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Alexander Weiland war bisher immer ein braver Mensch, welcher sich an alle Regeln und Gesetze gehalten hat. Eines Tages gerät er von diesem Weg ab und entwickelt sich zu einem modernen Robin Hood, der kriminellen Subjekte bekämpft, sich deren Vermögen aneignet und diese an bedürftige verteilt. Als alleinerziehender Vater ist es für ihn gar nicht so einfach, seine Taten vor seiner Tochter und seiner neugierigen Mutter geheim zu halten. Ein Spagat zwischen bürgerlichem spießigem Leben und einer sich schnell entwickelnden kriminellen Karriere wird mit den Problemen gespickt, welche es spontan und kreativ zu lösen gilt. Er kämpft mit seinem Gewissen, überwindet seine Ängste und nimmt es mit Autoschiebern, Drogendealern, Clan-Größen und einem korrupten Richter auf. Er weiß, dass es falsch ist, was er tut, jedoch fühlt es sich gut an.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Alexander Kocks
Halbheld
Ruhrkrimi-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Alexander Kocks
© 2024 Ruhrkrimi-Verlag
Taschenbuch: ISBN 978-3-947848-89-8
Auch als eBook erhältlich
Originalausgabe /01/2024
Titelbild: © Julia Schnabel-Clever
Alle Personen, Namen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alexander Kocks, geboren 1979 in Mülheim an der Ruhr und nie dort weggezogen. Alleinerziehender Vater und glücklich geschieden. Arbeitet als Prozessbetreuer in der Marktfolge einer großen Genossenschaftsbank.
Nebenbei ist er politisch aktiv bei den Freien Wählern und künstlerisch im Bereich Upcycling unterwegs.
Die Inspiration für das Buch bekam er von diversen Serien und Filmen aus dem Heist-Genre.
Vorwort
Ihr fragt euch, was ein Halbheld ist? Ihr werdet und wollt es wahrscheinlich nie herausfinden.
Ihr möchtet so ein Leben führen wie im Film, so ein bisschen Superheld sein und den Bedürftigen helfen? So wie das A-Team in den 80ern? Ihr findet das spannend und denkt, dass ihr damit die Welt verändern oder sogar retten könnt? Bullshit, das Einzige, was sich ändern würde, ist euer Nervenkostüm und euer Schlafrhythmus.
Wenn ich so zurückdenke, fing es nach meiner Scheidung an. Eigentlich wollte ich darüber ein Buch schreiben. Einen Titel hatte ich schon: »Botanisches Gemetzel - Rosenkrieg für Fortgeschrittene«.
Nach der Trennung und dem Scheidungs- und Sorgerechtskrieg ging es eigentlich immer weiter aufwärts.
Kim, meine Tochter und ich lebten glücklich und zufrieden mitten im Ruhrgebiet.
Beruflich war auch alles im grünen Bereich. Ich war Mitarbeiter in der telefonischen Beratung einer mittelgroßen Privatbank. Eigentlich perfekt. Nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit, war auch nicht andauernd ein Chef hinter mir, der mich nervte und mir Vorträge hielt, dass ich zwei Minuten früher gegangen war. Man hatte seine Freiräume.
Das Problem in diesem Job war, dass man mit Menschen zusammenarbeitete. Sowohl Chefs und Kollegen. Na ja, die gingen ja noch, aber die Kunden. Unfassbar, dieses verwöhnte Pack, diese arroganten Blödmänner, die wegen einer kleinen Gebühr direkt die Welle machten. Verdienten mehr als der Bundespräsident und heulten, wenn es ab 500.000 Euro keine Zinsen mehr gab. Ja, so schlecht ging es ihnen noch nie. Manchmal wollte man da echt sagen: Du arroganter Blödmann, hast noch nie im Leben richtig gearbeitet, hast alles auf Papis Kosten finanziert.
Das waren die Gleichen, die sich darüber aufregten, dass Rentner in der Innenstadt von Mülheim die Papierkörbe nach Pfandflaschen durchwühlten. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Die Arroganz und Hochnäsigkeit der Kunden war kaum noch zu ertragen.
Und es kam, wie es kommen musste: Eines Tages stand der Vorstandsvorsitzende im Großraumbüro. Er teilte uns mit, dass die telefonische Beratung der Bank in zwei Jahren komplett von einer Tochtergesellschaft übernommen werde. Bis dahin werde niemand mehr eingestellt. Die bestehenden Mitarbeiter werden dann voraussichtlich in anderen Bereichen untergebracht.
Ganz großes Kino! Die schrumpfende Motivation und der Frust waren omnipräsent und immer mehr spürbar. Ich wusste, ich musste mich anderweitig umschauen und die Augen offenhalten musste.
Aber es kam ganz anders als gedacht ...
Nicolai
Den Anfang von allen aus der Zielgruppe X machte der Osteuropäer Nicolai C.
Es war ein Freitagmittag, kurz vor Feierabend. Die Mitteilung, dass unser Team bald nicht mehr da sein wird, hing mir noch in den Knochen. Ich spielte mit dem Gedanken, früher Schluss zu machen, um ein paar Sachen zu erledigen, damit ich das Wochenende komplett für Kim hatte. Bevor ich mich aus der Hotline ausklinken konnte, klingelte es. Ich verdrehte die Augen und ein leises »Verdammt« kam über meine Lippen.
Okay, den einen machst du noch, dachte ich, dann ist es genug für heute. Hoffentlich nur einer, dem ich sein Onlinebanking freischalten soll, das geht fix.
»Nicolai Cvetibrovic hier. Ich mal brauchen deinen Rat.«
Anstatt ihm direkt einen Deutschkurs an der Volkshochschule zu empfehlen, sagte ich wie immer ganz freundlich: »Was kann ich denn für Sie tun?«
»Ich weiß nicht, ob du korrekte Ansprechpartner für meine Anliegen bist.«
»Worum geht’s denn? Dann kann ich Ihnen schon sagen, ob ich der Richtige bin.«
»Ja, okay, geht halt um Geld.«
Bei solchen Antworten musste man ganz ruhig bleiben, um nicht zu sagen: Och Geld ist gerade schlecht, aber wir haben glutenfreies Vollkornbrot und grandiose Filzpantoffeln für Herren im Sortiment.
»Mach ich jeden Tag. Kredite, Geldanlagen, Zahlungsverkehr. Ich kann alles. Sind Sie schon Kunde bei uns?«
»Klar ich bin Kunde, schon total lange.«
Nachdem ich ihm die Kontonummer und sein Kennwort aus der Nase gezogen hatte, kam er dann endlich mit seinem, ich nenne es mal »Wunsch«.
»Ja, pass auf, ich will 150.000 irgendwie anlegen.«
Ich entgegnete ihm mit meiner antrainierten Grundskepsis, die sich bei solchen Fragen direkt aufbaute: »Och, da gibt es einige Möglichkeiten, wie man Summen in der Höhe gewinnbringend anlegen kann.«
»Hey, weißt du, Geld ich hab, aber in bar und das soll nicht so direkt über Girokonto gehen.«
Manche Menschen sind einfach nur dämlich. Meint der wirklich, ich helfe ihm, seine Kohle zu waschen? So ein Vollidiot. Aber dieser verdammte Vollidiot hat wahrscheinlich 150.000 Euro und weiß nicht wohin damit.
Ich breche mir hier jeden Tag ´nen Ast ab und der ... Ach du Scheiße, der ist gerade mal 22, dachte ich, als ich die Kundeninfos aufrief. Das konnte doch nicht sein.
Ich musste irgendwie ruhig bleiben und mir irgendwas für ihn ausdenken, um ihn hinzuhalten. »Ach wissen Sie, ich hab da einen Kumpel im Bereich Aktienfonds. Ich werde mal mit ihm reden, was er empfehlen würde. Ist halt nicht ganz einfach, wenn das in bar abzuwickeln ist. Ich habe Ihre Daten. Ich melde mich spätestens Montagmittag mit einer tollen Lösung. Heute erreiche ich keinen mehr.«
»Ey super, danke vielmal und schöne Wochenende.«
»Bis Montag.«
Ganz großes Kino! Jetzt muss ich noch mit dem Geldwäschebeauftragten von der Bank sprechen und alles per E-Mail protokollieren und weiterleiten. So eine Scheiße. Also doch wieder nicht früher frei.
Während ich versuchte, den Geldwäschefuzzi zu erreichen, schossen mir einige Gedanken durch den Kopf. Und das alles wegen so einem Arsch, der mit irgendwelchen krummen Geschäften richtig absahnt. Selbst wenn wir das an die Polizei weiterleiten, wird es im Sande verlaufen. Der wird alles leugnen. Die Gespräche werden hier nicht aufgezeichnet. Aussage gegen Aussage. Wenn das vor Gericht geht, zieht er den »Mein-Name-ist-Hase-Joker« und ich bekomme dann noch einen auf den Deckel.
Es klingelte immer noch. Na ja, Freitag 14 Uhr. Die waren schon alle im Garten und grillten. Faules Pack überall. Ich glaubte, ich war der Letzte in dem ganzen Laden. Also legte ich auf.
Ich bin doch nicht bescheuert und werde mir das Wochenende versauen wegen so eines Autoschiebers oder Drogenhändlers, oder was weiß ich womit der so verdammt viel Kohle gemacht hat. Nein, nicht wegen so eines Rotzlöffels ... der könnte mein Sohn sein. Als mir das alles durch den Kopf ging und ich versuchte, mich zu beruhigen, klingelte mein Telefon erneut. Der Geldwäschebeauftragte war wohl doch noch im Büro und hatte meine Durchwahl gesehen. Verdammt, was sage ich dem jetzt? Ich will nach Hause.
»Hallo Herr Gassner, was kann ich für Sie tun?«
»Hallo Herr Weiland, das wollte ich Sie fragen, Sie haben doch gerade bei mir angerufen.«
»Nein, ich wollte zur Kredit-Sachbearbeitung wegen einer Grundschuld, da hab ich mich wohl verwählt.«
»Sie müssten doch eigentlich wissen, dass die sich freitags pünktlich um 13 Uhr auf den Weg ins Wochenende machen. Wir sind wahrscheinlich die beiden Letzten in dem ganzen Laden hier.«
»Da könnten Sie recht haben. Schönes Wochenende wünsche ich Ihnen.«
»Ihnen auch, danke und bis bald.«
»Tschüss.«
Na ja, da hatte ich mich wohl geirrt, was seine Arbeitsmoral anging.
Verdammt noch mal, was mach ich jetzt mit dem Verbrecher? Ich will nach Hause, muss das aber eigentlich melden, damit die ihren Bürokratie-Mist ins Rollen bringen können. Was allerdings nichts bringen wird, weil er sowieso keine Strafe bekommen oder irgendwie zur Rechenschaft gezogen wird. Nun gut, dann schau ich mir den Heini mal an.
Wenn man sich zehn Jahre lang fast jeden Tag endlos viele Konten angeschaut hatte, konnte man irgendwann Konten lesen. Getreu dem Motto: Zeig mir deinen Kontoauszug und ich sag dir, wer du bist.
Bisher war ich der Typ Mensch, der sich immer an Gesetze gehalten hatte. Mal abgesehen von der Geschichte mit Pamela Anderson beziehungsweise mit den Postern, die damals an den Haltestellen ... ihr wisst, was ich meine. Ich kann doch nicht zulassen, dass ein äußerst dämlicher Krimineller, die Kohle behält und wahrscheinlich irgendwann für noch mehr kriminelle Sachen ausgeben wird. Der kann eh nicht mit Geld umgehen, so wie der mit dem Arbeitslosengeld ... ich glaube es ja nicht ... da steht wirklich in seinen Umsätzen, dass er von der Stütze lebt. Der will mich wohl verarschen.
»Nix da Kollege, die Tour vermassele ich dir«, flüsterte ich leise vor mich hin. Ich wusste zwar noch nicht wie, aber das würde schon werden, so dämlich, wie der war.
Scheiß auf den freien Nachmittag. Den werde ich zu meiner Weihnachtsgans machen. Aber dafür brauche ich noch ein paar Informationen, die nicht im Konto stehen.
Ich griff zum Hörer und wählte seine Nummer. »Ja, Weiland hier noch mal von der Magellan-Bank. Ich brauche da noch ein paar Informationen bezüglich der Geldanlage. Haben Sie gerade noch mal zwei Minuten Zeit?«
»Ah gut, wenn es geht um Geld, muss man sich die Zeit nehmen. Was willst du wissen?«
»Prima, danke. Ich habe meinen Kumpel vorhin noch erreicht und er hat mir gesagt, dass er das mit dem Bargeld nur noch macht, wenn Sie das Geld in großen Scheinen haben.«
»Ne, ne, ne, alles in 500er. So eine kleine Zettel nehme ich nicht. Auto-Verkauf in Osten muss gehen schnell. Da hat man nicht viel Zeit für Zählen.«
»Hi, hi, das glaube ich. Außerdem passt das nicht alles in ein Schließfach oder in einen Safe.«
»Schließfach bei deiner Bank sind alle vermietet und anderes Bank will haben 100 Euro im Jahr. Alles Halsschneider«
Da hatte man wieder das typische Beispiel für einen Geizhals. Nur, dass dieser Geizhals viel dämlicher war als die anderen.
»Bei so viel Geld muss man vorsichtig sein. Haben Sie das Geld auf Falschgeld überprüft?«
»Natürlich, ich bin doch nicht blöd. Kann man in Osteuropa nicht trauen Verkäufer, aber auch nicht Käufer. Ich mir gekauft so Geldlampe mit schwarzes Licht für testen.«
»Okay, wie sieht das mit der Verfügbarkeit aus?«
»Was meinst du?«
»Wenn das Geld angelegt wird, kann es sein, dass es sechs bis acht Wochen dauern kann, bis Sie das wieder bekommen ... eventuell gibt es auch eine sechsmonatige Kündigungsfrist. Kommt ganz auf die Risikobereitschaft an.«
»Halbes Jahr warten bis Geld kommt zurück? Nein, nix sowas. Am besten auf so Tagesgeld. Habe ich gesehen im Internet mit 2,5%, war aber andere Bank nicht deine.«
»Ja, bei einer Online-Bank, die seit zwei Monaten am Markt ist und außerdem, wie sollen die 500 Euro-Scheine dahin kommen? Per E-Mail einzahlen? Das wird schwierig bei Ihnen. Ich mach mir da mal Gedanken am Wochenende.«
»Ja, lass dir Zeit, gute Dinge brauchen Zeit. Ruf mich an einfach nächste Woche.«
»Alles klar, ich melde mich. Schönes Wochenende.«
»Schönes Wochenende für dich. Ach und wenn du brauchst Auto, ich kann dir besorgen alle Marken.«
Klick.
Ich schaute mich um und sah ... nix ... niemanden. Alles leer, ein Großraumbüro nur für mich.
Gut, dass das Gespräch keiner mitbekommen hatte. Das hätte mich den Job gekostet.
Ich musste zwar ab und zu bei manchen Kunden die Wahrheit ein bisschen, sagen wir mal, dehnen. Dem konnte ich echt einen vom Pferd erzählen. Ich hatte schon irgendwie ein schlechtes Gewissen. Aber mal im Ernst, der schrie doch danach, dass man ihm sein Geld wieder abnahm.
So, jetzt wurde es aber Zeit. Schnell noch alle Daten von dem Heini vom Bildschirm abfotografieren und dann ab nach Hause. Warum ich den Kram nicht einfach ausgedruckt habe? Hier wird jede Eingabe und jeder Klick gespeichert und protokolliert. Habt ihr schon mal einen Einbrecher ohne Handschuhe gesehen? Dann aber schnell die Kleine von der Schule abholen.
Normalerweise hatte ich freitags immer rund zwei Stunden Puffer, bevor ich Kim von der Nachmittagsbetreuung abholte, aber dieses Mal war keine Zeit mehr für Einkäufe und Besorgungen. Ich musste mich echt beeilen. Eigentlich war sie mit neun Jahren mehr als groß genug, um alleine nach Hause zu gehen, aber ich war da ein bisschen altmodisch und vielleicht ein wenig Über-Papa, der immer auf sein kleines Mädchen aufpassen wollte.
Nachdem sie sich von den Betreuerinnen und ihren Freunden verabschiedet hatte, so, als sähen sie sich monatelang nicht, ging es auch schon ab ins Wochenende.
Aber so wirkliche Freude konnte ich bei ihr nicht sehen. Sie schaute ein wenig bedröppelt vor sich hin. Ich wusste sofort, dass was nicht stimmte. Während wir uns ins Auto setzten und uns anschnallten, fragte ich sie, was los sei. Natürlich kam die Antwort: »Ach nix.«
Ich steckte den Zündschlüssel ins Schloss, drehte ihn aber nicht um. Und dann wartete ich, während sie aus dem Beifahrerfenster starrte.
»Willst du nicht langsam losfahren?«, fragte sie ein wenig genervt.
»Du weißt doch mittlerweile, wie das läuft. Ich weiß, dass dich etwas bedrückt und ich fahre nicht eher los, bis du mir gesagt hast, was los ist. Du wirst erst noch mal sagen, dass alles gut ist. Aber du weißt, dass ich riechen kann, wenn was nicht stimmt. Gute Väter können das. Irgendwann, nach langem Schweigen, ist deine Geduld zu Ende und du erzählst mir dann doch was dich bedrückt. Also rück am besten direkt mit der Sprache raus, ich habe Hunger.«
»Boah Papa.«
Ich schaute sie an und zog dabei die Augenbrauen hoch.
»Okay, du hast gewonnen.«
Ein leichtes Grinsen meinerseits konnte ich nicht unterdrücken.
»Es geht um die Klassenfahrt nächsten Monat. Du weißt doch, dass der Papa von Veronika seine Arbeit verloren hat und jetzt kann sie nicht mit auf Klassenfahrt, weil das Geld nicht reicht.«
»Das ist echt doof, aber kann die Schule da nichts machen? Über den Förderverein oder die Klassenkasse? Ich rede nachher mal mit Veronikas Mutter und am Montag mit der Lehrerin. Ich bin doch nicht umsonst Pflegschaftsvorsitzender.«
Gerade als ich diesen Satz aussprach, hielt neben mir ein SUV der Oberklasse ziemlich nah an meiner Tür und ich dachte wieder an den Heini, der mir den Feierabend versaut hatte. Der machte sich um so einen Mist keine Gedanken. Die 300 Euro für die Klassenfahrt zahlte der aus der Portokasse.
»Mein Kind, mach dir keine Gedanken. Dein Vater wird schon dafür sorgen, dass deine beste Freundin mit auf Klassenfahrt kann.«
»Danke Papa.«
Freitag war einer der wenigen Tage, an dem wir bei Oma und Opa aßen und uns die neusten Wehwehchen und die neuesten Infos aus der Nachbarschaft anhörten. Eigentlich wussten wir alles schon, aber man hörte ja anstandshalber zu und tat interessiert.
»Und? Schmeckt es euch denn?«, fragte Oma und ich erwiderte grinsend, fast schon sarkastisch: »Wie immer!«
Natürlich sagte ich es so, dass es positiv rüber kam und sie dachte, dass es gut schmeckte. Allerdings schmeckte es halt wie immer. Ich drehte mich zu meiner Kleinen, die gerade ein Chicken Nugget lutschte: »Sag mal Kim, möchtest du heute nicht hier übernachten, dann kann ich mich noch mit einem Arbeitskollegen treffen? Der hat mich gefragt, ob ich ihm bei seiner Steuererklärung helfen kann.«
»Kannst du das nicht morgen machen? Das ist wieder so kurzfristig«, grätschte Oma in die Unterhaltung.
»Nein, kann ich nicht«, sagte ich mit Nachdruck in der Stimme, aber ohne mich zu rechtfertigen, denn das hatte ich bei meiner Mutter aufgegeben.
»Von mir aus. Mach doch was du willst. Kim und ich machen uns einen schönen Abend«, winkte sie ab.
»Ich bring dir gleich noch deinen Bello vorbei, bevor ich zu Marcel fahre.«
»Und mein Tablet.«
»Na gut«, zwinkerte ich Kim zu.
»Aber du trinkst keinen Alkohol, oder?«, warf meine Mutter mir noch hinterher.
Ich verdrehte die Augen.
»Stimmt, ich vergaß, zu erwähnen, dass Marcel nur Wodka und Whiskey zu Hause hat. Alkoholfreie Getränke sind im Moment schwer zu bekommen. Kann also sein, dass ich mich dann volltrunken hinters Steuer setzen muss.«
»Hör auf, mich zu verarschen, ich bin deine Mutter.«
»... wer hat denn angefangen?«
Kopfschüttelnd und augenrollend verließ ich die Drei und eilte nach Hause, um mir die Bilder vom Handy auszudrucken. Wir wohnten zwar nur drei Straßen weiter und ich hätte eben zu Fuß die zwei Sachen holen können, aber das wäre aufgefallen.
Ich schnappte mir noch ein paar andere Sachen, die man so braucht. Taschenlampe, Fernglas, Werkzeugkiste, Brechstange und die Machete, die über meiner Schlafzimmertür hing. Nur für den Fall ...
Der Drucker nervte mich mit seinem »Toner fast leer«. Seit zwei Monaten war der fast leer und ich druckte immer noch. Als ich alles im Kofferraum verstaut hatte und gerade losfahren wollte, fiel mir Bello, der Stoffhund, ein. Gott sei Dank, denn ich hatte auch mein Polo-Messer vergessen. Eigentlich ein ganz altes Butterfly-Messer, das mir meine Tante zum 16. Geburtstag geschenkt hatte und das mir immer Glück gebracht hatte. So, jetzt war alles dabei, was man so brauchte, um jemanden um viel Geld zu erleichtern. Außer vielleicht das Tablet für die Kleine. Ne, nicht noch mal rauf. Sollte sie halt was im Fernsehen schauen, oder was lesen. Aufgeladen war das eh nicht. Also was solls. Sie würde es überleben.
»Boah Papa, das liegt auf meinem Schreibtisch und ist angeschlossen. Das habe ich extra heute Morgen vor der Schule noch gemacht.«
»Entschuldige, aber ich bin ein bisschen durch den Wind. Schlaf gut mein Schatz und träum schön«, flüsterte ich ihr ins Ohr, während ich sie umarmte.
Es war mittlerweile halb sieben abends. Ich wollte noch tanken und mir kurz bei Lidl was zu knabbern und zu trinken holen.
Natürlich holte man immer mehr, als man vorhatte zu kaufen, typisch Impulskäufer. Als ich nach dem Tanken im Auto gesessen und die Wohnadresse von dem Heini ins Navi eingeben hatte, fingen meine Hände an zu zittern. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in meiner Brust breit. Es kam mir so vor, als würde mir jemand die Lungenflügel zusammendrücken.
»Klar hast du Angst«, sagte ich zu mir selber. Ja, ich rede manchmal mit mir selber. Das sieht zwar dämlich aus, aber ich habe zumindest einen intelligenten Gesprächspartner.
»Du hast eine Scheiß-Angst, dass was schiefgeht und nachher die gesamte Russenmafia hinter dir her ist. Aber was hast du in deiner Therapie gelernt: Angst ist nur ein Gefühl, genauso wie Liebe, Hass und Brechreiz. Also reiß dich zusammen. Wenn der Wichser nur halb so dämlich ist, wie der am Telefon gewesen ist, wird das ein Klacks, dem die Kohle wegzunehmen.«
Ich fuhr los und redete mir während der knapp 20 Kilometer langen Fahrt immer wieder ein, dass ich mir den Typ und sein Umfeld nur anschauen möchte, um meinen Adrenalinpegel unten zu halten. Dabei war mein Entschluss, dem Drecksack sein Geld wegzunehmen, unabänderbar.
Was für eine schäbige Gegend. Der hat so viel Kohle und lebt in so einem Loch. Na ja, eigentlich clever. Hier wird kein Einbrecher auf die Idee kommen, Zeit zu verschwenden. Okay, bis auf mich vielleicht.
Hier war ich noch nie gewesen und würde wahrscheinlich auch nie wieder hierherkommen. Das sah hier genauso aus wie in einer DDR-Plattenbau-Siedlung, nur dass in der DDR die Siedlungen nicht so vermüllt gewesen waren wie hier. An jedem Balkon eine Satellitenschüssel. Vielleicht war das hier so ein Trend. Bei uns gab es Blumenkästen und irgendwelche Solarschmetterlinge, die sich über Tag aufluden und nachts leuchteten.
Da war es, Hausnummer 14. Ich fuhr daran vorbei und einmal um den Block in das angrenzende Industriegebiet.
Das musste ich erst mal verdauen. Da stimmte doch was nicht. Na ja, das gehörte wohl zu seiner Tarnung. Lebte von der Stütze, hatte nebenbei ein paar Luxuskarossen geklaut und in Richtung Osteuropa verschoben. Klang nach einer soliden Einkommensstruktur.
Ich kramte den Ausdruck seiner Konto-Umsätze aus der Tasche und mir fiel direkt auf, dass dieser Vollhonk wirklich alles mit Karte bezahlt hatte.
Ich war auf der Suche nach der Abbuchung der KFZ-Steuer. Da stand immer das Kennzeichen mit drin. Manchmal auch bei der Versich ... Bingo, Continental-Versicherung ... 95,90 ... alle drei Monate. Kennzeichen GE-NC 96. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können, dass der seine Initialen mit Geburtsjahr als Wunschkennzeichen hatte. Wahrscheinlich seiner Tarnung entsprechend eine 15 Jahre alte Klapperkiste, die nur noch von Lack und irgendwelchen Tuning-Aufklebern zusammengehalten wurde.
Ich beschloss einen kleinen Spaziergang durch diese, nicht ganz so noble Gegend zu machen. Allerdings zog ich mir dafür meinen alten dunklen Kapuzenpulli an, den ich immer nur anzog, wenn ich irgendwo renovierte oder die Räder am Auto wechselte.
Der roch ein bisschen nach altem Gummi und war voller Flecken, aber ich musste mich ja der Umgebung anpassen. Erst mal schauen, ob der Typ zu Hause war. Festnetznummer ohne Rufnummernübertragung anrufen und dann direkt auflegen.
Es klingelte ... oder soll ich einen auf Stromanbieter ... oder doch lieber ... verdammt, jetzt muss ich improvisieren.
»Wer ist da?« Ich hasste Menschen, die sich nicht mit Namen meldeten.
»Guten Abend hier ist Richard Obermüller von der Telekom, spreche ich mit Herrn Nicolai Cvetibrovic?« Gut, dass die Telekom monatlich den gleichen Betrag abbuchte.
»Nein, hier ist Mitbewohner. Nicolai nicht hier«, entgegnete wieder so ein Kerl aus dem Ostblock.
»Och, das ist schade. Ich wollte ihm ein Premium-Kunden-Handypaket anbieten. Mit Gratis-Handy und ohne Mehrkosten. Kann ich ihn denn später noch erreichen?«
»Das schwierig, der ist noch Fitnessstudio und nachher wir dann in Club. Ist das neues Iphone?«
»Das kann sich Herr Cvetibrovic dann aussuchen, ob Iphone oder Samsung ... für unsere Premium-Kunden haben wir nur die besten Smartphones mit den besten Tarifen und dem besten Netz.«
Ich widerte mich gerade selber an. So schleimig hatte ich noch nie was verkauft. Aber mit dem neusten Handy kriegte man sie alle.
»Ja, ja, machen Sie ruhig alles so, ist in Ordnung. Nicolai das bestimmt haben will.«
»Tut mir leid, das muss schon Herr Cvetibrovic selber machen. Ich rufe ihn morgen Vormittag noch mal an.«
»Aber lieber auf seine Handy. Nicolai ganz selten hier, fast immer unterwegs.«
»Okay, seine Handynummer habe ich ja. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend und schon mal ein tolles Wochenende.«
»Schöne Abend für Sie und danke schön. Ciao.«
Noch so ein Idiot, dem man alles erzählen konnte, oder ich war einfach nur ein Verkaufsgenie.
Okay, also kein Spaziergang. Der war bestimmt nicht mit dem Fahrrad zum Fitnessstudio gefahren. Das machte niemand. Ein Blick in sein Konto verriet mir, in welchem Studio er seine Ärmchen aufpumpte, um nachher den Ladys zu gefallen. Ein paar Eingaben im Handy und es verriet mir den direkten Weg zu diesem Fitness-Tempel. Keine fünf Minuten später war ich auf dem Parkplatz der Muckibude und sah auch schon Nicolais Gefährt. Ich parkte so, dass ich das Auto gut sehen konnte. Meine Menschenkenntnis hatte sich gerade bestätigt ... naja, zum Teil wenigstens ... Limousine der Oberklasse aus den frühen 90er Jahren ... allerdings alt und klapprig, mit Aufkleber auf der verdunkelten Heckscheibe. Ich hatte mehrfach versucht, den Schriftzug zu entschlüsseln, es sollte wohl »R.I.P.-Crew« heißen. Ein Blick auf die Facebookseite dieser Truppe hatte mir gereicht.
Als Titelbild vier aufgepumpte Halbstarke mit Sonnenbrillen und verschränkten Armen, Gangster-Rapper-Outfit und im Hintergrund die vier dazugehörigen Autos, alle aus der Kategorie: »Die sind zu schade für die Abwrackprämie«. Das war alles so ein bisschen Fremdschämen für Anfänger.
»Mein Gott, was muss man als Eltern alles falsch gemacht haben, damit das Kind so wird?«, fragte ich mich.
Mittlerweile war es halb zehn. Der Kerl war immer noch in der Fitnessbude und ich saß im Auto und süppelte meinen Energy-Drink, auch wenn ich die Teile nicht wirklich mochte, aber sie hielten einen wach. Die ganze Zeit fragte ich mich: »Was machst du hier eigentlich?« Als ich dann wieder an die Kohle dachte, schlich sich ein hämisches Grinsen ins Gesicht. Dieses Grinsen verschwand aber, als Hulk im Muscle-Shirt aus dem Fitnessstudio kam, anders kann ich ihn nicht beschreiben. Okay, bis auf den grünen Teint. Was für ein Tier. Der hatte Oberarme wie ich Oberschenkel, mit dem Unterschied, dass das bei mir fast nur Fett war. Und es kam, wie es kommen musste: Er drückte auf die Fernbedienung seines Schlüssels und ich muss jetzt nicht beschreiben, bei welchem Auto die Blinker blinkten. Natürlich gehörte dieses Monstrum meinem Spezi Nicolai. Alles klar, dachte ich, kannst direkt alles abbrechen. Wenn da was schiefgeht, wird der dich mit Anziehsachen auffressen. Der braucht keine Intelligenz, der hat Muskeln.
Ich wollte gerade den Wagen starten, da dachte ich: Ach komm, warte lieber bis der wieder weg ist. Der will bestimmt nur was aus dem Auto holen ... nicht, dass der dich sieht und einfach so als Zwischenmahlzeit ... was treibt der da?
Er ging an den Kofferraum, wühlte tief in irgendwelchen Sachen rum, drehte sich wieder zum Studio und winkte jemanden zu sich. Ein viel kleinerer Typ, allerdings kein Hulk, eher so aus der Kategorie Spargeltarzan, kam auf ihn zu und schaute sich dabei mehrfach um, so als ob er Ausschau nach jemandem halten würde.
Dass der keine Angst hatte. Nicolai war mindestens einen halben Meter größer und einen ganzen Meter breiter. Der Kleinere, also der Hobbit, öffnete seinen Rucksack und gab dem Hulk einen Schuhkarton. Jetzt wurde mir alles klar. Der Hobbit war entweder ein reisender Verkäufer für Sportschuhe oder sein Anabolika-Dealer. Eindeutig wurde es dann, als er den Schuhkarton mit 500 Euro-Scheinen bezahlte. Es mochte verdammt teure Sneakers geben, aber die kaufte man nicht auf einem schlecht beleuchteten Parkplatz in Gelsenkirchen. Nicolai verstaute das Paket im Kofferraum und machte sich wieder auf den Weg ins Studio.
Also alles nur aufgespritzt, so ein bisschen wie das Wasserfleisch aus dem Discounter. Puh, was für ein Glück! Keiner hatte mich gesehen oder was bemerkt, außer vielleicht die Überwachungskameras der Muckibude.
Auf einmal klopfte es an meine Scheibe. Ich zuckte zusammen und verkniff mir das Schreien.
Ich schaute vorsichtig nach links. Der Hobbit grinste mich an und machte eine Handbewegung, die mich auffordern sollte, das Fenster runter zu kurbeln, auch wenn ich seit 15 Jahren kein Auto mehr mit Kurbelfenstern hatte. Mein Gott, der grinste wie ein Chinese aus einem Comic. Das sah aus, als könnte er im Kreis grinsen.
»Hi, brauchst du was?«,fragte er immer noch grinsend.
»Och, was hast du denn im Angebot?«
»Ich habe alles, was du willst. Chemisch, natürlich, was zum Muskelaufbau oder lieber was zum Fettabbau.«
Da blieb mir nur die Flucht nach vorne. Ich stieg aus und bemerkte, dass der wirklich ein abgebrochener Riese war.
»Willst du etwa sagen, dass ich fett bin?«, meinte ich mit ein wenig Aggressivität in meiner Stimme.
Er grinste weiter und schüttelte mit seinem kleinen Kopf.
»Gib mir mal fünf Gramm Gras oder lieber zehn. Wer weiß, was das für ein Zeug ist, was du da anbietest«, fuhr ich fort.
»Alter, die ganze Region kommt zu mir hier, um Annas zu holen, und du willst Gras?«
»Jetzt sag mir nicht, dass du nur das Steroiden-Zeug hast. Alle haben mir gesagt, dass du auch was zum runterkommen hast. Meinen Dealer haben se hochgenommen, ich brauch zehn Gramm Gras fürs Wochenende.«
»Ich hab doch gerade gesagt, dass ich alles habe, was du willst. Gib mir zehn Minuten«, grinste der Halbling und sprintete in die Dunkelheit.
Als ich mich wieder ins Auto setzte, atmete ich erst mal ganz tief durch. Verdammte Scheiße, kann ich gut schauspielern. Habe ich wohl von meiner Ex gelernt.
Ich wartete also ab, bis der Typ wiederkam, um nicht weiter aufzufallen.
Und die zehn Gramm Gras würde ich schon wieder los- bekommen.
»150 bekomm ich dann von dir«, meinte der Zwerg, als er völlig außer Atem wieder da war. »... ist verdammt gutes Zeug. Ist auch ein bisschen mehr als zehn Gramm.«
»Ich wollte Gras, kein Koks. Normalerweise zahle ich keine zehn pro Gramm. Also sag mir mal nen vernünftigen Preis.«
»Alter, ich mag dich und ich glaube, dass du wieder zu mir kommen wirst. Daher gebe ich dir das für 130.«
»Einverstanden. Aber wenn das nicht wirklich Spitzengras ist, komme ich nicht wieder.«
»Du wirst wiederkommen«, grinste er selbstsicher und wir tauschten Geld gegen Ware.
Das war genug für den heutigen Tag. Nicolai war mittlerweile auch schon verschwunden. Ich machte mich auf den Heimweg, um das alles zu verarbeiten.
Es war zwar erst 22 Uhr, aber ich war durch. Dieser Stress war nichts für mich.
Diese Angst vor dem Ungewissen, diese Panik vor dem, was man nicht abschätzen und abwägen konnte. Bei sowas konnte man nicht abhauen.
Vielleicht würde ich in seinem Konto ja noch etwas Interessantes finden, bevor ich mich gleich ins Bett begeben würde.
Auf dem Weg zur Autobahn fuhr ich wieder an dem Viertel vorbei, in dem mein Freund Nicolai ... na ja, zumindest gemeldet war. Es würde ja nichts schaden, wenn ich noch ein paar Minuten die Gegend erkundete und mal um den Block fahren würde. Ein Kiosk hatte noch geöffnet und ich hielt kurz an, um Zigaretten zu holen.
»Zwei rote Gauloises bitte, ruhig die Großen, wenn Sie die da haben«, sagte ich dem Mondgesicht hinter dem Tresen. So wie der aussah, kam der bestimmt auch aus dem Osten.
»Ich nur habe die Kleinen, willst du drei, ist Wochenende«, stammelte er, wie man sich einen Russenmafioso so vorstellte. »Sie haben recht. Ich nehme drei und noch hier die zwei Flaschen Pils.«
Während er alles ganz gemütlich in seine Registrierkasse eintippte, machte es Kling-Klong an der Tür.
»Ah, Nicolai, endlich, ich gleich zu machen. Deine Sachen ich habe hier.« Mir schwante Schreckliches ...
»Hey, ich noch hatte zu tun. Onkel, du weißt doch Geschäfte … Business.«
Natürlich musste es so kommen. Die Stimme kannte ich mittlerweile. Mein Spezi verfolgte jetzt mich oder was ging hier ab?
Ich drehte mich nicht um, zahlte schnell und verließ ohne ein Wort den Laden, so dass er mein Gesicht nicht sehen konnte.
Schnell verschwand ich wieder im Auto und steckte mir eine an. Mist, jetzt bin ich auch noch seinem Onkel begegnet ... wird ja immer besser.
Keine zwei Minuten später kam Nicolai wieder aus dem Kiosk und hatte einen Wäschekorb und zwei Plastiktüten bei sich.
Wieder packte er alles in den Kofferraum. Aus einer der Tüten nahm er eine große Flasche Jägermeister sowie eine Flasche Cola und stellte sie auf den Bürgersteig.
Danach widmete er sich dem Wäschekorb und fing an, sich umzuziehen ... mitten in dieser Gegend, vor einem Kiosk, der gerade seine Lichter ausmachte.
Das ist doch nicht normal. Lebt der aus dem Kofferraum, obwohl er hier um die Ecke wohnt? Was soll das? Warum macht er sowas? Jetzt telefoniert er auch noch lautstark mit einem seiner Landsleute. In einer Lautstärke, bei der der ganze Wohnblock mithören kann. Ich hasse solche Menschen, keinen Respekt und bloß keine Rücksicht nehmen auf andere.
Ich merkte, wie die Wut wieder in mir hochkam und den Stress mit dem verbundenen Adrenalin, übertünchte. Vielleicht sollte ich mir was von dem Gras ... nein, ich brauchte einen klaren Kopf, um dem Hulk um seine Kohle zu erleichtern. Den Plan, alles abzubrechen und nach Hause zu fahren, hatte ich wieder verworfen. Jetzt machte der sich chic für den Club. Gestreiftes halboffenes Hemd und schwarzes Sakko. Eine fette Goldkette um den Hals. Natürlich jetzt noch ein bisschen Aftershave und ein halbes Pfund Haargel auf die Birne.
Der könnte auch als Türsteher durchgehen. Also in der Kinderdisco. Und natürlich jetzt noch einen ordentlichen Schluck aus der Schnapspulle. Ich stand mit meinem Auto schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite, so dass ich alles genau sehen konnte, was er da an und in seinem Auto machte.
Keine fünf Minuten, nachdem er seinen Anruf beendet hatte, kamen zwei weitere hochgestylte Schmalzlocken, ebenfalls in schwarzen Sakkos, dazu.
Lautstark unterhielten sich die drei auf Russisch. Ja, ich hatte zwischenzeitlich noch mal auf die Unterlagen von Nicolais Konto geschaut und gesehen, dass er russischer Staatsbürger war.
Na toll, jetzt schaute ich mir seit 45 Minuten drei Russen im letzten Loch von Gelsenkirchen an, die sich Jägermeister aus Pappbechern in ihre Birnen kippten. Ich musste doch bekloppt sein. Auf der Seite der RIP-Crew hatte ich gesehen, dass die beiden anderen auch zu dem Verein gehörten. Wahrscheinlich arbeiteten die alle auch noch in der gleichen Branche.
Zumindest hatten sie einen guten Durst. Der Jägermeister war leer und die leere Flasche landete im Gebüsch neben dem Kiosk. Ganz großes Kino ihr Dreckschweine. Der Mülleimer hing direkt an der Laterne, die zwei Meter entfernt war. Aber natürlich hatte Nicolai noch eine weitere Flasche im Kofferraum und noch ... nein, der holte nicht wirklich ein Glas mit Bockwürstchen … na dann guten Hunger. Früher als ich in seinem Alter war, hatten wir uns bei einem Kumpel zum Vorglühen getroffen. Viva oder MTV lief auf dem Röhrenfernseher, hatten zwei Bleche Pizza gemacht, die man am nächsten Morgen noch wunderbar zum Katerfrühstück vertilgen konnte. Heute aßen die Vertreter der nächsten Generation Bockwürstchen aus dem Glas und tranken Schnaps auf dem Bordstein. Verkehrte Welt.
Wir hatten früher auch verdammt viel gesoffen, aber wir hatten uns dabei, oder danach niemals hinter das Steuer eines Autos gesetzt. Ich muss nicht erwähnen, dass die drei Honks das natürlich gemacht haben ... man kann ja nicht im Taxi am Club vorfahren. Ich folgte denen unauffällig.
Ich überlegte kurz, ob ich die Polizei rufen sollte, weil die drei mit einem Affenzahn und alkoholisiert durch die Gegend düsten, aber, bis die hier waren, waren die drei Honks wieder nüchtern.
Außerdem war der Club nicht weit. Drei Minuten mit Tempo 80 durch die City, da konnte ich nicht nebenbei noch telefonieren.
Ich hatte echt Probleme, dran zu bleiben. Ich wusste nicht, wer da vorne fuhr, aber der hatte neben dem Alkohol auch Wahnsinn im Blut.
Na toll, so eine Schicki-Micki Bude. Eine alte Industriehalle mit bisschen Musik und Licht ausgestattet und schon konnte man neun Euro für ein Bier verlangen. Und alles so halbstarke Rotzlöffel und spätpubertierende Püppchen, boah ne.
Da werde ich auf keinen Fall reingehen. Geht auch gar nicht, mit meinem Renovierungspulli und den dreckigen Schuhen. Außerdem habe ich mein restliches Geld für das verdammte Gras und Zigaretten ausgegeben. Aber wieso fährt der nicht auf den Parkplatz? Wo will der hin? Will der jetzt noch die drei Euro Parkgebühr sparen? Tankstelle, das passt ja, ich brauche auch noch was mit Koffein.
Die drei Honks hielten an und gingen gemeinsam in den Shop. Ich hielt diesmal direkt dahinter und ging hinterher. Aber ohne den Pulli. Nachher würde der Hulk den wiedererkennen. Ich ging direkt durch zu den Zeitungen und zum Kaffeeautomaten.
Jeder von den dreien nahm noch eine Flasche Bier und eine Flasche Hochprozentiges und stellte alles auf den Tresen. Mein Gott, was die sich alles in den Kopf schraubten. Na klar, wir hatten früher auch eine Menge Alkohol an so einem Abend vertilgt, aber die ... mit spätestens 30 würden die eine neue Leber brauchen.
»Tut mir leid, aber wir nehmen keine 500 Euro-Scheine an«, krächzte die alte Hexe mit ihrem komischen Käppi auf dem Kopf.
»Warum nicht, ist echtes Geld, hast du Prüfmaschine, schaust du nach?«, schmiss Nicolai der Alten an den Kopf.
»Nein, das steht draußen an der Tür schon dran. Sie können ja mit Karte zahlen.«
»Na gut dann Karte, aber kann ich Auto da vorne stehen lassen?« Der will sich echt die drei Euro für den Parkplatz sparen, dachte ich.
»Sechsundachtzig Euro dreißig, da vorne bitte die Karte rein und die Nummer. Hier parken schon so viele von der Disco, wenn dann hinten an der Waschanlage, wenn da noch Platz ist.«
»Du bist nette Frau, danke.«
»Aber morgen um neun Uhr muss der Wagen wieder weg sein, dann kommt der Chef.«
»Keine Problem, wir gehen bisschen feiern, dann ist der wieder weg. Vielleicht wir kommen nachher noch mal für mehr Getränke.«
»Gerne, wir haben die ganze Nacht auf, viel Spaß.«
Na, ob das Geld auf dem Konto für den zweiten Einkauf reichen würde, wagte ich, zu bezweifeln. Ich kannte ja seinen Kontostand.
Mit quietschenden Reifen fuhr der Hulk den Karren um die Ecke in Richtung Waschanlage. Bevor er zurück zu seinen Kumpanen ging, öffnete er nochmal seinen Kofferraum und wühlte wieder darin rum. Ich konnte das durch das hintere Fenster der Tankstelle gut beobachten.
Der lebt echt aus dem Koff ... Moment, wenn der alles in seinem Kofferraum hat, dann vielleicht auch ... nein, der hat nicht die Kohle im Kofferraum, so doof ist der nicht.
»Und Sie möchten einen Kaffee oder einen Cappuccino?«, wurde ich in meinen Gedanken von der krächzenden Krähe unterbrochen. Ich schaute sie an und sagte:
»Einen verdammt großen Kaffee bitte, meine Tochter ist hier in der Diskothek und ich soll sie später abholen. Nach Hause fahren lohnt nicht, also warte ich einfach im Auto.«
»Das ist aber nett von Ihnen. Sie sind bestimmt ein toller Vater«, kam mit einem leichten Hauch von Freundlichkeit von ihr zurück.
»Man tut, was man kann.«
Ich zahlte mit meinem letzten verbliebenen Bargeld und ging wieder zu meinem Auto. Nicolai und seine tolle Crew waren schon auf dem Weg zur Diskothek. Die sah ich nur noch von hinten.
Kann das wirklich sein, dass der das ganze Geld im Auto hat? Natürlich, wieso denn nicht? In der Wohnung gibt es Mitbewohner, die ihm wahrscheinlich nicht mal den Dreck unter den Fingernägeln gönnen. Da würde ich das auch nicht in der Wohnung lagern. Schließfach hat er nicht und im Garten verbuddeln geht nicht, weil der Garten fehlt.
Und so eine Limousine aus der 90ern hat auch schon eine Alarmanlage. Na toll, Alarmanlage und wie komme ich jetzt da dran? Verdammte Scheiße, so nah dran.
Ich fuhr zunächst um die Ecke in eine Seitenstraße. Dort parkte ich und googelte nach dem Auto und der Funktion der Alarmanlage.
Ah ja, die Alarmanlage bei dem Modell gehörte damals zur Sonderausstattung.
Der Funkschlüssel für die Zentralverriegelung war eine Nachrüstung, das gab es damals noch nicht.
Da konnte ich nur hoffen, dass mein Spezi das selber zusammengebastelt hatte.
So, null Uhr. Zeit für einen kleinen Spaziergang. Der Kaffee war leer und ich musste dringend den Kaffee wieder wegbringen. So wirklich gut ausgeleuchtet war die Tanke ja nicht. Wenn ich hinten an den Bahnschienen durch das Gebüsch gehen würde, würde ich direkt an der Waschanlage rauskommen, ohne dass mich jemand sehen könnte. Zwischendurch mal die Blase entleeren, der Kaffee treibt ganz schön.
Und wie bekommt man raus, ob ein Auto eine Alarmanlage hat?
Ich glaubte nicht, dass ich das jetzt wirklich machen werde. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper und ich fing an, zu zittern und zu schwitzen. »Einatmen, Ausatmen ... in der Ruhe liegt die Kraft«, flüsterte ich mir zu.
Ganz einfach, ich werde einen mittelgroßen Stein nehmen und die Beifahrerscheibe einschlagen ... einwerfen ... einhauen ... Ahhhh, verdammte Hacke, wenn ich das mache, gibt es kein Zurück mehr.
Ich haderte mit mir. Ich war hin und her gerissen. Aber letztendlich nahm ich allen Mut zusammen. Es sah aus, wie in Zeitlupe, als der Stein in Richtung des Autos flog. Klong - der Stein prallte ab und nichts passierte. Ich Idiot ... noch nicht mal ne Scheibe einschmeißen konnte ich ... ahhh ... vor lauter Wut auf mich selber nahm ich einen größeren Stein und schleuderte ihn wie bei den Bundesjugendspielen beim Weitwurf und dabei waren das höchstens fünf Meter.
Die Scheibe zerbrach in tausende kleine Scherben. Relativ leise sogar. Kein Alarm, kein Blinken, Überwachungskameras gab es bei der Tankstelle nur im Bereich der Zapfsäulen, also konnte ich gleich ganz in Ruhe dahin spazieren.
Noch ein paar Mal umgeschaut und die Kapuze übergezogen, schlich ich zur Beifahrertür und öffnete sie von innen. Es kam, wie es kommen musste, die Alarmanlage heulte auf und ich rannte wie von der Tarantel gestochen zurück ins Gebüsch.
Ein paar Augenblicke später wurde die Hintertür der Tankstelle geöffnet und die komische Krähe trat zwei Schritte raus, schaute sich um und ging direkt wieder rein.
Hallo? Die Alarmanlage von einem Auto ist angegangen, dachte ich. Wieso machst du nichts? Das Auto steht auf deinem Grundstück. Sie ist das wahrscheinlich schon gewohnt. Nach circa eine Minute war der Alarm auch schon wieder aus.
Ich schaute mich weiter um. Keine Menschen, die aus dem Fenster schauten, keine Menschen, die mit ihren Vierbeinern Gassi gingen. Nix, noch nicht mal ein besorgter Nachbar, der wegen des Alarms mal nach dem Rechten sehen wollte. Ich wartete circa 20 Minuten, dann nahm ich all meinen Mut zusammen und ging noch mal zu dem Wagen. In der Zwischenzeit hatte ich mir die Handschuhe aus meinem Auto geholt und mein Messer.
Die Einzige, die mich sehen konnte, war die Tankstellenhexe, allerdings konnte sie von ihrer Position aus nur die Fahrerseite sehen. An die Beifahrerseite kam ich also ran, an den Kofferraum nur, wenn ich sie ablenken würde. Na toll. Weiland, denk nach. Wie kannst du die ablenken oder einschläfern? K.O. Tropfen oder Schlafmittel werden nicht klappen ... und die Kameras vorne werden ... vergiss es ... aaaaber was kann ich gut ... sogar verdammt gut? Richtig, telefonieren. Die Nummer der Tankstelle hatte ich im Internet gefunden und wählte. Nach nur zweimal Klingeln meldete sich schon die Krähe: »Shell Tankstelle in Buer, Schmitz, Guten Abend.«
»Richard Obermüller von der Polizeidienststelle Mitte, guten Abend ... oder lieber guten Morgen. Frau Schmitz, wir gehen einem Hinweis von einer anderen Tankstelle in der Nähe nach. Demnach wurden zwielichtige Personen beobachtet, die wohl die Tankstelle ausgespäht haben, um eventuell einen Überfall oder einen Einbruch vorzubereiten. Ist Ihnen bei Ihrer Tankstelle etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein, ich hab nichts gesehen. Hier ist alles ruhig, bis auf die paar betrunkenen Kunden die jede Woche da sind und eine kaputte Alarmanlage von einem alten Auto.«
»Okay, das freut mich zu hören, dass Sie eine ruhige Schicht haben. Bitte beschränken Sie den Verkauf auf den Nachtschalter und lassen Sie die Türen geschlossen. Wenn Ihnen was auffällt, rufen Sie uns bitte an.«
»Ich mach das seit 15 Jahren, ich kenn meine Pappenheimer. Aber danke für Ihren Anruf. Schöne Nacht noch.«
»Vielen Dank Frau Schmitz, angenehme Nacht.«
So, jetzt muss ich nur warten, bis jemand an den Schalter kommt und die Alte ablenkt. Oder ... ich kann von der Beifahrerseite rein und dann die Rücksitzbank umlegen, dann kann ich ... ach quatsch, dafür bin ich zu fett ... die Handbremse lösen und rückwärts ... nein, auch quatsch. Es wird bestimmt gleich noch irgendein Nachtschwärmer kommen und Nachschub holen.
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis jemand das Gelände der Tankstelle betrat. Auch so Heinis aus der Disco. Hoffentlich waren die in Kauflaune. Umso mehr Zeit blieb mir, um den Kofferraum auszuräumen. Ich konnte alles gut aus meinem Versteck im Gebüsch beobachten.
Wieder wurde mir heiß und kalt. Ich war im Begriff eine Straftat zu begehen. Mir würden höchstens zwei Minute bleiben, um die Kohle zu finden und abzuhauen. Ich zog meine Handschuhe wieder an.
Als die Hexe mir den Rücken zudrehte, um sich um die Kundschaft zu kümmern, spurtete ich los, diesmal direkt zum Kofferraum. Wieder ging die Alarmanlage los, aber das störte mich nicht. Ich traute meinen Augen nicht. Diese Karosse hatte einen riesigen Kofferraum und der war voll mit irgendwelchen Anziehsachen und Krimskrams, den man normalerweise in der Wohnung aufbewahrte. Ich blickte nochmal kurz zur Tanke und sah, dass die Hexe an der Scheibe hing und versuchte etwas zu erkennen. Da blieb mir wieder nur die Flucht nach vorne. Ich rannte zu dem Fenster und sagte ihr mit verstellter Stimme und einem eher amateurhaften russischen Akzent: »Nicolai hat vergessen Geldbörse, jetzt ich muss holen Geld sonst wir bekommen Ärger in Disco. Nicolai hat scheiße Alarmanlage, aber hören gleich auf, entschuldige bitte.«
Dabei schaute ich sie nicht direkt an. Ich tat so, als würde mich das Licht aus der Tankstelle blenden und hielt mir die Hand vor die Augen. Außerdem hatte ich die Kapuze meines Kapuzenpullis ganz tief ins Gesicht gezogen.
»Ja komm, mach das Ding aus, du weckst die ganze Nachbarschaft auf.«
Ich hatte nur noch eine Möglichkeit. Ich eilte zurück zum Auto, aber diesmal zur Fahrerseite. Ich öffnete die Motorhaube und folgte dem Lärm zu der nachträglich eingebauten Sirene ... hatte was von Spielzeug aus Fernost. Einmal kräftig am Kabel gezogen und es war ruhig.
Ich drehte mich wieder zu der Hexe und signalisierte ihr mit einem »Daumen Hoch«, dass alles gut sei. Sie grinste und schüttelte den Kopf.