so?«
Bernd besaß die Dreistigkeit – oder vielleicht auch den Hochmut – bloß mit der Schulter zu zucken.
Sie drückte sich tiefer in den Sitz. »Irgendjemand hat dich gesehen.«
»Nein.«
»Wie kannst du das wissen? Es ist helllichter Tag, Bernd. Da waren Leute an den Zapfsäulen, auf dem Parkplatz, auf der Straße … mit Sicherheit ist da eine Kamera im Laden.«
»Wir waren in einem toten Winkel.« Er sagte das mit so viel Überzeugung, als hätte er solche Aktionen schon dutzende Male durchgezogen. »Sie ist raus, ist an mir vorbeigegangen und hat auf ihr Moped zugehalten.«
»Moped?«
»Ja, oder ein Mofa, so ein schwarzes Ding halt. Stand an der Wand zwischen Geschäft und Waschanlage, falls du drauf geachtet hast.«
»Da hatte ich keinen Grund zu.«
»Spielt ja wohl auch keine Rolle, oder? Jedenfalls bin ich ihr hinterher.«
»Mit einem Moped fährt man keine weiten Distanzen.«
»Und?«
»Sie kommt von hier. Oder zumindest stammt sie aus der Gegend. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass ihr Fehlen sehr schnell auffallen wird. Vielleicht ist es das sogar längst. Vielleicht wollte sie nach Hause oder zu ihrem Freund, vielleicht wollte sie sich mit ihren Freundinnen treffen oder nur kurz in die nächste Stadt. Vielleicht wird sie längst vermisst.«
»Mach dich nicht lächerlich. Und selbst wenn, es spielt keine Rolle.«
»Es spielt keine Rolle?«
»Man hat uns nicht bemerkt. Glaub es mir oder nicht, aber das ist die Wahrheit. Als sie unserem Wagen am nächsten war, hab ich sie angesprochen. Bevor sie sich umdrehen konnte, hab ich sie schon gepackt und … also, zum Wagen gezerrt.«
Lara starrte ihn an, musterte ihn so intensiv, wie sie womöglich noch niemanden in ihrem bisherigen Leben gemustert hatte, versuchte zu erkennen, was sich dort in seinen Augen abspielte und wie er – Bernd Hagen, neunundzwanzig, Automechaniker aus Bielefeld – in der Lage war, einer Jugendlichen aufzulauern und sie in den verdammten Kofferraum seines Wagens zu schmeißen. Sie fragte sich, wie er dazu in der Lage war und wie sie – Lara Engels, Einzelhandelskaufrau und vierundzwanzigjährige Freundin ebenjenes Automechanikers aus Bielefeld – damit umgehen sollte.
»Jemand muss dich gesehen haben.« Sie wusste nicht, ob es eine Befürchtung oder Hoffnung war.
»Niemand hat mich gesehen. Es lief reibungslos.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach. Glaubst du etwa, mir lief die Düse nicht stark genug, dass ich meinen Blick praktisch überall zur selben Zeit hatte?«
»Sie lief dir stark genug, dass du mir eine gepfeffert hast.«
»Ja…« Sein Kopf sank etwas zwischen die Schultern. »Sorry dafür, übrigens.«
Sie blinzelte ihn an. »Dafür? Ist das dein Scheißernst?«
»Es hat niemand bemerkt.« Er sprach mit Nachdruck. »Glaub mir, Lara, okay? Glaub mir einfach und vertrau darauf, dass ich weiß, was ich hier tue.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fror. Die Zeit schien verklumpt zu sein, schien sie in ein anderes Kontinuum befördert zu haben. Das, was hier gerade geschah, war zu surreal, als dass es der normalen Wirklichkeit entsprechen konnte.
»Warum?«
Wieder antworte er nicht sofort. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er mit dem Kopf wippte, so als wäge er bloß ab, ob sie noch einen Schwenker zum Hermannsdenkmal oder den Externsteinen machen sollten.
»Aus demselben Grund, weswegen wir auch aufgebrochen sind, schätze ich.« Er warf einen raschen Blick in ihre Richtung. »Ich bin überzeugt, dass es uns guttun wird.«
Seine Worte blieben wie kalte Luft zwischen den Sitzlehnen hängen. Die Tatsache, dass ein Teil von Lara sich weiterhin mit aller Hartnäckigkeit weigerte, hinzunehmen, was eben geschehen war, beunruhigte sie beinahe mehr als die Tat selbst. Sie hatte das Gefühl, nicht ausreichend in Panik zu verfallen, obwohl sie es doch eigentlich müsste. Ihr Umgang mit der Situation, ihre Ruhe, verunsicherte sie. Reagierte sie normal? Konnte man in so einer Situation überhaupt normal reagieren?
»Wie soll uns das guttun?«, fragte sie.
Bernd nahm lässig eine Hand vom Lenkrad. Entspannte er sich? Machte er es sich gerade allen Ernstes wieder in seinem Sitz bequem?
»Falls du glaubst, dass das in irgendeiner Weise geplant war…« Erneut ein Zögern, bei dem Lara sich diesmal jedoch heimlich fragte, ob es noch echt war. »Das war es nicht, okay? Dieses Mädchen stand hinter mir, ich hab bezahlt, sie hat sich an mir vorbeigeschoben und ich habe ihre Stimme gehört, mit der sie den Kassierer begrüßt hat – ich weiß nicht, warum dieser Gedanke auf einmal aufblitzte. Aber er kam. Und ich dachte mir…«
Jetzt war sein Zögern echt. Sie sah ihn an, unsicher, ob sie überhaupt nachbohren wollte. »Was dachtest du?«
Er schluckte. Sein Adamsapfel zuckte dabei, als hätte er einen Korken im Hals. »Ich dachte mir, sie könnte uns helfen … also, wieder Schwung in die Sache bringen.«
Eine kalte schwarze Woge aus Wasser fiel über ihrem Kopf zusammen. »Schwung?« Sie sprach das Wort so zaghaft und langsam aus, als höre sie es zum ersten Mal und wollte sicherstellen, es richtig zu artikulieren.
»Ich werde der Kleinen alles in Ruhe erklären«, sagte Bernd. »Überlass das nur mir.«
»Was erklären? Bernd…
»Es war immer eine unserer Fantasien. Das hast du mir gestanden.«
Langsam drehte sie sich in seine Richtung. »Was … zum Teufel … hast … du mit … ihr vor?«
Er druckste herum, wurde sogar ein bisschen rot – als wäre sie seine Mutter und hätte ihn dabei erwischt, wie er sich auf seinem Handy Schmuddelbildchen ansah. »Es geht um unsere Beziehung, Lara. Wir haben beide Vorlieben, die nicht jeder Partner so mir nichts, dir nichts akzeptieren würde. Wir sind die Einzigen, die einander verstehen.« Plötzlich sah er sie mit festem Blick an, und eine seltsame kühle Entschlossenheit lag darin. »Ich bin der Einzige, der dich versteht.«
Sie sagte nichts. Ihr Kopf war leergespült, ein totes, ausradiertes Brachland. Auf einmal dachte sie, dass, wenn es jetzt erneut gegen die Lehne der Rücksitzbank klopfen würde, sie kreischen und um sich schlagen würde. Es wäre der letzte, entscheidende Tropfen, der diesen Albtraum vervollständigen würde, zu einem verkommenen, verqueren Abbild des Grauens. Sie wusste es. Diese Ruhe, vor der sie sich so fürchtete, hing nur noch an einem dünnen Faden, und plötzlich betete sie darum, dass dieser Faden niemals reißen würde.
»So ist es doch, nicht wahr?«, fuhr Bernd fort. »Ich bin für dich da. Ich war immer für dich da. Als Einziger. Also kannst du mich jetzt nicht einfach so im Stich lassen.«
»Das hier ist sehr falsch, Bernd.« Sie sprach ruhig und besonnen. »Und das möchte ich betonen: Das hier. Nicht das, was dir noch vorschwebt. Das, was dir noch vorschwebt, ist – insofern ich mich in deinen Absichten nicht täusche – noch viel schlimmer als nur falsch.«
»Ich habs für dich getan.« Er sah sie an. »Für uns beide.«
Sie schüttelte den Kopf, so langsam, als fürchtete sie, er könne abfallen. »Fahr rechts ran. Bleib stehen. Und lass dieses Mädchen aus unserem Kofferraum.«
Zu ihrer Überraschung – und Panik – zuckte er mit der Schulter und betätigte den Blinker. Er fuhr rechts ran, hielt auf dem Seitenstreifen an und stellte den Hebel auf Parken. Autos rauschten vorbei, gefolgt von zwei Lkw. Lara sah ihnen beinahe Hilfe suchend nach. Bernd legte seinen Arm über die Lehne und wandte sich ihr zu.
»Dann mach.«
Sie rührte sich nicht. Der Gleichmut in Bernds Blick schüchterte sie plötzlich unglaublich ein, so als wäre er der Klassenschläger, der sich zu ihr hinabbeugt, um die tägliche Zeche zu verlangen. Sie schluckte und spürte, wie ihr Herz zu klopfen begann.
Dann griff sie zur Tür. »Gut.«
»Lass dir nur gesagt sein, dass ich den Schaden danach nicht begleichen kann.« Als er sich ihres Innehaltens sicher war und sie sich mit verunsichertem Blick zu ihm drehte, fuhr er fort: »Lassen wir sie jetzt gehen, können wir den Ausgang dieser Geschichte nicht mehr beeinflussen. Wir werden nackt und entblößt dastehen, chancenlos. Was glaubst du, was dann geschieht? Glaubst du wirklich, man wird nur mich drankriegen? Glaubst du, dein heroischer Einsatz wird dich vor den Konsequenzen bewahren? Gerade dich, Lara?«
»Du weißt überhaupt nicht, ob es zu Konsequenzen kommt.« Doch sie klang nicht überzeugt, Das hörten sie beide.
Mit einer gleichgültigen Handgeste gewährte er ihr, fortzufahren.
Sie schloss ihre Finger um den Türgriff. Saß wie festgeschweißt da. Dieser Moment sollte ihr später genauso im Gedächtnis bleiben wie das Klopfen, sollte sie mit derselben kalten Gewissheit erfüllen, dass sie den bevorstehenden Albtraum hiermit hätte verhindern können.
Aber sie rührte sich nicht.
Ihre Reaktion, auf die sie zumindest im Unterbewussten schon von Anfang an gewartet hatte, bestand aus kalten salzigen Tränen, die ihr Sichtfeld verschwimmen ließen und dann an ihren Wangen herabrannen. Ihr Arm zitterte, sie ließ den Türgriff los und schlug beide Hände vors Gesicht. Jeder Schluchzer spülte die versteckten Reste dessen empor, was sich seit dem Tankstellenparkplatz angestaut hatte.
Bernd rückte neben sie, streichelte ihr über die Schulter. »Wir schaffen das schon, Lara.« Ein trockener, flüchtiger Kuss auf ihre Halsbeuge. Sein Atem roch nach den Minzbonbons, die er sich an der Tankstelle geholt hatte, und die ursprünglich der einzige Grund gewesen waren, warum sie dort überhaupt gehalten hatten. »Wenn wir den Ausgang beeinflussen wollen«, flüsterte er mit den Lippen noch auf ihrer Haut, »brauchen wir nur die Zeit, um sie zu beeinflussen. Dann wird alles gut.«
Er überhäufte sie mit weiteren Küssen, von ihrer Schulter bis zum Ohr. Dort knabberte er an ihrem Ohrläppchen, und wofür sie sich in diesem Moment hasste, war, dass sie es hinnahm, dass sie ihren Kopf sogar noch ein wenig zur Seite lehnte, um ihm Platz zu gewähren. Als in diesem Moment erneut das Klopfen erklang, das dumpfe Poltern aus dem Kofferraum und die erstickten Schreie, kniff Lara die Augen zusammen und griff nach Bernds Hand. Krallte sich fest. Die Autos rauschten vorbei und das Poltern ertönte aus dem Kofferraum; vage Laute, die Lara als klägliche Hilferufe zu identifizieren glaubte, und sie grenzte es aus, schob es weit weg, konzentrierte sich auf Bernds Wärme, Geborgenheit und Trost.
Der zweite Pakt, genauso stumm wie der erste und besiegelt mit einer Umarmung, war beschlossen.
Als er eintrat, erkannte sie ihn zunächst nicht. Seit ein paar Tagen verwendete ihr Hirn alle Anstrengung darauf, nicht wie ein breiiger Knödel auseinanderzufallen. Sie wusste, dass es zum Teil an den Medikamenten lag, die man ihr hier verabreichte. Irgendwelches Zeug, das die Kanten der Möbel verwässerte und ihren Kopf schläfrig machte. So unglaublich schläfrig.
Er schloss die Tür. Seine Schritte waren so zaghaft wie sein Lächeln. »Erkennst du mich?«
»Dusel.« Sie grinste leicht, und in dem schwerfälligen Versuch, ihn zu begrüßen, hob sie ihre Arme.
»Bleib liegen, Lara. Schone dich.«
Sie blinzelte gegen die Müdigkeit an, wollte mehr von der Wärme spüren, die sein Erscheinen in ihrem Magen ausgelöst hatte. »Ich bin so froh, dich zu sehen.«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Wie geht es dir?«
Phrasendrescherei. Das hatte ihre Beziehung nie ausgemacht. »Red nicht so.«
Seine Mundwinkel hoben sich. »Wie denn sonst?«
»Du weißt, wie es mir geht. Sie lassen mich hier noch nicht raus. Es ist schrecklich.«
»War deine Mutter heute schon da?«
Ein Windzug, der gegen die Wärme in ihrem Innern pustete. »Heute Morgen. Zehn Minuten.«
»Scheiß auf sie.«
»Ich habe sie noch nie so gesehen. Sie …«
»Scheißauf sie, Lara. Es geschieht ihr nur recht, sich schlecht zu fühlen. Das hat sie verdient.«
»Wenn sie wüsste, dass du mich besuchst …«
Er grinste. »Wenn sie wüsste, dass es mich gibt, meinst du?«
»Ich glaube, sie ist weniger darüber entsetzt, wie ich hier gelandet bin, als vielmehr darüber, was das für Folgen hat. Das Jugendamt will mit ihr sprechen. Sich ein Bild von unseren Wohnverhältnissen machen … und die Schulleitung ist auch informiert.«
»Wie behandeln sie dich hier?«
Sie zuckte mit der Schulter. »Es ist ganz okay, glaube ich. Meine Primary Nurse, oder wie die das hier nennen, ist ganz nett. Das Essen ist auch gut. Eine Gruppentherapie im Jugendbereich hab ich abgelehnt, und die können mich auch nicht zwingen. Ich will nicht mit anderen reden – wozu sollte das gut sein? Die wollen es jetzt mit so einer Tiertherapie probieren. Da ist ein Hund mit bei, so ein Golden Retriever, der ist extra geschult … die sagen, die Anwesenheit von Tieren hebt die Begeisterung und Motivation des zu Therapierenden.«
»Freust du dich darauf?«
Noch ein Schulterzucken. »Ich mag Hunde. Aber ich will hier weg.« Sie spürte, wie sich ein Zittern in ihre Lippen schlich. »Ich will wieder nach Hause. Ich will zu dir.«
Er beugte sich vor und nahm ihre Hand.
»Die halten mich hier fest, als gehöre ich in eine geschlossene Anstalt«, fuhr sie fort. »Ich sage andauernd, ich will keine Medikamente mehr, aber die geben sie mir trotzdem, und jedes Mal fürchte ich, dass sie mich festschnallen und mich zwingen.«
»Das passiert nur im Fernsehen.«
»Trotzdem.«
Er nahm seine andere Hand hinzu. »Man will dir nur helfen.«
Sie legte sämtliche Willenskraft in ihren Blick, um ihn fest ansehen zu können. »Du hast mir geholfen. Ich …«
Sie wandte den Blick ab, als ihr die Stimme versagte. Die Tränen rannen bis auf ihre Lippen, und sie schmeckten nach Scham. Nach Schwäche.
Der Stuhl knarzte, als Bernd aufstand und sich zu ihr aufs Bett setzte. Er führte ihre Hand an seine Lippen und überhäufte sie mit Küssen.
»Ich hätte es getan«, schluchzte sie, und alle Bitterkeit quoll ihren Rachen empor wie schwarzer Schleim. »Ich hätte es wirklich getan, wenn du nicht aufgekreuzt wärst, ich … O Gott. O Gott …«
Sie ergab sich ihren Tränen, ihren ersten echten Tränen, seitdem man sie hier festhielt, und er umarmte sie, streichelte sie, sagte nicht ein Wort. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie sich wieder geborgen, real, zurück in der Wirklichkeit, in der das wütende dunkle Chaos, das in ihrem Kopf entfacht war, nicht existierte, in der die Stimmen nicht flüsterten … oder zumindest keine Macht über sie besaßen.