Halbmondwahrheiten - Isabella Kroth - E-Book

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Isabella Kroth

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Beschreibung

Der türkische Mann - ein schwaches Geschlecht

Zwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben.

In zwölf Geschichten gibt das Buch Einblick in die Lebenswelten des türkisch-muslimischen Mannes. Es behandelt die ungelösten Probleme der Integration, etwa warum Suleyman auch nach 40 Jahren in Deutschland kaum Deutsch spricht, warum Ibo den Hauptschulabschluss nicht schafft und schon dreimal vorbestraft ist. Warum Erdal seine Cousine aus der Türkei als Ehefrau akzeptiert, obwohl er sie kaum kennt. Wie Mohammed mit seiner neuen Aufgabe als alleinerziehender Vater umgeht. Und warum Mehmet als Importbräutigam nach Deutschland aufgebrochen ist.

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Seitenzahl: 336

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Inschrift
EINLEITUNG
KAZIM ERDOĞAN, DER KALIF VON NEUKÖLLN
Copyright
Gewidmet ist das Buch dem Mann, der sich für mich auf das Integrationswagnis Deutschland eingelassen hat. Vielen Dank dafür.
Wenn ich nicht brenne, wenn du nicht brennst, wenn wir nicht brennen, wie kann die Finsternis erleuchtet werden.
(Nâzım Hikmet)
EINLEITUNG
Türkisch-muslimische Männer - eine geschlossene Gesellschaft?
Adem war der Erste, der das Wagnis einging. Jetzt sitzt er mit gut zwanzig Männern im Kreis. Er hält ein Gläschen mit Çay in der Hand und balanciert es vorsichtig über den Kopf seiner kleinen Tochter, die auf seinen Schoß klettert. Er sagt: »Es ging um meine Ehre. Meine Frau hatte sie mit Füßen getreten.« Die anderen Männer um ihn herum nicken. Sie wissen, was er meint. Einer sagt: »Frauen sind die Ehre eines Mannes. Sie haben alles in der Hand - sie können diese Ehre mehren oder sie zerstören.« Der Tee im elektrischen Samowar in der Ecke brodelt auf. Durch die große Fensterfront entschwindet das letzte Tageslicht.
Hier in einem Berliner Dienstzimmer haben sich Männer einer viel beschworenen »Parallelgesellschaft« versammelt. Männer über die pauschale Bilder kursieren: Das der türkischen Paschas, die ihre Frauen daheim schlagen und ihre Ehre bis aufs Blut verteidigen, den Gebetskranz immer bei der Hand. Das Bild der Väter, die ihre Töchter zum Kopftuch und zur Ehe zwingen und ihre Söhne in den Koranunterricht schicken. Von Patriarchen, die ihre archaischen Sitten und Gebräuche mit nach Deutschland genommen haben. Bislang klingt es in der Runde so, als würden sich Vorurteile bestätigen. Ich bin neben einer Rechtsanwältin die einzige Frau im Raum, neben etwa zwanzig Männern. Meine Anwesenheit stört ihr Gespräch nicht. Beinahe bin ich froh, mich unsichtbar fühlen zu können.
Bislang waren es vor allem Frauen als Opfer traditioneller Strukturen, die über eben diese gesprochen haben. Bücher von Zwangsehen und Ehrenmorden zementieren ein einseitiges Bild der Männer als Patriarchen, die über ihre Familien regieren. Vielleicht aber sind die Männer, die hinter diesen Frauen stehen, genauso Opfer einer patriarchalen Gesellschaft? Die türkische Soziologin Pınar Selek, die ein Buch über männliche Identitäten in der Türkei geschrieben hat, sieht den Mann als ein »ramponiertes Wesen«, dem während seiner Entwicklung nach und nach die Regeln des Patriarchats nahegebracht werden. Der Pädagoge Ahmet Toprak hat über türkische Männer der zweiten und dritten Generation in Deutschland geforscht. In seinem Buch über Zwangsheirat, häusliche Gewalt und die Doppelmoral der Ehre bezeichnet er die türkischen Männer als »schwaches Geschlecht«. Wie fühlt es sich an, den Erwartungen entsprechen zu müssen, immer stark zu sein, Orientierung zu geben, auf Traditionen zu pochen - zumal wenn man fern der Heimat lebt oder sich in Deutschland nicht zu Hause fühlt? Ich will herausfinden, wie stark oder schwach und ramponiert die »Patriarchen« wirklich sind. Hierher in die Gruppe bin ich gekommen, weil es hieß, ich könne mit Männern darüber sprechen, wie es sich anfühlt, in Deutschland zu leben, ohne wirklich angekommen zu sein. Mit Männern, die mir einen Einblick geben können in eine Gesellschaft, die in Deutschland oft als eine parallele bezeichnet wird.
Murat, der heute Abend noch wenig gesagt hat, meldet sich jetzt zu Wort: »Wir haben unsere Ehre doch selber in der Hand. Man kann da nicht nur die Frau verantwortlich machen.« Die Männer schweigen. Berkant wischt sich über die Augen. In die Gesprächspause hinein sagt er: »Ich hab meine Frau mit allem allein gelassen. Ich hab sie kontrolliert und ausgenutzt. Dann hatte sie mich satt. Sie hat mich sitzen lassen und mir vorgeworfen, ich sei ein Versager.« Einer ruft dazwischen: »Ich würde meine Frau sofort verlassen, wenn sie so was sagt.« Metin lacht auf: »Ne, du würdest sie umbringen.« Plötzlich reden alle durcheinander. Bis ein Mann, der bislang geschwiegen hat, die Stimme erhebt. Die Männer sehen zu ihm auf, auch wenn er nicht der Älteste in der Runde ist. Sie lauschen seinen Worten, was er sagt über Ehre, Stolz und Gerechtigkeit. Manchen ersetzt dieser Mann den Vater, manchen ist er ein guter Freund. Für alle ist er ein Lebensberater. Der Schlüssel zu einer Gesellschaft, von der sie das Gefühl haben, dass sie ihnen verschlossen bleibt. Sie nennen ihn Kazım-Abi, Kazım, den älteren Bruder. Es ist der Psychologe Kazım Erdoğan. Er ist einer von ihnen.
Für mich war er der Türöffner zu einer Gesellschaft, von der es immer hieß, sie sei eine geschlossene; Zutritt nicht möglich. Am Anfang meiner Recherchen hatte ich mit Vertretern von Verbänden, Autoren und Pädagogen gesprochen, die mir von Problemen erzählten, vor die sich türkischstämmige Männer in Deutschland gestellt fühlten. Von der Hilfsorganisation Terre des Femmes erfuhr ich, dass immer wieder auch Männer Hilfe suchen würden, dann aber abgewiesen werden müssten, da es zu wenige Möglichkeiten geben würde, um ihnen zu helfen. Ich bekam den Eindruck, dass die Probleme groß seien, dass Männer aber über sie schweigen würden, auch aus Angst, als Verräter ihrer Kultur und Traditionen zu gelten. Es hieß oft: »Das ist eine geschlossene Gesellschaft - die lassen niemanden reinschauen.« Oder: »Sie haben keine Chance, die Männer werden mit Ihnen nicht sprechen.«
Über diese ist dagegen schon viel gesagt worden: Die Wahrnehmung der türkisch-muslimischen Männer ist geprägt von einem öffentlichen Diskurs in oft schrillen Tönen. Deutschlandweit diskutieren Experten über diese Männer - auf Gipfeln, Konferenzen und Tagungen. Doch zu Wort gekommen sind diejenigen, über die so viel geredet wird, noch kaum.
Über den Berliner Psychologen Kazım Erdoğan hatte eine Mitarbeiterin eines Frauenhauses gesagt, er sei einer der wenigen, der auch Männern Hilfe anbieten würde. Als ich ihn anrief, hieß es: »Kommen Sie! Sie sind herzlich eingeladen in die Gruppe.« Erdoğan hat die Männer der »Parallelgesellschaft« zu sich geholt, in den Psychosozialen Dienst Neukölln, der mitten in einem Berliner Problemkiez liegt: 300.000 Einwohner, mehr als ein Drittel davon Migranten. Die Arbeitslosenquote liegt bei 23 Prozent. Ein moderner Glasbau, lange Gänge, die erste Türe links trägt die Zimmernummer 011. Hier hat der Psychologe eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer gegründet, die jeden Montagabend tagt.
Heute Abend ist zum Beispiel Dursun, 66 Jahre, erschienen, ein Einwanderer der ersten Generation, ein ehemaliger »Gastarbeiter«. Über die viele Arbeit hatte er seine Familie vergessen. Die Kinder holte er erst spät zu sich nach Deutschland, dann überließ er die Erziehung seiner Frau. In der Gruppe hat er gelernt, wieder mit seinen inzwischen erwachsenen Kindern zu sprechen. Auch seine Ehe ist besser geworden. Der Psychologe hatte ihn nach einer Sitzung aufgefordert, seiner Frau doch einmal einen Blumenstrauß zu kaufen. Als Dursun seiner Frau am gleichen Abend gelbe Margeriten überreichte, war sie erst misstrauisch. Dann strahlte sie.
Metin, 42, begann früh mit einer kriminellen Karriere. Die Hälfte seines Lebens war er auf der Flucht vor der Abschiebung. Inzwischen besitzt er eine befristete Duldung und sagt Sätze wie: »Man muss die Jugendlichen von der Straße holen.« Abends zieht er durch die Parks und versucht, junge Drogendealer zu bekehren.
Als der 39-jährige Berkant von seiner Frau verlassen wurde, brach seine Welt zusammen. Er hatte sich jahrelang von ihr bedienen lassen; nur Forderungen gestellt. Er sagt: »Ich war ein richtiger türkischer Pascha.« Nach der Trennung war er überfordert. Als alleinerziehender Vater von zwei Söhnen musste er sich plötzlich um den Haushalt und die Kinder kümmern. In der Gruppe hat er gelernt, was Kinder brauchen: Liebe und Geduld.
Ahmet ist im Anzug gekommen. Der Besuch bei Kazım Erdoğan ist für den 40-Jährigen etwas Besonderes. Ihm hat der Psychologe seine Würde wiedergegeben, als Ahmet sich am Ende fühlte. Für seine Frau hatte er die Türkei verlassen. Als »Importbräutigam« bekam er von ihr ein Taschengeld; mit seiner Ehre war das nicht zu vereinbaren.
Sie sind Sunniten und Aleviten, türkische Kurden, ehemalige »Gastarbeiter« oder junge Männer aus der zweiten oder dritten Einwanderergeneration. Sie alle verbindet das Bedürfnis, sich ihren Frust von der Seele zu reden. Über das zu sprechen, was ihnen Angst macht: das Auseinanderfallen ihrer Familien, die zunehmende Kriminalität auf den Straßen und das Gefühl, in Deutschland immer noch nicht dazuzugehören. »Wir sind wie eine Familie«, sagt Dursun. »Auch wenn manche das nicht verstehen: Wir können miteinander offen über Probleme reden.«
Offen über Probleme zu sprechen, das haben viele der Männer erst in den Abendsitzungen bei Kazım Erdoğan gelernt. Seine Selbsthilfegruppe für türkische Männer ist alles andere als gewöhnlich. Denn die Scham ist groß: »Viele Themen tabuisiert die türkisch-muslimische Gesellschaft«, sagt der Psychologe. »Ein türkischer Mann, dessen Frau sich von ihm scheiden lässt, gilt als Versager. Wer zugibt, sich allein zu fühlen, wird als Schwächling bezeichnet.«
Eine »geschlossene Gesellschaft« habe ich in der Gruppe von Erdoğan nicht vorgefunden. Dafür Männer, die bereit waren, sich und ihre Vergangenheit infrage zu stellen. Männer, die Schwäche zugeben können und die bestimmte Moralvorstellungen überdenken, wie die von Ehre und Stolz. Eine entscheidende Rolle spielte der Psychologe Erdoğan. Er hat mir den Zugang leicht gemacht. Die Männer, die zu ihm kommen, wollen über ihre Probleme sprechen. Sie haben sich bereits geöffnet. Sie kommen in die Gruppe, weil sie sehen, dass in Deutschland längst nicht alles so läuft, wie sie es sich wünschen. Jeder der Teilnehmer der Gruppe war bereit, sich mit mir zu unterhalten. Fast jeder wollte sich für das Buch portraitieren lassen. Oft haben mich meine Gesprächspartner mit ihrer Direktheit und Offenheit sogar überrascht. Auch außerhalb der Gruppe habe ich viele Männer kennengelernt, die das Bedürfnis haben, sich mitzuteilen. Niemand hat mir das Gespräch verweigert. Sie alle haben bereitwillig und geduldig jede Frage beantwortet.
Ich habe gemerkt: Die Türen lassen sich aufstoßen. Die Gesellschaft ist zugänglich. Die Männer, mit denen ich gesprochen habe, waren freundlich und aufgeschlossen. Sie freuten sich, dass jemand vorurteilsfrei mit ihnen sprach und nicht von vornherein die Frage stellte, ob sie Opfer oder Täter waren. Das Vertrauen zu mir hat sich über fast zwei Jahre aufgebaut. Die Männer waren immer wieder bereit, sich mit mir zu treffen, sie haben mich in ihre Wohnungen geladen, ins Café, in die Moschee oder in die Kirche. Ich durfte sie in ihrem Alltag begleiten, mit ihnen die Kinder von der Schule abholen gehen, gemeinsam mit ihnen essen und feiern. Sie haben über Fehler gesprochen, die teils gravierend sind: Gewalt an Frauen, Drogen, Kriminalität. Ein größerer Schritt aber war für die Männer, über ihre Gefühle zu sprechen: Einsamkeit, Selbstzweifel, das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Es war für sie eine große Überwindung, zuzugeben, dass sie darunter leiden, nicht zu wissen, wie sie mit Eltern, Kindern oder Ehefrauen sprechen sollen. Immer wieder haben mich meine Gesprächspartner Freunden und Bekannten vorgestellt. Grenzen gab es dort, wo bestimmte Familienmitglieder betroffen waren: die geschiedene Ehefrau etwa oder oftmals die Eltern.
Wer sind nun diese Männer, über die so viel geredet wird, von denen selbst aber man nie etwas hört? Was verhindert ihre »Integration«? Und: Welche Probleme beschäftigen sie? In zwölf Portraits kommen in diesem Buch Männer aus und um Kazım Erdoğans Gruppe zu Wort. Männer aus der ersten und zweiten Generation türkischer Einwanderer, die mit ihren Einzelschicksalen nicht allein sind und doch längst nicht die gesamte Gruppe türkischstämmiger Menschen in Deutschland repräsentieren können und sollen. Es sind nicht die klassischen Erfolgsgeschichten von Mitbürgern mit Migrationshintergrund. Keine Ärzte, Anwälte oder Politiker werden portraitiert. Die Männer stammen nicht aus dem Bildungsbürgertum von Istanbul oder Ankara. Sie oder ihre Eltern und Großeltern haben in der Türkei Armut, Arbeitslosigkeit oder Ausgrenzung hinter sich gelassen, um in Deutschland einen Neustart zu wagen.
Dennoch lassen sich die portraitierten Männer nicht einer bestimmten homogenen sozialen Gruppe zuordnen. Sie gehören unterschiedlichen Lebenswelten an - Herkunft, Religion und Überzeugungen divergieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich geöffnet und über Hindernisse gesprochen haben, die ihnen die Integration in Deutschland schwer machen. Es sind Männer, die Einblick geben können, weshalb Studien immer wieder auf Probleme insbesondere von türkischstämmigen Migranten hinweisen.
Die zwölf Geschichten sind bewusst aus der Perspektive der Portraitierten geschrieben. Natürlich stehen hinter jeder Erzählung auch Frauenschicksale; immer sind diese untrennbar verknüpft mit dem Leben der Männer. Der Blickwinkel der Frauen oder auch der Kinder und Eltern bleibt in den zwölf protokollarischen Portraits aber unberücksichtigt. Die Männer wagen einen Tabubruch, indem sie offen über Schwächen, Fehler und manchen religiös oder traditionell begründeten Irrglauben sprechen. Polygamie, die Gedanken an einen Ehrenmord, Drogenhandel, Scheinehe - sie erklären, wie es dazu kommen kann. Ich will in den Geschichten nicht be- oder verurteilen, sie sollen ein Versuch sein, zu erklären; deshalb sind sie so wertneutral wie möglich aufgeschrieben. Wer nicht zuhört, wer zu schnell urteilt, dem bleibt jede Gesellschaft verschlossen. Die Männer geben Einblick in eine Gesellschaft, die wie von unsichtbaren Mauern umgeben zu sein scheint. Diese Männer haben sie durchbrochen.
KAZIM ERDOĞAN, DER KALIF VON NEUKÖLLN
Der Psychologe Kazım Erdoğan ist eine Vertrauensperson, wie es in ländlichen Regionen der Türkei einst der Dorfälteste war. Bei ihm suchen Männer Orientierung, die sie sonst nirgends finden. Mit den Menschen, die zu ihm kommen, verbindet ihn vieles: Die Herkunft und auch die Erfahrungen, die er in Deutschland machte.
Er selbst nennt sich ironisch den »Kalifen von Neukölln«, das Oberhaupt der islamischen Gemeinde im Stadtteil. Auf seinem vollen Schreibtisch im Psychosozialen Dienst Neukölln steht ein hölzernes Namensschild mit zwei kleinen Flaggen - der deutschen und der türkischen. Es ist sein klar definiertes Ziel, das Miteinander von Türken und Deutschen zu verbessern.
Geboren 1953, man könnte ihn älter schätzen, als er ist. Er geht gebeugt, das kurze graue Haar ist licht: Ein Mann, dem man die viele Arbeit ansieht. Dessen Tage oft um vier Uhr morgens beginnen und vierzehn Stunden später enden. Ein Mann, der sich aufreibt für sein Ziel. Er sagt: »Integration ist wie ein Auto. Ohne Pflege, rostet sie.«
Kazım Erdoğan hat viel gemeinsam mit den Männern, die zu ihm kommen und Rat suchen. Er kennt die anatolische Weite, der viele der Älteren nachtrauern. Er selbst stammt aus dem kleinen Dorf Gökçeharman in Zentralanatolien. Ein Dorf im Niemandsland. Die Familie Erdoğan lebte in einem der einfachen Lehmhäuser mit flachem Dach, durch das bei Regen das Wasser durchsickerte, ohne Strom und fließendes Wasser. Siebzehn Personen teilten sich drei Zimmer - neben den sieben Geschwistern und den Eltern auch die Großeltern, Onkel und Tanten, sowie die Schwager. Die Familie teilte sich Weizengrütze aus großen Schüsseln. »Wenn siebzehn Löffel den Topf auskratzten, war das wie Musik«, sagt Erdoğan.
Der Vater war Angestellter bei der Bahn. Ein einfacher Arbeiter, in der Hierarchie ganz unten. Die Mutter arbeitete doppelt: Sie kümmerte sich um den Haushalt und arbeitete auf den Feldern, wo sie per Hand Gerste und Weizen erntete; Maschinen gab es keine. Von seinem Gehalt als Eisenbahnmitarbeiter hatte der Vater Grund gekauft, er war überzeugt gewesen, die Felder könnten seinen Kindern einmal das Überleben sichern. Dann kam die Abwanderung nach Deutschland. Von den einst 360 Einwohnern in Gökçeharman sind gerade einmal zwanzig Personen übrig geblieben. Die Lehmhäuser sind verlassen und verfallen. Die Menschen haben die Flucht angetreten vor Arbeitslosigkeit und harter Feldarbeit. Sie ließen sich als »Gastarbeiter« werben, um ihr Glück in Deutschland zu suchen. Der Vater erkannte, dass mit den Feldern nichts mehr zu gewinnen war. Also setzte er, selbst Analphabet, auf Bildung. Seinen sechsjährigen Sohn Kazım schickte er im Zug nach Erzurum, mit 300.000 Einwohnern die größte Stadt in Ostanatolien, 400 Kilometer von Gökçeharman entfernt. Sein Sohn sollte dort ein privates Internat besuchen, ein seltenes Privileg. Dorthin brachten reiche Eltern ihre Söhne und Töchter, oder eben jene Väter, die bei der Bahn arbeiteten, so wie Kazım Erdoğans Vater. Die Gebühren für die Schule hätte dieser sonst niemals zahlen können. Als Bahnmitarbeiter aber musste er nur einen kleinen Teil des Lohns abzwacken. Kazım Erdoğan sagt, er war seinem Vater jeden Tag dankbar, im Internat sein zu dürfen. »Mir war immer bewusst, dass ich nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie lerne«, sagt er. Doch den sozialen Unterschied zwischen ihm und den anderen Kindern spürte er deutlich. Viele Mitschüler bekamen jede Woche Körbe voll mit Sultaninen, Nüssen, Feigen und Butter zugeschickt, als Ergänzung zu Milchpulver und Weizengrütze in der Schulkantine. Kazım Erdoğan erhielt nie einen Korb. Im Internat von Erzurum fühlte er sich nicht nur deshalb zum ersten Mal ausgegrenzt. Er gehörte nicht dazu. Alle Schüler wussten, dass, wer aus dem Dorf Gökçeharman kommt, Alevit und zudem Kurde sein muss. Und nicht, so wie die Mehrheit, sunnitischer Türke. Während die anderen während des Ramadan fasteten, versteckte er sich tags zum Essen auf der Toilette. Im Unterricht strengte er sich doppelt an, um bei den Lehrern nicht in Ungnade zu fallen.
Zwölf Jahre blieb er auf dem Internat, schloss das Gymnasium mit der Note »sehr gut« ab. Er war damit der erste Abiturient aus seinem Heimatdorf. Und er sollte der erste Akademiker sein. In Ankara schrieb er sich in der Universität ein: Psychologie. Drei Monate vergingen, ohne dass der Student ein einziges Mal in einer Vorlesung saß. Faul war er nicht, im Gegenteil. Aber er besaß kein Geld, um sich das Leben in der Stadt zu finanzieren. Also ging er, statt ins Psychologie-Seminar, in ein Hotel zum Arbeiten. Er leitete eine Cafeteria, servierte Tee und schleppte Getränkekisten. Dann exmatrikulierte er sich. Seine Hoffnung war der Onkel in Berlin. Er hatte die türkische Heimat schon vor ein paar Jahren verlassen, um als »Gastarbeiter« nach Deutschland zu reisen. Seinem Neffen schrieb er Briefe und bot ihm an, zu ihm zu kommen. In Deutschland stünde dem inzwischen 21-Jährigen die Welt offen: Das Studium sei umsonst, die Straßen mit Münzen gepflastert. Der Onkel versprach, ein Flugticket zu schicken. Es kam nie an.
Kazım Erdoğan hatte nun ein Ziel. Er sparte selbst auf das Ticket, das ihn nach Berlin bringen sollte, ins gelobte Land. Für einen Flug reichte es nicht, aber für eine Busfahrkarte nach München mit anschließendem Zugticket nach Berlin. Eine Vier-Tage-Reise, ohne Dusche oder Bett. Im Gepäck: Zwei Cordhosen und eine Jeans, ein paar Hemden und Pullover. In der Hosentasche: 100 DM und der Zettel mit der Adresse des Onkels. Und für alle Fälle auch die eines Studentenwohnheims in Charlottenburg.
Am 5. Februar 1974 stand er um sieben Uhr morgens am Berliner Bahnhof Zoo, müde und hungrig. Aber da war kein Onkel. Kazım Erdoğan griff in die Hosentasche nach dem Zettel mit der Adresse - er hatte ihn verloren. Die Ankunft im Märchenland Deutschland - alles andere als verheißungsvoll. Niemand verstand ihn, als er um Auskunft bitten wollte. Bis er auf einen türkischen Mann vom Reinigungsdienst traf. Der begleitete ihn zu dem Studentenwohnheim, dessen Adresse der erschöpfte Ankömmling noch im Kopf hatte. Ein paar Stunden später holte ihn der Onkel dort ab. Ein nüchternes Wiedersehen, bei dem die erste Frage des Onkels lautete: »Wie viel Geld hast du?« Der Neffe händigte ihm aus, was er noch übrig hatte: 69 DM. Der Onkel bestellte ein billiges Begrüßungsessen. Das Restgeld trug er ins Wettbüro. »Wenn ich gewusst hätte, in welchen Verhältnissen mein Onkel lebte, wäre ich wohl nicht nach Deutschland gegangen«, sagt Erdoğan. Der Onkel verließ mittags das Haus, dann ging er ins Männercafé. Den Neffen aber schickte er in Fabriken, wo er unter dem Namen des Onkels arbeitete. Erdoğan war nun ein illegaler Arbeiter, denn eigentlich hätte er nach drei Monaten in Deutschland wieder ausreisen müssen. Ein schmächtiger Türke aus einem anatolischen Bergdorf, voller Scham über seine Herkunft und doch voller Hoffnung, in Deutschland studieren zu dürfen. Er ließ seine Zeugnisse übersetzen und bewarb sich wieder um einen Studienplatz für Psychologie. Dann schleppte er Kühlschränke und Waschmaschinen, stand am Fließband und sortierte im Akkord Margarinebehälter, schlug sich als Wärter die Nacht um die Ohren. Er arbeitete für Quelle im Lager, für Wiener Wald in der Küche, schleppte Getränkekisten für Coca Cola und Berliner Kindl und putzte bei IBM. Er war ein verspäteter türkischer »Gastarbeiter« und »ganz unten«, so, wie es der Journalist Günter Wallraff in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat. »Ich war ein ehrlicher Verbrecher«, sagt Erdoğan heute.
Am Zahltag erwarte ihn der Onkel jedes Mal ungeduldig. »Er wusste genau, mit welcher U-Bahn ich nach Hause komme.« Noch am Ausgang der Station »Rathaus Neukölln« überreichte er dem Onkel seinen Wochenlohn. »Mir blieben gerade mal zehn DM, um mir belegte Brötchen in den Fabrikkantinen zu kaufen, aber nicht genug für die Fahrkarten mit der U-Bahn oder dem Bus.« Die Schwarzfahrten wurden zur Zitterpartie, die Angst vor der Abschiebung war der ständige Begleiter.
1974 war das Jahr nach dem offiziellen Anwerbestopp türkischer »Gastarbeiter«. Seit einem Abkommen mit der Türkei von 1961 war die Zahl der in Deutschland lebenden Türken auf 910.500 gestiegen. Männer und Frauen, die die Engpässe am Arbeitsmarkt stopfen sollten und erfolgreich am deutschen Wirtschaftswunder mitgearbeitet hatten. Die eigentlich nicht bleiben, sondern per Rotationsverfahren nach einem Jahr in die Türkei zurückkehren sollten. Das war die Theorie - die Praxis sah anders aus. Die deutschen Firmen wollten die angelernten Arbeitskräfte behalten. Alles andere wäre aus ihrer Sicht ökonomischer Unsinn gewesen. Genau wie für die türkischen Ankömmlinge. Nach nur einem Jahr hatten sie ihre Ziele noch nicht erfüllt: das Häuschen in der Türkei zu renovieren, ein Auto zu kaufen oder die Eltern finanziell abzusichern. Die »Gastarbeiter« blieben. Sie wurden zu Dauergästen und seit Anfang der 70er zur Belastung. Nach dem Ölpreisschock litt die deutsche Konjunktur. Eine Phase der Massenarbeitslosigkeit begann, die Euphorie über Arbeitskräfte aus der Türkei war verflogen.
Sieben Monate nach seiner Ankunft in Berlin geriet Kazım Erdoğan in eine Routinekontrolle der Zivilpolizei. »Es hieß: ›Schönen Guten Tag, den Ausweis bitte‹«, erinnert sich Erdoğan, der damals fast kein Wort Deutsch sprach. »Ich stammelte so etwas wie ›Pass Hause‹, dann nahmen sie mich mit auf die Wache.« Erdoğan gab den Namen seines Onkels zu Protokoll. Der Polizist gab ihm eine Zigarette zur Beruhigung und kontrollierte seine Taschen. Darin fand er einen Brief des Onkels, der Empfänger war ein gewisser Kazım Erdoğan. Der Beamte schlug in einem Buch nach, in dem alle eingereisten Türken registriert waren. Dann sah er den jungen Mann an und schüttelte den Kopf. Schon am Abend saß der illegale Einwanderer, der gehofft hatte, in Deutschland studieren zu dürfen, in Abschiebehaft - zwischen vierzig oder fünfzig Mithäftlingen, die wie er auf der Straße eingesammelt worden waren. »Ich fühlte Scham hoch drei. Man kommt ohne Geld in ein reiches Land und wird wieder rausgeschmissen. Da fühlt man sich als Versager.« Der 21-Jährige hatte an diesem Tag vierzig Pfennig bei sich. Er warf zwei Zehn-Pfennig-Stücke in ein Münztelefon mit Drehscheibe. Er verwählte sich, weil er so zitterte. Die zwanzig Pfennig waren weg. Beim zweiten Versuch erreichte Erdoğan seinen Freund, einen Kurden aus Syrien. Ihn bat er, eine Bestätigung der Universität zu holen und einen Dolmetscher. Vier Tage später war Erdoğan frei. Als immatrikulierter Student hatte er Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis. Heute sagt er: »Ich weiß, wie es sich anfühlt, Angst in einem fremden Land zu haben. Deshalb kann ich die Männer, die zu mir kommen, gut verstehen.«
Vielleicht hatte Kazım Erdoğan mehr Hartnäckigkeit als die Männer, die heute bei ihm Rat suchen. Vielleicht hatte er auch mehr Glück. In jedem Fall waren es sein hellwacher Geist, seine Intelligenz und sein Arbeitseifer, die den Psychologen dorthin brachten, wo er nun ist.
Als Kazım Erdoğan damals seine Immatrikulation erhielt, zog er von seinem Onkel in Neukölln weg in eine Zweizimmerwohnung in Schöneberg, ohne fließendes Wasser. Zum Duschen ging er ins Stadtbad. Zum Kochen holte er sich Wasser aus dem Flur, das er in Schüsseln abfüllte. Für die Miete sollte er 67,01 DM überweisen. »Einmal habe ich den Pfennig weggelassen«, sagt er. »Dann kam eine Mahnung. Beim nächsten Mal habe ich auf fünfzehn Pfennig aufgerundet.« Er hatte Bekanntschaft gemacht mit deutscher Gründlichkeit.
Am 15. Oktober 1974, knapp acht Monate nach seiner Einreise, begann er mit dem Deutschkurs fürs Studium. Ein Jahr später studierte er Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften.
In Deutschland setzte Phase zwei der Zuwanderung ein: Mit dem Anwerbestopp von 1973 reduzierte sich die Zahl derer, die in Deutschland Arbeit suchten. Dafür holten diejenigen, die schon hier waren, per Familiennachzug ihre Angehörigen nach. Die Struktur des Arbeitsmarktes änderte sich. 1970 hatten 75 Prozent der türkischen Einwanderer sozialversicherungspflichtige Arbeit. Fünf Jahre später arbeiteten noch 50 Prozent und im Jahr 1980 waren nur noch 39 Prozent in fester Anstellung.
Als Student beobachtete Erdoğan die Entwicklung. 1979 beschrieb er in seiner Diplomarbeit über »Arbeiter aus der Türkei in Westberlin« die Probleme der Migration: fehlende Deutschkenntnisse,
Dieses Buch basiert auf wahren Begebenheiten, von denen mir die Protagonisten selbst erzählt haben. Es erhebt jedoch nicht den Anspruch, die Geschehnisse in jeder Hinsicht authentisch wiederzugeben. Selbst wenn die Männer gerne mit ihrem vollen Namen genannt worden wären, war dies nicht möglich, um sie und die Rechte Dritter zu schützen. Deshalb sind insbesondere die Namen der im Buch vorkommenden Personen verändert, zum Teil auch ihre beruflichen und privaten Handlungen und Lebensumstände.
© 2010 Diederichs Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Weiss/Zembsch/Partner, Werkstatt/Münchenunter Verwendung eines Motivs von © ImageShop/Corbis
eISBN : 978-3-641-04666-8
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