halbtot ist nicht tot genug - Ortrud Battenberg - E-Book

halbtot ist nicht tot genug E-Book

Ortrud Battenberg

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Beschreibung

Mit knapper Not überlebt Felix Bergholz einen Absturz in den österreichischen Alpen, doch er verliert dabei jegliche Erinnerung an sein früheres Leben. Seinen heutigen Namen geben ihm die Schwestern im Krankenhaus. Auch wenn es ihm gelingt, sich als IT-Spezialist in seiner Wahlheimat Köln eine neue Existenz aufzubauen, quält ihn zwanzig Jahre lang die Frage nach seiner Identität. Er rechnet nicht mehr damit, sie je zu beantworten, da versetzt ihn eine zufällige Begegnung in Aufruhr. Sind plötzlich auftauchende Stimmen Botschaften aus der Vergangenheit? Als er endlich begreift, was ihm damals zustieß, holt er zu einem Gegenschlag aus.

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Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ortrud Battenberg

halbtot ist nicht tot genug

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Epilog

Danke

Zum Schluss

2020 erschienen:

Impressum neobooks

Prolog

Bad Hofgastein, August 1999

Er saß auf glühenden Kohlen. Musste unbedingt zurück, wollte aber nicht losfahren, bevor er nicht die endgültige Bestätigung hatte. Nervös fingerte der junge Mann am Lautstärkenregler des altmodischen Transistorradios. Das Scheißding war entweder zu laut oder zu leise. Dass seine Tante die Ferienwohnung aber auch so knickerig ausstatten musste! Hastig schob er den Pulloverärmel den kräftigen Unterarm hinauf, um zum wiederholten Mal auf die Uhr zu schauen. Verdammt noch mal, es musste doch jeden Augenblick soweit sein.

„Hier ist Radio Salzburg mit den Achtzehn-Uhr-Nachrichten.“ Nur belangloses Zeug. Bla, bla, bla ... Er schob seinen Kopf noch dichter vor den Lautsprecher, um nur nicht die entscheidenden Worte zu verpassen, und fummelte abermals herum. Jetzt brüllte die Sprecherin ihm ins Ohr: „Zum Schluss eine Meldung aus dem Gasteinertal. Wie der Sprecher der örtlichen Bergrettung mitteilte, konnte bei einem Einsatz am heutigen Mittag ein abgestürzter Wanderer nurmehr tot geborgen werden. Der Mann war im Graukogelgebiet offensichtlich ...“

Bertram Strunk sprang so heftig auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und polternd auf den Boden schlug. „Endlich! Wurde auch verdammt Zeit, ihr lahmen Arschlöcher!“ schrie er. „Wieso hat das denn so lange gedauert?!“

„Damit erhöht sich die Zahl der diesjährigen Bergtoten ...“

„Mir doch scheißegal!“ Bertram Strunk konnte das Radio nicht schnell genug ausschalten. Er hob den Stuhl auf, rückte ihn unter den Esstisch, griff sich die zwei gepackten Reisetaschen und warf noch einmal einen Rundblick durch die kleine Ferienwohnung. Alles zu steril, fand er plötzlich. Er hatte alle Flächen gründlich geputzt. Spuren von diesem Versager würde man nicht finden. Wenn denn überhaupt jemand so schlau war, hier zu suchen. Aber jetzt waren die Räume zu ordentlich. Bis seine Tante das nächste Mal kam, wäre der Chlorgestank des Reinigungsmittels verflogen, aber so penibel aufgeräumt hatte er die Wohnung noch nie hinterlassen. Das konnte man ändern, dachte er. Er kicherte, während er kurzerhand eine saubere Tasse, einen Teller und ein Messer aus dem Schrank holte, Wasser drüberlaufen ließ und die Sachen nass auf die Spüle stellte. Dann fischte er aus dem Müll eine zusammengeknüllte Tüte der Bäckerei Röck und schüttelte ein paar Krümel unter den Küchentisch. Schließlich zog er den Stuhl so zurecht, als ob er gerade aufgestanden wäre. Zufrieden schaute er sich um, ja, das war perfekt. Schnell noch ein paar Sofakissen durcheinandergebracht und im Bad die Toilettenbrille hochgeklappt. Er grinste. Das wäre das Erste, was der Alten ins Auge springen würde.

Fröhlich pfeifend hüpfte er mit Gepäck und Müllbeutel die Treppe hinunter. Unterwegs zum Abfallcontainer traf er niemanden. Im August verbrachten nicht allzu viele Wohnungseigentümer ihren Urlaub in Bad Hofgastein. Hochsaison war im Winter. Mit raumgreifenden Schritten lief er zum Parkplatz. Dass ihm dabei heftiger Regen ins Gesicht schlug, schmälerte seine gute Laune ein wenig. Trotzdem – das Wetter war wie bestellt, bei der kalten Pisse waren kaum Leute unterwegs, die ihn dort mit seiner alten Karre hätten sehen können. Aber wer hätte überhaupt Grund, auf ihn zu achten? Keine Sau. Alles war super gelaufen.

Zügig fuhr er die Pyrker Straße hinunter und bog kurz darauf in die Gasteiner Bundesstraße Richtung Salzburg. Na, demnächst hätte er einen neuen Wagen. Ein Fahrzeug, das zu ihm passte. „Und zwar sehr bald“, bekräftigte er laut und schlug energisch im Takt seiner Worte mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett.

Kurz hinter Klammstein bog er noch einmal links ab und hielt an. Von einer schmalen Brücke ließ er zerschnipselte Papiere in die Ache rieseln. Für einen unbeteiligten Vorbeifahrenden würde er aussehen wie ein bekloppter Tourist, der selbst bei so einem Wetter in dem Flüsschen nach Forellen Ausschau hält.

Dann machte er sich schleunigst auf den Weg Richtung Deutschland. Seine eigene Reisetasche hatte er in den Kofferraum gelegt, die andere stand griffbereit auf dem Beifahrersitz. Hinter der österreichisch-deutschen Grenze begann er, nach und nach den gesamten Inhalt und schließlich die Tasche selbst auf diversen Autobahnparkplätzen in Müllkübel zu stopfen, das nahm kaum Zeit in Anspruch. Er schaffte es sogar noch, sich zu Hause ein paar Stunden hinzulegen, bevor er pünktlich am Montagmorgen an seinem Praktikumsplatz erschien.

Kapitel 1

Köln

Felix, Freitag, 10. Mai 2019

Just als Felix Bergholz seinen rechten Laufschuh festzurrte, vibrierte sein Handy. Ausgerechnet. Garantiert ein Notfall. Dabei hatte er sich nach der langen Sitzerei am Schreibtisch so auf eine entspannte Runde gefreut. Er seufzte.

„Herr Bergholz, Sie müssen mir helfen!“ Schrill tönte eine Frauenstimme durch das Telefon. „Gleich kommt der Bayenthal und ich kann die Unterlagen nicht ausdrucken. Die müssen ...“, sie verhaspelte sich kurz und nahm dann einen neuen Anlauf. „Bitte, bitte, können Sie schnell kommen? Bitte ..., ich weiß nicht, was ich machen soll“, klang es flehentlich.

„Immer mit der Ruhe, Frau Langhoff. Sie sind doch Frau Langhoff, oder?“ Er hatte gleich ihre helle Stimme erkannt. Eine sympathische junge Frau, Mitarbeiterin einer Stammkundin.

„Ja, ’tschuldigung. Sie haben sicher schon Feierabend, aber ich steh’ hier und der Bayenthal ...“

„Was ist denn eigentlich passiert?“ Felix schlug einen Ton an, als ob er einem heulenden Kleinkind ein Pflaster aufs Knie klebte. Leute mit PC-Problemen waren häufig verzweifelt. Damit kannte er sich aus. „Keine Sorge, Frau Langhoff, wir kriegen das hin. Ich komme gleich vorbei. Atmen Sie erstmal tief durch.“

„Gott sei Dank, dass Sie Zeit haben! Ich könnt’ Sie küssen, Herr Bergholz. Sie müssen unbedingt sofort kommen. In einer Stunde muss alles parat liegen. Ausgerechnet jetzt ist die Chefin nicht da. Ohgottohgottohgott, wenn das nicht klappt, sind wir geliefert. Der streicht uns alle Aufträge.“

„Was wollten Sie denn gerade tun, Frau Langhoff, und was genau funktioniert nicht?“

Sie schilderte ihm ihre Probleme, die sich nach einer Hardwarestörung anhörten. Für solche Fälle hatte er so einiges am Wagen.

Er zog sein Sportzeug gar nicht erst aus, sondern fuhr direkt los. Als er zehn Minuten später im Reisebüro Junkers eintraf, erwartete die junge Angestellte ihn schon in der Tür. Sie hatte einen hochroten Kopf und ihre Stimme zitterte bei der Begrüßung.

Felix komplimentierte das Nervenbündel auf einen Besucherstuhl, setzte sich an ihren Arbeitsplatz und zog einen USB-Stick aus der Tasche. „Als Erstes sehe ich zu, dass ich die Daten sichere. Wo sollte die Datei denn zu finden sein?“

Sie sprang auf.

„Bleiben Sie sitzen, Frau Langhoff, ich mach’ das schon. Entspannen Sie sich, das ist auch bestimmt besser für ihr Baby.“ Er zeigte auf ihren Bauch. „Was wird es denn?“, fragte er lächelnd.

„Ein Mädchen.“ Die junge Frau lächelte zurück und strich behutsam über die deutlich sichtbare Wölbung. Der Gedanke an ihr Baby lenkte sie offensichtlich ab, denn sie plauderte jetzt munter drauflos. „Die Kleine soll Mona heißen, von Monika wie meine Oma und Maria wie die Oma von meinem Mann. Mona Maria Langhoff, hört sich doch schön an, oder?“ Sie sah versonnen auf ihren Bauch, lehnte sich zurück und legte die locker gefalteten Hände auf dem Gipfel des Berges ab. Plötzlich saß sie wieder kerzengerade. „In zwei Wochen gehe ich in Mutterschutz. Damit hat die Chefin schon genug Probleme, ach, und wenn der Mann jetzt nicht ...“

„Wir schaffen das schon, versprochen. Aber was ist das denn für ein furchtbarer Kunde? Ein feuerspeiender Drache?“ Felix versuchte, sie mit einem kleinen Lacher aufzuheitern.

„Bertram von Bayenthal? Den müssten Sie mal erleben! Der ist der weiße Hai! Der weiße Hai, sag’ ich Ihnen. Der frisst Sie mit Haut und Haaren. Seit so viele Leute ihre Reisen im Internet buchen, haben wir wirtschaftliche Probleme, echt schlimm, und das nutzt der gnadenlos aus. Gna-den-los, sag’ ich Ihnen. Verlangt immer höhere Rabatte, kostenlosen Service sowieso, und hat jede Menge aufwendige Sonderwünsche.

Sie kennen doch die Bayenthal Werkzeugbau, oder? Davon der Chef ist das. Schon seit dem alten Herrn von Bayenthal wickelt die Firma alle Geschäftsreisen über uns ab. Und das sind viele. Nach China, Indonesien, Indien, nach Südamerika, in den Nahen Osten, ach, einfach überall hin. In all diese Länder exportiert Bayenthal Werkzeugmaschinen für Flugzeuge, für Eisenbahnen, für Bergbau und weiß der Geier wofür noch. Für uns sind das ganz komplizierte Buchungen, das können Sie glauben, Herr Bergholz. In der letzten Zeit fliegt er dauernd nach Dubai. Der junge Herr von Bayenthal, meine ich. Und jedes Mal, wenn was schiefläuft, will er uns dafür verantwortlich machen. Können wir etwa was für ’nen verbummelten Koffer oder ’nen Streik?! Furchtbar, dieser Mann! Das ist wie ein Hobby von dem!“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Dauernd droht er, uns die Aufträge zu entziehen. Aber dann kann die Chefin einpacken. Wir sind einfach abhängig und der weiß das, dieser, dieser ...“

„Arsch“, sagen Sie es ruhig. „Mit solchen Ohren.“ Felix grinste und deutete Ohren wie Bratpfannen an. Endlich lachte die Angestellte.

Während er sich weiter mit dem PC beschäftigte, erzählte ihm die junge Frau, dass der Kunde schon seit mindestens zehn Jahren einmal jährlich zu einem dreiwöchigen Kuraufenthalt nach Österreich fuhr. Für denselben Zeitraum ließ er sich zusätzlich einen Alibi-Segeltörn zu weit entfernten Zielen ausarbeiten. Diese Reise „mit allem Zipp und Zapp“ zahlte seine Assistentin über die Firmenkonten. Am Ende jedoch musste das Reisebüro die Summe intern mit dem Kuraufenthalt verrechnen. Die Buchungsbestätigungen und Behandlungspläne holte er jedes Mal höchstpersönlich ab, damit niemand davon Wind bekam.

„Geheime Kommandosache“, sagte sie. „Soll wohl keiner wissen, dass der ’ne Krankheit hat, Basedow oder wie das heißt ... Oh!“, sie schlug die Hand vor den Mund, „behalten Sie das bloß für sich, Herr Bergholz. Das hätte ich Ihnen gar nicht erzählen dürfen.“

„Frau Langhoff, ich würde Sie doch niemals in die Pfanne hauen!“ Er nickte ihr verschwörerisch zu.

Wie hypnotisiert starrte Frau Langhoff jetzt auf die große Weltzeituhr an der Wand. Sie wippte mit dem Fuß.

„Nur noch ein paar Minuten, dann haben wir es“, sagte Felix Bergholz. „Wissen Sie was, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kochen mir jetzt mal einen schönen Kaffee, den hab’ ich mir verdient. Und wenn der fertig ist, sind Ihre Papiere auch fertig. Ich hol’ noch eben einen neuen Monitor für Sie aus dem Wagen, der alte ist hinüber. Dann können Sie morgen arbeiten und Montag kann Frau Junkers entscheiden, ob sie ihn behalten will.“

Im Hinausgehen warf er selbst einen schnellen Blick auf die Wanduhr mit dem pittoresken karibischen Palmenstrand. Noch zwölf Minuten. Du meine Güte, dachte er, jetzt lass’ ich mich auch schon nervös machen.

Fünf Minuten später lagen die Unterlagen fein säuberlich ausgedruckt auf dem Tisch. Felix schaffte es gerade noch, seine Sachen zusammenzuraffen und in den Aufenthaltsraum hinter dem Laden zu verschwinden, als der Kunde schon geräuschvoll die Eingangstür aufstieß. Der Kaffee war bereits durchgelaufen. Felix nahm die bereitgestellte Tasse und bediente sich selbst. Heiß und schwarz, genau richtig. Er setze sich, streckte die Beine aus und rieb sich den Nacken. Junge, Junge, das hatte noch so eben hingehauen ...

Aus dem Reisebüro drang Gemurmel zu ihm herüber. Das Gesagte war nicht zu verstehen, aber die männliche ließ sich deutlich von der weiblichen Stimme unterscheiden. Plötzlich hörte er ein dröhnendes „Ha, ha, ha!“, das ihn an die hemdsärmeligen Auftritte Gerhard Schröders erinnerte. Aber nein, dieses Lachen war anders, genauso breitbeinig selbstsicher zwar, doch grollender, irgendwie bedrohlich. Der weiße Hai bleckt seine Zähne, bevor er dich frisst, dachte Felix. Ihn packte ein diffuses Unbehagen und er schüttelte irritiert den Kopf. Als er die Ladentür hinter dem Mann zufallen hörte, fühlte er sich besser.

Kapitel 2

Köln

Felix, Freitag, 10. Mai 2019

Vom Reisebüro Junkers fuhr Felix Bergholz direkt zum Volksgarten, um dort noch ein paar Runden zu drehen. Zum Glück war das Wetter nicht so toll, viel zu kalt für Mai, und so zog es nur die unerschrockensten Griller auf die Wiesen. Er würde ungestört laufen können, anders als bei schönem Wetter, wenn in den Kölner Parks und Anlagen der Teufel los war. Deswegen fuhr er an solchen Tagen gern auch mal raus in die Eifel oder ins Bergische Land und lief durch die Wälder. Er liebte es einfach, sich an der frischen Luft zu bewegen.

Es war in der Tat nicht nur empfindlich kühl geworden, sondern sah auch nach Regen aus. Aus Richtung Westen schoben sich unter duftig schwebenden Wolkenschleiern schwere bleigraue Wolken heran. Dort wo die Sonne durchblitzte, ließ ein aufstrahlendes Weiß Felix hoffen, dass er seinen Lauf noch trockenen Fußes beenden könnte.

Nach ein paar Dehnübungen trottete er langsam los, um sich erst einmal aufzuwärmen. Normalerweise reichten ein paar Schritte und ein durchdringendes Wohlgefühl stellte sich ein. Dann schaltete sein Verstand komplett auf Sinneseindrücke um: Er roch den Frühling, hörte Vögel zanken, sah Kaninchen in ihre Löcher hoppeln oder grüngefiederte Papageien in die hohen Platanen aufsteigen. Dabei stellte sich in seinem Kopf ein eintöniger meditativer Singsang ein, der alle Gedanken – angenehme wie grüblerische – verscheuchte. Mmmh, mmmh summte es mit jedem Schritt. Mmmh, mmmh, hoch, tief, hoch, tief ... im gleichmäßigen Takt seines Laufes.

Aber heute ging ihm die Aktion im Reisebüro nicht aus dem Sinn. Hartnäckig waberte der Klang der Männerstimme durch seinen Kopf, doch er bekam ihn weder zu fassen, noch wurde er ihn los. Felix versuchte, den Störenfried beiseitezuschieben und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Frau Langhoff fiel ihm ein. Sie hatte ihn zum Abschied überschwänglich in den Arm genommen und gedrückt. „Danke, Sie haben was gut bei mir“, hatte sie gesagt und für einen winzigen Augenblick dabei ihren vorstehenden Bauch fest an seinen gepresst.

„Oh, sorry“, sagte sie und lachte verlegen. „Ich vergesse immer, den mit einzuberechnen.“

Ihm versetzte der kurze Druck der festen runden Kugel einen Stich und er wandte sich schnell ab, damit sie es nicht bemerkte. Fast wären ihm die Tränen gekommen. Nicht zu fassen! Er hätte nicht gedacht, dass ihn dieses Gefühl noch so plötzlich überrumpeln konnte. Dass es ihm so viel ausmachte, nie ein Kind zu haben! Keine Frau, kein Kind. Einfache Rechnung. Er war jetzt fünfundvierzig, jedenfalls ungefähr, und hatte geglaubt, er hätte sich längst damit abgefunden.

Mmmh, mmmh. Mmmh, mmmh. Felix versuchte, den sich sonst so automatisch einstellenden Singsang bewusst hervorzurufen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Immer schob sich diese Stimme dazwischen. „Ha, ha, ha“, ein Lachen, das ihn zu verspotten schien, obwohl es Frau Langhoff galt. Was bedeutete das? So sehr er sich anstrengte, er bekam diesen lästigen Klang nicht zu fassen. Er tönte in seinem Kopf wie die letzten Schwingungen eines verklingenden Paukenschlags und hinterließ ein unbestimmtes Gefühl. Eins war jedoch gewiss: Das Gefühl war nicht gut.

Dieser von Bayenthal – Felix kannte das Unternehmen. Hatte sogar vor nicht allzu langer Zeit schon einmal für die Firma gearbeitet, denn beruflich war er ein Allrounder. Seit knapp neunzehn Jahren war er als selbstständiger IT-Dienstleister tätig, der sich einerseits als Mädchen für alles und andererseits als Spezialist verstand. Aus wirtschaftlich-praktischen Gründen konzentrierte er sich auf die geschäftliche Nische medizinische Praxen und Kliniken. Hier genoss er einen hervorragenden Ruf, hier generierte er hauptsächlich seine Aufträge und wurde häufig weiterempfohlen.

Es gab aber auch IT-Unternehmen, die ihn, den Einzelkämpfer, mitunter als Freelancer verpflichteten – große Systemhäuser, die bei Belastungsspitzen Unterstützung in ihren Entwicklerteams oder bei der Implementierung benötigten. Derartige Aufgaben konnten sich durchaus schon einmal über Monate hinziehen, und um solch einen Auftrag hatte es sich auch bei der Bayenthal Werkzeugbau GmbH in Rodenkirchen gehandelt. Der persönliche Besucherausweis hing sogar noch in seinem heimischen Schlüsselkasten, denn er war schon für einen Folgeeinsatz in ein paar Wochen engagiert. Den Bayenthal-Boss hatte er allerdings nie getroffen.

Aufträge in kleineren Unternehmen wie im Reisebüro Junkers liebte Felix besonders und verstand ihre Sorgen und Nöte. Er mochte die direkten Begegnungen mit den Menschen und wurde immer wieder für Schulungsseminare angefordert, weil die Kunden seine geduldige Art schätzten.

Solche Leute waren sein analoger Anker, wenn er in seiner nächtlichen digitalen Welt wegzudriften drohte, wenn er nicht aufhören konnte zu tüfteln, wenn er bis in die Morgenstunden fremde Systeme hackte und, quasi als Fingerübung, Abwehrprogramme für die dort entdeckten Sicherheitslücken entwickelte. In diesen zahllosen Nächten pflegte er auch Kontakte mit Szene-Kollegen aus aller Welt. Man freundete sich an, tat sich gegenseitige Gefallen, aber bekam sich nie zu Gesicht. Die einzige Ausnahme bildeten drei Kollegen aus Frankreich, Polen und den USA, mit denen er in regelmäßigen Abständen skypte.

Insofern war er ein Nerd, wie er im Buche stand. Ein Nerd, der froh war, wenn morgens nach zwei Stunden Schlaf das Telefon klingelte und irgendein armer Tropf atemlos „Herr Bergholz, Sie müssen uns unbedingt helfen!“ in den Hörer jammerte.

Felix musste lachen. Wahrscheinlich erfüllte er das komplette Nerd-Klischee und sah auch bestimmt aus wie einer, der sich wenig um Äußerlichkeiten scherte. Jedenfalls war sein Kleiderschrank überschaubar: ein paar blaue und schwarze Jeans, schwarze T-Shirts und Polohemden, im Winter ein dicker schwarzer Anorak, im Sommer eine verwaschene blaue Jeansjacke. Und sein Sportzeug natürlich. Er kaufte gern gute Qualität, dann hielten die Klamotten jahrelang. Den einzigen modischen Scherz, den er sich erlaubte, waren bunte Socken. An diesem Morgen hatte er sich für rote Erdbeeren auf schwarzem Grund entschieden. Dazu trug er Sneaker.

Plötzlich drängelte sich sein zusammengenageltes Bein gewaltsam zwischen die Nerd-Spinnereien. Es schmerzte. Höllisch. So schlimm wie lange nicht. Felix hielt an, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und atmete mit offenem Mund. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, wann zuletzt es dermaßen gepocht und gezogen hätte. Weil jeder Schritt Schmerzwellen bis hoch in die Wirbelsäule schickte, hinkte er vorsichtig zurück zum Bonner Wall, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Wann hatte das denn angefangen? Er hatte gar nicht darauf geachtet. Tagsüber ging’s doch noch, oder? Schließlich meinte Felix, einen dumpfen Druck schon im Reisebüro gespürt zu haben. Das Joggen hätte er besser mal gelassen. Inzwischen setzte auch noch ein heftiger Regenschauer ein.

Zuhause im Stadtteil Sülz angekommen quälte Felix sich die vier Treppen hinauf in seine Drei-Zimmer-Altbauwohnung. Er durchwühlte seinen Badezimmerschrank nach einem Schmerzmittel. Von dem grippalen Infekt im letzten Jahr musste doch noch eins da sein! Ja, da war’s, zum Glück nicht abgelaufen. Hastig drückte er zwei Tabletten aus der Blisterpackung und spülte sie mit einem Schluck Wasser aus dem Zahnputzbecher herunter. Hoffentlich half das!

Anschließend nahm er eine heiße Dusche und zog sich etwas Warmes über. Danach sammelte er sein nasses Sportzeug zusammen und steckte es in die Waschmaschine. Als er mechanisch die Hosentaschen leerte, fiel ihm der USB-Stick wieder in die Hände. Stimmt, dachte er, den hab’ ich ja auch noch. Muss ich unbedingt löschen. Er legte ihn in die Zettelbox auf seinem Schreibtisch.

Kapitel 3

Köln

Bertram, Freitag, 10. Mai 2019

Als Bertram von Bayenthal seine Reiseunterlagen abholen wollte, waren sie natürlich noch nicht fertig. Die blöde Kuh hatte doch wahrhaftig den ganzen Nachmittag Zeit gehabt, alles gescheit vorzubereiten. Aber nein, jetzt musste sie erst noch alle Zettelchen eintüten. Umständlicher ging’s nicht! Hektisch versuchte sie, die Blätter in Umschläge zu stopfen. Und wie sie ihn dabei anglotzte! Wie das Mäuschen die Schlange. Aber er wollte für diesmal großzügig darüber hinwegsehen. Es konnte schließlich nicht jeder perfekt sein, dachte er. Als ihm einfiel, dass das auch wahrhaftig nicht sonderlich wünschenswert wäre, lachte er lauthals. Wer wäre dann wohl das Fußvolk? In ihrer Blödheit fasste die Tusse seinen Spott auch noch als Freundlichkeit auf und lächelte ihn selig an. Mann, Mann, wie minderbemittelt musste ein Kerl sein, der so eine flachlegte und ihr obendrein ein Balg andrehte?

Jetzt versuchte sie auch noch, die Unterlagen in eine Werbemappe zu legen. Er herrschte sie an. „Sowas will ich nicht, ich habe mich doch wohl deutlich genug ausgedrückt! Das soll neutral verpackt sein.“

Sie reichte drei Umschläge über die Theke, ohne Mappe. „Ist es so recht?“

„Geben Sie endlich her, ich hab’ meine Zeit nicht gestohlen!“ Er riss ihr die Papiere aus der Hand und verließ das Geschäft, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und süffisant zu bemerken: „Und richten Sie Ihrer Chefin einen schönen Gruß aus.“

Während er mit seinem Tesla aus der Parklücke zog, um nach Hause zu fahren, hupte jemand anhaltend.

„Du blödes Arschloch! Gib den Führerschein ab, wenn du nicht fahren kannst!“, schrie er laut und zeigte dem Rüpel den Mittelfinger. „Hab’ ich’s denn nur mit Idioten zu tun?“ Während er den Wagen beschleunigte, schielte er zu den drei Umschlägen, die er auf den Beifahrersitz geworfen hatte. Die würde er heute Abend in Ruhe kontrollieren.

In der Rodenkirchener Uferstraße angekommen, öffnete er mit seiner Fernbedienung das hohe schmiedeeiserne Tor der gemeinsamen Grundstückseinfahrt. Er konnte nicht verhehlen, dass er jedes Mal wieder von dem Anwesen und von dessen Lage am Rhein beeindruckt war. Die imposante Bauhausvilla auf dem Vordergrundstück war wirklich grandios und er bewunderte sie schon wesentlich länger, als irgendjemand in der Familie ahnte.

Sie gehörte – leider – seinem Schwiegervater Arthur von Bayenthal, der sie wiederum von seinem Vater, dem Firmengründer Antonius von Bayenthal geerbt hatte. Dieser Mann hatte nach der Weltwirtschaftskrise 1929 die Erfordernisse der Zeit verstanden und einen soliden Grundstock für Unternehmen und Vermögen gelegt. Er selber hatte ihn leider, leider nicht mehr erlebt, ein Jammer. Mit dem hätte man etwas anfangen können. Sein Schwiegervater dagegen – was für eine Flasche! Bertram verzog verächtlich den Mund. Den Bayenthal-Gründer, den hätte er respektieren können. Der Mann hatte es draufgehabt! Kompromisslos und unerbittlich, wie man berichtete, dabei ungemein geschäftstüchtig und obendrein kunstsinnig. Was der in den 30er/40er Jahren allein an zeitgenössischer Kunst aufgekauft hatte – heute ein immenser Wert auf dem Sammlermarkt. Angeblich hätte er für alle Bilder Kaufbelege vorweisen können, aber Bertram glaubte nicht daran. Da Antonius’ damalige Parteifreunde ein wenig »engstirnig« waren, hängte er die meisten Gemälde nicht an die Wände seiner neuen Villa, sondern deponierte sie in einem wohltemperierten Kellergewölbe unter dem Haus. Diese Bilder wurden niemals registriert. Super!, befand der Gatte seiner Enkeltochter. Wenn die vererbt wurden, hielt kein Finanzamt die Hand auf.

Nur unfair, dass er als Schwiegersohn so gar nichts davon hatte. Wenn die Alten endlich auf Melaten lagen, erbte nämlich das einzige Töchterchen. Aber was ihr gehörte, gehörte auch ihm. War es nicht so?

„Am besten, ich hätt’ sie schon alle vom Hals!“ Ups, hatte er laut gedacht? Er grinste. Kommt Zeit, kommt Rat, sagte er sich und nickte seinem Konterfei im Rückspiegel zu, schließlich bin ich erfinderisch. Seine Miene hellte sich auf. Die Tochter hatte er doch schon seit Langem in der Tasche. Und hatte sich Arthur von Bayenthal nicht wegen einer Herzerkrankung aus der Firma zurückziehen müssen? Er war auf Medikamente angewiesen. Diese Idee ließ sich ausbauen ... Blieb die teure Schwiegermutter – wer wusste schon, wie schnell die ihrem Gatten ins Grab folgen würde?

Bertram von Bayenthal unterbrach seinen liebgewonnenen Tagtraum und wandte sich der Realität zu. Diese Würstchen konnte er auch anders ausschalten. Sind wir doch großzügig, lassen wir den Unwissenden ihr armseliges Leben! Als gewiefter Stratege wusste er, dass ein erfolgreicher Jäger niemals mehr Kraft einsetzte als notwendig. Und wenn es nötig werden sollte ... Im richtigen Augenblick würde er zuschlagen, so oder so.

Ewig Zeit hatte er allerdings nicht, denn letzten Endes verfolgte er Pläne. Bertram lächelte zufrieden. Er käme schon zu seinem Recht. Wer hatte denn das Unternehmen vor der Pleite gerettet? Arthur hätte es doch vollends vor die Wand gefahren. Wer sicherte Hunderte von Arbeitsplätzen und schrieb dicke schwarzen Zahlen? Hä? Wer holte die Kunden ran? Hä, Alter? Wer denn? Allmählich wurde es Zeit für den ganzen Kuchen, nicht nur für einen läppischen Firmenanteil. Bertram von Bayenthal presste die Lippen aufeinander und schob das Kinn vor. Er würde schon kriegen, was ihm zustand.

„Wenn die wüssten“, murmelte er. „In ein paar Monaten ändert sich hier so einiges.“

Kapitel 4

Köln

Bertram, Freitag, 10. Mai

Bertram von Bayenthal fuhr zügig den weißen Kiesweg hinauf, passierte das Gebäude der Schwiegereltern und erreichte seine eigene Villa. Zwischen den beiden Bauten erstreckte sich ein parkähnlicher Garten mit hohen alten Bäumen. Da der Himmel sich mit dichten schwarzgrauen Wolken bedeckte, bekam das Licht eine ganz besondere Strahlkraft. Rote und violette Rhododendren in voller Blüte hoben sich leuchtend von seinem eigenen eleganten weißen Domizil ab. Ach, komm, auch nicht schlecht, dachte er stolz. Ein schönes Häuschen hatte er, ein bisschen breiter und höher als das der Schwiegereltern. Der Bayenthal’sche Park war zum Glück groß genug gewesen, um dort in zweiter Reihe ein weiteres beachtliches Gebäude zu errichten. Durch einen geschickten Schachzug seines Architekten konnte er selber aus einem leicht erhöhten Blickwinkel das gesamte Grundstück und die Bauhausvilla gut einsehen, was für die umgekehrte Richtung nicht galt.

Die Schwiegereltern waren höchst zufrieden, dass das einzige Töchterchen so nah bei der Frau Mama und dem Herrn Papa wohnte. Zum Einzug hatten sie ihnen den echten August Macke aus ihrem Salon geschenkt. Charlotte liebte das farbenfrohe Bild schon seit Kindertagen, das sie dazu inspiriert hatte, Kunstgeschichte zu studieren. Später leierte sie ihrem lieben Papi noch weitere Aquarelle und Ölgemälde aus den Rippen: Schmidt-Rottluff, Pechstein, Franz Marc und wie die alle hießen. Braves Mädchen. Ihm gefiel das bunte Geschmiere ja nicht sonderlich, aber die Bilder waren wertvoll.

Weit vorausschauend hatte er es als strebsamer Schwiegersohn so gedeichselt, dass als Eigentümerin der neuen Villa die Bayenthal Werkzeugbau GmbH eingetragen wurde – aus Steuergründen, wie der Schwiegervater glaubte. Man konnte Bertram von Bayenthal diese Begründung auch durchaus abnehmen, denn in der Tat setzte er sein Haus gern für die Firmeninteressen ein. Zu Repräsentationszwecken fanden dort häufiger große Empfänge, Geschäftsessen oder Privateinladungen wichtiger Kunden statt. Erst kürzlich hatte er einen chinesischen Geschäftspartner in der gesamten Immobilie herumgeführt und nicht einmal vor den privaten Räumen im Obergeschoss haltgemacht. Der Hausherr liebte es, als Gastgeber zu glänzen. Berühmt waren seine Sommerfeste im Park, zu denen sich die Größen aus Wirtschaft, Politik und Kunst gerne die Ehre gaben.

Bertram stellte den Wagen in eine der Garagen unter dem Haus, weil es sicher bald regnen würde. Er verschmähte den direkten Zugang zum Wohnbereich, sondern genoss es wie jeden Tag, von außen die Freitreppe hinaufzuschreiten, um schließlich die schwere, aber in den Scharnieren gut geölte eichene Haustür leise zu öffnen.

Pfefferminzgeruch in der Halle. Auf sein feines Näschen war Verlass. „Na, Herzchen, mal wieder ein paar Gläschen zu viel gehabt?“

Seine Frau, die im Salon in einem Kunstband blätterte, schrak zusammen, sprang auf und huschte in die Küche.

„Willst du deinen hart arbeitenden Mann denn nicht richtig begrüßen?“ Er folgte ihr, wohl wissend, dass sie sich am liebsten verkrochen hätte.

„Doch, doch, ich musste nur eben ...“

Er packte sie an der Schulter, nicht einmal übermäßig hart, drehte sie mit einer Hand zu sich und hob mit dem Zeigefinger der anderen ihr Kinn an. Sie konnte jetzt seinem Blick nicht mehr ausweichen. Er lächelte seidenweich.

„Was musstest du noch eben? Hä? Dir noch einen einschütten? Oder hast du das Essen mal wieder nicht rechtzeitig fertig? Ich hab’ dich doch angerufen.“

„Doch, doch. Alles fertig. Ich wusste nur nicht, wann genau du kommst.“

„Doch, doch, alles fertig. Wusste nicht, wann du kommst ...“, äffte er sie nach. Dann drückte er ihr gewaltsam einen Kuss auf den Mund, um sich sofort übertrieben angewidert abzuwenden. „Ekelhaft, deine Fahne, reiß dich doch endlich zusammen. Wird Zeit, an einen Entzug zu denken. Vielleicht sollte ich doch mal mit deinem Vater darüber reden. Der kennt vielleicht eine gute Klinik.“

Ein Superinstrument, um sie nicht übermütig werden zu lassen! Er amüsierte sich, denn seine Worte zeigten die beabsichtigte Wirkung. Sie hastete ins Esszimmer und deckte blitzschnell den Tisch, die Teller wie immer an den gegenüberliegenden Kopfseiten der Tafel. Als sie mit dem Essen aus der Küche zurückkam, hatte Bertram von Bayenthal sein Gedeck verschoben, er saß jetzt unmittelbar neben seiner Frau an ihrem Ende des Tisches.

„Liebling, Du wolltest doch, dass wir zukünftig näher zusammensitzen. Hast du das etwa schon wieder vergessen?“

„Ich wollte ...?“ Sie sah ihn verständnislos an und zog den Kopf ein.

„Nun?“

„Nein, nein, nicht vergessen, nur die Macht der Gewohnheit ...“

Er feixte. „Oder war mein Schätzchen mal wieder zu benebelt und weiß gar nichts mehr davon?“

„Nein, nein, bestimmt nicht, morgen denke ich gleich daran.“

Na, geht doch, dachte er, inzwischen glaubt sie alles, was ich ihr einrede. Er liebte seine kleinen Experimente.

Charlotte von Bayenthal stocherte in ihrem Gemüse herum und aß kaum einen Bissen. Beinahe unmerklich rutschte sie auf ihrem Stuhl bis an die äußerste Kante, um den Abstand zu ihrem Mann zu vergrößern.

„Du isst ja so wenig, hast Du wieder zugenommen?“

„Nein, habe ich nicht“, sagte sie weinerlich. „Oder findest du?“

„Wenn Du mich schon fragst ... Ein paar Kilo weniger könnten nicht schaden.“

Dabei war sie jetzt schon klapperdürr! Bertram hätte fast laut gelacht, sie sprang inzwischen auf jeden Trigger an.

„Na ja, hat auch schon mal besser geschmeckt“, sagte er und schob seinen halb leer gegessenen Teller zurück. Dabei kochte sie eigentlich ganz ordentlich, fand er. Aber das musste man ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

In der Tat wollte er selber noch etwas abnehmen, bevor er sich in seine Kur begab. Scheiß Bechterew! Warum passierte das ausgerechnet ihm? Und dann schon damals mit dreißig! Es gab doch genug Idioten, die nicht so sportlich waren wie er. Die daheim auf dem Sofa hockten und nichts Besseres zu tun hatten, als sich ein Bier nach dem anderen in den Kopf zu schütten. Die haufenweise Chips fraßen. Denen konnte es egal sein, wenn sich allmählich Brustkorb und Wirbelsäule versteiften. Die hatten die Schmerzen verdient, aber nicht er!

Bertram von Bayenthal fühlte sich vom Schicksal ungerecht behandelt. Immerhin: Allen schlechten Prognosen zum Trotz hatte er den Feind gut im Griff. Bis jetzt hatte noch niemand etwas davon mitbekommen. Jetzt war er sechsundvierzig und man sah ihm die Krankheit so gut wie nicht an. Und so sollte es auch bleiben. Höchstens Eingeweihte würden die Anzeichen von Morbus Bechterew erkennen.

Nur dass er aufs Kickboxen verzichten musste, seit er 35 war, das war ein echter Tiefschlag gewesen. Probleme mit dem Gleichgewicht und der Koordination hatten ihn dazu gezwungen. Aber wenn auch der Wettkampfsport für ihn gestorben war, so trainierte er dennoch eisern. Der heimische Fitnessraum war speziell auf seine Bedürfnisse abgestimmt.

Ein Witz, dass der weltweit einzigartige Heilstollen, der ihm Linderung seiner Beschwerden brachte, ausgerechnet im Gasteinertal in Österreich lag. Große Lust verspürte er nicht, an denselben Ort zu fahren, wo die Schwester seiner Mutter früher regelmäßig den Urlaub verbrachte. Aber andererseits war es ihm auch egal. Hauptsache, die Heilstollenkur half!

Die Physiotherapie hatte er bei einer ganz bestimmten Therapeutin buchen lassen und der wollte er einen gut trainierten schlanken Körper präsentieren. Er war zwar ein attraktiver Mann, wie er öfter hörte, aber ein, zwei Kilo könnten bis dahin trotzdem noch weg. Was seine Alte machte, war ihm sowas von egal. Er ließ sie am Tisch sitzen und begab sich in sein Arbeitszimmer im ersten Stock. Das war ein Raum, wie er ihm zukam! Der größte im Haus und mit der schönsten Aussicht auf den Rhein.

Kapitel 5

Köln

Felix, Freitag, 17. Mai

Die Woche war locker gelaufen. In den Nächten schlief Felix Bergholz zwar unruhig, aber das war nichts Neues für ihn, ihn plagten öfter Albträume. Beruflich lag er gut in der Terminplanung. Alle aktuellen Aufträge abgehakt, nirgends Störungen, Frau Junkers vom Reisebüro behielt den Monitor und fragte nach der Rechnung. Ein guter Kumpel, ein Immobilienmakler, rief an und wollte einen Kostenvoranschlag, weil Felix seine Anlage auf den neuesten Stand bringen und mit der jüngst eröffneten Filiale in Bonn vernetzen sollte. „Wenn du nicht auf Zack bist, wirst du mir nichts, dir nichts abgehängt“, sagte der Makler. Er musste es wissen, er hatte eins der größten Maklerbüros in Köln. Sie verabredeten sich für die kommende Woche, doch zunächst musste Felix sich erst einmal in die Arbeitsabläufe des Immobilienmarkts einarbeiten.

Montagabend hatte er wieder vorsichtig mit dem Laufen begonnen. Er entschied sich für den Wald am Geißbockheim. Dort lagen die Parkplätze so, dass er sie notfalls schnell erreichen konnte, falls sein Bein wieder Probleme machte. Außerdem konnte man hier gut zwischen kürzeren oder längeren Laufwegen auswählen. Er stellte seinen Wagen am Duffesbach ab, überquerte die Berrenrather und trabte langsam durch die Franz-Kremer-Allee Richtung Geißbockheim. Wenn das Laufen zu sehr schmerzen sollte, würde er dort im Clubhaus des 1. FC Köln eine Pause einlegen, ein Glas trinken und danach langsam wieder zum Auto zurückkehren. Aber er hatte Glück, seine Knochen schienen sich beruhigt zu haben. Am Geißbockheim angekommen, entschloss er sich, noch eine Runde um die Trainingsanlagen zu drehen. Das muss für den Anfang genug sein, dachte er. Das Laufen tat gut, ein Hauch von Holunderblüten lag in der Luft und der frühe Abend war lau. Das frische Grün der Blätter leuchtete in der abendlichen Sonne wie frisch lackiert. Weniger schön war allerdings, dass überall zwischen den Büschen und Bäumen die Überbleibsel der Aufstiegsfeierei herumlagen. Wie in der ganzen Stadt hatten die Fans auch hier am Geißbockheim den Wiederaufstieg des 1. FC Köln in die Erste Bundesliga gefeiert. Ganz Köln war im rut-wieße Fußballfieber: „Nie mehr, nie mehr zweite Liga ... Effzeh, Effzeh, Effzeh ...“ Sicherlich freuten sich die Brauereien über den erhöhten Kölsch-Umsatz.

Seit Felix in Köln wohnte, war auch ihm der Verein ans Herz gewachsen. Es war schwer, sich dem Kölner Fußballzauber zu entziehen, aber er hätte sich auch gar nicht entziehen wollen. Der FC begeisterte, trieb zum Wahnsinn oder löste Jubelstürme aus. Der Verein berührte die Menschen und bot immer einen Anlass, um an der Bahnhaltestelle, am Büdchen oder in der Kneipe schnell ins Gespräch zu kommen. Überhaupt war es leicht, mit den Kölnern ins Gespräch zu kommen. Sie machten gerne den ersten Schritt. Die meisten dieser Bekanntschaften blieben beliebig, doch manche vertieften sich auch. Mit einigen, wie beispielsweise dem Immobilienmakler Kaspar Kämpgen, verband ihn heute ein gutes, wenn auch lockeres freundschaftliches Verhältnis. Sie trafen sich meistens ohne spezielle Verabredung in der gemeinsamen Stammkneipe. Kämpgen frönte der zweiten Kölner Leidenschaft – eigentlich der allüberragenden – dem Karneval. Mit Fußball hatte er weniger am Hut, doch im Karneval war er nicht zu bremsen.

„Einem geborenen Kölner liegt das im Blut“, erklärte er mit breiter Brust und zeigte sich nachsichtig, dass Felix den Karneval zwar mochte, sich aber dennoch nicht mit Leib und Seele hingab wie er. „Du bist eben ’ne Imi. Aber sei nicht traurig, kann ja nicht jeder in Köln geboren sein.“ Sprach’s und tätschelte ihm liebevoll den Kopf. Nach dem achten oder neunten Reissdorf konnte er schon mal sentimental werden.

’Ne Imi, da hatte Kaspar recht. En imitierte Kölsche, das ja, aber ein akzeptierter. Immerhin durfte er sich mit Wohnsitz in der Stadt sogar Kölner nennen. Da waren die Einheimischen nicht so.

Felix erreichte den Parkplatz. Auch hier lagen jede Menge Bierdosen herum. Die Pfandsammler würden sich freuen. Allerdings mussten sie sich sputen, denn die Teams der Kölner Stadtreinigung waren allenthalben unterwegs.

Ob er sich früher für Fußball interessiert oder gar einen Lieblingsverein gehabt hatte, wusste er nicht. Jetzt hatte er jedenfalls einen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Felix hielt es für viel sympathischer, einen Verein zu lieben, der schon sechsmal ab- und wieder aufgestiegen war, als einen, der über das dicke Geld verfügte und jahrelang in Folge Deutscher Meister wurde.

Fans hin oder her, ihren Müll hätten die Trottel trotzdem mitnehmen können ...

Das neue System bei Zahnarzt Prinz lief wie am Schnürchen, und wie sich Mittwoch Nachmittag bei der Schulung der Mitarbeiterinnen herausstellte, waren sowohl die Damen als auch der Chef technikaffin. Dennoch vereinbarten sie für den kommenden Samstag noch einen Nachschulungstermin.

Freitag schlug Felix sich den ganzen Nachmittag mit den Unterlagen herum, die ihm der Immobilienmakler zur »ersten Information« zugemailt hatte. Es war anstrengend, sich in das ungewohnte Sujet einzuarbeiten. Als er bemerkte, dass er sich nicht mehr konzentrieren konnte, schloss er die Dateien. „Schluss für heute“, sagte er zu einer dicken Kohlmeise, die sich auf dem Fensterbrett niedergelassen hatte und hingebungsvoll an einer Mauerfuge pickte. „Nächste Woche ist auch noch Zeit.“ Er gähnte und reckte sich ausgiebig. Die kleine Schreibtischuhr in Form des Kölner Doms, das Geschenk einer Kundin, zeigte 19.00 Uhr. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er beträchtlichen Hunger hatte. Bevor er mittags nach Hause gekommen war, hatte er sich schnell ein Käsebrötchen am Kiosk geholt, das war alles gewesen. Inzwischen tat ihm der Magen fast weh. Er machte sich kurz frisch, um schnell mal bei Enrico vorbeizuschauen. Dort bekam man die beste Pizza in der Gegend.

Felix setzte sich an ein Tischchen in der Ecke. Er fühlte sich wohl in diesem Laden, hier duftete es köstlich nach südlichen Kräutern und Gewürzen und im Hintergrund dudelte stets italienische Schlagermusik. Volare, oho, cantare ohohoho, nel blu dipinto di blu ... Wenn er besonders gute Laune hatte, sang der Chef des Hauses lauthals mit. In diesem Lokal kam man sich vor wie aus der Zeit gefallen. Die Pizzeria war so kitschig eingerichtet, dass es krachte. Farbenfrohe Inselchen im blauen Meer zierten die Wände, umschippert von bunten Fischerbooten. Ein schmachtender Sänger mit Strohhut und Gitarre brachte seiner schwarzgelockten Schönen ein Ständchen und ein barfüßiger Zitronenverkäufer bot von seinem fähnchengeschmückten Wagen aus dicke gelbe Zitronen feil. Während man auf seine Pizza wartete, wurde einem bei Enrico nicht langweilig. Wer nicht das Publikum – mitunter ein regelrechtes Panoptikum – beobachtete, konnte mit Muße die Wandmalereien betrachten.

Vier abgenutzte Resopaltischchen mit den dazu gehörigen Stühlen drängten sich dicht an dicht. Dass die roten Polster hier und da einen Riss hatten, störte niemanden. Alle genossen das Schauspiel, das sich ihnen bot. Keiner bereitete die Pizza so zu wie Enrico! Elegant wirbelte er den Teig auf seinem Handteller, warf ihn hoch und fing ihn mit einer geschickten Drehbewegung wieder auf, bestäubte schwungvoll die Arbeitsfläche mit Mehl und verteilte die Belagzutaten so schnell auf seinem Werk, dass man es kaum verfolgen konnte. Zwischendurch bediente er das Telefon: „Pronto, Da Enrico, was kannisch für disch tun? Quattro Stagioni mit extra viele Käse, ma certo, e senza Tonno? Quindici minuti“. Gleichzeitig schaffte er es, sich mit seinen Kunden im Lokal zu amüsieren: „Schommal Tonno auffe Quattro Stagioni gesehen, äh?“

Als alle Bestellungen im Steinofen vor sich hin brutzelten, flitzte Enrico an Felix’ Tisch und wischte virtuos einmal nass und einmal trocken darüber.

„Wie isse, mein Freund, Leben noch frische?“ Felix lachte. Es war unmöglich, sich nicht von Enrico anstecken zu lassen. Er nahm die entgegengestreckte Speisekarte, warf einen Blick hinein und bestellte, was er immer nahm: Pizza Margherita mit Artischocken und scharfen Peperoni. Nirgends gab es die so dünn und so knusprig wie hier.

Nach einem doppelten Espresso machte er sich schließlich gemütlich auf den Heimweg, nicht ohne noch ein großzügiges Trinkgeld in die venezianische Gondel auf dem Tresen zu stecken.

Felix freute sich schon auf den Abend. Jeden dritten Freitag im Monat begann um 24.00 Uhr ihr Jour fixe. Die späte Uhrzeit war der Tatsache geschuldet, dass Sandy in Portland/Maine lebte und es dort erst 18.00 Uhr war. Bis um fünf ging sie ihrem Beruf nach und war nicht eher zu Hause. Aber da Felix ohnehin ein Nachtmensch war und sowohl Victor als auch Marian erst spät die nötige Muße fanden, war die nachtschlafende Stunde für sie drei kein Problem. Bis es soweit war, setzte Felix sich mit einem Glas Wein vor den Fernseher und switchte durch verschiedene Talkshows. Ihm schien, dass die meisten Eingeladenen von einem Sender zum anderen weitergereicht wurden, damit sie für ihr x-tes Ratgeberbuch die Werbetrommel rühren konnten. Und wenn mal interessante Gäste dabei waren, klammerten die Moderatoren sich an ihre Kärtchen und stellten immergleiche und fantasielose Fragen, anstatt die Leute einfach mal reden zu lassen. Um kurz vor zwölf goss er sich noch ein Glas Wein ein und fuhr den PC hoch.

Es war schön, wieder mit den drei Freunden zu plaudern. Sie hatten sich alle in einem »Spezialisten«-Netzwerk kennengelernt. Als sie feststellten, dass sie sich mochten und darüber hinaus wunderbar ergänzten, richteten sie sich einen eigenen kompliziert verschlüsselten Chatroom ein. Den würde keiner knacken. Und wenn es einer versuchen sollte, würden sie es sofort bemerken. Hier tauschten sie sich über diverse Themen aus, meist technischer Art. Es hatte etwa zwei Jahre gedauert, bis sie sich vollends vertrauten und auch ihre Klarnamen und persönlichen Umstände offenbarten. Wenn nötig, trafen sie sich öfter, aber in der Regel mindestens einmal im Monat, virtuell, denn persönlich, sozusagen in Fleisch und Blut, begegnet waren sie sich nie. Aber dennoch hatte sich über die Jahre eine belastbare gegenseitige Freundschaft entwickelt. Die drei Freunde kannten auch Felix’ Geschichte, die er sonst niemandem mehr anvertraute.

Sherlock, Klarname Victor, war bestens drauf, hatte er doch gerade eine dicke Prämie von einer Versicherungsgesellschaft kassiert. Er war sicherlich derjenige aus ihrem Clübchen, der finanziell am besten gestellt war. Victor war Teilhaber einer Anwaltskanzlei in Nizza und sein Hauptmetier war es, möglichst unauffällig vermisste Personen oder gestohlene Dinge von hohem Wert aufzufinden. Häufig arbeitete er für Versicherungen, die sich wenig dafür interessierten, auf welchem Weg er die benötigten Informationen beschaffte. Sein Hobby, mafiöse Strukturen bis in feinste Verästelungen hinein zu verfolgen, kam ihm bei seiner Arbeit besonders zugute.

Sleeping Beauty, im echten Leben Sandy, lebte in den USA und war Finanzexpertin. Ihr bereitete es das größte Vergnügen, den Spuren des Geldes nachzugehen und sich in multiple Geschäftsmodelle zu verbeißen. Hin und wieder führte sie unauffällig einen besonders dreisten Beschiss der Strafverfolgung zu. Sandys gewaltiger Frust war es, dass die größten Arschlöcher, wie sie sich auszudrücken pflegte, immer wieder von noch größeren Arschlöchern geschützt wurden. An diesem Abend war sie etwas einsilbig und gestand auf Nachfrage, dass sie „ziemlichen Ärger mit ihrem Chef, dem Arschloch“ hatte. Aber als die Freunde ihre Unterstützung anboten, beteuerte sie, mit dem würde sie schon alleine fertig.

Marian war beruflich ähnlich unterwegs wie Felix, nur dass sein Schwerpunkt im Automotive-Sektor lag. Im Netz nannte er sich Argonaut. Ihm gefiel, dass die Argonauten der griechischen Mythologie allen Widerständen zum Trotz das Goldene Vlies fanden und es schließlich stahlen, als es ihnen trotz tapfer bestandener Prüfungen vorenthalten wurde.

Um ihn machte sich Felix die meisten Sorgen und freute sich jedes Mal, wenn sein breites Grinsen auf dem Bildschirm auftauchte. Zwar bewegten sie sich alle vier auf sehr, sehr dünnem Eis, weil sie ständig außerhalb der Legalität agierten. Aber für Marian konnte es am gefährlichsten werden. Er lebte in Danzig und lancierte immer wieder Fundstücke aus Regierungspapieren an die Presse. Er war der Überzeugung, dass irgendjemand „der PiS ans Bein pinkeln“ musste, wenn es das Volk schon nicht tat. Marian konnte nicht tatenlos zusehen, wie diese »Partei für Recht und Gerechtigkeit« die Demokratie in Polen immer mehr mit Füßen trat. Aber das war eine gefährliche Angelegenheit.

Felix war der Nighthawk. Den Namen hatte er sich wegen des berühmten Gemäldes »Nighthawks« von Edward Hopper gegeben. Allzu oft fühlte er sich selbst wie der einsame nächtliche Gast auf dem Barhocker, denn trotz aller freundlichen Kontakte führte er ein ziemlich einsames Leben. Zu Hause wartete niemand auf ihn. Davon abgesehen passte die englische Bezeichnung Nighthawk auch aus einem zweiten Grund gut: Er war eine echte Nachteule.

Im Gegensatz zu den anderen Hackerfreunden hatte Felix keinerlei Vorliebe in Bezug auf die Stoßrichtung seiner Bemühungen. Seine Spezialität war es, Fehler in Systemen zu finden, und zwar schneller als jeder andere. In dieser Hinsicht war er den anderen drei des Öfteren behilflich.

Als schließlich ihr Meeting beendet war, sinnierte er im Bett noch darüber nach, was Sherlock über das Gedächtnis des Körpers gesagt hatte. Felix hatte ihnen erzählt, dass sein Bein nach zwanzig Jahren wieder so geschmerzt hatte, als sei der Unfall erst letzten Monat geschehen. Victor meinte, Felix sollte unbedingt noch einmal genau nachdenken. Wenn es keinen aktuellen physischen Grund gab, müsste doch irgendetwas anderes sein Bein inspiriert haben, sich plötzlich wieder an damals zu erinnern.

Gedächtnis des Körpers, gab’s das wirklich? Danach würde er morgen mal den Zahnarzt fragen. Wenn’s einer wissen müsste, dann doch der, dachte Felix, bevor er endlich einschlief.

Kapitel 6

Köln

Felix, Samstag, 18. Mai

„Tschö, Herr Bergholz, und danke. Ich glaub’, jetzt hab’ ich alles kapiert.“ Die letzte der vier Mitarbeiterinnen von Dr. Prinz, die Dame vom Empfang, trällerte fröhlich vor sich hin, stülpte sich ihren rosa, mit goldenen Flügelchen verzierten Motorradhelm über und kramte einen Schlüsselbund, an dem ein dicker Vespa-Anhänger klimperte, aus der Tasche. „Ich düs’ jetzt los. Bis übermorgen, Chef.“

„Alles klar. Schönes Wochenende, Vanessa, und danke, dass du dir am freien Samstag die Zeit genommen hast.“

„War mir ein Vergnügen“, sagte die Sprechstundenhilfe mehr zu Felix Bergholz gewandt als zu ihrem Arbeitgeber. Sie setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und flötete: „Herr Bergholz, Sie haben das sooo toll gemacht. Man kommt sich gar nicht so doof vor bei Ihnen. Wenn mein kleiner Bruder mir was am PC erklärt, tut er immer so, als ob ich geistig minderbemittelt wär’. Aber wenn ich noch Fragen hätte, dürfte ich Sie dann anrufen ...?“

„Dürfen Sie gerne, Frau Jünnemann, ich stehe zu Ihrer Verfügung.“ Felix lächelte zurück. Er legte größten Wert darauf, dass bei neu eingerichteten Netzwerken alle Anwender gründlich geschult wurden. Nach seiner Erfahrung sparte ein wenig Mehraufwand am Anfang unendlich viel zukünftige Zeit.

Felix griff nach seiner Jeansjacke, die einsam als letzte an der Garderobe baumelte, und wandte sich seinem Kunden zu, um sich zu verabschieden. Er zögerte.

„Ist noch was?“, fragte Dr. Prinz.

„Ja, tatsächlich, aber das hat nichts mit der Arbeit zu tun, ist was Privates ...“

„Stimmt was nicht mit den Zähnen?“

„Nein, nein, es geht um was ganz anderes.“ Felix druckste herum. Der Zahnarzt hatte sicher Besseres zu tun, als sich seine Probleme anzuhören.

„Lust auf einen Kaffee? Nimmst du Milch oder Zucker?“

„Gerne, Kaffee ja, aber bitte schwarz.“

„Genau wie ich.“ Der Arzt öffnete die Tür zu einem separaten Raum. „Hier, mein Gemütlich-Zimmer. Setz dich hin, wo du magst. Bin gleich zurück.“

Dr. Prinz war, wie in Köln oft üblich, zum Du übergegangen. Jeder redete jeden mit Du an, beim Bäcker, beim Friseur, in der Kneipe. Anfänglich war Felix das etwas seltsam vorgekommen, aber mit den Jahren hatte er die offene Art schätzen gelernt. Vieles wurde dadurch leichter: hier mal ein Kompliment, da mal ein Anschiss. Es gab allerdings auch ungeschriebene Regeln. Seine Kunden duzten ihn meistens erst, wenn der Auftrag erledigt war. So war es auch heute.

Während er wartete, betrachte Felix die Einrichtung. Dieses Zimmer hob sich deutlich von allen Zahnarzträumen ab, die er je gesehen hatte. Es gab weder PC noch Telefon, hier herrschte Ruhe. Der Raum war sachlich, aber bequem eingerichtet. Vor dem Fenster hingen schwere meergrüne Leinenvorhänge, der Fußboden war mit einem mattblauen Filzteppich ausgelegt. Üppige Grünpflanzen umrahmten eine Couch aus weichem hellem Leder. Zwei passende Ohrensessel mit einem Fußhocker luden zum Entspannen ein. Auf der Couch lag eine flauschige Wolldecke. Ein Schreibtisch fehlte, dafür gruppierten sich mehrere kleine Tischchen um die Sitzgelegenheiten. Felix sah sich unschlüssig um. Wohin sollte er sich setzen? Schließlich entdeckte er etwas versteckt hinter einem Bücherregal zwei schalenartige Drehsessel, die ihn an den Einrichtungsstil der späten 60er Jahre erinnerten. Als er gerade einen zu sich heranzog, kam der Zahnarzt mit dem Kaffee.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Musste erst noch Kaffee nachfüllen. Ich heiße übrigens Benedikt.“

„Felix.“

„Felix und Benedikt. Der Glückliche und der Gesegnete, das will was heißen!“ Der Doktor lachte.

„So einen Raum habe ich noch nie beim Zahnarzt gesehen.“

„Wie ich schon sagte, das ist mein Gemütlich-Zimmer. Hierhin gehe ich mit Angstpatienten. Oft braucht es etliche Sitzungen, bis sie sich in einen Behandlungsraum trauen.“

„Machst Du auch Hypnose?“

„Wegen der Couch meinst du?“ Er lachte. „Tatsächlich, darin bin ich ausgebildet. Es gibt aber unterschiedlichste Methoden, Ängste in den Griff zu bekommen.“

„Kennst du dich auch mit dem Gedächtnis des Körpers aus? Das war nämlich meine Frage. Gibt es sowas wirklich?“

Dr. Prinz warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Ja, das gibt es durchaus. Als Zahnarzt kenne ich das nicht nur aus der Theorie, sondern erlebe es oft genug in der Praxis. Es gibt Patienten mit schlimmen Erfahrungen, die müssen nur einen Zahnarzt sehen, schon fühlen sie einen realen Schmerz. Die Sache ist kompliziert, wie soll ich das erklären? Im Körpergedächtnis verbinden sich Wahrnehmungen und körperliche Erfahrungen. Sinneseindrücke im Zusammenhang mit Emotionen, zumeist starken Emotionen, werden als implizite Gedächtnisinhalte abgespeichert, d. h. zwar als Gedächtnisinhalte, aber außerhalb des Bewusstseins. Da solche Erfahrungen eben nicht im bewussten Teil des Gedächtnisses abgespeichert werden, können wir sie auch nicht bewusst abrufen. Sie machen sich aber möglicherweise bemerkbar, wenn der richtige Trigger gezogen wird.“

„Aha?“ Felix verstand zwar, was Dr. Prinz erklärte, aber was bedeutete das für sein Erlebnis?

„Warum fragst du, Felix? Hast Du mit irgendwas Schwierigkeiten?“

„Schwierigkeiten? Ehrlich gesagt kann ich das gar nicht beantworten. Ich hatte letzte Woche, zwanzig Jahre nach einem schweren Unfall, wieder extreme Schmerzen in meinem zusammengeflickten Bein. So schlimm, dass ich kaum laufen konnte. Aber es gab überhaupt keine Ursache dafür, nur irgend so ein komisches Gefühl ... Und nun hat mich ein Freund auf das Thema Körpergedächtnis gebracht ... Irgendetwas schwirrt in meinem Kopf herum, aber ich kriege es nicht zu packen.“

„Hast du mich deswegen nach Hypnose gefragt?“

„Hypnose? Nein, bleib mir bloß mit Hypnose vom Leib! Das hat mich schon vor Jahren nicht weitergebracht.“ Als Felix merkte, dass er womöglich den Zahnarzt in seiner beruflichen Ehre gekränkt hatte, hob er entschuldigend beide Hände. „Tut mir leid. Ich wollte keinesfalls an deiner Kompetenz zweifeln.“

„Ach, das macht gar nichts. Wenn ich eins weiß, dann dies: Lange nicht jede Therapie passt für jeden. Jeder Pott braucht seinen eigenen Deckel. Und da den passenden zu finden – das ist die Kunst.“

„So wird’s wohl sein ...“ Felix seufzte.

Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Als Felix seine Tasse absetzte und die Hände auf die Knie legte, um aufzustehen, erhob sich auch Benedikt Prinz. Ein wenig verlegen, so als wüssten sie nicht, wie es jetzt weitergehen sollte, standen sie an der Tür.

„Mensch“, sagte der Zahnarzt, „dass ich nicht gleich daran gedacht habe! Ich habe oben einen super Artikel über das Körpergedächtnis. Steht zwar in einer Fachzeitschrift, ist aber auch für Laien gut verständlich. Kommst du noch mit rauf? Du kannst die Zeitschrift gerne mitnehmen.“

Dr. Prinz schloss die Praxis sorgfältig ab und stieg mit Felix die Treppe in den ersten Stock hinauf. Vor seiner Wohnungstür tippte er einen Zahlencode in eine Schließanlage. 4932 registrierte Felix automatisch. Benedikt war verflixt vertrauensselig. Dann aber legte der Zahnarzt noch seinen Zeigefinger an die Seite des kleinen Kästchens.

„Doppelte Sicherung“, sagte er fast entschuldigend, „Code und Fingerabdruck. Die spinnen bei der Versicherung. Aber wenn ich nicht so eine Hyperschließanlage eingebaut hätte, hätten sie meine Bilder nicht versichert. Keine Chance.“

Felix spürte einen leichten Druck auf dem Magen, doch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, winkte ihn Benedikt mit einer einladenden Geste in seine Privaträume. „Hinein in die gute Stube“, sagte er in der Manier eines Zirkusdirektors. „Treten Sie näher, junger Mann!“

In der kleinen Eingangshalle fand sich Felix unvermutet einem kunstvoll ausgeleuchteten mannshohen Graffito gegenüber. Es zeigte Hennes, das Maskottchen des 1. FC Köln, über das voll besetzte Stadion schwebend. Der Künstler hatte dafür den Geißbock mit Adlerschwingen ausgestattet. Fröhliche Menschen schwenkten rotweiße Schals und Fähnchen und unten, in der Mitte des Spielfelds, breitete ein Spieler die Arme aus, als ob er die ganze Welt umarmen wollte. War das etwa Lukas Podolski?

„Ach nee, auch Fan?“, sagte Felix und zeigte auf das Bild.

„Nicht nur Fan, ich bin Mitglied!“, betonte Benedikt und legte theatralisch beide Hände auf sein Herz. „Das Graffito habe ich vor acht Jahren bei einer Benefizveranstaltung ersteigert. Gefällt’s dir? Ist direkt auf der Wand. Jetzt kann ich nicht mal mehr umziehen.“ Er versuchte sich an einem dramatischen Gesicht und beide mussten lachen. „Komm weiter, sonst werde ich noch wehmütig. Den Künstler habe ich nämlich näher gekannt.“

„Oh, ist der verstorben?“, fragte Felix und beeilte sich, schnell zu Benedikt aufzuschließen, der schon das Wohnzimmer betreten hatte.

„Nein, nein, der erfreut sich bester Gesundheit. Anderswo allerdings. Wir waren bis vor Kurzem zusammen. Aber jetzt bin ich wieder solo.“

Felix schwieg. Was hätte er auch dazu sagen sollen.

Benedikt Prinz drehte sich um und sah ihm ins Gesicht. „Hast du jemanden?“, fragte er unvermittelt.

„Nein, ich bin auch allein. Aber ich bin nicht schwul.“ Das war ihm schneller rausgerutscht, als ihm lieb war.

„Als wenn ich das nicht längst gemerkt hätte.“ Benedikt Prinz seufzte. „Dabei bist du so ein schöner Mann. Eine Schande.“ Er musterte Felix offen und ungeniert von oben bis unten. „Meine Damen stehen auch auf dich, du schwarzer Held.“

Felix wusste nicht, was Benedikt Prinz an sich hatte – er hatte ein Händchen dafür, eine Leichtigkeit in ihre Begegnung zu bringen, in der nichts peinlich war. Dafür war er ihm dankbar.

„Schau dich nur um, wenn du magst. Ich freue mich, wenn mal jemand meine Bilder bestaunt. Auf die bin ich nämlich ganz stolz. Ich sammle schon seit dem Studium und habe echt eine gute Nase bewiesen. Ja, wahrhaftig, ich bin ein ganz pfiffiges Bürschchen.“ Er drehte sich um die eigene Achse und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Schätze. „Wenn ich als Zahnarzt pleitegehe, mach’ ich ’ne Galerie auf.“

„Na, wenigstens nimmst du dich selbst nicht zu ernst.“

„So, so, meinst du? Mein Lieber, ich geh’ jetzt erst mal deinen Artikel suchen. Wo hab’ ich den bloß zuletzt gesehen?“ Der Zahnarzt verschwand im Nebenraum.

Felix trat vor ein abstraktes Gemälde in kräftigen Rot- und Gelbtönen. Er stellte sich vor, wie der wechselnde Lichteinfall durch die breite Fensterfront aus den Farben immer neue Aspekte hervorlockte. Ein spannendes Bild.

„Charly hat gesagt, die haben einen echten Macke im Salon.“

Felix drehte sich erschrocken um. Wer hatte das gesagt? Kein Mensch war hinter ihm. Aber er hatte die Worte doch verstanden! Klar und deutlich. Das hatte doch einer laut gesagt, direkt in seinem Nacken: „Charly hat gesagt, die haben einen echten Macke im Salon.“ Was sollte denn das bedeuten?

Benedikt konnte es nicht gewesen sein, der hatte eine viel hellere und sanftere Stimme. Außerdem war der nebenan. Hier war doch sonst keiner. Fing er an zu spinnen? Es hatte sich aber völlig echt angehört. Definitiv. Ein Mann hatte laut gesprochen. Felix’ Herz klopfte bis zum Hals und er rang nach Atem.

Er musste raus hier! Luft, er brauchte Luft. Fluchtartig verließ er die Wohnung und ließ einen verblüfften Zahnarzt mit der Zeitschrift in der ausgestreckten Hand zurück.

Kapitel 7

Köln

Bertram, Sonntag, 19. Mai

Bertram von Bayenthal war frühzeitig aufgestanden, hatte seine Übungen absolviert und kleidete sich nun sorgfältig an. Er wählte einen klassischen hellgrauen Anzug aus leichter Wolle, maßgeschneidert in Mailand wie all seine Anzüge, ein weißes Hemd und eine rotgemusterte Krawatte. Huang Hong tao legte stets großen Wert auf eine tadellose Erscheinung und war selbst zu jeder Tages- und Nachtzeit akkurat bis in die schwarz gefärbten Haarspitzen. Nicht einmal nach einer durchfeierten Nacht in einschlägigen Etablissements sah man ihn jemals derangiert. Was seine steife Korrektheit betraf, hätte er einen tadellosen preußischen General abgegeben. Selbst wenn die Geschäfte, die sie beide miteinander abwickelten, in den meisten Fällen die Pfade der Legalität verließen, so liefen sie doch immer äußerst korrekt ab. Huangs distinguierten Dresscode per Skype zu spiegeln, hieß, über die Distanz zu bekräftigen: Wir beide sind aus demselben Holz.

Während er seine Krawatte zu einem doppelten Windsorknoten schlang, fiel Bertram wieder ein, was sein Geschäftspartner über angloamerikanische Vornamen chinesischer Geschäftsleute erzählt hatte. In China war es anscheinend einfach, einen anderen Namen anzunehmen, und um die Begegnungen auf internationalem Parkett zu vereinfachen, gab man sich gern englische Vornamen. Dies lehnte Herr Huang jedoch ab, er legte Wert auf seinen chinesischen Vornamen Hong tao. Wenn Ausländer seinen Vor- und Nachnamen verwechselten, was häufig der Fall war, nahm er es mit höflicher Gelassenheit. So wie er alle Widrigkeiten mit asiatischem Gleichmut zu nehmen schien.