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Christoph Elbern

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Beschreibung

Mysteriöse Mordfälle im Hamburg.

1904 - Hamburg in Aufruhr. Am Hafen werden mehrere Männer ermordet und mit einem in die Stirn geritzten Zeichen markiert aufgefunden. Weil eines der Opfer offenbar an Cholera erkrankt ist, wird der junge Bakteriologe Carl-Jakob Melcher hinzugezogen. Die Atmosphäre in der Stadt ist aufgeheizt: Die Cholera-Epidemie liegt noch nicht lange zurück, und die Wahl zur Bürgerschaft steht an. Carl-Jakob Melcher sucht mit seinem Polizistenfreund Martin Bucher zwischen reichen Kaufleuten, Ganoven und Anarchisten nach dem Täter und stößt auf einen erschreckenden Verdacht ... 

Dunkel, packend, mörderisch – Carl-Jakob Melcher, Forscher am Hamburger Tropeninstitut, ermittelt – nicht immer im Auftrag der Polizei.

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Seitenzahl: 441

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Über das Buch

In Hamburg werden kurz hintereinander mehrere Männer der Oberschicht ermordet und mit einem in die Stirn geritzten Zeichen markiert. Weil eines der Opfer an Cholera erkrankt war, wird der junge Bakteriologe Carl-Jakob Melcher vom Hamburger Tropeninstitut in die Ermittlungen seines Polizistenfreundes Martin Bucher einbezogen. Die Mordserie beunruhigt die Bürger des Stadt. Der Wahlkampf zur Bürgerschaft tut ein Übriges, um die Stimmung aufzuheizen. Konservative wollen mit allen Mitteln die erstarkenden Sozialdemokraten zurückdrängen.

Die Ermittlungen führen Carl-Jakob Melcher in die Unterwelt Hamburgs, die er nur von Ferne kennt. Er selbst lebt im Haus seines Onkels Heinrich Knudsen, eines reichen Reeders, der jedoch schwer erkrankt ist und nur noch einen letzten Willen hat: Er möchte ein neues Schiff für seine Reederei bauen lassen – die „Marianne“, benannt nach seiner verstorbenen Tochter. Carl-Jakob versucht seinem Onkel zur Seite zu stehen, so gut er kann, dabei muss er jedoch ein Geheimnis bewahren. Er hat sich Hals über Kopf in Clara, ein Dienstmädchen im Hause Knudsen, verliebt. Beinahe jede Nacht schleicht er in ihre Kammer.

Dann aber, nachdem auch der Bankier seines Onkels ermordet wurde, überfällt Carl-Jakob eine dunkle Ahnung. Könnte ausgerechnet sein Onkel das nächste Opfer sein?

Über Christoph Elbern

Christoph Elbern, Jahrgang 1960, hat Germanistik und Anglistik studiert und lange als Journalist gearbeitet. Er war in leitenden Positionen bei verschiedenen Magazinen tätig – unter anderem „Prinz“ und „TV Movie“. Seit 2010 leitet er eine Agentur für Unternehmenskommunikation in Kassel. Unter dem Pseudonym Klaas Kroon hat er bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Er lebt in Hamburg.

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Christoph Elbern

Hafenmörder

Carl-Jakob Melcher ermittelt

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Ich will von Anfang an erzählen. Jetzt habe ich endlich genug Abstand zu den aufwühlenden Ereignissen im Sommer 1904, um ausführlich darüber berichten zu können. Es ist viel über die einzelnen Ereignisse geschrieben und erzählt worden, aber die ganze Geschichte in ihren Verwicklungen und Verwirrungen kann nur ich persönlich erzählen.

In dieser Geschichte, die mein Leben und das vieler anderer Menschen grundlegend verändert hat, geht es um Mord und Betrug, um Liebe und Verrat, um Krisen und Weltgeschehen. Wie in allen guten Geschichten, den erfundenen und den wahren gleichermaßen. Ich erzähle die Geschichte so, wie ich sie erlebt habe, mit allen Irrungen und Wirrungen und nicht aus der allwissenden Rückschau heraus. Nur so ist zu verstehen, warum ich mich in der ein oder anderen Situation so verhalten habe und nicht anders. Hinterher ist man ja immer klüger.

Von Anfang an zu erzählen heißt aber auch, zu wissen, wo der Anfang überhaupt ist. Fing diese Geschichte an, als ich an einem trüben Donnerstag im Januar 1904 ins Haus meines Onkels, des Reeders Wilhelm Knudsen, in Hamburg einzog? Oder fing sie im März an, als das erste Opfer einer Reihe grausamer Morde entdeckt wurde? Meine erste Verwicklung in die Ereignisse datiert jedenfalls in einer verregneten Mainacht, als in einer dunklen Gasse nahe der Reeperbahn vor einem Hurenhaus ein honoriger Bürger der Stadt hinterrücks erstochen wurde.

Ich fange am besten mit mir an. Mein Name ist Carl-Jakob Melcher. Ich bin heute, zwei Jahre nach diesem denkwürdigen Sommer des Jahres 1904, neunundzwanzig Jahre alt. Ich stamme aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Mein Vater, über den ich zehn Jahre nach seinem Tod nichts Abwertendes sagen möchte, hat sich zu viel mit seinen Erfindungen beschäftigt und zu wenig mit dem Gewürzhandel, der eigentlich seine Profession war. So hinterließ er mir nach seinem frühen Freitod einen Stapel obskurer Patente, die sich nicht versilbern ließen, und eine, meine Gymnasiastenvorstellungen übersteigende Summe von Schulden. Meine genügsame und liebevolle Mutter, die aus einer Reederfamilie stammte, hatte eine nicht unerhebliche Mitgift in die Familie gebracht, die mein Vater innerhalb weniger Jahre gänzlich verspekulierte. Mutter starb ein paar Jahre vor meinem Vater bei der Hamburger Choleraepidemie. Ich wäre sicher auf der Straße gelandet oder als Leichtmatrose im Salpeterverkehr, wenn sich nicht mein Onkel Wilhelm Knudsen, der Bruder meiner Mutter, nach dem Tod meines Vaters meiner angenommen hätte. Er gab mir, dem damals neunzehnjährigen Waisenkind, eine Familie und ermöglichte mir ein Studium. Ich werde ihm dafür, was auch immer man ihm sonst vorwerfen kann, bis an mein Lebensende dankbar sein.

Onkel Wilhelm hätte es gerne gesehen, wenn ich mich mit seinem Geschäft, dem Reedereiwesen, beschäftigt hätte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er seinem Sohn, meinem fünf Jahre älteren Cousin Adolf, in Bezug auf seine Nachfolge nicht viel zutraute. Aber ich konnte mir nichts Langweiligeres vorstellen, als Bruttoregistertonnen zu disponieren, Routen auszuarbeiten und mir von meinem Kontor aus mit anderen großen Reedern Wettrennen über die Weltmeere zu liefern. Außerdem hatte ich den Ehrgeiz, mich nicht in das gemachte Bett der Reederei Knudsen zu legen, sondern mir selbst etwas aufzubauen.

Kurzzeitig hatte ich die Idee, Ingenieurwesen zu studieren, um den Patenten meines Vaters vielleicht doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Aber dann setzte mir meine Tante Isolde Knudsen, die Frau des Reeders, den Floh ins Ohr, mit meinem Verstand etwas zu tun, was der Menschheit wirklich nützen würde. Sie beschwor mich, Arzt zu werden. Ich folgte nicht ganz ihrem Wunsch und entschied mich für die noch junge Wissenschaft der Bakteriologie. Meine arme Mutter war – nicht einmal vierzigjährig – 1892 an der Cholera gestorben und mit ihr über achttausend weitere Hamburger Bürger. Ich wollte alles dafür tun, dass die Cholera und ähnliche Bedrohungen, ausgerottet würden.

So studierte ich ab dem Jahre 1899 am Hygiene-Institut der Königlichen Universität zu Greifswald bei Paul Uhlenhuth, der inzwischen zum Professor berufen worden war. Zu dieser Zeit etablierte in Hamburg der Arzt Bernhard Nocht das Tropeninstitut, wo man sich den Krankheitserregern widmete, die Soldaten, Seefahrer und Einwanderer aus aller Welt über unsere schönen Landungsbrücken so einschleppten. Nach Abschluss meines Studiums fand ich dort eine Stellung als Forschungsassistent und konnte in meine geliebte Heimatstadt Hamburg zurückkehren.

Aber genug über mich. Sprechen wir von dem ersten erbarmungswürdigen Opfer der Ereignisse, mit dem ich zu tun bekam.

Kapitel 2

Am Morgen des 17. Mai 1904 gegen vier Uhr, es war noch dunkel, verließ Joana Gilberto, eine fünfunddreißigjährige, aus Rio de Janeiro stammende Hure, ihren Arbeitsplatz in einer dunklen Sackgasse in der Nähe der Reeperbahn, um sich auf den Weg in ihre schäbige Einzimmerwohnung im Gängeviertel zu machen, die sie sich mit zwei anderen Liebesmädchen teilte, um dort ein paar Stunden zu schlafen. Wenige Meter vom Eingang des Hurenhauses entfernt, stolperte die leicht angetrunkene Joana über etwas, das am Boden lag. Als sie sich wieder gefangen hatte, blickte sie in das bleiche Antlitz eines alten Mannes, dessen kalte, weit aufgerissenen Augen sie anstarrten. Die Frau konnte nur noch schreien. Sie kreischte so laut und so ausgiebig, dass sie fast ohnmächtig wurde. Fenster und Türen der umliegenden Häuser waren im Nu erleuchtet und geöffnet, viele Anwohner liefen gleich auf die Straße, um zu sehen, was es so Kreischenswertes gab. Der herbeigerufene Schutzmann hatte seine liebe Not, die Gasse abzusperren, damit die Kriminalpolizei, die eine halbe Stunde später eintraf, den Toten noch unberührt vorfand.

Die Kriminalpolizei kam mit einem zweispännigen Landauer, der für solche Einsätze zur Verfügung stand. Auf der Rückbank saßen Kommissar Arnold Manthey und Kriminalassistent Martin Bucher, der ein alter Schulfreund von mir ist. Martin verdanke ich zahlreiche Details dieser Geschichte und noch viel mehr, aber dazu später. Mit seiner Lebensgeschichte, die ihn auf Umwegen vom Theologiestudium in die Amtsstuben der Hamburger Polizeidirektion getrieben hatte, will ich hier jetzt nicht ablenken. Martin malte mir die Ereignisse dieser Nacht in düsteren Farben aus.

Als die Polizisten ihre Arbeit aufnahmen, wurde es langsam hell am Himmel über der Reeperbahn, aber das aufkommende Tageslicht drang noch nicht in die enge Gasse. Beleuchtet wurde die Szenerie vom Licht der Wohnungen und einem Karbitscheinwerfer, den die Wachtmeister eilig herbeigeschafft und neben dem Toten aufgestellt hatten.

Die beiden Kriminalpolizisten zwängten sich durch die sensationsgierige Menge. Viele Menschen waren schon in den Kleidern, mit denen sie zur Arbeit im Hafen, in den Kontoren und Geschäften oder auf der Baustelle der Speicherstadt gehen würden. Andere waren nur in Morgenrock und Pantoffeln. Auf der anderen Seite des von den Wachtmeistern mit Holzböcken abgesperrten Bereiches der Gasse stand eine Handvoll Huren aus dem Hurenhaus. Sie hatten es nicht für nötig befunden, ihre aufreizende Dienstkleidung in irgendeiner Weise zu bedecken. Wenn es etwas zu gucken gab, konnte man auf Etikette und Anstand gerne verzichten.

Der Tote lag auf dem Rücken, die Beine unnatürlich verdreht. Die Augen waren immer noch geöffnet. Kommissar Manthey, ein ernster, drahtiger Mann Ende vierzig mit buschigem Backenbart, schloss sie mit einer routinierten Bewegung. Das Gesicht des Mannes war bleich, an der linken Wange war ein dünner Streifen angetrocknetes Blut. Und auf der Stirn prangte dieses Zeichen, das Manthey und Martin nicht zum ersten Mal sahen. Wie einem Opfer zwei Monate zuvor hatte der Täter auch diesem Toten ein Zeichen in die Stirn geritzt. Zwei Querstriche, zwei oder drei Längsstriche. Eine römische Zwei oder Drei. Vielleicht auch die Zahl Pi. Oder das Symbol des Sternbildes Zwilling. In der Polizeidirektion kursierten schon beim ersten Auftauchen zahlreiche Spekulationen über dieses Zeichen. Das würde jetzt noch weiter ins Kraut schießen.

Der Kommissar wollte vom Schutzmann wissen, ob der Tote schon so gelegen habe, als er an den Ort des Geschehens kam. Der Schutzmann bejahte dies und beteuerte, den Toten nicht angerührt zu haben.

Der Kommissar hockte sich vor die Leiche und betrachtete aus nächster Nähe den Oberkörper. Er öffnete vorsichtig die Weste des Toten und inspizierte das blütenweiße Hemd aus feinstem Damast und schüttelte den Kopf. Dann gab er Martin ein Zeichen, ihm beim Umdrehen der Leiche behilflich zu sein. Der Kommissar fasste unter die Achseln, Martin griff beide Unterschenkel, und mit Schwung wurde der vielleicht neunzig Kilo schwere Mann herumgedreht. Nun war zu erkennen, wonach der Kommissar gesucht hatte: Am Rücken, vielleicht eine Handbreit links von der Wirbelsäule auf Höhe des Herzens, war ein kleines, leicht ausgefranstes Loch, eher ein Schlitz im dunklen Stoff des Mantels zu sehen. Manthey legte sanft den Finger darauf, als wollte er den Schlitz verschließen.

Ein Messerstich, bemerkte Martin Bucher, und sein Chef Manthey ergänzte, dass es sich um ein sehr langes, schmales Messer handeln müsse, das der Täter mit chirurgischer Präzision dort angesetzt hatte, wo es das Herz und vielleicht auch noch die Lunge durchstechen und tödlichen Schaden anrichten würde.

Als Nächstes befragte mein Freund Bucher ein paar Anwohner und Passanten, die aber alle nichts gesehen und nichts gehört hatten. Kein Kampf, keine Hilferufe, keine Schmerzensschreie. Nur den Schrei der entsetzten Hure Joana Gilberto, die schließlich als einzige wirkliche Zeugin vernommen wurde. Die Prostituierte, die nach eigenen Angaben seit fünf Jahren in Hamburg ihrer Profession nachging, sprach nur sehr schlecht Deutsch. In ihrem Gewerbe gehören Fremdsprachen nicht zu den besonders geforderten Fähigkeiten. Aus der Menge der Schaulustigen wurde ein Portugiese rekrutiert – in Hamburg ist immer und überall ein Portugiese in der Nähe –, der den Bericht der Hure übersetzte. Die Frau, die mein Freund Martin als außergewöhnlich dick und ordinär beschrieb, war nicht sicher, ob sie den Toten kannte, aber eine ihrer umstehenden Kolleginnen wusste mehr. Der Mann war ein oder zwei Stunden zuvor im Hurenhaus gewesen und hatte es allein, betrunken, aber sehr lebendig verlassen.

Die Identität des Mannes ließ sich nicht so leicht feststellen, da er weder Papiere noch sonstige Wertsachen am Körper trug. Die Kriminalpolizisten schlossen daraus, dass er ausgeraubt worden war, schließlich hatte er im Hurenhaus noch bezahlt. Auch beim ersten Opfer hatte alles auf Raubmord hingedeutet.

Der Tote war wohlgenährt, hatte eine, von den Merkmalen des Todes einmal abgesehen, gesunde Haut und trug feinste, maßgefertigte Kleidung. Es fehlte der obligatorische Hut. Zu seinem Stil würde ein nicht zu hoher Zylinder passen. Hatte der Mörder diesen Hut auch mitgenommen? Die drängendste Frage, die sich Kommissar Manthey in den frühen Morgenstunden in dieser Gasse stellte, war aber: Was tat ein Mann seines Standes in einem gewöhnlichen Hurenhaus auf St. Pauli? Gab es für Herren, die es sich leisten konnten, nicht viel exquisitere Gelegenheiten? Ich kenne mich da nicht so aus, da ich die Dienste von Huren nur zwei- oder dreimal im Hafen von Greifswald in Anspruch genommen habe und dabei mehr Ekel als Vergnügen empfand. Aber auch mein Freund Martin meinte, dass es nur einen Grund geben konnte, der den Mann in so eine finstere Kaschemme trieb: Er war nicht nur verheiratet, was sicher auf so gut wie alle Kunden des ältesten Gewerbes zutraf, sondern auch eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt. Er wollte nicht riskieren, von seinesgleichen gesehen zu werden.

Ohne sich wirklich viel davon zu versprechen, ließ Kommissar Manthey die sieben noch im Hurenhaus und davor befindlichen Huren auf die Polizeidirektion schaffen. Die Frauen protestierten heftig, mussten sich aber fügen. Es war wenig wahrscheinlich, dass eine von ihnen den Mord begangen hatte. Denkbar war eher, dass eine der Huren einem befreundeten Ganoven einen Tipp gegeben hatte, dass bei diesem Kunden etwas zu holen war. Der Räuber hatte dann auf den Mann gewartet und die schändliche Tat begangen. Es war allerdings ungewöhnlich, so wusste man bei der Hamburger Polizei aus Erfahrung, dass ein Räuber sein Opfer so kaltblütig hinterrücks ermordete. Gewöhnliche Räuber schlugen in den dunklen Gassen ihre Opfer nieder oder verprügelten sie. Und, nur wenn es schlecht lief, überlebten die Opfer das nicht. Zudem signierten gewöhnliche Räuber ihre Opfer nicht mit geheimnisvollen Zeichen.

Noch eine offene Frage war: Wo war die Kutsche oder sogar das Automobil des Mannes? Wo war sein Fahrer oder Kutscher? Ein feiner Herr tritt mitten in der Nacht nicht zu Fuß den Heimweg an. Eine Befragung der Droschkenkutscher vom Spielbudenplatz, die von Schutzmännern in den folgenden Stunden durchgeführt wurde, brachte keine neuen Erkenntnisse. Einer der Kutscher behauptete, zur fraglichen Zeit einen buckligen Mann gesehen zu haben, der schnellen Schrittes über den Spielbudenplatz Richtung Elbe unterwegs war. Ein anderer bestätigte dies, meinte aber, dass es sich um einen großen Hund gehandelt habe. Es half nicht, es war zu dunkel gewesen für nützliche Beobachtungen.

Die Identität des Toten wurde wenige Stunden nach seinem Auffinden bei der Leichenschau im Hafenkrankenhaus recht einfach festgestellt, womit auch die Frage beantwortet wurde, ob es sich bei dem Opfer um eine bekannte Persönlichkeit handelte.

Dr. Gerold Trestow, der Leichenbeschauer, erkannte in dem Toten auf Anhieb den Kaufmann Walter von Grimm. Der mit dem Handel von Teppichen und Seide reich gewordene Bürger war ein paar Jahre Mitglied in der Hamburger Bürgerschaft gewesen und auch immer mal wieder als Senator im Gespräch. Von Grimm lebte verwitwet in einem schönen Haus in Blankenese. Dr. Trestow hatte den Händler vor Jahren als Schiffsarzt auf einer Reise nach Shanghai begleitet. Unterwegs im Hafen von Bangkok hatte er bei dem hohen Herrn den Biss einer exotischen Spinne versorgt. Der Leichenbeschauer machte sich über Kommissar Manthey und meinen Freund Martin lustig, dass sie den wichtigen Mann nicht erkannt hatten.

Eine Beobachtung des Leichenbeschauers sorgte jedoch für wenig Heiterkeit und brachte schließlich mich ins Spiel. Beim Entkleiden der Leiche fiel sofort auf, dass das Opfer sich vor seinem Tod eingekotet hatte. Es ist nicht ungewöhnlich, dass im Todeskampf der Schließmuskel versagt. Der Leichenbeschauer ist daran gewöhnt, auch an den damit verbundenen bestialischen Gestank. Besorgniserregend waren die Konsistenz des Stuhls – weich, fast wässrig – und die mit bloßem Auge kaum erkennbaren weißen Flocken in der ansonsten hellbraunen Brühe, die in den Unterhosen des Kaufmanns klebte. Jeder Mediziner, der in Hamburg auch nur den Hauch von Erfahrung hatte, wusste, was das bedeutete.

Kapitel 3

Als mich mein alter Schulfreund Martin Bucher am selben Tag noch an meinem Arbeitsplatz im Tropeninstitut aufsuchte, war ich zunächst erfreut und schleuderte ihm nicht ganz ernst gemeinte Vorwürfe entgegen. Während meines Studiums hatte ich nur selten meinen Onkel und meine Tante in Hamburg besucht und war immer nur wenige Tage geblieben. Martin hatte ich seit drei oder vier Jahren nicht gesehen. Wir pflegten aber einen regen Briefverkehr.

»Schön, dass der Herr Oberkriminalrat endlich mal die Zeit findet, mir die Ehre seines Besuches zu erweisen«, rief ich und umarmte ihn. Er hatte sich etwas verändert. Er war immer noch fast einen Kopf kleiner als ich, hatte jedoch ein wenig zugenommen, ohne dass ich ihn dick nennen würde. Seine Haare waren noch etwas lichter geworden, dafür hatte sein Bart an Format gewonnen. Er trug ihn jetzt als Ziegenbart mit gezwirbeltem Schnauzer. Etwas geckenhaft, wie ich fand, aber da ich die letzten Jahre im verschlafenen Greifswald verbracht hatte, war mein Modegeschmack sowieso nicht auf dem neuesten Stand.

»Wann habe ich dir geschrieben, dass ich wieder nach Hamburg komme?«, fragte ich ihn etwas aufgeregt. »Im Dezember? Seit wann bin ich hier? Seit Januar? Und jetzt haben wir Mai. Wenn ihr bei der Polizei in allem so schnell seid, dann …«

In meinem Redeschwall merkte ich erst spät, wie nervös und angespannt Martin wirkte.

»Du, Zee-Jott«, sagte er und so hörte ich meinen Gymnasiasten-Spitznamen Zee-Jott, Abkürzung für Carl-Jakob, zum ersten Mal seit Jahren wieder, »ich habe einen Toten dabei, den du dir unbedingt ansehen musst.«

Er führte mich auf den Hof. Auf einem Pferdekarren lag ein menschengroßes Paket. Sie hatten den Toten in dickes Wachstuch eingeschlagen und mit Seilen verschnürt. Nachdem Helfer den Körper in einen Untersuchungsraum geschafft hatten und ich mit dem großen Bündel und Martin allein war, gab ich dem Freund Handschuhe und eine Atemmaske und legte auch selbst eine an. Im Tropeninstitut ist so ziemlich alles, was an Lebendem oder Totem auf die Untersuchungstische gelangt, auf irgendeine Weise ansteckend. Mit vereinten Kräften wickelten wir das schwere Paket behutsam aus.

Der Mann hatte noch seinen dunklen Anzug an, aber die Hose war heruntergezogen. Die lange Unterhose klebte am Körper. Es stank grauenerregend. Martin wandte sich ab. Ich nahm ein mittelgroßes Skalpell und einen gläsernen Objektträger und kratzte etwas von der angetrockneten, hellbraunen Substanz ab. Umgehend führte ich mit der Probe ein paar Tests durch, die bei uns inzwischen Standard waren, und betrachtete das Material unter dem Mikroskop. Martin saß währenddessen auf einem Stuhl in der Ecke und beobachtete mich schweigend. So kannte ich ihn gar nicht.

Knapp zehn Minuten später drehte ich mich auf meinem Stuhl zu ihm herum und nickte. Der unausgesprochene Verdacht hatte sich bestätigt. Ich traute mich nicht, die Diagnose laut auszusprechen, und auch Martin sagte nur fast lautlos: »Cholera!«

Wir beide wussten, dass dieses Wort zu laut und an der falschen Stelle ausgesprochen, die Stadt in Angststarre versetzen konnte. Viele Hamburger hatten beim letzten großen Ausbruch vor zwölf Jahren einen Angehörigen verloren, so wie ich meine Mutter. Jeder erinnert sich an das Geklapper der Holzkarren in den Straßen. Erst kamen sie, um die Toten zu holen, und dann, um mit Chlorkalk die Umgebung zu desinfizieren. Ich habe heute noch den beißenden Geschmack auf der Zunge, wenn ich daran denke. Eigentlich waren wir stolz darauf, den Kampf gegen den Erreger gewonnen zu haben, was nicht zuletzt meinem Chef Bernhard Nocht zu verdanken war. Und jetzt sollte alles wieder von vorne beginnen?

»Wo war der Mann vor seinem Tod?«, fragte ich Martin. Wir mussten nun überlegt handeln. Vor allem musste ich meinen Chef informieren.

»In einem Hurenhaus«, sagte Martin und sprang auf. »Ein paar der Huren sind noch bei uns auf der Wache.«

»Gut. Ich bespreche mit Nocht, was sonst noch zu tun ist. Er hat auch ein Telefon. Du kannst in der Wache anrufen, dass sie die Frauen dort behalten.«

Die Cholera wird durch mangelnde Hygiene und verunreinigtes Wasser begünstigt, übertragen wird sie aber hauptsächlich von Mensch zu Mensch, also durch Berührung oder Austausch von Körperflüssigkeiten. In einem Bordell trifft der Erreger also auf ideale Bedingungen.

Es stand mir als kleinem Forschungsassistenten nicht zu, an der Vorzimmerdame vorbei in das Arbeitszimmer von Direktor Nocht zu stürmen. Ich tat es trotzdem, mit Martin in meinem Kielwasser, und nachdem ich mein Anliegen nach Luft schnappend vorgebracht hatte, war meine Respektlosigkeit unwichtig geworden. Nocht sprang auf und rief Kommandos. Wie ein Admiral auf der Brücke eines Kreuzers führte er uns in die nun unausweichliche Schlacht. Nocht war ein kleiner, etwas untersetzter Mann, aber das tat seiner natürlichen Autorität keinen Abbruch.

Ein Laborassistent wurde beauftragt, den Toten und seine Exkremente weiter zu untersuchen. Für die Gefährlichkeit einer Infektion war entscheidend, wie hoch die Dichte des Bakteriums Vibrio cholerae bei der infizierten Person war.

Mich schickte Nocht zur Polizeidirektion, wo ich die Prostituierten unter einem Vorwand untersuchen sollte.

»Sagen Sie denen«, rief er mir hinterher, »dass es jetzt Vorschrift sei, Damen ihrer Profession auf Geschlechtskrankheiten zu untersuchen. Syphilis und so. Ihnen fällt schon was ein.«

Auch Martin wurde von Nocht kommandiert. Er sollte dafür sorgen, dass das Hurenhaus sofort geschlossen werde. Ein Mord vor der Tür musste als Grund dafür ja wohl reichen. Dann sollte es umfassend desinfiziert werden.

»Und stellen Sie umgehend fest, wo dieser Mann war, bevor er zu den Huren gegangen ist«, rief er Martin hinterher. Die Jagd nach dem Mörder des Kaufmanns von Grimm musste warten.

Meine Aufgabe, die Huren auf der Polizeiwache zu untersuchen, war besonders schwierig. Das wusste natürlich auch mein Vorgesetzter. Die Cholera hat eine Inkubationszeit von drei bis fünf Tagen. Wenn Walter von Grimm eine oder mehrere der Frauen angesteckt hatte, dann war das noch gar nicht feststellbar. Ich musste sie also nicht nur untersuchen, sondern vor allem ihre Namen notieren und sie am besten irgendwie isolieren. Wie sollte ich das bewerkstelligen?

Die Antwort auf diese Frage hatte Martin, als ich ihn eine Stunde später in der Polizeidirektion traf. Das Bordell hatte er in der Zwischenzeit geschlossen und die drei Frauen, die gerade arglos ihren Dienst angetreten hatten, gleich mitgenommen.

»Ganz einfach«, sagte er und strahlte mich an. »Wir buchten sie ein. Besser kann man sie nicht isolieren.«

»Und wofür willst du sie verhaften? Sie haben den Mann nicht umgebracht.«

»Zee-Jott, du denkst wie ein Wissenschaftler. Ich denke wie ein Bulle. Prostitution ist im Deutschen Reich sittenwidrig. Seit 1901 sogar offiziell verboten. Ich tue also nur meine Pflicht und ziehe diese verkommenen Subjekte aus dem Verkehr.«

»Wenn das so ist, müsstest du noch ein paar hundert Frauen mehr überall in der Stadt verhaften. Das weißt du schon?«

»Ja, aber das werde ich mit den Huren hier nicht diskutieren. – Wie geht es dann weiter, wenn ich die Damen für dich in unseren komfortablen Suiten isoliert habe?«, fragte Martin.

»In frühestens drei Tagen treten Symptome auf«, erklärte ich. »Erbrechen, Durchfall. Wenn das der Fall sein sollte, bringen wir sie sofort zu uns ins Institut. Dort können wir ihnen helfen. – Haben sie in euren Suiten eine Toilette?«

»Na ja, eher einen Eimer.«

»Wunderbar. Der muss häufig geleert werden und den Inhalt bringt ihr dann immer schnell ins Institut. In einem gut verschlossenen Behälter.«

Martin verzog angeekelt das Gesicht.

»Und passt auf, dass eure Wärter keinen direkten Kontakt mit den Frauen haben. Schiebt ihnen das Essen durch die Tür. Und reichlich frisches Wasser brauchen sie gegen die Dehydrierung.«

Ich wurde noch Zeuge, wie der Tross von neun leicht bekleideten Frauen, einige gehüllt in Wolldecken der Polizei, unter Geschrei und Gefluche in den Zellentrakt der Polizeidirektion geführt wurde. Keines der Worte möchte ich hier wiedergeben.

Inzwischen hatte Arnold Manthey, Martins Chef, ermitteln lassen, wo sich Walter von Grimm vor dem Besuch im Bordell aufgehalten hatte. In von Grimms Kontor in der Speicherstadt war zu erfahren, dass er unmittelbar von einer Geschäftsreise aus St. Petersburg nach Hamburg zurückgekehrt war. Gereist war er in einer der Gästekabinen eines russischen Viermasters, der noch im Hafen lag und entladen wurde. Man hatte mit dem Löschen der Ladung gerade erst begonnen. Das war von Vorteil, erklärte mir Arnold Manthey, weil so noch alle Matrosen an Bord waren. Wenn sie erst Landgang hatten, würde es Stunden dauern, sie einzusammeln. In der Zeit konnten sie, so sie dann infiziert waren, schlimmen Schaden anrichten.

Wir beschlossen, dass Martin und ich auf das Schiff mit dem Namen »St. Petersburg« gingen. Martin als Staatsmacht und ich als Bakteriologe. Wir würden die Besatzung von schätzungsweise 25 Mann mit Stuhlabstrich untersuchen müssen. Noch wichtiger war, die Männer an Bord zu behalten und das Schiff nach Möglichkeit nach dem Entladen sofort wieder die Elbe hinunterzuschicken. Zur Verständigung hatten wir einen Dolmetscher dabei.

Wir gingen mit zitternden Knien an Bord der »St. Petersburg«. Das Zarenreich hatte den Kampf gegen die Cholera noch nicht gewonnen, so dass wir auf alles gefasst sein mussten.

Kapitel 4

Knapp vierundzwanzig Stunden nachdem wir die »St. Petersburg« betreten hatten, wurden wir von einem Lotsenboot auf der Höhe von Wedel wieder abgeholt und zu den Landungsbrücken gebracht. Wir waren erschöpft, aber zufrieden. Der Kapitän, ein Mann namens Alexej Kerenski, erwies sich als kooperativ und freundlich. Er sprach sogar etwas Deutsch. Er stellte nicht viele Fragen. Als erfahrener Seemann hatte er schon häufig Seuchenkontrollen an Bord erlebt.

Er schilderte uns, dass sein Gast von Grimm, der eine der beiden luxuriösen Gästekabinen auf dem Schiff bewohnt hatte, schon an Bord nicht besonders gesund ausgesehen habe. Das konnte aber auch an dem schweren Wetter auf der Ostsee gelegen haben. Von Grimm habe die Kabine kaum verlassen. Daran hatte er gut getan, dachte ich, denn die Mannschaft war ohne Symptome. Die Russen waren alle bei bester Gesundheit und wenig begeistert davon, dass ich ihnen auf den Abort folgte und Proben ihrer Hinterlassenschaften nahm. Noch weniger angetan waren sie von der Tatsache, dass es nach dem Löschen der Ladung gleich zurück in die Heimat ging. Zu gerne wären die Männer noch ein paar Stunden durch Hamburg gezogen. Aber beim Stichwort Cholera musste Kapitän Kerenski nicht lange überredet werden.

Zum Abschied reichte uns der Kapitän große Gläser mit Wodka, die wir, so ist es wohl in Russland Brauch, in einem Zug leerten. Deshalb habe ich mich dann auch vom Lotsenboot aus in die Elbe übergeben, was Martin und unserem Dolmetscher sichtlich Spaß bereitete.

In den Tagen nach dem Mord an Walter von Grimm durchkämmte die Polizei die Gegend um Reeperbahn und Hamburger Berg und versuchte dabei, so wenig Aufhebens wie möglich zu machen. Auch der Presse gab man nur allernötigste Informationen und verschwieg dabei, dass der Tote wenige Augenblicke vor seinem unsanften Dahinscheiden noch in einem düsteren Hurenhaus verkehrt hatte. Jeder, der sich in Hamburg auskannte, benötigte diese Information nicht. Der Name der Gasse reichte, um den Ruf des Kaufmanns posthum zu beschädigen. Die Todesanzeige, die die »Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg«, bei der von Grimm Mitglied war, ein paar Tage später abdrucken ließ, war so nebulös verfasst, dass der Mann auch in einer glorreichen Schlacht hätte gefallen sein können.

Da wir uns nach dem Auffinden von Grimms zunächst nur mit seinen Cholera-Symptomen beschäftigt hatten, musste die kriminalistische Leichenschau seitens Dr. Trestow noch nachgeholt werden. Die Untersuchung brachte zutage, dass die Tat mit chirurgischer Präzision ausgeführt worden sein musste. Der Täter hatte genau dort am Rücken die Waffe angesetzt, wo es geradewegs zum Herzen geht. Das Herz wurde von hinten durchbohrt, auch die Lunge hatte großen Schaden genommen. Der Leichenbeschauer vermutete, dass es kaum mehr als fünf Minuten gedauert haben konnte, bis das Opfer innerlich verblutete, weshalb es nur sehr wenig Blut auf dem Pflaster gegeben hatte. Offenbar war von Grimm so schnell bewusstlos geworden, dass er nicht um Hilfe zu rufen vermochte. Der Grad seiner Trunkenheit hatte dabei sicher auch eine gewisse Rolle gespielt, vermutlich auch die schon fortgeschrittene Dehydrierung durch die Cholera. Ob dem Opfer das Zeichen vor oder nach dem Stich in die Stirn appliziert worden war, konnte der Leichenbeschauer nicht sagen. Ich hätte einfach Material vom Rückeneinstich mit solchem von der Stirnwunde verglichen und wäre schnell dahintergekommen, ob zum Beispiel Spuren von Herz- oder Lungengewebe in der Stirnwunde zu finden waren. Das hätte die Reihenfolge eindeutig geklärt. Aber ich war bei der Leichenschau nicht zugegen, und es lag mir fern, Dr. Trestow zu belehren. Man konnte sich auch ohne mikroskopische Untersuchung vorstellen, dass das Zeichen erst in den toten oder zumindest sterbenden Mann geritzt worden war. Andernfalls hätte er gewiss laut geschrien.

Dem Opfer fehlte die Brieftasche und, wie seine Haushälterin präzise angeben konnte, eine Taschenuhr Marke Glashütte, Gold, mit der Gravur eines Familienwappens. Außerdem fehlte ein Seidenzylinder des königlichen Hutmachers Albert Maass. Tagelang wurden potenzielle Raubmörder verhaftet, verhört und wieder freigelassen – manche auch nicht, weil sie wegen anderer Delikte sowieso gesucht wurden. Die Verbrecherkartei, die Gustav Roscher, seit einigen Jahren oberster Polizeichef in Hamburg, hatte anlegen lassen, wurde herumgereicht, aber niemand erkannte irgendjemanden. Mein Freund Martin hielt große Stücke auf Polizeidirektor Gustav Roscher und seine fortschrittlichen Methoden und schien fast enttäuscht, dass sie in diesem Fall zu keinem Ergebnis führten. Es half nicht, die Verbrecherkartei brauchte Augenzeugen – und die gab es in diesem Fall nicht.

Martin vermutete, dass sich Zeugen gar nicht melden würden, so es sie denn gäbe. Denn wer um die nächtliche Stunde, zu der die Tat stattgefunden hatte, in dieser Gegend unterwegs war, war entweder selbst ein Ganove oder ein Hurenbock. Anständige Bürger lagen um drei Uhr in der Frühe im Bett – und zwar in ihrem eigenen.

Und so verstrichen die Tage, Walter von Grimm fand auf dem Ohlsdorfer Friedhof unter einem pompösen Grabmal seine letzte Ruhe, und das Verbrechen, das an ihm begangen wurde, blieb unaufgeklärt. Genauso wie der Mord an dem Versicherungsmakler Rudolf Bredow zwei Monate zuvor, bei dem die gleiche Kennzeichnung zum ersten Mal auftauchte. Oder fast die Gleiche. Denn einige bei der Hamburger Polizei glaubten, in dem Zeichen auf von Grimms Stirn eine römische Drei zu erkennen und bei Bredow eine Zwei. Anhand von Fotografien, die Martin mir heimlich zeigte, konnte ich mir schwerlich eine Meinung bilden. In der Eile der Tat und bei der herrschenden Dunkelheit konnte der Täter sein Werk sicher nicht besonders akkurat ausführen. Wenn der Mörder seine Opfer tatsächlich durchnummerierte, so lautete natürlich die alle bewegende Frage: Wo war dann Nummer eins?

Schneller einig war man sich in der Frage des Mordmotivs in beiden Fällen. Da bei beiden Opfern Geldbörse, Uhr und sogar die Hüte fehlten, war von Raubmord auszugehen.

Kapitel 5

Knapp zwei Wochen später war der Mörder des infizierten Kaufmanns immer noch nicht gefunden, und die Erinnerung an die Tat verblasste allmählich in den Köpfen der Hamburger. Es gab ja täglich genug Neues, über das man sich das Maul zerreißen konnte.

Ich war seit Monaten auf Wohnungssuche. Das war nicht einfach. Mein Onkel schimpfte mich zu anspruchsvoll, meine Tante riet, ich solle so lange bei ihnen in meinem großen, hellen Zimmer in der geräumigen Villa an der Alster leben, bis ich ein nettes Mädchen gefunden habe, mit dem ich dann einen Hausstand gründen könne. Das würde nicht lange dauern, versicherte die Tante, da ich ja ein schneidiger und charmanter Bursche sei. Mochte ja sein, dass meine einstudierte Höflichkeit von der liebenden Tante als Charme wahrgenommen wurde. Ich empfand mich aber als unsicher, langweilig und wenig begehrenswert.

Während meines Studiums in Greifswald hatte ich nur wenig Kontakt zu jungen Frauen aus gutem Hause, und über eher keusche Küsse war ich bei keiner hinausgekommen. Mag sein, dass ich attraktiv war. Das Rudertraining während des Studiums hatte mir ansehnliche Muskeln verliehen, und meine dichten, blonden Haare, die ich gerne etwas länger trug, und mein gut gestutzter blonder Bart ließen, wie Tante Isolde sagte, an einen germanischen Gott denken. Mir fehlte aber alles, was man für einen großen Auftritt benötigte. Inmitten meiner großmäuligen, selbstgefälligen Verbindungsbrüder in Greifswald war ich in der Regel unsichtbar gewesen.

Tatsache war: Für Männer wie mich gab es keine adäquaten Wohnmöglichkeiten in einer Stadt wie Hamburg. Die viergeschossigen Mietshäuser mit ihren praktischen Wohnungen im sogenannten Hamburger Schnitt, die seit ein paar Jahren in Eppendorf und Eimsbüttel entstanden, überstiegen meine finanziellen Möglichkeiten als Forschungsassistent am Tropeninstitut. Die billigen Wohnungen in Hafennähe, im Gängeviertel und in Altona waren weit unter meinen Ansprüchen und mit einer Nachbarschaft verbunden, die ich nicht lange ertragen würde. Ich bin kein Parvenu, kein Snob. Ich kann mich auf die einfacheren Leute einlassen und weiß, dass bei ihnen Gottesfurcht und Anstand oft besser entwickelt sind als in den feinen Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin. Aber im Dreck, ganz ohne Strom und Wasserleitung zu leben, war nun doch zu viel. Es kam für mich allerdings auch nicht infrage, Onkel Wilhelm um Unterstützung bei der Miete zu bitten. Meine Familie hatte den Onkel genug Geld gekostet. Erst hatte Knudsen die Schulden meines Vaters mit seinem Einfluss bei Banken zum Teil wegverhandelt und zum Teil bezahlt. Und dann hatte er noch mein Studium finanziert. Es reichte.

Bliebe also nur die üblichste Wohnmöglichkeit für Männer wie mich: möblierter Herr bei einer alten Witwe, die dann gleich auch das Waschen und das Kochen besorgen konnte. Aber, ehrlich, da konnte ich auch gleich bei Onkel Wilhelm und Tante Isolde wohnen bleiben. In ihrem zuckerweißen Alster-Schloss mit seinen unzähligen Erkern, Türmchen und Gauben wurde das Waschen natürlich von einer Wäscherin erledigt, und gekocht wurde von der italienischen Köchin Maria, die täglich so manchen fremdartigen Wohlgeruch aus dem Souterrain in die Halle schickte.

Es gab noch zwei Dienstmädchen, die aufräumten, putzten und mir die Dinge brachten, die ich genauso gut selbst holen konnte. Es gab einen Gärtner, der nicht im Haus wohnte und an vier Tagen in der Woche im weitläufigen Park alles in Stand hielt. Und dann war da noch Johannes, Knudsens Chauffeur, der sicher der bemerkenswerteste Hausangestellte nicht nur in der Villa Knudsen, sondern am ganzen Harvestehuder Weg war. Er wohnte im kleinen Kutscherhäuschen neben der Villa. Johannes stammte aus Deutsch-Südwestafrika und hatte, wie sollte es anders sein, eine dunkle, fast schwarze Haut. Wilhelm Knudsen hatte ihn neben Fellen von Löwen und Zebras, fünf Elefantenstoßzähnen und dem ausgestopften Kopf eines Wasserbüffels von einer seiner zahlreichen Reisen mitgebracht. Als Johannes vor fast zwanzig Jahren ins Haus Knudsen kam, war er fast noch ein Kind, ein wildes Kind, das kaum richtige Kleidung tragen konnte. Mein Cousin Adolf hänselte ihn, und ich hatte bei meinen häufigen Besuchen bei Onkel und Tante Knudsen immer etwas Angst vor Johannes. Inzwischen konnte er lesen und schreiben, sprach fast akzentfrei und ohne Schimpfwörter Deutsch und war der Einzige im Hause, der Knudsens ganzen Stolz bewegen konnte, den Mercedes-Benz Simplex. Das weinrote Schmuckstück hatte 40 Pferdestärken, war mit über 100 Stundenkilometern schneller als ein Gepard, wie Knudsen prahlte, und verbreitete einen fürchterlichen Gestank.

Johannes, zu dem ich mit den Jahren ein freundliches, unserer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellungen angemessenes Verhältnis entwickelte, hätte mich mit dem Automobil überall hingefahren. Aber so weit wollte ich die Großzügigkeit meiner Gastgeber nicht überstrapazieren. Der Luxus eines Automobils stand mir nicht zu, der ich gerade mal 150 Mark im Monat verdiente, immerhin doppelt so viel wie ein Hafenarbeiter.

Eines Abends nahm ich – wieder einmal – an einer Gesellschaft im Hause Knudsen teil. Es gab dort ständig Gesellschaften. Mindestens eine pro Woche. Tante Isolde lud Damen zum Tee, Onkel Wilhelm nahm zum Beispiel eine neue Lieferung von Zigarren und Rum aus der Karibik zum Anlass, Freunde einzuladen. Meistens waren es aber größere oder kleinere Soireen, bei denen gegessen und getrunken wurde, dann gab es Musik eines Streichquartetts oder einer vielversprechenden Sängerin aus der Oper. Irgendwann zogen sich dann die Männer zu Tabak und Politik in Knudsens Bibliothek zurück, während die Frauen bei Likör und Käsegebäck in einen Wettstreit traten, welche von ihnen denn zurzeit die Mildtätigste war. Jede der Damen versuchte, sich und ihren Reichtum sinnvoll einzubringen. Für Soldatenwitwen, für die Verschönerung irgendwelcher Kirchen oder für die Bildung der untersten Schichten. Isolde Knudsen hatten es die gefallenen Mädchen angetan. Doch dazu später mehr.

Ich wusste nie so richtig, wo ich bei diesen Gesellschaften hingehörte. Zu den Damen auf keinen Fall, auch wenn die Tante mich gerne vor ihren Freundinnen als medizinischen Alleswisser vorführte, der ich nicht war. Sie wollte offenbar nicht anerkennen, dass ich nur Bakteriologe geworden war. Die meisten der Damen der Gesellschaft wussten gar nicht, was das war, außer, dass es mit ekligen Dingen zu tun hatte.

Zu den Herren gehörte ich aber auch nicht so richtig, da ich weder in politischen noch in wirtschaftlichen Themen besonders bewandert war oder irgendeine bedeutende Stellung in der Welt hatte. Bei Onkel Wilhelm kamen Mitglieder der Bürgerschaft, Industrielle und Reeder, wie er selbst einer war, zusammen. Eine endlose Parade der Pfeffersäcke, zu denen ich wahrlich nicht gehörte. Aber wenigstens war ich ein Mann, unbestreitbar, wenn auch ein unverheirateter, und so gehörte ich in die Herrenrunde. Ich nippte am Rum, hielt eine Zigarre, ohne an ihr zu ziehen, und lauschte mal verwundert, mal schockiert, oft auch amüsiert den Gesprächen der bedeutenden Herren mit ihren mächtigen, grauen Bärten. Die Runde nahm mich dabei kaum wahr. Ich meldete mich nicht zu Wort, es fragte mich niemand um meine Meinung. Ich war einfach da, wie das Dienstmädchen, das ab und an hereinkam, Gläser füllte und Aschenbecher leerte. So bekam ich beiläufig Kenntnis von einigen geheimen Vorgängen in der Stadt und im Reich. Aber dazu werde ich hier schweigen, sofern es für diese Geschichte nicht von Belang ist.

Mein Cousin Adolf war nur gelegentlich bei den Gesellschaften zugegen. Er war überhaupt selten zu sehen. Vor einem halben Jahr war er aus Rotterdam zurückgekehrt, wo er einige Jahre die niederländische Niederlassung der Knudsen-Reederei geleitet hatte. Seine holländische Frau und die siebenjährige Tochter waren nicht mit ihm gekommen. Man munkelte, dass die Ehe an Adolfs umtriebigem Lebenswandel zerbrochen war. Offen gesprochen wurde darüber nicht. Adolf hatte irgendeine Aufgabe in Onkel Wilhelms Kontor bekommen. Mir gegenüber machte er dazu nur vage Andeutungen. Ich vermutete, dass der Onkel ihn gerne wieder weiter von Hamburg weg einsetzen würde, den passenden Ort innerhalb seines Imperiums aber noch nicht gefunden hatte. In den letzten Wochen war Adolf hauptsächlich damit beschäftigt, seine Kandidatur für einen Sitz in der Hamburger Bürgerschaft voranzutreiben. Die Nationalliberalen hatten ihn auf den Wahlzettel gesetzt, sicher auch, weil sie sich die finanzielle Unterstützung meines Onkels erhofften.

Adolf hatte sich in den vergangenen Jahren von einem recht schneidigen jungen Mann zur jungen Ausgabe eines Pfeffersacks entwickelt. Er hatte deutlich zugenommen, trug die dunkelblonden Haare meist pomadisiert und gescheitelt und zwirbelte seinen Schnauzbart in der Art des Kaisers. Er sprach laut und sparte nicht mit groben Ausdrücken.

Ich hatte zu Adolf kein enges Verhältnis. Als Kinder trennte uns der große Altersunterschied, und später waren es die unterschiedlichen Interessen. Adolf ist mit vielen Männern seines Alters und seines Standes befreundet, er segelt, geht zum Pferderennen und besucht exklusive Nachtclubs, in denen ich nichts verloren habe. Seit er wieder in Hamburg war und in der Villa seiner Familie einen Flügel mit separatem Eingang und drei Zimmern bewohnte, gingen wir uns erfolgreich aus dem Weg.

An diesem Abend – die dritte Rumflasche war gerade geöffnet und die Luft in dem großen, mit dunklem Holz vertäfelten Raum zu weißem Zigarrennebel verdickt – erhob sich einer der vielleicht noch zehn Männer in der Bibliothek und klopfte mit seinem Monokel gegen das Rumglas.

»Freunde«, rief der Mann in das abflauende Gemurmel. Er hatte Schwierigkeiten, sich gerade zu halten, und suchte kurz Halt an einem Elefantenstoßzahn, der neben ihm aufragte. »Freunde, lassen Sie mich einen Toast auf unseren Kaiser Wilhelm ausbringen. Ich möchte mein Glas erheben für den ehrenhaften Führer unseres Reiches. Wenn er nicht wäre, wären wir alle Franzosen. Ein schrecklicher Gedanke.«

Gelächter. Aber der Redner, der Kaufmann, Salpeterimporteur und Mitglied der Hamburger Bürgerschaft Ortwin Marunde, ein Pfeffersack, wie er im Buche steht, dick, laut und unverschämt reich, war noch nicht fertig mit seinem Toast. Marunde nahm Haltung an, streckte den Arm mit dem Rumglas aus und rief: »Es lebe Seine Majestät Kaiser Wilhelm der Zweite, er lebe hoch, hoch, hoch.«

Die Männer standen so zackig auf, wie es die fortgeschrittene Stunde und der Rumpegel zuließen, und stimmten asynchron in die Hochrufe ein. Dann ließen sie sich wieder in die weichen Polster der englischen Ledersessel fallen. Wer nicht aufgestanden war, war mein Onkel Wilhelm. Er hatte nur milde gelächelt und kaum merklich den Kopf geschüttelt.

Später, als der letzte Gast gegangen war und auch ich mich zurückziehen wollte, bat mich Knudsen, noch zu bleiben. Er schenkte uns einen Rum ein, stieß mit mir an und leerte sein Glas in einem Zug.

»Na, mein Junge, geht es dir gut?«, fragte er und lächelte.

Das war verstörend, denn Knudsen und ich begegneten uns kaum außerhalb der Mahlzeiten. Bei Gesellschaften war ich dabei, beim sonntäglichen Kirchgang auch. Aber ansonsten war Knudsen den ganzen Tag, oft bis spät in die Nacht, in seinem Kontor am Hafen und ich in meinem Institut. Er interessierte sich nicht besonders für meine Arbeit, und ich hatte manchmal den Verdacht, dass er es mir übel nahm, ja als undankbar auslegte, dass ich nicht ins Schiffsgeschäft eingestiegen war. Er mochte mich, liebte mich vielleicht sogar fast wie einen Sohn, aber das hatte nicht zwangsläufig viel Nähe zur Folge.

»Es geht mir gut, danke, Onkel Wilhelm«, sagte ich und fügte an: »Und Ihnen?«

Er nickte nur und brummte. Das war die Hamburger Art zu sagen: All up steel – alles in Ordnung. Der Onkel wollte ein Gespräch, bekam es aber offenbar nicht so richtig in Gang. Also stellte ich die Frage, die mich beschäftigte.

»Warum sind Sie vorhin nicht aufgestanden, als auf den Kaiser getrunken wurde, Onkel?«, fragte ich. »Mögen Sie ihn nicht, den Kaiser?«

Der Onkel füllte erneut sein Glas, lehnte sich zurück und dachte einen Moment nach. Er hatte seinen Rock bereits ausgezogen und über einen Stuhl gehängt. Nun öffnete er die Weste über seinem kleinen Bauch und löste Kragen und Manschetten.

»Ich kenne ihn nicht, mein Junge, bin ihm nie begegnet«, sagte er und lächelte mich an, »und deshalb kann ich ihn weder mögen noch nicht mögen. Ich weiß nur über ihn, dass er ein alter Eisenschädel ist. Einer, der uns lieber heute als morgen wieder in einen Krieg treiben will. Und Leute wie mein Freund Marunde stecken bis zum Hals in seinem Hintern und fühlen sich dort noch wohl.«

Hätte ich ein Rumglas gehalten, so wäre es mir in diesem Moment aus der Hand gefallen. Nie zuvor hatte ich den Onkel, der ein feinsinniger und sprachgewandter Mann war, so grob reden hören. Aber nicht nur seine Worte, auch ihr Sinn ließ mich frösteln. Ein Mann der Gesellschaft durfte nicht so über den Kaiser reden.

»Erstaunt dich das, mein Junge?«, fragte er.

Ich wünschte mir, dass er mich wie einen Erwachsenen mit meinem Vornamen anspräche und nicht wie ein Kind mit »mein Junge«, aber das traute ich mich nicht zu sagen.

»Na, ja, Onkel, ich dachte immer, Sie stehen zum Deutschen Reich und zum Kaiser.«

»Ich stehe zur Freien und Hansestadt Hamburg und zum freien Handel in einer friedlichen Welt, verstehst du? Und auch wenn Hamburg mit den Jahren im Deutschen Reich immer mehr an Gewicht gewonnen hat, so haben wir doch auch etwas verloren: unsere Unabhängigkeit als Kaufleute und Bürger. Deinen Kaiser interessieren Schiffe nur, wenn sie ordentlich Feuerkraft haben. Und das verbindet ihn mit Leuten wie Marunde. Solange in den Munitionsfabriken die Maschinen auf Hochtouren laufen, musss sich Marunde um seinen Salpeterabsatz keine Sorgen machen. Die ökonomische Schlagkraft von zweitausend Tonnen ägyptischer Baumwolle ist diesen Leuten doch völlig einerlei.«

Wieso sprach er von »meinem Kaiser«? Wilhelm II. war nicht mein Kaiser. Aber damit hielt ich lieber hinter dem Berg. Schon während des Studiums und meiner Zeit bei der Greifswalder Burschenschaft Borussia war ich mit meinen republikanischen Ansichten häufig angeeckt. Ich brauchte wahrlich keinen Kaiser. Man musste nur in die Vereinigten Staaten von Amerika schauen, die sehr gut ohne Monarchen und Adel zurechtkamen.

Lautlos, vom Onkel und mir unbemerkt, hatte ein Dienstmädchen den Raum betreten. Zielstrebig räumte sie Aschenbecher weg, stellte Gläser und leere Flaschen auf einen Servierwagen. Es war im Hause Knudsen üblich, dass die Dienstboten, ohne zu klopfen, die Räume betraten, von Schlafzimmern und Bädern abgesehen. Isolde Knudsen, die ihre Dienstbotenschaft respektvoll, aber streng führte, hatte mir schon vor Jahren ihren Standpunkt erläutert.

»Du kannst in einem solchen Haus vor dem Personal nichts geheim halten. Sie belauschen und beobachten dich, wo immer sie können. Du kannst höchstens erreichen, dass es sie nicht interessiert, was du so sagst und tust. Es muss ihnen alles so selbstverständlich, so wenig geheimnisvoll vorkommen, dass es für sie nicht lohnenswert erscheint, darüber zu tratschen.«

Das Dienstmädchen hieß Clara, daran erinnerte ich mich an diesem Abend. Sie war auch erst ein halbes Jahr vor mir im Hause Knudsen angekommen, wie ich gehört hatte. Clara war ein paar Jahre jünger als ich, und ich hatte sie bisher als hübsch in einer oberflächlichen Weise wahrgenommen. Doch an diesem Abend mit dem Onkel alleine in der Bibliothek, als sie ein paar Schritte näher kam und von dem großen Kerzenleuchter unter der Decke und dem Kaminfeuer gleichzeitig geheimnisvoll angestrahlt wurde, fiel mir zum ersten Mal auf, dass sie eine außergewöhnliche Schönheit war. Die schwarzen Haare waren unter einer Haube versteckt, das fast weiße Gesicht war, wie es sich für ein Dienstmädchen gehörte, ungeschminkt. Sie hatte hohe Wangenknochen, die ihr etwas Slavisches gaben. Ihre großen, braunen Augen hatten die Farbe des Rums, den der Onkel gerade wieder in sein Glas fließen ließ. Sie war recht groß, über einen Meter siebzig, und schlank. Besonders fielen mir ihre feinen, schlanken Hände mit den langen Fingern und den gepflegten Nägeln auf.

»Haben der gnädige Herr noch einen Wunsch?«, fragte Clara an den Onkel gewandt mit sanfter Stimme und senkte den Blick.

»Danke, nein, Fräulein Clara, Sie können sich zurückziehen.«

Das Dienstmädchen deutete einen Knicks an und verschwand. Der Onkel kannte ihren Namen. Eine weitere Überraschung an diesem Abend.

Kapitel 6

Vom nächsten Mordopfer erfuhr ich wieder durch Martin Bucher, der eines Nachmittags aufgeregt bei mir im Institut erschien. Der Grund dafür, dass er mich auch in diesen Mordfall einbeziehen wollte, war entweder fadenscheinig oder seiner Unkenntnis in medizinischen Fragen geschuldet. Er wollte jedenfalls, dass ich auch dieses Mordopfer auf eine Cholerainfektion hin untersuchte. Die Parallelen zu den Opfern Bredow und von Grimm waren offensichtlich. Dieses neue Opfer war ebenso von hinten erstochen worden, gezielt mit einem Stich. Der Mann hatte ebenfalls ein Zeichen auf der Stirn, das aber nur entfernt denen der anderen Opfer glich. Und die Brieftasche war entwendet worden. Ein Hut war – eine weitere Ähnlichkeit – nicht bei dem Opfer gefunden worden.

Die Tat geschah allerdings nicht in der Nacht in einer dunklen Gasse, sondern an einem sonnigen Vormittag auf den Landungsbrücken in einer sichtgeschützten Ecke, nicht weit vom Gewimmel reisender Menschen entfernt. Der Täter bediente sich der hektischen und unaufmerksamen Menge offenbar als Schutz. Die Tat dauerte sicher nur wenige Sekunden, und bis jemand den Blutenden am Boden bemerkt hatte, war der Täter im Gewühl verschwunden. Man musste sich nicht wundern, dass das Zeichen auf der Stirn des Toten so nachlässig gearbeitet war.

Bemerkenswert war allerdings, dass einige Passanten wieder einen buckligen Mann in einer Art Umhang mit Kappe oder Mütze gesehen haben wollten. Eine solche Beobachtung war ja auch nach der Ermordung des Walter von Grimm vor dem Bordell geschildert worden. Martin sah diese Zeugenaussagen jedoch kritisch. Nach dem Mord an von Grimm war in den Zeitungen von einem Buckligen in Tatortnähe berichtet worden. Möglich, dass dies die Aussagen nun beeinflusste und man überall Bucklige sah oder die wenigen Buckligen, die es gab, gleich für Mörder hielt. Was auch immer – eine Cholerainfektion war an diesem Opfer unwahrscheinlich.

»Meinst du, dass es dem Mörder nicht reicht, seine Opfer zu erstechen und zu markieren?«, fragte ich Martin. »Muss er sie sicherheitshalber noch mit der Seuche infizieren?«

»Nein, natürlich nicht absichtlich. Aber wenn er sich bei diesem von Grimm angesteckt hat, trägt er die Krankheit jetzt vielleicht weiter.«

Ich musste mich bemühen, meine folgenden Erklärungen nicht zu oberlehrerhaft wirken zu lassen.

»Martin, vergiss in diesem Fall einfach mal die Cholera. Von Grimms Umfeld ist ohne Symptome. Die Huren, die russischen Matrosen, niemand ist infiziert, der Mörder sicher auch nicht. Seit dem Mord an von Grimm sind vierzehn Tage vergangen. Der Mörder hätte inzwischen heftigste Symptome und könnte seiner unseligen Tätigkeit nicht unbeeinträchtigt nachgehen.« Martin schüttelte lächelnd den Kopf über meine Formulierung. »Und selbst wenn, wäre eine Infektion des Mordopfers noch gar nicht feststellbar. Die Inkubationszeit ist durch das Ableben des Opfers inzwischen auch unterbrochen.«

»Danke, Herr Obermedizinalattaché«, sagte Martin und fuhr ernster fort. »Aber vielleicht könntest du dir trotzdem mal die Stichwunde ansehen. Dr. Trestow behauptet, dass man nicht feststellen könne, ob es sich bei allen drei Opfern um dieselbe Tatwaffe handelt. Ich glaube aber, das liegt eher an seinen fast sechzigjährigen Augen und dem Unwillen, modernere Methoden anzuwenden.«

Ich fühlte mich geschmeichelt, hier um meinen Rat gefragt zu werden. Aber ich war weiß Gott kein Experte. Während meines Studiums hatte ich mich zwar mit Anatomie im Allgemeinen und mit Infektionen von Wunden im Besonderen beschäftigt, aber was hieß das schon? Trotzdem willigte ich ein.

Nach Dienstschluss begab ich mich also in die Leichenhalle im Hafenkrankenhaus, wo Opfer von Verbrechen zur weiteren Verwendung eingelagert wurden, um mir den Toten anzuschauen. Martin wartete bereits auf mich. Er hatte den Körper in einen kargen Untersuchungsraum bringen lassen.

Von unserem Tun sollte Kommissar Arnold Manthey möglichst nichts erfahren. Der Chef hielt große Stücke auf den alten Leichenbeschauer und war von Martins ständigen Alleingängen sowieso wenig begeistert. Erst kürzlich hatte er ihn einen kleinen Klugscheißer genannt.

Inzwischen war auch die Identität des Toten anhand einiger Dokumente, die er bei sich trug, ermittelt. Es handelte sich um den zweiundsechzigjährigen Ludwig Schilling, Besitzer mehrerer norddeutscher Aktienbrauereien. Das Bier hatte ihn reich und dick gemacht. Er wog, so hatte der Leichenbeschauer notiert, 136 Kilogramm.

Die Fettschicht war am Rücken, wo das Messer eingedrungen war, nicht so dick wie am Bauch. Dennoch musste die Klinge der Mordwaffe, um das Herz vollständig zu durchbohren, mindestens zwölf Zentimeter lang gewesen sein. Das war auch ungefähr die Klingenlänge, die der ehrenwerte Dr. Trestow beim Opfer Walter von Grimm und auch bei Bredow ins Protokoll notiert hatte. Weiter verglichen hatte er die Wunden aller Opfer nicht.

Ich konnte mich im Fall des Walter von Grimm, der bereits in der Hamburger Erde ruhte, nur auf Trestows Protokoll der Leichenschau und auf Fotografien stützen. Bei Bredow gab es keine Bilder. Deutlich war auf den drei Fotografien, die der Akte beilagen, zu sehen, dass der Einstich bei von Grimm sehr schmal war und kaum mehr als eineinhalb Zentimeter in der Höhe maß, ähnlich bei Bredow. Bei dem letzten Opfer Schilling hingegen hatte der Einstich eine Höhe von deutlich über zwei Zentimetern. Daraus auf unterschiedliche Klingen zu schließen, wäre jedoch vorschnell. Je nachdem, wie die Waffe geführt wurde und ob der Angegriffene unter dem Stich zusammensackte oder stehen blieb, konnte die Wunde ein anderes Bild haben.

Mit einem Skalpell nahm ich bei Schilling eine Gewebeprobe aus dem Innern der Stichwunde und betrachtete sie unter dem Mikroskop. Die Ausstattung in der Leichenschau des Hafenkrankenhauses lag weit unter den Möglichkeiten, die ich im Institut hatte, aber für diese Untersuchung sollte es reichen.

»Rost«, sagte ich, noch durchs Okular schauend. »Die Klinge ist rostig.«

Ich gab das Mikroskop frei und ließ Martin durchschauen. Natürlich erkannte er gar nichts. Eine Probe, die ich der Stirnwunde entnahm, ließ ebenfalls Rost erkennen.

»Und was heißt das jetzt?«, fragte er. »Verfügt der Täter nicht über das feinste Solinger Klingenmaterial? Ich glaube, du findest in Hamburg wenige Messer oder Dolche oder was auch immer ohne Rost.«

»Ja, aber wenn wir diese Rostpartikel analysieren, kennen wir das Material der Waffe genauer«, klärte ich ihn auf. »Und wenn wir das mit Proben aus von Grimms und Bredows Wunden vergleichen, wissen wir, ob es dieselbe Waffe war. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um denselben Täter handelt.«

»Ist das durch diese Zeichen auf der Stirn nicht sowieso klar?«, sagte Martin.

»Oh, nein«, rief ich, und nun war ich sicher ein sehr unangenehmer Oberlehrer, »denken Sie logisch, Herr Kriminalitätsminister. Das Zeichen kann ja auch eine Bande repräsentieren, die hier vereint zu Werke geht. Es ist ein Symbol für irgendetwas.«

»Ach, verdammt!« Martin stöhnte auf. »Eine Bande? Mal den Teufel bloß nicht an die Wand.«

»Was auch immer«, sagte ich. »Wir brauchen hier Herrn von Grimm und Herrn Bredow zur weiteren Befragung.«

»Mmm«, Martin schüttelte missmutig den Kopf, »die Herren stehen nicht zur Verfügung, wie du weißt.«