HalbEngel - Tobias O. Meißner - E-Book

HalbEngel E-Book

Tobias O. Meißner

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Beschreibung

"Ich glaube nicht an Noten. Ich glaube an den Rausch in mir." HalbEngel ist eine Reise in die Welt der Rockmusik in die Welt der Musiker, Groupies, Produzenten, Kritiker und Fans. Tobias O. Meißner schreibt in diesem Roman über alle Facetten eines Genies: über die wahnsinnige Leidenschaft für die Sache, über das Leiden der Menschen, die Floyd Timmen lieben, und auch über die gespaltenen Gefühle derer, für die er ein großartiger Musiker ist. HalbEngel ist ein Power-Roman über Musik, über ein Genie und über die Liebe. Einer der ganz großen Romane um Musik und Leidenschaft, der sich mit Meisterwerken wie "Armageddon Rock" von George RR Martin, "Schattenklänge" von Lewis Shiner und "High Fidelity" von Nick Hornby messen kann.

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Tobias O. Meißner

Impressum:

Tobias O. Meißner

HalbEngel

Erstausgabe bei Rotbuch (Hamburg, 1999).

Für diese Pressung nach den Masters neu abgemischt.

© 2010 by Tobias O. Meißner

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe Mai 2011 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Katrin Mrugalla

EPUB: Karlheinz Schlögl

GOLKONDA VERLAG

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.golkonda-verlag.de

Zuerst die Echos:

Zu hell

zu schnell

zu schön

zum Überleben

Kollision der Tauben

Aufwärts

Von so weit oben,

so weit hinten wie nur möglich,

wird alles Harmonie.

Und unten? Hier?

Schwingung nimmt sich

mit sich selbst mal sechs

füllt Zwischenräume an

mit Bersten

Klang und Farben

Wahn und Sinn

mit einer Melodie

doch Phoenix

stirbt

und stirbt

und stirbt

Der erste von zwölf Rhythmen

Die Musik blendet aus,

gibt den Geräuschen einer echten Straße Raum.

Das Haus sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte.

Schon von der Straße her, der Straße mit den netten, sauber geschnittenen Parzellen, war ihr etwas an der Fassade aufgefallen, ein neues Leuchten. Jetzt, nachdem sie den schmalen Kiesweg zur Vordertür hinter sich gelassen hatte, sah sie es genauer. Die Vorderfront war frisch geweißt, die Haustür frisch gestrichen, die Türfläche blendend und neu, der Rahmen in einem sehr milden Haselnussbraun.

Lebkuchenhaus mit frischem Zuckerguss, noch warm und klebrig.

Und der Klingelknopf hatte nicht einen einzigen Farbspritzer.

Karens Zeigefinger, der sich dem kleinen Klingelschildchen schon genähert hatte, verharrte und zog sich wieder zurück.

Karen versuchte sich auszumalen, mit welcher Akribie und Vorausschau jemand beim Renovieren der Fassade den Klingelknopf mit Folie oder Klebeband abgedeckt haben musste. Dieser Sinn fürs widerspenstige Detail war ganz und gar nicht Lauries Handschrift. Und überhaupt der neue Anstrich. Es gab dafür nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte Laurie in einem Preisausschreiben den Einsatz einer Malerfirma gewonnen – was aber Leuten im wirklichen Leben nie passierte –, oder aber Laurie und Sam hatten sich wieder zusammengerauft, Laurie und Sam bauten wieder gemeinsam für die Zukunft, Laurie war wieder Barbie, und Ken war wieder zu Hause.

Das war natürlich ein Tiefschlag. Karen sah sich plötzlich selbst vor dem duftenden Lebkuchenhäuschen stehen, ein staubiger Freak, ein Hausierer, ein besonders schäbiger Versager, hoffend auf einen Bissen vom weichen Inneren, wie sie so dastand mit ihrem abgewetzten Koffer. Aber wie bisher immer, wenn sie sich selbst so gesehen hatte, als einen störenden Fleck in einer harmonischen Komposition, kam da auch dieser Trotz. Sie war jetzt innerlich so weit gekommen, sie war jetzt äußerlich so weit gegangen, hatte so viele Zäune überklettert oder niedergerissen, sie konnte jetzt vor dieser lächerlichen, sauberen, neu lackierten Tür nicht einfach kehrtmachen. Der elektrische Funke sprang. Karen klingelte regelrecht Sturm. Und es kam noch schlimmer, als sie befürchtet hatte: Ein schreiendes Baby echote von drinnen zurück.

Es dauerte eine Weile, bis Laurie die Tür öffnete, und dann noch mal fast so lange, bis die beiden Schwestern ihren gegenseitigen Anblick verdaut hatten. Karen schmal, blass, entschlossen, in äußerst zerstoßener Kluft, und Laurie in von einem blassrosa Hausmantel kaum verhüllter, weiblicher gewordener Weichheit, mit diesem verdammten sabbernden Baby auf dem Arm.

»Mein Gott – Karen! Ich glaub’s nicht!«

»Tja.«

Bei der nun folgenden Umarmung war das Baby irgendwie zwischen ihnen, trennte und irritierte ihre Körper, aber seine glitzernden Speichelfäden sponnen sie aneinander.

»Komm rein, komm rein, komm rein, mein Gott, das ist ja, wie wenn der Papst plötzlich vor der Tür steht und ›Yo, Baby!‹ sagt. Es ist Karen, es ist wirklich Karen, die verschwundene, unsichtbare Karen.«

»Ich war unsichtbar, und du hast dich gezellteilt. Das ist doch dein Baby, oder bist du einfach nur ein besonders einfühlsamer Sitter geworden?«

»Natürlich ist das meiner, Dummchen. Sag Karen ›Guten Tag‹, Sam.«

»Sam!?«

»Na ja, wir wollten erst ›Ethan‹, aber nachdem wir dann gesehen haben, wie ähnlich er Sam ist. Schau dir doch mal die Farbe dieser Augen an. Dieses Blau gibt es nur zweimal auf der Welt. Ja, guck sie dir an. Das ist deine Tante Karen. Der wilde Teil der Familie.«

Karen wuchtete ihren ausgebeulten Koffer über die Schwelle und schloss die gut geölte Tür hinter sich. Sie machte mit Absicht wenig Anstalten, keine schmutzigen Fingerabdrücke auf dem Zuckerguss zu hinterlassen. »Ist das immer noch derselbe Sam von früher?«

»Natürlich derselbe Sam, was denkst du denn, mit wie vielen Sams ich zusammen bin.«

»Der letzte Stand der Dinge zwischen dir und Sam, den ich mitbekommen habe, hörte sich in etwa so an, ich hab es noch ziemlich genau im Ohr: ›Sam ist so eine Art doppelter Evolutionssalto rückwärts, und seinen Dick hat er nur, damit er nicht aus dem Hintern pinkeln muss.‹«

»Pssst, hältst du wohl den Rand? Willst du, dass der Kleine jetzt schon anfängt, sich über seinen Vater lustig zu machen? Das kommt noch früh genug. Mein Gott, Karen – der letzte Stand der Dinge, den du mitbekommen hast! Du hast nicht mehr viel mitbekommen im letzten Jahr, oder? Ich habe versucht, dir zu schreiben, dass ich schwanger bin, aber das blöde Management kannte deine augenblickliche Adresse nicht. Niemand kam mehr an dich ran. Also, wo hast du gesteckt die ganzen Monate?«

Karen seufzte und warf sich auf ein nach gefüllten Windeln riechendes Sofa. »Überall. Wir waren überall. Haben mehrere Staaten durchgetourt, bis da kein Stein mehr auf dem andern lag. Wir haben geheiratet.«

»Waaaaaas?« Laurie legte das Baby zärtlich in eine mit Knuddelgegenständen fast verhüllte kleine Krippe und tupfte dem glucksenden Kerlchen mit einem Tuch das Kinn ab. »Du hast ihn geheiratet? Das gibt’s doch gar nicht. Davon hätte ich doch gehört! Du flunkerst doch.«

»Na, sooo berühmt sind MBMI ja nun auch noch nicht, dass man alles über sie im Fernsehen sieht.«

»Im Fernsehen vielleicht nicht, aber im Radio und in den Zines – hast du ’ne Ahnung! Hast du ’ne Ahnung, wie Floyd hier gefeiert wird. Der Junge aus unserer Stadt, der es bis in die Top Twenty geschafft hat. Wo bisher alles, was man über uns in der weiten Welt gehört hat, nicht gerade positiv zu nennen war. Floyd ist jetzt so ’ne Art Nationalheld hier, obwohl einige Bigheads natürlich schmollig sind darüber, dass er jetzt schon seit ’ner Ewigkeit nicht mehr hier gespielt hat. Aber er ist ja auch wirklich soooooo süß. Ich hab sogar ein Poster von ihm überm Bett.«

»Tja. Und ich hatte ’ne Zeitlang ihn ihm Bett.«

Laurie riss sich jetzt endlich mal vom Baby los und schaute ihre jüngere Schwester zweifelnd an. »Du hast ihn nicht wirklich geheiratet.«

»Doch.«

»Isnichwahrisnichwahrisnichwahr.«

»Doch, doch, doch.«

»Wirklichwirklichwirklich?«

»Wirklichwirklichwirklich. Am 4. Juli, wie sich’s gehört, und das ganze verdammte Land hat dazu Feuerwerk gemacht. Und am 28. November haben wir uns wieder getrennt.«

Laurie, die gerade beide Arme hatte heben wollen, um zu jubeln und etwas wie »Juuuuhuuuu, ich freu mich ja so für dich!« zu schreien und ihre Schwester dann zu umarmen und hochleben zu lassen und vielleicht noch mehr, das ihr dann eingefallen wäre, tat plötzlich nichts von alledem. »Waaaaas?«, meinte sie nur. Dann noch mal: »Waaaaaas? Du bist mit Floyd durchgebrannt, in die Versenkung abgetaucht, hast ihn geheiratet und dich wieder von ihm getrennt innerhalb von einem Jahr?«

»Na, hör mal: Du hast dich doch auch mit Sam gefetzt, dass alle dachten, jetzt kannst du nur noch lesbisch werden, und kein Jahr später säugst du plötzlich Sam junior groß und bist auch noch glücklich dabei. Die Schnelligkeit der Umstände ist keine Erfindung des Rock’n’Roll, das gibt es schon seit Adam und Eva.«

»Bist du denn auch ... schwanger?«

»Nö. Nur so ’ne Redewendung.« Karen lachte auf. »Mach dir keine Sorgen, Schwesterchen: Karen wird kein dreiköpfiges Crackbaby zur Welt bringen. Karen passt wenigstens in der Hinsicht immer gut auf sich auf.«

Lauries immer noch skeptischer Blick irrte zwischen Karen und ihrem Koffer her. Sie setzte sich jetzt neben der Krippe in einen sackförmigen Sessel und forderte: »Erzähl. Erzähl mir alles, dann weiß ich wenigstens, ob ich heulen oder lachen oder schreien soll.«

»Viel gibt’s da nicht zu erzählen. Du warst dabei, als ich ihn kennengelernt habe. Wir haben eine ziemlich gute Zeit gehabt, solange es dauerte. Weißt du, ich glaube, alles, was man jemals über Sex mit Rockmusikern gehört hat, ist so ziemlich nicht gelogen. Es ist wirklich ziemlich umwerfend.«

»Aa-ha.«

»Ja. Und ich dachte wirklich ... das ist es, verstehst du? Ich meine, wir zogen rum, hingen ab, wir hatten guten Stoff, und jeden Abend waren wir in einer anderen Stadt, von der ich früher nicht einmal im Traum gedacht hätte, dass es sie überhaupt gibt. Jeden Abend setzten die MBMI kleine lokalpatriotische Bühnen in Brand, und dann machten wir uns wieder aus dem Staub, bevor man uns lynchen konnte. Du hast es ja selbst gerade gesagt: Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sensationell gut entwickelt das Netzwerk von unabhängigen Radiostationen da draußen ist. Jedes Kuhkaff hat seine zwei miteinander konkurrierenden Sender. Das führte dazu, dass wir in jeder Stadt schon wie Helden empfangen wurden, bevor die Band auch nur einen einzigen Ton gespielt hatte.«

»Kaum zu glauben. Hier in Floyds Heimatstadt kann ich das ja voll verstehen. Aber draußen im Land? Im Zeitalter von MTV und so und den Hunderten und Aberhunderten von Bands, die’s gibt. Es ist doch heute schon wirklich verdammt unwahrscheinlich geworden, dass der Junge, der im Supermarkt hinter dir in der Kassenschlange steht, nicht in irgendeiner Band spielt.«

»Stimmt. Aber vielleicht ist genau das der springende Punkt. Die Leute wollen es so haben. Sie sind einfach geil auf Musiker und Schauspieler und Models und all so was. Ich glaube manchmal, am liebsten wäre es den Leuten, wenn es gar keine normalen Menschen mehr geben würde, sondern wenn jeder, dem du begegnest, ein Superstar wäre. Keiner interessiert sich doch mehr für Politiker und Wissenschaftler oder Intellektuelle und all so’n Scheiß. Es geht doch allen sowieso schon dreckig genug. Wer sich mit beschissenen McJobs über Wasser halten muss und überhaupt keine lohnende Perspektive mehr hat, der hat doch echt keinen Bock mehr drauf, sich zu Hause auch noch Sorgen um die Ozonschicht oder die Probleme der Obdachlosen und Schwarzen machen zu müssen. Aber so’n Typ mit ’ner elektrischen Gitarre, der mit seinem staubigen Tourbus in die Stadt geschlingert kommt – der ist wie Jesus zum Anfassen, und für die Kids die heiß ersehnte Ausrede, um wieder mal richtig zu Headbangen.«

»Ich fand es eigentlich ganz schön cool, dass ›Goodbye‹ so ’nen zivilisationskritischen Text hat. Ich dachte, der wird einige Fettärsche ganz schön aufreißen.«

»Ach scheiße. Da hört doch keiner drauf. Floyd selbst hat zu mir gesagt: ›Das ist dieses Bruce-Springsteen-Riff, das die ganzen Arschlöcher zum Wippen bringen wird, dieses Riff, das können sie gerade noch kapieren, also sollen sie es von mir aus kriegen und wie die Seehunde Beifall klatschen‹.«

»Ja, das klingt ganz nach Nobody’s Floyd.«

»Ist der Nobody’s Floyd-Scheiß auch schon bis hierher durchgedrungen?«

»Bis hierher durchgedrungen? Karry, du machst dir echt kein Bild, wie sich hier alles verändert hat. Es gibt schon Nobody’s Floyd-T-Shirts zu kaufen. Selbst Silberman an der Ecke hat welche.«

»Verrrrückt.« Beide lachten, als sie an den alten Silberman dachten, in dessen Laden früher immer nur ausgeleierte Klezmermusik vom Band gelaufen war. »Aber das klingt doch alles nach ’nem Traumleben. Was ist denn dann schiefgelaufen?«

Karen seufzte. Sam junior quengelte und wurde von seiner Mami wieder auf den Schoß geholt.

»Alles. So ziemlich alles lief schief. Na ja, letzten Juli haben wir wie gesagt geheiratet. Ich meine, wir kannten uns da über fünf Monate, was will man mehr verlangen. Wir kannten uns wirklich gut und hatten auch schon einige Ups und Downs hinter uns. Ich wusste auch, dass Floyd irgendwie verrückt war, irgendwie besessen, und dass er auf ganz einzigartige Art und Weise gut war. Jeder, der sich auch nur ein bisschen die Mühe machte hinzuhören, konnte das merken. Aber ich hab mir wohl nicht klar genug gemacht, was das am Ende bedeuten würde. Ich kann nicht mal behaupten, dass es Floyds Schuld gewesen ist. Er ist eben einfach seinen Weg weitergegangen, ohne Gnade, ohne Kompromisse und ohne Gefühle für jemand völlig Nutzlosen wie mich. Der Text dazu stand die ganze Zeit über an der Wand, ich bin nur einfach zu blöd und zu bekifft gewesen, ihn rechtzeitig wahrzunehmen.«

»Karen ...«

»Nein, ist ja schon gut. Ich bin drüber weg. Ich bin ja nicht erst gestern abgehauen. Ich bin schon im November weg, das hab ich dir ja schon gesagt.«

»Und wo warst du die zwei Monate seitdem?«

»Unsichtbar. Überall und nirgends. Floyd hatte mir was abgegeben von dem scheiß Plattenvertraggeld. Ich hab genau das gemacht, was ich sonst auch getan habe, wenn ich mal keinen Bock drauf hatte, mir jeden Abend denselben Gig reinzutun. Ich hab in fremden Städten, fremden Hotels, fremden Bars an der Theke gesessen, hab ein paar Drinks gehabt und mit Cowboys geplaudert. Ich hab das Leben weitergelebt, bis das Geld alle war. So, wie ihr alle mir immer vorgeworfen habt, dass ich bin, so bin ich dann halt auch geworden, da kann man nichts mehr machen.«

Laurie seufzte. »Und jetzt willst du hier unterkommen.«

»Tja. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du und Sam wieder ... und dass du jetzt’n Baby hast.«

»Ich hab versucht, es dir zu schreiben.«

»Hast du schon gesagt.«

»Ja. Und es war verdammt noch mal nicht fair von dir, einfach so abzuhauen. Ich hätte auch deine Hilfe brauchen können, weißt du? Damals, als Sam gerade mit der Anwältin rummachte. Plötzlich warst du auch noch weg, mit deinem Rockstar, und ich blieb ganz allein hier sitzen.«

Das Schweigen, das jetzt entstand, vom Glucksen des Babys betont, war fast körperlich unangenehm. Karen betrachtete die bürgerliche Einrichtung, die bunten Gardinen, die hell gemaserten Schränke, den Tisch, die Audioanlage mit den wuchtigen CD-Ständern links und rechts davon.

»Sieht so aus, als hättest du’s aber wieder gut in den Griff gekriegt. Wann habt ihr denn geheiratet?«

»Ich und Sam? Seh ich so aus, als würde ich jemanden heiraten, von dem ich genau weiß, dass er nicht treu sein kann? Nee, so blöd bin ich nun auch wieder nicht. Wir sind nicht verheiratet und werden’s auch nie sein, wenn’s nach mir geht. Seinen Eltern ist’s egal, und unsere sollen die Schnauze halten. Als du abgehauen bist, haben sie ja auch nichts gesagt.«

»Sie haben nichts gesagt?«

»Wenig«, verbesserte sich Laurie. »Na ja.«

»Sie werden froh gewesen sein, dass ich endlich weg war. Wird ihnen ganz und gar nicht gefallen, dass ich noch nicht an meinen Drogen krepiert bin.«

»Red nicht so ’nen Scheiß.«

»Ist doch kein Scheiß. Wir waren immer Licht und Schatten für sie, du und ich. Tochter Laura kriegt ein kleines Häuschen außerhalb der Stadt geschenkt, damit sie’s nicht mehr so weit bis zur Arbeit hat, und Karen hat ja ihre Drogen und ihre Kerle. So war das schon immer eingeteilt.«

»Niemand hat dich je gezwungen, in unserem Wohnzimmer einen Gang Bang zu veranstalten.«

»Das war kein Gang Bang, verdammt, das hab ich schon tausendmal erklärt. Es war so eine Art Strip-Poker, ganz harmlos.«

»Ganz harmlos, ja. Weißt du was? Am Anfang, als wir beide mit Floyd unterwegs waren und es schon abzusehen war, dass zwischen euch was laufen wird, da hab ich wirklich gedacht, dass Floyd gut für dich ist. Und als du mit ihm abgehauen bist, hab ich das immer noch gedacht. Karry hat das große Los gezogen, hab ich gedacht. Er hat dich da rausgeholt und dir etwas von der Welt gezeigt, dass dir eigentlich den versponnenen Kopf wieder ein wenig gerader gerückt haben müsste. Aber dann ist dir langweilig geworden mit ihm, oder er hat dann gemerkt, dass mit dir nichts einen richtigen Sinn ergibt, und hat Schluss gemacht. Ich kann mir das alles sehr gut vorstellen. Das ist schon immer so gelaufen bei dir.«

»Gar nichts kannst du dir vorstellen. Überhaupt nichts.«

»Weil du nichts Richtiges erzählst, nur Ausflüchte. Wie soll ich mir denn da ein Bild machen? Du liebst ihn, du heiratest ihn, er ist verrückt, er findet dich nutzlos, ihr trennt euch. Und das alles innerhalb eines halben Jahres. Das ist doch Blödsinn. Willst du auch ’ne warme Milch? Ich mach mir eine.«

»Ja, gerne. Soll ich helfen?«

Laurie ging an Karen vorbei in die Küche, Sam junior auf dem Arm. »Das krieg ich schon alleine hin, mach dir darum mal keine Gedanken.« Sie fing an, einhändig in der Küche herumzurumoren, Karen blieb sitzen, die Beine untergeschlagen, mit den Fingern an den Stellen pulend, wo die Sofaknöpfe abgeschnitten worden waren.

»Alles ist anders geworden in diesem halben Jahr«, fing sie leise an. »Als wir ihn kennengelernt haben, da hatte er MBMI gerade frisch gegründet. Weißt du noch? Sie tourten hier in der Umgegend wild herum, aber immer mit Harrisburg als Basis. Die Kreise wurden zwar immer größer, aber wir beide hatten keine Schwierigkeiten, jede Woche einen MBMI-Gig zu sehen und guten Kontakt mit Floyd zu halten.«

»Ja, das war ’ne geile Zeit. Da war Brian Milman noch in der Band. Mein Gott, wenn man uns so reden hört, könnte man meinen, das ist Jahrzehnte her und unsere Jugend liegt so weit zurück. Das war letztes Jahr, Karry!«

»Ja, aber das ist eben doch der Rock’n’Roll. Alles läuft so schnell, läuft so schnell weg. Nachdem ich das erste Mal mit der Band bis nach Scranton rausgefahren bin und übers Wochenende weggeblieben bin, ohne mich bei Ma und Pa abzumelden, hab ich’s zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten.«

»Mann, das war ja auch vielleicht ein Affentheater. Pa hat mich mitten in der Nacht angerufen und Panik geschoben, von wegen dass du vielleicht gerade jetzt, in dieser Sekunde, von Motorradbanden zu Tode vergewaltigt wirst und all so’n Scheiß. Und ich hab nur gesagt: ›Pa, das Mädchen ist achtzehn und volljährig, sie kann jetzt machen, was sie will.‹«

»Und das stimmte ja auch, verdammt. Wofür wird man denn achtzehn, wenn man dann zu Hause immer noch Stress kriegt.«

»’Ne Woche später bist du dann abgehauen.«

»Klar. Wärst du auch an meiner Stelle. Und es war dann echt das Paradies. Februar, März, April, Mai, Juni, New York State, Ohio und Virginia. Wir hatten so ’ne edle Zeit. Brian hat immer für Stimmung gesorgt, und für guten Stoff natürlich auch, und Floyd war so voller ... so voller Kraft und Licht. Man konnte seine Zukunft in ihm leuchten sehen, das ganze Potenzial in ihm. Sie brauchten noch keine zweite Gitarre damals und auch kein Keyboard. Sie waren nur Drum und Bass und Floyds Gitarre und Floyds Stimme, und die Kids liebten uns auf den Konzerten. Klar bekamen wir auch mal Ärger. Brian legte sich fast jedes Mal mit den örtlichen Promotern und den Schuppenbesitzern an und feilschte wie ein Wiesel um mehr Geld, und einmal gab es sogar so ’ne Art Messerduell zwischen Brian und einem Fischfresser oben in Ithaca. Mit Klappmessern sind sie aufeinander losgegangen, und Floyd hat die Gitarre eingepluggt und den Soundtrack dazu live gespielt. Er war so genial. Er ist immer noch genial, aber anders. Es war so eine tolle Zeit. Im Juli dann die Hochzeit, das war das Größte. Und keine zwei Wochen darauf kam dann Utah.«

»Utah? Das ist die blonde Braut, die im Booklet von Ripcage auf dem Zaun balanciert?«

»Ja, genau die. Utah McAllison. Wir lernten sie in Bradford kennen oder in Smethport oder Jamesport oder irgendeinem dieser Kaffs Richtung Eriesee. Floyd war natürlich total begeistert von ihr. Sie hatte einen süßen kleinen Arsch in abgeschabten Wildlederleggins, und sie zog so ein Soloding durch, mit E-Gitarre umgehängt und Mundharmonika. Und Keyboard und Klavier konnte sie natürlich auch spielen und sogar noch’n bisschen Schlagzeug. Floyd und Brian und Halloran blieb die Spucke weg. Da hatte ich natürlich plötzlich ganz schlechte Karten. Ich kann nicht mal zwei Griffe auf der Gitarre halten, ohne dass mir vor Schmerzen die Fingerkuppen wegspringen.«

»Du kannst nicht mal was? Entschuldige, das Gas macht so ’nen Lärm hier.«

»Ich sagte, ich kann kein einziges Instrument spielen. Da hatte ich dann plötzlich schlechte Karten. Und wie sich herausstellte, war Utah nicht nur mit musikalischen Instrumenten gut. Sie war auch mit ihrer Pussy ziemlich virtuos.«

»Floyd hat’s mit ihr getrieben?«

»Sie haben’s alle mit ihr getrieben, wenn du mich fragst. Und schneller als ’n Huhn pickt, war Utah Mitglied der Band.«

»Miststück.«

»Tja. Und danach ging es dann richtig los. Die Musik wurde abgedrehter und gefiel mir nie mehr so gut wie vorher, als sie noch zu dritt gewesen waren. ›Der Sound ist unverwechselbarer geworden‹, sagte man, seit in einige Stücke dieses blöde E-Klaviergeklimper reingenommen wurde. Ihr Mundharmonikaspiel war aber nicht schlecht, das muss man ihr lassen. Sie konnte so dreckig reinschnäuzen in das Teil, dass man dachte, irgendwo hinter der Bühne werden Elefanten abgestochen. Es war ein Heidenlärm, mit immer mehr Blues- und Rhythm’n’Blues-Einsprengseln. Floyd fing jetzt auch an, anders zu komponieren. Er machte sich Gedanken über diese Harmonien und wie sie mit dem Klavier klingen würden und so. ›Goodbye‹ ist in dieser Zeit entstanden, es ist ja schon auf Index One drauf. Hast du Index One mal gehört?«

»Ne. So, hier ist deine Milch. Was soll das sein, Index One?«

»Das ist ein Bootleg, das drüben in Ohio für Furore sorgte. Ist vielleicht nie bis Harrisburg gedrungen, schade. Aufgenommen irgendwo in Mansfield, glaube ich, und zuerst von ein paar Musikfreaks per Audiotape vertrieben. Mittlerweile gibt’s auch schon ein paar CDs davon, ich hab’ in Pittsburgh mal eine gesehen, nachdem ich schon von Floyd weg war. Jedenfalls ziemlich wildes Zeug, trotz Utahs Geklimper und Geschrammel. Floyd hat sich die Seele wundgeschrien wie ein Irrer.«

»So wie auf dem Song ›Sleep‹ auf Ripcage? Uaahhaaahh, den kann ich nie anhören, ohne dass es mir angst und bange wird. Das ist wirklich ein Verrückter, der da singt.«

»Hast du den neuen Chronicle gelesen? Der Kritiker da hat geschrieben, ›Sleep‹ sei ›das furchtbarste, herzzerreißendste Geschrei seit Auschwitz‹.«

»Harter Vergleich. Aber trifft ziemlich gut.«

»Jedenfalls, Index One hatte auch so’n Stoff drauf. Sind zwar glaube ich nur drei oder vier Songs von dann letztlich auf Ripcage erschienen, aber der Rest war auch gut, wenn nicht sogar noch besser, ursprünglicher, nicht ganz so produziert.«

»Ja? Ich finde gerade, dass Ripcage total rau klingt. Das ist AAD aufgenommen, das ganze Ding, und ich finde, das hört man auch. Das knurrt und ächzt und übersteuert ja andauernd. Ich find das ehrlich gesagt ziemlich geil.«

»Stimmt schon. Aber das ist immer noch nichts gegen die Livegigs, die sie früher gemacht haben. Ich war ja schließlich dabei.«

»Ich auch.«

»Aber nicht bei mindestens einhundert.«

»Hundert Gigs. Aaaa-yeah.«

»Tja. Ist ja auch egal. Fest steht jedenfalls, dass Index One den Durchbruch brachte. Mel Sletvik von Loud Chameleon Records hatte das Tape gehört und bot Floyd einen Plattenvertrag an.«

»So was wie ein Demotape haben die Jungs nie gemacht?«

»Nein, das ist ja das Komische dran. Floyd wollte kein Demotape. Er wollte auch keinen Plattenvertrag. Er hatte auch keine Ahnung, dass Index One existierte. Er kam zu dem ganzen Big-Money-Scheiß wie die Nonne zum Dick. Und trotzdem konnte Sletvik ihn kaufen. Nicht mit Geld. Er hat ihm das Studio gezeigt und die Möglichkeiten, die Floyd dort haben könnte. Von da an war Floyd nicht mehr derselbe.«

»Shit.«

»Die Sache mit Utah war schon schlimm genug für unsere Ehe, aber es war etwas, was man verstehen konnte, was man nachvollziehen konnte und worüber man hinwegkommen konnte. Wir hatten auch schon vorher Chicks im Tourbus gehabt, mit denen Halloran und Brian rumgemacht haben. Die Atmosphäre war schon immer sexy auf Tour, und man sieht das auch alles ziemlich locker. Aber plötzlich fing Floyd an, nur noch von der Musik zu reden und sich mehr und mehr von mir zurückzuziehen und so Sachen zu sagen wie ›Seit ich ein kleines Kind war, hab ich von dem und dem Sound geträumt‹ und so – du kannst’s dir denken, so was wie die Windeffekte bei ›Legless Bird‹ und dieser orchesterartige Rückkopplungswahnsinn von ›Market‹ – und ›endlich könnte ich das machen, ich könnte es wirklich wahr werden lassen‹. Er redete immer mehr von seiner Kindheit und führte sich dabei auch immer mehr auf wie ein kleines Kind. Es war echt scheiße, weil er sich auch keinem mehr so richtig mitteilen konnte, außer Utah vielleicht.«

»Na ja, er ist eben Musiker. Irgendwie kann ich das ja verstehen, dass ihn das so begeistert.«

»Na klar. Verstehen konnte ich das auch. Verstehen tu ich das noch immer. Aber Verstehen ist eben keine Basis für Gemeinsamkeit. Man kann jemanden verstehen und dabei doch unendlich weit von ihm entfernt sein. Verstehen bedeutet auch nicht, dass man mit jemandem reden kann. Gerade weil ich ihn verstand, musste ich halt akzeptieren, dass wir eigentlich nichts gemeinsam hatten außer unseren Sex, dass es eigentlich nichts gab, worüber ich mit ihm reden konnte oder er mit mir. Es war schlimm. Es war richtig schlimm. Aber ich war seine Frau, Laurie. Ich hatte ihn geheiratet, und egal was du und unsere Alten je über mich gedacht haben, ich habe sehr wohl einen Sinn für Verantwortung und Verpflichtungen. Ich beschloss, bei ihm zu bleiben. Wir begannen nach nicht einmal zwei Monaten Ehe, das Leben von Leuten zu führen, wo der Mann arbeiten geht und die Frau versucht, ihm ein schönes Weibchen-Zuhause zu bieten, damit er sich für den nächsten harten Arbeitstag regenerieren kann, und über alles Mögliche wird dahergeplaudert, nur die Arbeit, das Wichtigste im Leben dieses Mannes, bleibt als Gesprächsthema tabu.«

Laurie lächelte und streichelte ihrer Schwester das Haar. »Denk bitte nicht, dass ich dich auslache, weil ich grinsen muss. Das ist wirklich ätzend, was du da erzählst, aber ich wünschte manchmal, bei uns wäre das auch so. Sam kommt nach Hause und plappert und plappert über seine verdammte Baustelle und wem heute wieder ein Stein auf den Fuß gefallen ist und wie gut sie im Terminplan liegen und den ganzen Mist und – mein Gott, es interessiert mich dermaßen überhaupt nicht, was er dort treibt, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Floyd und seine Musik, das wäre wenigstens etwas Kreatives gewesen, etwas Spannendes. Nicht nur Zement und Aushub und Ärger mit der Glaserei.«

Karen lächelte jetzt auch. »Na ja. Musik ist auch nicht so romantisch, wenn man erst mal drinsteckt. Da geht’s dann auch nur um Regler Sieben und darum, warum die Bässe links nicht vollfett kommen, das ist auch weit entfernt vom typischen Bob-Dylan-Bild ›Ein-Mann-und-ne-Gitarre-und-los geht’s.‹«

»Da hast du wahrscheinlich recht. Ich kenn mich da eben nicht so aus.«

»Das ist aber auch alles gar nicht so wichtig. Was ich ihm nicht verziehen habe, was ich ihm wirklich nicht verzeihen konnte, war, dass er Brian rausgeschmissen hat.«

»Stimmt, ich hab mich schon gewundert, warum sie auf Ripcage ’nen neuen Drummer haben.«

»Das war Sletviks Idee. Oder besser gesagt: Das war Sletviks Bedingung. Brian war nun mal’n Chaot, immer in irgendwelchen Ärger verwickelt und ein ziemlich heftiger Junkie noch dazu. Sletvik sagte: ›Entweder Milman fliegt, oder ihr könnt die Sache mit dem Deal vergessen.‹ Floyd wusste erst gar nicht, was er tun sollte und wollte Brian erst halten, aber schließlich hatte er ja schon ’mal vor MBMI eine Band aufgelöst, und es bereitete ihm auch jetzt keine großen Schwierigkeiten. Elf Tage später war der neue Mann gefunden, und Brian stand auf der Straße und heulte.«

»Das ist traurig. Ich konnte Brian gut leiden. Ich hätt’s sogar fast mal mit ihm gemacht, aber er war zu stoned.«

»Ich mochte ihn auch.«

Die Schwestern hingen beide für kurze Zeit ihren unterschiedlichen Gedanken an den hageren, stets unrasierten Brian Milman nach.

»Der neue Drummer ist aber auch sehr gut«, lenkte Laurie schließlich ein.

»Er ist viel besser als Brian, kein Zweifel. Das ist ja auch nicht das Problem. Nick Denning war schon vierzig, als er zu MBMI stieß, und er hatte fast zwanzig Jahre lang weltberühmte Jazzmusiker auf Europatourneen begleitet. Er ist ein verdammtes Drum-Genie, und Floyd verliebte sich sofort in ihn. Das ist ja alles cool. Aber trotzdem war das eben der Punkt, wo das plötzlich keine Rolle mehr spielte. Brian war nicht der beste Drummer der Welt, und er war auch wirklich ein Unglücksrabe und einer, der Schwierigkeiten anzieht, aber er war ein Freund, er war überall dabei gewesen, er hatte meinen Brautführer gemacht, und er hätte der Pate unserer Kinder werden sollen. Halloran kannte ihn schon seit der Kindheit, und auch Hall hatte keine Schwierigkeiten damit, sich von ihm zu trennen. Es war einfach kalt und gemein, das Ganze. Mit Denning an den Drums, sich selbst als Frontmann, dem coolen Halloran am Bass und der schnuckeligen Utah an allem anderen hatte Floyd nun plötzlich eine Band, die auch von der Substanz her das Zeug hatte, alle anderen vom Sockel zu stoßen und den absoluten Megastar-Status zu erreichen, aber diese Band hatte eben auch keine Seele mehr. Sie waren bereits jetzt so kalt und plastikmäßig geworden, wie man das von Superstars her kennt. Zynisch auf Erfolg fixiert. Mel Sletvik rieb sich die Hände, zwei Wochen später sprang auch noch das Arschgesicht Wayland Donelli an Bord, und Brian und ich mussten leider draußen bleiben.«

»Wayland Donelli?«

»Steht bei den Ripcage-Credits unter ›Management‹. Ist somit der Mann, der wohl deine Briefe an mich nicht weitergeleitet hat, so ein Schweinesack. Hat von Musik noch weniger Ahnung als dein kleiner Sam junior hier, ist aber eine ganz große Nummer im Vermarkten.«

»Ich werde vermarktet, also bin ich.«

»Genau. Jede Band, die einen Plattenvertrag hat, braucht auch einen ordentlichen Manager, sonst sind die ganzen Promo-Gigs und Touren und Interviews und Video-Drehs wohl nicht mehr unter einen Hut zu bringen.«

»Mann, ich hab immer ganz naiv gedacht, das ist nur bei den großen Plattenfirmen so. Loud Chameleon Records ist doch ein Indie-Label, oder etwa nicht?«

»Schon, aber das macht heutzutage ja keinen Unterschied mehr. Da die erfolgreichsten musikalischen Trends des letzten Jahrzehnts ausnahmslos alle von Indie-Labels ausgegangen sind, verwalten die sich alle heute genauso wie die großen, denn jedes von ihnen will im Grunde doch nur das Nächste sein, das den ganz großen Hype auslöst.«

»Traurig. Der alte Indie-Spirit ist also dahin.«

»Na ja. Vielleicht gibt es ja noch ein paar verrückte, wirklich non-profit-orientierte und nur idealistische Firmen irgendwo da draußen, Loud Chameleon und Sletvik jedenfalls gehören nicht dazu. Schließlich haben die auch Lizard Soul groß rausgebracht.«

»Stimmt. Die Scheibe von denen habe ich auch irgendwo hier rumliegen.«

»Und? Ist doch eigentlich Scheiß-Musik, oder?«

»Na ja, nicht besonders toll, das stimmt schon ...«

»Hm-m. Aber astrein verkauft. ›Listen to the Soul.‹ Sletvik. Dieser berühmte Spruch auf der Ripcage-Anzeige, ›Fuck Your Right to Remain Silent‹ – auch Sletvik. Hat MBMI gut geholfen, so ein Motto. Haben die Kids gleich yehyehyeah geschrien.«

»Und Nobody’s Floyd? Ist das auch auf Sletviks Mist gewachsen?«

»Nee, Nobody’s Floyd ist ein Original-Floyd, einem der ersten großen Interviews mit ihm entnommen. Das war noch vor der Plattenveröffentlichung, kurz nachdem ›Goodbye‹ rauskam. Aber die Sache mit dem HalbEngel-Foto, das war noch eine große Idee von Sletvik.«

»Das Ding hab’ ich als Poster, hab’ ich dir ja schon erzählt. Das sieht nuuuuur genial aus. Ich dachte, das sei Boscos Idee gewesen. Der ist doch berühmt für so was.«

»Klar war es Boscos Idee. Aber es war halt Sletviks Dreh, für eine Band, die noch nichts veröffentlicht hat, schon Aufnahmen beim berühmtesten und besten Musikfotografen Amerikas machen zu lassen. Da hat er mächtig Kapital reininvestiert. Er war halt ungeheuer überzeugt von MBMI, und so wie’s aussieht, kriegt er das ja auch vielfach zurück. Als die Single ›Goodbye‹ rauskam, war MBMI schon ›die Band mit den Bosco-Fotos‹ und ›die HalbEngel-Band‹, dazu noch der coole komplizierte Bandname, und das Album verkauft sich wie verrückt.«

»Platz 14 jetzt in der dritten Woche, steht in meiner neuen Programmdisc, und immer noch steigend, das ist wirklich der Wahnsinn. Und ›Goodbye‹ war als Single auch unter den Top Twenty. Ich sage ja, Floyd ist zur Zeit Harrisburgs größter Held. Wenn er sich jetzt hier sehen lassen würde, würde man einen Straßenumzug zu seinen Ehren veranstalten.«

»Platz 14 in den LP-Charts, das ist wirklich unglaublich. Das ist das ganz große Geld. Da kannst du mal sehen. Bosco, die geschickte Promotion von Donelli, die eine gute Single und ein bewusst sparsames Video mit gutaussehenden Musikern – das reicht schon. Mehr hatte keiner je von MBMI gehört oder gesehen, und trotzdem rennen die Leute hin und kaufen’s, weil sie panische Angst haben, das nächste Nirvana-Ding zu verpassen.«

Sam junior, der bisher selig an Lauries Schulter geschmatzt hatte, fing jetzt an zu nörgeln. Mit einem keinen Widerspruch zulassenden »Nimm ihn mal kurz« legte Laurie ihrer Schwester das Baby in die Arme und ging wieder in die Küche, um das Fläschchen fertigzumachen. Die beiden leeren Milchtassen nahm sie mit und spülte sie aus.

»Und zwischen dir und dem HalbEngel war dann irgendwann nichts mehr zu retten«, stellte Laurie aus der Küche fest.

»Stimmt«, meinte Karen, die den kleinen und warmen, aber doch erstaunlich schweren Babykörper ungeschickt umklammerte, damit nichts passieren konnte. Sam junior quengelte weiter und patschte auf Karens Ohr herum. »Floyd verbrachte seine Zeit jetzt lieber mit Utah oder mit Nick oder mit Donelli als mit mir. Es gab ja so viel zu besprechen, so viel zu planen und so viel zu tun, und gerade beim Gitarre spielen ist ein Ring am Finger ja eher hinderlich. Und als er dann auch noch The Pope kennenlernte, war es ganz aus.«

»The Pope? Den Papst?«

»Fred Christie, genannt The Pope. Das ist der Typ, der Ripcage produziert hat. Er war gerade in den Overripe-Studios dabei, das neue Album von Lizard Soul zu produzieren, als MBMI dort einfielen, um ihre zwei Wochen Studiozeit voll auszunutzen. Der Rest ist ja wohl Legende. The Pope hörte Floyd im Nebenraum proben, ließ die Lizard Soul-Produktion sausen und übernahm stattdessen die Regler für Ripcage. Deshalb ist die lange angekündigte Nachfolgescheibe von Lizard Soul immer noch nicht fertig, und MBMI sind jetzt der große Abräumer. Und so ist die mit Ausnahme einer einzigen Single noch völlig unbekannte Nachwuchsband MBMI dazu gekommen, von einem der legendärsten Produzenten der ganzen United States bearbeitet zu werden. ›Der Bessere hat eben gewonnen‹, sagt die Legende weiter, und ›Verdrängungswettbewerb‹, meint die Legende schulterzuckend. Ich persönlich glaube aber, dass die Legende lügt. Utah hat dem Pope ein bisschen am Dick rumgelutscht, da konnte er dann wohl nicht mehr ablehnen.«

»Meinst du echt? Sie hat sich Casting-Couch-mäßig verkauft?«

»Ich bin mir ziemlich sicher. MBMI sind gut, aber nicht so gut, dass ein Pope bestehende Verträge bricht und in unbekanntes Wasser springt, mit der Gefahr, sich total zu blamieren.«

»Aber er hat sich ja nicht blamiert. Ripcage ist ein viel größerer Erfolg geworden als damals die Debüt-CD von Lizard Soul. Und jetzt sind MBMI das große Aushängeschild von Loud Chameleon.«

»Tja. Aber wahrscheinlich nur dank The Pope. Floyd ist ein großartiger Gitarrist, und singen kann er auch ziemlich gut, aber von Studiotechnik hat er doch überhaupt keine Ahnung. Sicher, er wird die Sound-Ideen geliefert haben, er hat mir ja auch schon vorher davon erzählt gehabt, aber The Pope war eben derjenige, der wusste, wie man diese Träume auch wirklich akustisch wahr machen kann. Ohne dieses Know-how hätte das Ganze nichts werden können.«

Laurie kam mit der Nuckelflasche aus der Küche zurück, amüsierte sich rücksichtslos über Karens verkrampfte und völlig falsche Haltung, nahm Sam junior wieder an sich und gab ihm das Fläschchen. Sam schmatzte und rieb die Handflächen gegeneinander wie ein altgedienter Feinschmecker, der im Restaurant schon viel zu lange warten musste und endlich sein Menü bekommt.

»Du gibst ihm nicht die Brust?«

»Bah, neee. Meine Titten sind wahrscheinlich nach vierundzwanzig Jahren Leben in Harrisburg gefährlichere Giftbehälter als irgendwelche Brennstabkästen im Endlager. Das kann ich so einem kleinen Kerl nicht zumuten. Man weiß zwar auch nie, was in dem Glasfraß so drin ist, aber es ist wenigstens abgekocht.«

Karen nickte traurig. »Es ist eine beschissene Welt geworden.«

»Das kannst du laut sagen. Es gibt wohl niemanden, der das deutlicher mitkriegt als eine frischgebackene Mutter. Worauf man heutzutage alles zu achten hat, ist wirklich kaum zum Aushalten. Und bis gerade eben dachte ich in meiner unglaublichen Dummheit, dass wenigstens Musik dazu da ist, Freude ins Leben zu zaubern. Aber es scheint ja auch nur ein Hurengeschäft zu sein.«

»Tja. Sie sind echt alles Nutten, die ganze Band. Nutten für Erfolg. Bei Utah sagt man Nutte, weil sie sich was in die Pussy stecken lässt, aber das, was Floyd getan hat, ist eigentlich noch viel schlimmer. Er hat sich die Seele ficken lassen.«

»Und wie ging’s zu Ende? Gab’s wenigstens einen anständigen Krach, oder hat sich’s nur totgelaufen?«

»Hat sich nur totgelaufen. Hat sich dabei aber noch unnötig in die Länge gezogen. Da du nicht verheiratet bist, kannst du dir gar nicht richtig vorstellen, wie lange einem ein halbes Jahr vorkommen kann. So, als würde es die übrigen achtzehn Jahre des Lebens an Gewicht völlig aufwiegen. Zwei Wochen sind sie im Studio gewesen, Tag und Nacht, da hab ich von Floyd schon gar nichts mehr zu sehen gekriegt. Danach noch die Post-Production, Floyd und The Pope unter einer Decke, echt. Dann im Oktober ein paar Promo-Gigs in der Nähe von Cleveland, Termine für die Presse, Fotosessions und der ganze Mist. Wenigstens haben sie es abgelehnt, sich noch irgendeine besondere Art von Bühnenkluft auf die Leiber schneidern zu lassen von irgendeinem In-Couturier. Na ja. Dann haben sie in der ersten Novemberwoche das ›Goodbye‹-Video gedreht, in einem verfallenen Gaswerk in Elyria. Wieder Post-Production, das Unterlegen von ein paar Tierbildern aus alten Lehrbüchern und so, du kennst ja das Video.«

»Klar. Heavy Rotation.«

»Dann das sogenannte Launching des Videos, also Klinkenputzen und Präsentieren, alles unter Donellis Fittichen. Anfang November kamen dann Single und Video gleichzeitig raus und drängelten sich in den Charts erschreckend weit nach oben. Den ganzen Monat wurde da nur noch verhandelt und geplant und gediest und gedast, aber keine Musik mehr, keine Gigs. Keine Drogen, klare Anweisung von Donelli. Und siehst du die kleine Karen hier irgendwo? Spielt sie noch irgendeine Rolle in dem ganzen Zirkus? Kriegt sie ihren Ehemann noch irgendwann mal zu Gesicht, geschweige denn fällt es ihrem Ehemann überhaupt auf, dass er sie nicht mehr zu Gesicht kriegt? Nein. Fehlanzeige. Keine Karen mehr. Wenn ich nicht so träge wäre, hätte ich auch schon zwei Monate vorher abhauen können, genauso wie ich von zu Hause hätte abhauen sollen, als ich fünfzehn oder sechzehn war. Ich bin einfach weg, am 28.November, an das Datum kann ich mich noch genau erinnern, und ich gehe jede Wette ein, dass Floyd bis jetzt noch überhaupt nicht gemerkt hat, dass ich nicht mehr da bin.«