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Im Jahr 1992 werden zwei Bundesgrenzschützer aus Winsen (Luhe) nach Forst zur deutsch-polnischen Grenze abgeordnet. Aus anfänglicher Abneigung gegen die neue Tätigkeit wird zunehmend Zuneigung. Es warten spannende Grenzstreifen auf sie, Festnahmen von illegal Einreisenden und Schmugglern, Kampf gegen die organisierte Kriminalität, Zusammenarbeit zwischen "Ossis und Wessis". Dieses Buch ist auch ein Zeitzeugnis für die Zeit nach der Wende im "Wilden Osten".
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2020
Meine liebe Frau …
ohne dich und deine immerwährende Unterstützung hätte ich niemals diesen dienstlichen Weg gehen können. Ein starker Partner, nunmehr seit 30 Jahren.
Mein damaliger Teampartner Joachim „Atze“ Brock. Erst viel später ist mir klar geworden, dass wir ein sehr gutes Team waren.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Bundespolizei und überall auf der Welt. Ich bin so dankbar, dass ich so viele gute Menschen kennengelernt habe.
Dieses Buch ist insbesondere unseren motivierten Kolleginnen und Kollegen gewidmet, die sich für unser Land und deren Bürger immer wieder aufs Neue einsetzen.
Namen und Daten von Personen sind geändert und frei erfunden. Zufällige Ähnlichkeiten sind nicht auszuschließen.
Zwei Bundesgrenzschützer aus dem Westen erleben kurz nach der Wende den "Wilden Osten".
Ernst Lechtenbring und Matthias Stein werden 1992 für drei Monate an die „neue“ Ostgrenze zu Polen abgeordnet. Aus anfänglicher Unfreiwilligkeit und fehlender Motivation wird nach und nach Zuneigung zur neuen Aufgabe. Am Ende bleiben sie 15 Monate und erleben zahlreiche kuriose Geschichten.
Dieses Buch
Ist ein Zeitzeugnis über die personelle und materielle Entwicklung an der deutsch-polnischen Grenze von Juni 1992 bis August 1993
Es beinhaltet wahre Geschichten aus dem täglichen Grenzdienst an der grünen Grenze
Es berichtet über die Migrationsbewegung und Immigrationsflut Richtung Westeuropa nach dem Fall der Mauer und der Öffnung vieler der Grenzen
Und ebenso über Illegale Einwanderer – Schleuser - Organisierte Kriminalität - Schmuggel
Es beschreibt die Zusammenarbeit zwischen „Ossis und Wessis“, die erst noch zusammen wachsen mussten
In einem Berufsleben kommt es immer wieder zu Veränderungen und Herausforderungen. Insbesondere im Bundesgrenzschutz (BGS), der heutigen Bundespolizei, kam es aufgrund von politischen und geschichtlichen Ereignissen zu sehr großen Einschnitten.
Das Öffnen von Grenzen Richtung Westeuropa mit der so gewonnenen Reisefreiheit, der Wegfall der innerdeutschen Grenze, der Aufbau neuer Grenzkontrollen Richtung Osten, der Wegfall von Grenzkontrollen aufgrund der Schengen Verträge im Westen. Hinzu kamen die Übernahme der Aufgaben der Luftsicherheit an den deutschen Flughäfen, die Aufgaben der Bahnpolizei und die vermehrte Zunahme von Auslandseinsätzen.
Für die Bediensteten des BGS bedeutete das ab 1989 sehr unruhige Zeiten. Viele Jahre wurden Unterstützungseinsätze insbesondere an den Ostgrenzen zu Polen und Tschechien gefahren. Neben dieser dauerhaften großen Aufgabe waren natürlich weiterhin auch alle anderen Großeinsätze zu bedienen. Die Bundespolizei entwickelte sich zu einer Reisepolizei. Zwei große Reformen innerhalb der Organisation sollten dies reduzieren, Auflösungen von Einsatzabteilungen an der vormals innerdeutschen Grenze waren dabei die bedeutendsten Einschnitte.
Für viele Bedienstete brachte diese Zeit erhebliche Verunsicherung und Veränderungen mit sich. Nicht nur vom örtlichen, sondern auch vom Aufgabenbereich. 1992 gab es die erste große Reform, die aber, wie sich schnell herausstellte, den Ansprüchen der schnellen Entwicklung nicht gerecht wurde. 1998 kam die zweite große Reform und damit verbunden die Auflösung vieler weiterer Einsatzabteilungen.
In dieser unruhigen Zeit traf es dann auch viele Beamte, die kurzerhand zu einem Einsatz weit von ihrer Heimat und oft gegen ihren Willen abgeordnet wurden. Plötzlich hatte man neue Herausforderungen zu bestehen, ob man wollte oder nicht. Anfang der Neunziger Jahre konnte man wirklich nicht vorausschauen, wie sich die Gesamtpolitische Großlage entwickelt und welchen Einfluss das auf den „kleinen Beamten“ haben würde.
Heute, 30 Jahre nach der Wende, haben wir interessante Parallelen zu damals. Die Flüchtlingssituation fordert Europa und somit auch die Bundespolizei und andere Behörden erheblich. Die Lage an den deutschen Grenzen ist unübersichtlich, die Lage an den Europäischen Außengrenzen scheint nach wie vor unorganisiert.
Aufgrund dieser Entwicklung habe ich meine Aufzeichnungen von damals aus den Jahren 1992 und 1993, als ich zur Ostgrenze abgeordnet wurde, nochmals in die Hand genommen und überarbeitet. Dieses Buch erzählt sehr direkt vom Grenzdienst und vom Aufbau Ost an der Grenze, sicherlich nicht immer „politisch korrekt“, dafür aber unverblümt und ehrlich.
Es erzählt von menschlichen Schicksalen, von langen Nachtschichten, Berufsromantik sowie spannungsreichen Abenteuern. Oft genug auch vom sehr persönlichen Einsatz des Einzelnen, wie er in jeder Berufssparte zu finden ist.
Lieber Leser, wenn sie wollen, dann nehme ich sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Kommen sie mit auf Grenzstreife. Suchen sie mit nach Spuren, klären sie Tatumstände auf und nehmen sie Schmuggler fest. Trinken sie einen oder mehrere Kaffee in der Nachtschicht, helfen sie mit, den vielen Papierkram zu erledigen und fallen sie nach 12 Stunden Dienst oder auch mehr todmüde ins Bett. Nur Mut, sie arbeiten in einem starken Team!
Viel Spaß beim Lesen!
Plötzlich ist alles anders
Der erste Tag im Wilden Osten
Die erste Aufgriff
Böse Buben im Märchenwald
Heut gestohlen, morgen in Polen
Knapp daneben, ist auch vorbei
Feuchte Augen und der Wald voll Zigaretten
Der Warnschuss
Auf der Lauer
Bulgaren im Winter
Eiskalte Nächte
Schneesturm in Horno
Aus dem Winterschlaf erwacht
Auch ohne Zigaretten hat's geraucht
Aufsteigender Nebel
Alles neu macht der Mai
Die Flugrolle (Jesus kann fliegen)
Zufallstreffer
Verfolgungsjagd
Der unsichtbare Jäger
Bewegung am Grenzzeichen 398
Das letzte faule Ei
Nachbetrachtung
Ein Knall, ein Schuss, gefolgt von einem zweiten halte plötzlich durch die Nacht.
Obwohl das genau das Falsche war, was man machen konnte, hielt es jetzt niemanden mehr in seinem Versteck. Fast gleichzeitig sprangen sie aus dem hohen Gras, wo sie fast eine Stunde still gelegen hatten, und liefen hastig Richtung Fluss. Die ersten Männer sprangen ohne nachzudenken in das hüfthohe Wasser und wateten zum anderen Ufer. Andere, wahrscheinlich die Nichtschwimmer, waren vorsichtiger, doch die Angst trieb sie ebenfalls voran.
Die Strömung war sachte, doch in der Flussmitte war es auf einmal schultertief. Niemand achtete auf den anderen, niemand konnte helfen, alle waren mit sich selbst beschäftigt.
Am anderen Ufer angekommen sammelte sich die kleine Gruppe nach und nach am Rand eines Waldes. Einige hatten Plastiktüten dabei, aus denen sie trockene Kleidung herausholten. Andere saßen wassertriefend auf dem Boden und schauten verängstigt zum Fluss zurück.
Plötzlich ertönte hinter ihnen aus dem Wald eine Stimme, nicht laut, aber auffordernd:
„Dalej, kontynuuj! Autobus czeka!”
2.Juni ´92
gegen 14.00Uhr
Ernst Lechtenbring drehte seine Runden auf dem Sportplatz des Winsener Bundesgrenzschutzes vor den Toren Hamburgs. Eigentlich war es heute viel zu warm fürs Laufen, bestimmt 30°C, aber er hatte schon mehrere Tage nichts mehr für seine Fitness getan und so raffte er sich halt auf.
12 ½ Runden hatte er zum Ziel, das waren 5000 Meter, die jeder Polizeibeamte eigentlich locker schaffen sollte. Er war ein guter Läufer und schaffte diese Strecke mühelos unterhalb von 20 Minuten. Für seine gerade mal 27 Jahre war es eine angemessene läuferische Leistung. Andere Kollegen in seinem Alter waren allerdings weitaus langsamer als er.
Seine kleine und sehnige Statur half ihm dabei. Er war mit 1,70m nicht groß, aber sehr beweglich und sehr ausdauernd.
In seinen bisherigen sieben Dienstjahren hatte er immer die Möglichkeit gehabt, diese Leistung durch stetes Training zu erhalten. Außerdem spielte er in seiner Freizeit viel Fußball in einer Kreisligamannschaft nebenan in Luhdorf, sodass er auch hier regelmäßig Kraft und Ausdauer trainierte.
Nach der sechsten Runde steigerte er sein Tempo und zog seinen Schritt länger. Trotz der Hitze fühlte er sich gut.
Normalerweise trieb er mindestens jeden zweiten Tag Sport, aber in der letzten Zeit häuften sich die Einsatzbelastungen. Als Kraftfahrzeugmechaniker beim Bundesgrenzschutz war er auch zugleich Polizeibeamter und somit universell einsetzbar.
In einer Bundesgrenzschutzeinsatzabteilung, wie die in Winsen/Luhe, kam es immer wieder vor, dass auch kurzfristig Einsätze gefahren werden mussten. So auch am letzten Wochenende, als am Freitag noch schnell ein Einsatzzug für eine Demonstration in Bonn zusammengestellt werden musste. Da war Ernie, so nannten ihn seine Kollegen, mit dabei. Es verlief zwar alles ruhig, aber das Wochenende war dahin.
Spät am Sonntagabend war er erst zu Haus, glücklicherweise hatte seine Freundin viel Verständnis für seinen Beruf. Solange es bei diesen Kurzeinsätzen blieb, konnte man die verlorene Zeit irgendwie wieder aufholen.
Allerdings hatte es sie letztes Jahr im Sommer härter getroffen. Da musste Ernie für drei Monate nach Bonn zum Objektschutz. Er hatte Dienst im Bundesinnenministerium sowie beim Bundespräsidenten. „Jeder ist mal dran“, hatte er noch zu ihr gesagt. „Eine Wochenendbeziehung bringt uns schon nicht um“.
Dieses Jahr wollten sie gemeinsam nach Sardinien in den Urlaub fahren und sich dort verloben. Drei Jahre waren sie jetzt zusammen, zwei davon in der eigenen Wohnung. Nun war es Zeit, Zukunftspläne zu schmieden. Ihre Hochzeit war für nächstes Jahr geplant, der Hausbau bei den Schwiegereltern im Garten ein Jahr danach. Eigentlich lief alles richtig gut nach Plan und beide freuten sich darauf, in ihrer Heimat mit alle ihren Freunden verwurzelt zu bleiben.
Nach der zehnten Runde steigerte Ernie das Tempo noch einmal. Der Schweiß rann ihm über die Stirn und lief ihm über den kleinen schwarzen Schnurrbart an die Mundwinkel. „Hmm, lecker salzig“ stellte er fest, als er sich einmal über die Lippen leckte. „Jetzt noch zwei Runden", motivierte er sich. Die letzten 200 Meter zog er noch einmal etwas an. Als er im Halbsprint ins Ziel kam, lief er noch eine langsame Runde zum Auslaufen. Jetzt rann ihm der Schweiß in Strömen übers ganze Gesicht. Er nahm sein kleines, grünes BGS Handtuch auf und trocknete sich seine kurzen, schwarzen Haare. Anschließend wurde gedehnt.
Von weiter Ferne hörte er auf einmal ein Pfeifen. Als Ernie hochschaute, erblickte er seinen Kollegen Sigfried, der ihm mit dem Fahrrad entgegen kam.
„He Ernie, du sollst dich sofort beim Einsatzschreiber melden". „Was will der denn schon wieder", antwortete Ernie grantig, „dem habe ich doch die Stundenabrechnung vom Wochenende heute Morgen hereingereicht".
„Keine Ahnung Ernie, lauf doch schnell hin, dann weißt du es".
Drei Minuten später wusste er es tatsächlich.
„Schlechte Nachrichten Ernie", begann Thomas "Nelli" Nelke, der stellvertretende Einsatzschreiber ohne Umschweife.
„Du musst in den Osten. Das Fernschreiben vom Grenzschutzpräsidium ist gerade angekommen".
„Mach keine Witze Nelli, damit spaßt man nicht".
„Das ist kein Witz, du und noch elf andere Kollegen aus Winsen müssen für drei Monate nach Forst".
„Forst? Wo liegt das denn?" kam es aus Ernie heraus geschossen.
Nelli legte Ernie das Fernschreiben vor, damit der sich von der Wahrheit vergewissern konnte.
„Tatsächlich", bestätigte er, „eine Abordnung für drei Monate zur Grenzschutzstelle nach Forst. Und das schon ab nächste Woche". Ernie atmete tief durch.
„So ein Schitt. Nelli, gibt es denn keinen anderen, den ihr dort hinschicken könnt?“
„Vergiss es Ernie, wenn die Entwicklung im Osten so weiter geht, dann sind wir demnächst alle dran". Thomas Nelke zündete sich nun seine Zigarette an, die er vorher mehrfach nervös auf dem Tisch geklopft hatte.
Tatsächlich war die Entwicklung der stetig steigenden grenzüberschreitenden Kriminalität seit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 kaum aufzuhalten. Hinzu kam, dass sich auch die ehemaligen Ostblockländer immer mehr zum Westen hin öffneten. Auch die polnischen Staatsbürger erhielten, kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, von ihrer Führung die begehrte Reisefreiheit. Das war zwar schön für die Polen, aber damit eskalierte die Lage an der Grenze.
Täglich zunehmende Grenzübertritte sowie Schmuggeltätigkeiten waren noch die geringsten Übel. Auch Autodiebstahl und deren Verschiebung waren von nun an der Tagesordnung.
Nur ein hoher Personaleinsatz konnte dem entgegenwirken. Anfangs, nach der Wiedervereinigung, fuhren ganze Einsatzabteilungen aus dem Westen, mit jeweils bis zu 500 Beamten an die Ostgrenze, um die alten Dienststellen zu unterstützen.
Die alten DDR-Grenztruppen waren völlig überfordert, denn diese Art von Kriminalität war für sie völlig neu. Mangelhafte Einsatzmittel zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Teil völlige Sachunkenntnis führten dazu, dass die deutschpolnische und deutsch-tschechische Grenze nur auf der Landkarte bestand. Für Verbrecher jeglicher Art waren Tür und Tor immer weit geöffnet.
Das Bundesinnenministerium (BMI) reagierte, indem es zuerst Berater an die Grenze sandte. Das waren erfahrene Grenzschützer aus dem Westen, die von den alten Grenzübergängen an der innerdeutschen Grenze oder von der Westgrenze kamen, und deren Existenzberechtigung durch die Öffnung der Grenzen nun weggefallen war. Diese Berater brachten ein wenig Richtung in den Laden. Sie organisierten die Dienststellen nach westlichen Mustern und schulten deren Personal, sodass ein geregelter Dienstablauf stattfinden konnte.
Schon bald erkannte das BMI, dass noch mehr Beamte aus dem Westen im Osten benötigt wurden, denn das vorhandene war schon rein zahlenmäßig nicht in der Lage einen Schichtdienst mit Früh, Spät und Nachtschicht durchzuführen. Zudem kam, dass immer mehr Ostkollegen wegen ihrer angeblichen Stasitätigkeiten entlassen wurden. Besonders die Kollegen der früheren Passkontrolleinheiten, die einzigen mit wirklich guter Sachkenntnis, wurden reihenweise entlassen.
„Sag mal Nelli, was für eine Tätigkeit kommt denn da auf mich zu?"
„Na ich schätze, die Kontrolle des einreisenden und ausreisenden Verkehrs an der Grenze zu Polen. Forst ist, glaube ich, sogar ein Autobahnübergang. Da ist eine Menge los".
Nelli nahm sich einen Ordner mit der Aufschrift Grenzlagemeldungen aus dem Regal. Nach kurzem Blättern der ersten Seiten, zitierte er: „Hör zu, Ernie. Starke Zunahme des Grenzverkehrs!
1991 wurden im Grenzabschnitt zu Polen 5.591.349 Ein,- und Ausreisen gezählt. Tendenz stark zunehmend", betonte Nelli extra.
„Na toll", gab Ernie wenig motiviert zurück. „Dann stehe ich da den ganzen Tag in den Abgasen herum. Schöne Aussicht für die nächsten drei Monate. Und das mitten in der Urlaubszeit".
Plötzlich flog die Tür auf.
„Seit ihr bescheuert", ertönte eine lautstarke Stimme noch bevor jemand den Raum betrat. Dann erschien Matthias Stein, dessen rotes Gesicht auf einen höchst erregten Zustand schließen ließ.
„Mitten in der Urlaubszeit soll ich in den Osten? Wo ich schon Urlaub am Gardasee gebucht habe?" schrie er Nelli an.
„Geh zum Chef Matze, ich bin für die Einteilung nicht verantwortlich, „ entgegnete Nelli", und außerdem....
Da war Matze schon wieder draußen und die Tür fiel lautstark ins Schloss.
„Puh, heute haben wir aber dicke Luft" stöhnte Nelke. „Das ich aber auch immer die Scheißaufträge übermitteln darf …“
„Wundert mich nicht", erwiderte Ernie, der sich aber sogleich abwendete. Er holte eine 1:100.000 Landkarte aus dem Vorschriftenregal und fing an nach Forst zu suchen.
„Hier liegt Forst", dabei zeigte er mit einem Bleistift auf der Karte, „Forst in der brandenburgischen Lausitz, direkt an der polnischen Grenze und ungefähr 20 Kilometer von Cottbus und keine 150 Kilometer von Berlin entfernt“.
„Aber das sind von hier fast 500 Kilometer zu fahren", staunte Ernie.
Plötzlich öffnete sich wieder die Tür und Matthias Stein kam, diesmal weniger schwungvoll, ins Zimmer des Einsatzschreibers herein und setzte sich wortlos auf den letzten freien Stuhl. Dann kramte er in seiner Hemdtasche und holte eine Schachtel HB heraus, fingerte eine Zigarette umständlich heraus und zündete sie an. Blauer Rauch stieg auf.
Ernie und Nelli schauten ihn fragend an.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens fing Matze an zu reden.
„Der Chef hat mich rausgeschmissen. Ich soll mich nicht so mädchenhaft anstellen, hat er gesagt".
Wieder folgte eine kurze Pause.
„Na ja" setzte er fort, " wenn ich meinen Urlaub von den drei Monaten abziehe, dann bleiben nur noch zehn Wochen über.
Damit kann ich leben!"
Matthias Stein war 42 Jahre alt, er war verheiratet und hatte zwei Kinder im schulpflichtigen Alter mit 11 und 13 Jahren.
Beide gingen auf das Gymnasium, spielten Klavier und waren sein ganzer Stolz. Seine Frau war Hausfrau und jobbte nebenbei hier und da im Dorf.
Wenn es um kurzfristige Einsätze ging, war Matze immer dabei. Auch bei längerer Abwesenheit, wie die letzten vierzehntägigen Osteinsätze, konnte er sich und seine Familie gut darauf einstellen. Nur diesen längerfristigen Abordnungen traute er nicht über den Weg.
„Hauptsache es bleibt auch bei den drei Monaten", gab er seine Bedenken kund. " Nicht das es dann auf einmal heißt: Da ihr schon mal hier seit, könnt ihr ja auch noch länger bleiben".
Nelke zuckte nur mit den Schultern. „Tatsache ist, dass das Grenzschutzpräsidium im Osten ein Personalfehl von 2500 Beamten hat. Und Tatsache ist auch, dass wir hier im Westen reichlich Leute über haben, nachdem die innerdeutsche Grenze nicht mehr existiert. Den Standort Lüneburg haben sie schon geschlossen! Wer kann da also noch sagen, was wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben?"
„Das der Einsatzschwerpunkt im Osten liegt", schaltete sich Ernie mit ins Gespräch ein, „das ist hinlänglich bekannt. Ich war im letzten Jahr auch viermal mit der Werkstatt drüben in Frankfurt /Oder".
Dabei zeigte Ernie wieder mit dem Bleistift auf die Karte.
Matze erhob sich von seinem Stuhl und schaute jetzt mit in die Karte. Scheinbar hatte er sich beruhigt. „Die Grenzschutzstelle Forst liegt direkt an der Autobahn kurz hinter Cottbus. Wir sind da schon mal vorbei gefahren. Also ich sage euch, der Dienst am Grenzübergang ist nicht sehr spaßig. Den ganzen Tag in den Abgasen stehen, ein Fahrzeug nach dem anderen, und dann die ganzen Laster". Er schüttelte den Kopf. „Aber möglicherweise gibt es ja die Möglichkeit, an der Grenze Streife zu fahren".
„Ja richtig", meldete sich Nelli zu Wort, „die illegale Einreise über die grüne Grenze scheint ein schwerwiegendes Problem zu werden. Im letzten Bundesgrenzschutzjahresbericht ist von einer hohen Steigerungsrate die Rede".
Ernst Lechtenbring erhob sich von seinem Stuhl. „Gut, ich gehe jetzt duschen und anschließend gönne ich mir zu Haus auf diesen Schreck ein paar Bier. Alles Weitere können wir dann morgen besprechen".
Matthias Stein folgte ihm wortlos auf den Flur. Am Ende angekommen sprach er Ernie noch einmal an.
„Vielleicht ist es ja doch nicht so schlecht. Und eine Zulage soll es ja auch dafür geben, habe ich so gehört".
„Ich denke", erwiderte Ernie, „diese drei Monate werden wir schon herum bekommen. Jetzt muss ich es nur noch heute Abend meiner Freundin erzählen. Die wird nicht begeistert sein“. Er runzelte dabei die Stirn und verließ ohne weiteren Kommentar das Hundertschaftsgebäude.
Matze blieb nachdenklich im Eingangsbereich stehen. Nach wenigen Sekunden gesellte sich der Innendienstleiter (Spieß) dazu und zündete sich seine dicke Zigarre an. Er paffte zügig drauf los und blies den Rauch genüsslich in die Luft.
„Na mein Junge, wie läuft das Geschäft?“
Matze schaute nur kurz verärgert hoch und verließ ebenfalls mit kurzen schnellen Schritten die Hundertschaft.
„Leck mich doch!“
Die letzten Tage in Winsen vergingen wie im Fluge. Ernie bereitete sich auf seine neue Tätigkeit vor, indem er sich die BGS-Jahresberichte und die aktuellen Lageberichte holte.
Matze, der ihn kurz vor dem Wochenende im Dienst noch einmal aufsuchte, durfte sich von ihm ein Kurzreferat über die neuen Erkenntnisse anhören: „Bei der unerlaubten Einreise“, begann Ernie, „über die "grüne Grenze“, also außerhalb eines offiziellen Grenzüberganges, war 1991 ein besonders starker Anstieg zu verzeichnen. 23.587
Ausländer konnten ermittelt werden.
Das erforderte vom Bundesgrenzschutz eine verstärkte Grenzüberwachung, denn die Dunkelziffer lag noch wesentlich höher. Ein Abgleich mit den Ausländerbehörden ergab, dass die Gesamtzahl der Asylbewerber 1991 bei 256.112 lag.
Wie viele Ausländer sich illegal, also ohne Registrierung, in Deutschland aufhielten, konnte man noch nicht einmal erahnen.
BGS-Einsatzabteilungen, wie die unsere, mussten die neu eingerichteten Dienststellen, besonders im Bereich der grünen Grenze zwischen den Grenzübergängen, unterstützten. Da die Grenzabschnitte aber bis zu 50 Kilometer lang waren, konnte der Bundesgrenzschutz nur an wenigen bekannten Schwerpunktbereichen gezielte Observationsmaßnahmen durchführen.
Dies führte aber schnell zu Verdrängungseffekten bei den "Illegalen", da sie diese Punkte schnell herausgefunden hatten.
Sie suchten andere, weniger bewachte Bereiche.
Das führte wiederum dazu, dass der Bundesgrenzschutz an der gesamten Grenze zu Polen und der damaligen CSFR im Einsatz sein musste. Ganze Einsatzabteilungen wurden in wochenlangen Einsätzen an die Grenze verlegt. Hier prägte sich übrigens der Begriff vom "Reise-BGS".
Ernie machte eine kurze Pause. Matze wartete aufmerksam.
„Die dramatisch ansteigenden Zahlen der illegalen Einreisen” fuhr Ernie fort, “waren das eine Problem, die Hilfe dabei, von Schleusern und Schleuserorganisation war das andere. Hier entwickelte sich zunehmend ein weiterer Zweig der organisierten Kriminalität. Dazu kamen Kfz.-Verschiebungen im großen Umfang, sowie der Schmuggel von Rauschgift, Waffen aller Art, Zigaretten und auch Nukleare-Güter.
Die Politiker waren gefordert, denn die hohen Asylbewerberzahlen brachten unbekannte Probleme mit sich.
Hohe Kosten und Unterbringungsmöglichkeiten mussten bewältigt werden. Jedes Bundesland, jede Gemeinde, jede Stadt und jedes Dorf hatte eine Asylbewerberunterkunft und die damit verbundenen Kosten und Probleme zu tragen.
Der Druck aus der Bevölkerung nahm zu. Es blieb nicht nur bei Stammtischparolen, die rechte Szene machte mobil. In Rostock, Hoyerswerda und Magdeburg, führten gewalttätige Übergriffe durch rechte Jugendliche auf Ausländer, zu Ausschreitungen mit der Polizei.
Zu sehr schweren Auseinandersetzungen kam es in Rostock Lichtenhagen, auch hier war der Bundesgrenzschutz im Einsatz! Ich übrigens mit der Kraftfahrzeugwerkstatt", ergänzte Ernie.
„Ja und ich mit dem Wasserwerfer Zug", ergänzte Matze, „das war die Hölle. Die Leute da sind völlig ausgeflippt. Drei Nächte volle Pulle und zwischendurch nur wenig Schlaf".
„Das Innenministerium musste handeln“, fuhr Ernie fort. „Die Grenzüberwachung wurde noch verstärkt und zu den bereits vorhandenen Dienststellen im Osten wurden einige hundert Beamte aus dem Westen abgeordnet. An den Dienststellen selber wurden mobile Überwachungstrupps für die grüne Grenze aufgebaut".
Ernie machte wieder eine kurze Pause. Matze zündete sich derweil eine Zigarette an und zog genüsslich, um nach kurzer Inhalation den Rauch in Richtung Ernie zu pusten.
„Pass doch auf", schimpfte der, „du weißt doch, dass ich Nichtraucher bin". Dazu wedelte er mit den Händen den ankommenden Rauch von sich weg.
„Und in den letzten Meldungen steht, dass sich die Lage seit diesem Frühjahr noch einmal zugespitzt hat. In Rumänien und Bulgarien hat eine Massenflucht in Richtung Deutschland eingesetzt".
„O.K. Ernie. Scheint so, als würden wir dort gebraucht", ließ Matze Einsicht erkennen, „doch die brauchen sich nicht einbilden, dass ich für immer in den Osten gehe. Mit mir nicht!"
Er stand auf und verabschiedete sich: „Schönes Wochenende!
Wer weiß wann wir wieder eins haben. Genieße es!“
9.Juni ´92
09.00 Uhr, auf der A 24 Richtung Berlin
Diese kurzfristige Abordnung war für Ernie eine mittlere Katastrophe. Seine Freundin war natürlich nicht begeistert, zeigte aber wie immer Verständnis und Weitsicht. „Fahr erst einmal hin, dann sehen wir weiter.“
Sie hatten vor, sich im Sommer zu verloben, dann auch bald zu heiraten. Aber natürlich alles unter der Bedingung, hier in der Heimat in der Nordheide zu bleiben. Der Wende hat auch im Westen für Unsicherheit gesorgt. Kann man noch so planen wie bisher? Und was kommt alles auf uns zu?
Niemals würde er freiwillig in den Osten gehen, hatte er immer wieder zu Kollegen gesagt. Ihm waren die neuen Bundesländer einfach zu fremd und zu wild, einfach anders.
Zu viele neue und unbekannte Eindrücke drangen dort auf ihn ein.
Es war zwar nicht sein erster Osteinsatz, er hatte schon mehrere Wochen mit der Kraftfahrzeugwerkstatt in Frankfurt/ Oder und in Rothenburg/Neiße verbracht, aber über einen Zeitraum von drei Monaten war er noch nie weg gewesen. Hinzu kam die Ungewissheit, ob es eben bei dieser dreimonatigen Abordnung bliebe.
Er hatte ein ungutes Gefühl. Nur gut, dass mit ihm noch neun weitere Winsener Kollegen nach Forst abgeordnet wurden, denn so konnte man wenigstens seine Erfahrungen austauschen.
In den letzten Tagen hatte er sich immer wieder gefragt, was die Zeit im Osten wohl bringen wird?
„Auf jeden Fall reichlich Knete" säuselte Mathias Stein, der es sich bei Ernie im Auto bequem gemacht hatte. „Ich habe ausgerechnet, dass allein die Aufwandsentschädigung für drei Monate, 3.600,-DM bringt. Nette Summe nicht? Dazu kommt dann noch Trennungsgeld, 16,25DM den Tag, und die Zulage für Dienst am Wochenende und für die Nachtschichten, ca. 150,-DM im Monat. Die Fahrten bekommen wir auch bezahlt."
Wenn es ums Geld ging, dann war auf Matze Verlass. Er hatte schon 24 Dienstjahre auf dem Buckel und konnte jeden Pfennig ausrechnen, den er vom Staat zu kriegen hatte.
Für Ernie war es nur gut, ihn dabei zu haben, denn von Geldsachen hatte er selber keine Ahnung.
„Wenn man alle Unkosten abrechnet“, fuhr Matze fort“, dann bleiben jeden Monat 2000,-DM über. Die Sache scheint sich zu lohnen."
Auch Ernie konnte sich so langsam mit der Abordnung anfreunden, denn nach Abzug seines Urlaubs, der in der Mitte der Abordnungszeit lag, blieben auch für ihn gerade mal neun Wochen Dienst über.
Während der vierstündigen Fahrt im weißen BMW 320i von Ernie, wanderten seine Gedanken zu früheren Osteinsätzen.
Im Dezember 1991 war er einmal mit der Kraftfahrzeugwerkstatt in Rostock, um die dortige Werkstatt vom Grenzschutzamt zu unterstützen. Der Gestank von verbrannter Kohle lag immer noch schwer auf seinen Geruchsnerven. Außerdem hatten ihn die ewigen Verkehrsstaus und die zahlreichen Baustellen, während der Fahrt zur dortigen Dienststelle, schier zur Verzweiflung gebracht. Das einzig positive an dem Einsatz war die gute Unterbringung im Hotel Neptun.
Dann, im Frühjahr 1992 folgten einige Einsätze mit der Kraftfahrzeugwerkstatt in Frankfurt/ Oder. Ernie hatte bei zahlreichen Fahrten durch die Stadt viele prägende Eindrücke sammeln können. So entging ihm nicht, dass es auch im Osten viele schöne Dinge gab, aber mit dem Westen war es lange noch nicht zu vergleichen. Immer wieder fielen ihm die schlechten Straßenzustände auf, ebenso die vielen baufälligen Häuser und die Plattenbausiedlungen.
An die vielen alten Trabbis, Wartburgs und Ladas hatte er sich zwar langsam gewöhnt, und immerhin fuhren ja auch schon viele Westautos im Osten umher, aber der ölige Gestank der vielen Zweitakter war doch sehr auffällig.
Matze riss ihn aus seinen Träumen.
„Hier musst du rechts ab auf den Berliner Ring. Am besten ist es, wenn wir im Westen um Berlin herum fahren, denn der Ostring ist eine wahre Katastrophe. Alles Betonplatten mit riesigen Löchern und Absenkungen, da darfst du teilweise nur 60km/h fahren, sonst sind deine Stoßdämpfer bald hin.
Unserm Wasserwerfer war das völlig egal, aber die Jungs in den VW Bullis haben immer geschimpft.
Nachher fahren wir dann übrigens beim Schönefelder Kreuz in Richtung Cottbus".
„Ok.“, bestätigte Ernie kurz. „Hauptsache unsere Unterkunft ist zu gebrauchen und ich bekomme meinen Schönheitsschlaf, „bemerkte Ernie noch kurz.
„Ja, hoffentlich“, ergänzte Matze, „beim letzten Berlineinsatz waren wir mit unseren Wasserwerferzug außerhalb von Berlin in so einer alten NVA Unterkunft untergebracht. Fließend kalt Wasser, aber von den Decken".
„Vielleicht haben wir aber auch Glück und die da unten haben ein Stasihotel für uns. Da gibt es immer top Buden“, wusste Ernie zu berichten.
„Beim Staatsakt vom damaligen Treuhandchef Rohwedder 1991 in Berlin, waren alle Kraftfahrer fürstlich untergebracht".
Das war für Ernie wirklich sensationell, denn für einen Grenzschützer war es eher eine Seltenheit, gut untergebracht zu werden. Meistens landeten die Einsatzkräfte in Turnhallen, Werkshallen oder auch in dunklen Kellern. In Berlin hatten sie damals alle Einzelzimmer mit eigenem Bad. Er dachte gern an den Einsatz zurück, durfte er doch Willy Brandt vom Flughafen Tegel abholen. Er, zusammen mit einem BKA-Beamten, im dicken 500er Mercedes, hinter ihm ein weiteres Begleitfahrzeug vom BKA.
Einmal musste er an einer Ampel eine Vollbremsung hinlegen, das hat den Willy ganz schön durchgeschüttelt. Später dann sollte er noch eine Schleife durch Ostberlin drehen, weil sie zu früh dran waren. Willy Brandt sagte damals in seiner einzigartigen Tonlage: „Hier gibt’s aber noch viel zu tun!“
Nach endlosen nun fünf Stunden Fahrt auf der ebenso schlechten Autobahn Richtung Cottbus, waren sie endlich am Zielort bei der Grenzschutzstelle Forst in Klein Bademeusel, nahe der polnischen Grenze. Diese lag in einem kleinen Waldstück. Die Autobahn -15- war nur 100 Meter entfernt und die vielen Fahrzeuge waren nicht zu überhören. Sie bogen auf ein geteertes Areal und fuhren direkt auf das große Dienstgebäude zu. Neben dem Hauptgebäude befanden sich noch mehrere Garagen und eine kleine Kfz.-Werkstatt für Dienstfahrzeuge auf dem Gelände.
Vor dem zweistöckigem Flachdachgebäude parkten zahlreiche Privatfahrzeuge. Abgesehen von einem alten VW-Bus in dunkelgrün waren keine weiteren Dienstfahrzeuge zu erkennen. Weiter abseits, am Rand des Areales, standen vier weitere Autos mit polnischen Kennzeichen.
Vor dem Dienstgebäude standen schon mehrere Uniformierte und einige Personen in Zivilbekleidung. Matze und Ernie stiegen aus und gingen auf eine kleine Gruppe zu, deren Gesichter sie aus Winsen kannten. Hier bekamen sie gleich die Information, dass es sich bei den Uniformierten um die Dienststellenleiter von Forst und Guben handelte, die die abgeordneten Kollegen persönlich empfangen wollten.
Nachdem sich Matze und Ernie bei einem der Dienststellenleiter angemeldet hatten, stellte dieser die Vollzähligkeit aller Abgeordneten fest und begrüßte sie danach kurz.
Die erste große Überraschung folgte dann auch gleich nach der kurzen Begrüßung. Zwei Kollegen aus Winsen mussten zur Grenzschutzstelle nach Guben, das lag 30 KM weiter nördlich von Forst. Alle anderen sollten in Forst bleiben. Die genauere Zuteilung würde aber später erfolgen, denn anschließend ging es gleich weiter nach Jänschwalde-Ost, einen ehemaligen Fliegerhorst der Nationalen Volksarmee, wo sie untergebracht werden sollten.
Es folgten weitere 45 Minuten Fahrt, die, so kam es Ernie jedenfalls vor, kreuz und quer durch die Lande verlief. Auch Matze war völlig orientierungslos geworden, „Wo fahren wir bloß hin?" waren immer wieder seine Gedanken.
Endlich in Jänschwalde angekommen, verteilte der schon leicht ergraute Hausmeister, Herr Mahlzahn, die Zimmerschlüssel, nachdem er einen langatmigen Vortrag über Sauberkeit und Ordnung in der Unterkunft gehalten hatte. Er berichtete außerdem, dass es sich bei diesem Gebäude um ein ehemaliges Ledigenwohnheim das NVA-Jagdbomberfliegergeschwader 37 handelte, welches für die Zwecke des Bundesgrenzschutzes angemietet worden war.
Vermieter war jetzt die Bundeswehr.
Ernie und Matze bekamen ein gemeinsames Apartment im ersten Stock zugeteilt. Als sie es betraten waren sie völlig überrascht, denn jeder hatte sein eigenes Zimmer zur Verfügung. Eine Dusche und eine Toilette, die sie sich teilen mussten, befanden sich auf dem Vorflur. Alles machte einen sehr gepflegten und sauberen Eindruck.
Sie waren nicht gerade begeistert, aber der Anfang im Osten war getan. Ein positiver Anfang, so schien es!
Nachdem die Zimmer bezogen waren, ging es wieder zur Einweisung in die Dienststelle zurück. Hier gab es gleich eine große Personalversammlung im großen Besprechungsraum.
Ernie wunderte sich immer noch über all die alten NVA Sachen. Wo man auch hinschaute, da erblickte man Material aus der DDR-Zeit. Jeder Tisch, jeder Stuhl war mit einer NVA-Nummer beklebt. Auch die Linoleumböden in der gesamten Dienststelle hatten einen besonderen DDR Charme.
Herr Weinberg, der sich anfangs als stellvertretender Dienststellenleiter vorgestellt hatte, fasste sich kurz und informierte die Anwesenden über die verwaltungstechnischen Angelegenheiten wie Unterbringung, Reisekosten usw.
Meistens verwies er dabei auf die Sekretärinnen, die zur Dienststelle gehörten.
Weinberg, ein großer, sehr schmächtiger Typ mit lichtem dunklem Haar, trug das Schulterstück eines Polizeikommissars, ganz in silberweiß. Für sein hohes Alter, von geschätztem Anfang fünfzig, schien er noch nicht lange im gehobenen Dienst zu sein. Matze mutmaßte: „Das ist bestimmt ein Ossi, der vorher Oberst war oder so! Kleiner Spurwechsel der Marke Wende“
Nach der kurzen organisatorischen Einweisung bat Weinberg dann alle Westbeamten in ein großes Büro am Ende des Flures. Das Zimmer war ganz offensichtlich das Chefbüro. Es war luxuriös mit Parkett ausgestattet und war auch sonst dem Rang eines hohen Offiziers angemessen. Neben dem Schreibtisch mit Ledersessel gab es noch eine kleine Sitzecke und Vitrinen, die mit Pokalen gefüllt waren.
An der Wand hinter dem Holzschreibtisch hing das große gerahmte Foto des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Ernie musste sofort an seine letzte Abordnung ein Jahr zuvor nach Bonn in die Hauptstadt denken. Er war zum Objektschutz beim Bundespräsidialamt eingesetzt, da hatte er mehrfach den Präsidenten zu Gesicht bekommen. Seine Gedanken waren aber schnell wieder in der Realität, als er seinen neuen Chef sah.
Der Dienststellenleiter, auch ein abgeordneter Wessi, so erfuhr Matze später, flegelte lässig sich in "Räuberzivil" in seinem Ledersessel. Der Mann sah ziemlich übermüdet aus und wirkte auch sonst recht gleichgültig. Unrasiert und in seinem weißen T-Shirt sah er aus wie Irgendwer, aber nicht wie der Dienststellenleiter. Sowas hatte Ernie noch nie gesehen. Alle seine Vorgesetzten waren bisher immer super korrekt angezogen, vorbildlich halt.
Die Begrüßung fiel weg, stattdessen redete der Dienststellenleiter gleich über die Pionierarbeit, die hier zu leisten wäre.
„Die Dienststelle befindet sich im Aufbau, materiell sowie personell besteht akuter Nachholbedarf. Materielle Unterstützung sollten die aufgelösten Dienststellen und Grenzschutzabteilungen aus dem Westen stellen, doch hier ist bislang noch nicht viel angekommen. Und wenn was kommt, dann nur die schlechtesten und verbrauchtesten Einsatzmittel.
Notgedrungen arbeiten wir noch mit dem alten Volksarmeematerial. Neue Einsatzmittel werden aus Kostengründen nur schleppend angeschafft.
Und für den personellen Nachholbedarf sind sie jetzt da. Das ist zwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch besser als gar nichts.
So, und jetzt kann ich nur hoffen, dass sie ihren Dienst ernst nehmen, denn hier ist vieles anders, als in ihrer verschlafenen Einsatzabteilung. Viel Glück!"
Er stand von seinem Sessel auf und verließ das Büro.
Ernie runzelte die Stirn und schaute zu Matze rüber. Der erwiderte mit ernstem Gesicht Ernies Blick und flüsterte dann kaum hörbar für die anderen: „Nette Ansprache. Das scheint ja hier das Paradies auf Erden zu sein!"
Weinberg, der kurzerhand übernahm bemühte sich nun um einige einführende Worte. „Meine Herren, ich begrüße sie nochmals recht herzlich in der Grenzschutzstelle Forst. Sie sind hier, um uns bei der Durchführung unserer Aufgaben zu unterstützen, Arbeit gibt es genug".
Als er dies sagte, ließ er seinen Blick von links nach rechts durch den Raum kreisen. Er musterte jeden Einzelnen für einen kurzen Augenblick.
„So, und jetzt müssen wir sie erst einmal aufteilen. Wir brauchen zehn Beamte für den Grenzübergang und sechs für die motorisierten Überwachungstrupps an der grünen Grenze.
Wer möchte zum Grenzübergang?"
Ernie und Matze schauten sich an. Sie waren sich einig, bloß nicht zum Übergang, denn da sollte ja angeblich "Chaos total sein“.
Es meldete sich keiner der sechzehn abgeordneten Beamten.
„Na gut, das habe ich erwartet", stellte Weinberg fest und reichte dabei eine Aschebecher herum, der mit Papierschnipseln gefüllt war. „Hier habe ich ein paar Lose vorbereitet, die freien Plätze bei den Überwachungstrupps werden durch Losglück verteilt".
Ernie und Matze hatten Glück, beide zogen ein Los mit den drei Buchstaben MÜT. Das stand für motorisierte Überwachungstrupps, also Dienst an der grünen Grenze.
Weinberg notierte sich alle Namen, dann winkte er einem bis dahin unscheinbaren älteren Herrn zu, der die ganze Zeit unauffällig und recht teilnahmslos in der Ecke gestanden hatte. „OK, meine Herren, alles Weitere wird ihnen Herr Hartel erzählen. Er ist ihr MÜT-Chef!“
Dann verließ er den Raum und nahm die restlichen Abgeordneten mit, um sie in die Grenzübergangsstelle einzuweisen. Ernie und Matze verabschiedeten sich noch kurz bei den anderen Kollegen.
„Auch ich darf sie hier heute begrüßen“, begann Hartel mit rauer Stimme. Er sprach bewusst langsam und leise, damit alle Zuhörer besonders aufmerksam seinen Worten folgten.
Er war der Typ eines "alten Wolfes". 1,80 groß, sehr hager, zerfurchtes Gesicht, zurückgekämmte dunkelblonde Haare.
Sein Alter hätte man auf 50 Jahre geschätzt, wenn er nicht gleich in seiner Begrüßung gesagt hätte: „Ich bin Hauptmeister Hartel, 41 Jahre alt, und ich leite hier die MÜTzen."
„41 Jahre?", dachte Ernie, diese Jahre müssen es aber in sich gehabt haben.
„Wir haben es hier mit sehr vielen Problemen zu tun", fuhr Hartel fort. „Zum einen nehmen die Zahlen der illegal Einreisenden rasant zu, zum anderen sind wir personell, wie materiell nicht in der Lage, dagegen etwas zu tun. Sie…", und dabei schaute er eindringend auf die sechs Westbeamten, „sie sollen uns unterstützen, damit sich das hier ändert".
Hartel machte einen gepflegten Eindruck. Er trug eine fein gebügelte beige Hose und ein frisches, kurzärmliges, gelbes Hemd. Nur sein mit groben Falten durchzogenes Gesicht verriet, dass er schon lange im Schichtdienst tätig sein musste.
Viel Kaffee und Zigaretten taten wohl das Übrige dazu.
"Gut Leute, wir machen jetzt erst einmal Pause". Hartel ging zielstrebig aus dem Chefbüro. Er führte die neuen Kollegen durch die Dienststelle bis zu dem großen Besprechungsraum, indem sie anfangs zur Einweisung waren. Hier war erst einmal Zigarettenpause angesagt. Im Besprechungsraum saßen mehrere Uniformierte, die aufmerksam zu den Neuen herüberschauten, aber am Tisch sitzen blieben. Ernie ging ans offene Fenster und schaute auf dem Hof des Dienststellenareals. Matze genehmigte sich auch eine Zigarette und gesellte sich zu Hartel.
Fünf Minuten später ertönte dessen Stimme. „Ich stelle Ihnen jetzt Ihre zukünftigen Kollegen vor, bitte treten sie ein und setzen sie sich".
Alle Angehörigen der MÜT (motorisierte Überwachungstrupps) waren jetzt versammelt.
Hartel erklärte, „ab heute müssen wir die Trupps neu gliedern. Wir haben eine Stärke von 16 Mann in der MÜT, die in vier Trupps gegliedert werden müssen. Besetzt mit jeweils vier Beamten, können wir dann rund um die Uhr die grüne Grenze bestreifen. Der Schwerpunkt wird allerdings auf die Nachtschichten liegen, aber dazu kommen wir später noch".
Dann stellte er seine Trupps vor.
Trupp 1 wurde durch Fritz Herzog geführt, ein gepflegter, großer Mann um die Vierzig. Zum Trupp gehörte der 52jährige Dieter Baumann, der aussah wie ein schlechter Boxer. Er war eine große Erscheinung mit krummer Nase, wirkte aber eher zurückhaltend. Zum Trupp 1 wurden zwei jüngere Westbeamte eingeteilt.
Den zweiten Trupp führte Rainer Plaschke. Er war 1,70 groß und hatte mindestens 100 Kilo drauf, wirkte auch sonst etwas ungepflegt mit fettigem Haar. Zudem trug er eine dicke Hornbrille. "Modell Fortschritt“, wie Ernie später spitz zu Matze bemerkte. Plaschke wurde als Spezialist in der russischen Sprache vorgestellt. Zum Trupp gehörten noch drei andere unscheinbare Ostkollegen.
Wie sich später herausstellen sollte, konnten alle Ostkollegen etwas russisch, doch Plaschke war durch einige Russlandbesuche ziemlich gut geschult.
Truppführer drei war Peter Maxmann, eine schmächtige Erscheinung mit lichtem Haar. Er wirkte irgendwie ziemlich nervös und sein Hemd war am Rücken und unter den Armen völlig verschwitzt. Hartel teilte ihm zwei weitere Westkollegen und einen jüngeren Ostkollegen zu.
Zum Schluss nannte er noch Rolf Junke. Ein junger, sportlicher Kerl so um Anfang Dreißig, der am Vorabend auf einer Fete gewesen sein musste, denn sein Gesichtsausdruck schrie förmlich nach Schlaf und einer Rasur. Er lächelte kurz zu Ernie und Matze herüber, als diese von Hartel dem Trupp 4 zugeteilt wurden.
Paul Brach, der 1,90 große, übergewichtige, aber scheinbar sehr kräftige Ossi, wurde als letzter dem Trupp 4 zugeteilt.
Auch er lächelte den beiden Neuen unsicher zu. Sein großer schwarzer Schnurrbart ließ ihn noch gewaltiger aussehen, als er sowieso war.
Nach der kurzen gegenseitigen Vorstellung und einer weiteren Zigarettenpause, die gab es hier wirklich im 20-30 Minuten Takt, ging es zunächst in den Kaffeeraum. Hier tummelten sich auf 10qm Fläche 13 Leute. Der Trupp 1 hatte die Dienststelle mittlerweile verlassen und fuhr Grenzstreife mit dem derzeit einzigen Dienstfahrzeug.
Hartel schlürfte an seinen Kaffee, und während er genüsslich an seiner nächsten Zigarette zog, gab er Paul Brach den Befehl noch eine Kanne aufzusetzen.
Der sprang auf und bestätigte kurz auf berlinerisch „Jet glech los!“
„Ich komme auch aus dem Westen" fing Hartel das Gespräch an. Er sagte das so, als wollte er sich von den Ostkollegen distanzieren. „Meine Heimatdienststelle war der damalige Grenzübergang Helmstedt. Mittlerweile bin ich schon zwei Jahre hier im Osten. Ich sage Ihnen, dass zerrt ganz schön an den Nerven. Aber Kohle kann man hier reichlich machen".
Matzes Ohren wurden immer größer, Kohle machen war genau sein Stichwort. „Wenn der Staat schon so freigiebig ist, dann muss man das auch mitnehmen."
Die Ostkollegen schwiegen. Ernie musste an die Unterhaltung mit Nelli dem stellvertretenden Einsatzschreiber denken.
Hatte Nelli nicht gesagt, die Ossis bekommen erst 75% vom Westgehalt? Hatte er das nicht gesagt?
Wie muss dann dieses Geschwafel um Geld, in den Ohren der Ossis schmerzen.
Da alle außer Ernie rauchten, war in dem kleinen Raum bald keine Luft mehr zu kriegen. Ernie zog es vor, die Dienststelle genauer unter die Lupe zu nehmen. Er ging den langen Gang bis zur Eingangstür zurück. In dem Vorflur schaute er sich die vielen Pokale aus der Zeit vor der Wende an, die in großen Glasvitrinen ausgestellt waren. „Fußballwanderpokal der Grenztruppen der DDR“, murmelte er vor sich hin.
„Scheinbar lief es hier ähnlich wie bei uns ab", dachte er bei der Betrachtung der Trophäen. „Interne Sportwettkämpfe scheinen in jeder Organisation von hohem Stellenwert zu sein.
Warum auch nicht".
Unten auf dem Vorplatz hörte er auf einmal lautes Türenklappern. Er schaute neugierig durch die offenen Fenster nach unten. Dort stand der Zoll mit zwei Fahrzeugen.
Fünf Zollbeamte fingen an, große Kartons auszuladen. Ernie zählte leise mit: „2, 4, 6, 8, 10, 12, 14, große Kartons".
„Hat der Zoll wieder 'nen Polacken hopps jenommen" erdröhnte es auf einmal hinter Ernie. „Jeder Karton ist mit zehn Stangen jefüllt".
Das war Pauls markante Stimme. Er war hinter Ernie her gewatschelt und lehnte sich jetzt mit aus dem Fenster. Seine laute, brummende, berlinerische Aussprache ließ in Ernies Kopf Schwingungen aufkommen.
„Hat der Zoll die am Grenzübergang geschnappt", fragte Ernie neugierig.
„Muss wohl“!
„Und was passiert mit den Zigaretten?"
„Werden wohl verbrannt, aber erstmal werden 'se jelagert. Im Keller. Unten beem Zoll" Ernie dachte, dass es beim Zoll bestimmt interessant sein muss. Gerade jetzt, wo die Grenzen offen sind, wird doch alles Mögliche geschmuggelt.
„Zigaretten kannste billig kofen", dröhnte Paul weiter.
„Drüben an der Tanke oder in Bad Muskau uff'm Markt. Die Schachtel kostet nur ne' Mark und 50, statt hier fümve".
Auch Junke und Matze hatten den Kaffeeraum verlassen. Sie gesellten sich zu den beiden.
„Kommt, ich zeige Euch mal den Rest der Dienststelle", forderte Junke sie auf mitzukommen.
Das zweistöckige Gebäude teilte sich der Bundesgrenzschutz und der Zoll. Der Zoll im ersten Stock inklusive Keller. Die BGS-Dienststelle befand sich im zweiten Stockwerk. Diese teilte sich in zwei Flügel auf. Der eine war der Geschäftszimmerflügel mit zahlreichen Büros und Bearbeitungszimmern, im anderen Flügel waren Umkleideräume sowie Abstellkammern zu finden. Außerdem befanden sich dort der Kaffeeraum der MÜT und der große Besprechungsraum.
In diesem 30qm großen Besprechungsraum befand sich ein Sandkasten, der die Grenzanlagen mit Grenzübergang darstellte. In filigraner Kleinarbeit hatte vermutlich ein damaliger Grenzsoldat zahlreiche Stunden an diesem Modell zugebracht, mutmaßte Rolf Junke.
Weiter ging es zu den zwei Gitterzellen, die jeweils mit zwei Liegen ausgerüstet waren. Hier wurden die aufgegriffenen Illegalen und die festgenommenen Straftäter untergebracht.
Vor den Zellen standen drei Stühle, auf denen die persönliche Habe der Festgenommenen abgelegt werden konnte.
Hinter den Zellen folgten drei kleinere Räume, die für die Bearbeitung von Aufgriffen dienten. In dem einen Raum sah Ernie einen Fotoapparat, eine Messlatte und eine Schildertafel.
Junke erklärte, dass es sich hierbei um den ED-Raum handelte, wo erkennungsdienstliche Maßnahmen wie das Fotografieren und Fingerabdrücke nehmen durchgeführt wurden.
Die anderen beiden Räume dienten als Vernehmung,- und Bearbeitungszimmer. Der eine Raum war äußerst kärglich eingerichtet. Nur ein älterer Holzschreibtisch und zwei quadratische Tische zierten den Raum. In dem anderen Raum stand zu mindestens eine alte Schreibmaschine auf dem Schreibtisch. Ein Stuhl stand vor dem alten Modell und zwei Stühle standen dahinter. Mehrere Regale, mit vielen Fächern für verschiedene Formulare, standen an der Wand.
Auf der anderen Seite des Flurs befanden sich die Toiletten, ein Kaffeeraum für das Stammpersonal und zwei kleinere Büros für die Sekretärinnen. Zum Ende hin schlossen sich das große Chefbüro, das kleine Chefbüro und der Funkraum für den Diensthabenden an.
Alle Räume machten auf Ernie einen sauberen Eindruck. Nur die Bearbeitungsräume waren unaufgeräumt. Hier lag überall Papier umher und der Papierkorb war randvoll.
Als Matze und Ernie alles gesehen hatten, gingen sie zum Kaffeeraum zurück. Hartel saß immer noch rauchend auf seinen Platz. Matze setzte sich zu ihm. Kurze Zeit später tauschten sie ihre vielen Erlebnisse und Gemeinsamkeiten in ihrer langen BGS-Zeit aus. Immerhin waren sie fast gleich alt.
Ernie lauschte interessiert, bis er mal frische Luft brauchte.
Nach etwa einer Stunde erhob sich Hartel. „OK, wir sehen uns dann morgen in der Frühschicht. Dann kann euch Junke in den Grenzabschnitt einweisen".
Ernie und Matze erkundigten sich noch schnell, wann sie denn Dienstantritt hätten und verließen dann auch die Dienststelle.
Auf der Rückfahrt nach Jänschwalde-Ost hielten Ernie und Matze in Forst bei einer Kaufhalle an. Sie mussten sich für die nächsten Tage erst einmal mit den nötigsten Lebensmitteln eindecken. Immerhin waren sie jetzt ja auf Eigenversorgung angewiesen und konnten nicht auf die gute BGS-Standortküche zurückgreifen.
In Jänschwalde-Ost fuhren sie die Bahnhofstrasse bis zum Ende und bogen dann links in den Wilhelm-Pieck-Ring. Auch gab es eine Kaufhalle. Die großen roten Buchstaben waren nicht zu übersehen. Direkt davor war eine gelbe Telefonzelle der Post, die wie Matze später herausfand, nur mit einer Telefonkarte zu bedienen war. Sehr fortschrittlich!
Das Ledigenwohnheim lag etwas zurückgelegen hinter einem Parkplatz. Ernie lenkte seinen BMW direkt vor das Gebäude, aber hier waren alle Parkplätze belegt. „Ganzschön was los hier“ Er musste weiter hinten parken, nur gut, das sie vorher schon ausgeladen hatten.
Als erstes brachten sie ihre Einkäufe aufs Zimmer. Einige Sachen verstauten sie in ihren abschließbaren Kühlfächern, die in der Gemeinschaftsküche jedem Bewohner zur Verfügung standen.
Im Zimmer selber gab es zwei Klappsofas, dass eine wurde zum Bett umgelegt und das andere als Sitzgelegenheit genutzt. Ernie zog die bereitgelegte orangene Bettwäsche auf und legte sich dann auf seine neue Schlafgelegenheit. Endlich Feierabend dachte er.
Später saßen Ernie und Matze noch im Fernsehraum und genehmigten sich zusammen eine Dose Bier. Ernie hatte sich frische Brötchen gekauft und mit Leberwurst bestrichen.
„Große Auswahl gab es ja nicht, aber ein neuer Lebensmittelmarkt in Forst soll ja bald eröffnet werden, hat mir Paul verraten.“ Matze nickte nur.
„Der erste Tag fing ganz gut an", stellte Matze dann fest, „ich glaube, die Kollegen sind ganz in Ordnung".
„Da hast du Recht Matze. Und was hältst du von Hartel?“
„Passt schon, immerhin ist er ja auch Wessi".
„Na denn ist es ja gut", wunderte sich Ernie über Matzes Voreingenommenheit.
„Gibt es was in der Glotze? Tagesschau fängt gleich an!“
Matze hatte schnell herausgefunden, dass es nur fünf Sender zu empfangen gab. Immerhin Erstes und Zweites!
Viel mehr brauchten sie auch nicht, denn in den nächsten Wochen und Monaten würden sie sowieso nicht viel zum Fernsehen kommen. Aber das ahnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
„04.45Uhr ist Wecken und 05.15Uhr fahren wir ab, Ernie“ sagte Matze mit müdem Lächeln. „Ist gut, bis morgen!“
Juni '92
Die Dienstplangestaltung für die nächsten Wochen verlief für Ernie und Matze recht positiv. Sie konnten ihren Dienst fast immer so einteilen, wie es ihnen passte. Junke ließ ihnen völlig freie Hand, Hauptsache vierzig Wochenstunden wurden erfüllt. So trugen sie sich immer für vier oder fünf Schichten hintereinander ein, um möglichst schnell wieder nach Haus zu kommen.
Einzige Maßgabe war der Schichtrhythmus, wonach sie nacheinander drei Frühschichten, drei Spätschichten und dann drei Nachtschichten hatten. Dieses Modell galt für alle vier Trupps, wobei der erste und der vierte Trupp den gleichen Plan hatten.
Da es zu diesem Zeitpunkt nur vier Trupps für den ganzen Grenzabschnitt gab, war es besonders für den 2. und 3. Trupp, unmöglich alle Schichtzeiten rund um die Uhr abzudecken.
Hartel versuchte mit zehn Stunden pro Schicht, zu mindestens eine Überschneidung der Schichten sicher zu stellen. So gewährleistete er, dass Erkenntnisse und dienstliche Mitteilungen von Trupp zu Trupp weitergegeben wurden.
Ebenso konnten Aufgriffe von Illegalen zusammen bearbeitet werden und notfalls vom neuen Trupp auch zu Ende gebracht. Das machte Sinn, hier merkte man Hartels große Einzeldiensterfahrung von der Westgrenze.
Ernie und Matze waren mit dem Schichtplan recht zufrieden.
Sie hatten zwar jedes zweite Wochenende Dienst, aber wenn sie dann wieder zu Hause waren, dann hatten sie auch meistens drei Tage frei. Auf jeden Fall freuten sie sich, dass sie immer gemeinsam ihren Dienst führen konnten. Außerdem hatten sie mit Rolf Junke und Paul Brach zwei ganz anständige Truppkollegen.
Die ersten Tage verbrachten Ernie und Matze damit, die Gegend kennenzulernen, oder fachmännisch gesagt, den Einsatzabschnitt aufzuklären. Rolf Junke, als ihr Truppführer, half ihnen dabei. Er war in Groß Jamnow, nahe Forst, aufgewachsen und kannte die Gegend wie seine Westentasche.
Die Grenzschutzdienststelle Forst befand sich in Klein Bademeusel, direkt neben der Autobahn 15, in unmittelbarer Nähe zum Grenzübergang. Diese Autobahn stammte noch aus den Zeiten des 2.Weltkrieges, wurde aber nie richtig fertig gestellt.
Hinter Cottbus gab es nur noch eine Fahrbahn für die jeweilige Richtung. Für das DDR-Verkehrsaufkommen hatte es noch gereicht, aber heute, drei Jahre nach der Wende, führte es zu häufigen Staus oder zähfließenden Verkehr. Besonders die letzten fünf Kilometer bis zur Grenze konnten zum Nadelöhr werden, wenn sich die zahlreichen Lastkraftwagen zurückstauten.
Diese Autobahn führte in Polen nach Liegnitz und weiter nach Breslau. In Deutschland war sie der direkte Weg von der Ostgrenze nach Berlin, der nur 150 KM entfernte Zielort für viele Illegale. Hier konnte man sich ohne Registrierung lange aufhalten ohne entdeckt zu werden.
Der Grenzabschnitt für die Forster MÜTzen (Motorisierter Überwachungstrupp) war recht groß, er umfasste ca.40 km Strecke, entlang der Grenze zu Polen. Die Neiße bildete dabei die natürliche Begrenzung, Flussmitte war der Grenzverlauf.
In Richtung Westen, also Landesinnere waren es 30 km Zuständigkeit. Der sogenannte Geltungsbereich des Bundesgrenzschutzgesetzes ermöglichte den eingesetzten Streifen also auch bis hinter Cottbus Kontrollen von verdächtigen Personen oder Fahrzeugen. Das Hinterland wurde aber selten bestreift, berichtete Junke, da der Schwerpunkt im grenznahen Bereich lag.
Im Süden bestand der Abschnitt zu großen Teilen aus gemischtem Hochwald oder Tannenwald. Die Abschnittsgrenze reichte bis kurz vor Bad Muskau. Dieser Bereich war besonders schlecht zu überwachen. Immer wieder nutzten Illegale die Möglichkeit, mit der Deckung des Waldes, ungesehen nach Deutschland einzuwandern.
Aber auch Zigarettenschmuggler, besonders die polnischen, fühlten sich hier sehr wohl, da sie fast ungestört ihr Unwesen treiben konnten.
Junke erklärte, „dass ein Aufgriff hier reine Glückssache wäre, denn die Polen arbeiten meistens mit Gegenaufklärung. Soll heißen, das auf unserer Seite die Abholer der Ware schon lange vorher umher fahren und schauen, ob die Luft rein ist“.
Der nördliche Abschnitt war geprägt durch reichlich Felder und Wiesen. Jetzt im Juni, war alles im Begriff zu wachsen und zu blühen. Die verschiedenen Getreidefelder waren mittlerweile so hoch, dass sich hier illegale Einreisende gut vor heranfahrenden BGS-Streifen verstecken konnten. Die Bundesstraße 122 und die B 112 nördlich von Forst ermöglichten Schleusern, wegen ihrer Nähe zur Grenze, schnell und unbemerkt Illegale aufzunehmen. Nur mit Glück und größter Wachsamkeit konnten die Grenzschützer hier einen Aufgriff tätigen.
An einen kleinen Brückenkopf, direkt an der Neiße, machten sie Zigarettenpause. Junke, Paul und Matze dampften eine HB, die Matze spendierte. Ernie hatte ein Fernglas dabei und spähte ein bisschen ziellos umher. Keine Menschenseele weit und breit. Das einzig auffällige war da noch der rot-weiß gestreifte Grenzpfahl, der direkt am Brückenkopf auf polnischer Seite herausragte.
Junke erklärte, dass es entlang der Neiße zahlreiche solcher abgebrochenen Brücken gäbe. Nur noch die Brückenköpfe wären zu sehen, wo früher einmal die Verbindung zu den Nachbarn war.
Das war ja mal alles deutsches Gebiet. Aber die Wehrmacht hat ja alles auf dem Rückzug vor den anrückenden Russen zerstört. In den späteren Jahren war es der DDR ganz recht, dass erleichterte die Grenzsicherung.
Die Stadt Forst war ein besonderer Schwerpunkt im nördlichen Grenzabschnitt. Sie lag direkt an der Neiße. Der Fluss war hier zwischen 10 und 14 Meter breit, je nach Verlauf konnte es sich etwas ändern.
Im südlichen Forst erstreckte sich der Rosengarten. Ein beliebter Ausflugsort der Forster, der sehr idyllisch am Neißeverlauf gelegen war. Kurz dahinter folgte die zweigleisige Bahnlinie, die über eine Stahlbrücke nach Polen führte. Hier fuhren nur sehr selten Züge. Trotzdem oder gerade deshalb ein möglicher Ort um die Grenze zu überqueren. Im nördlichen Teil der Stadt schloss sich ein Wohngebiet an, welches aus alten, aber sehenswerten Häusern bestand.
Im Anschluss, weiter Richtung Norden, folgten dann die "Datschas", die Schrebergartenkolonie. Junke berichtete, das die Betreiber der Datschas mit zahlreichen Einbrüchen durch unbekannte Täter hatten. Die Forster hatten natürlich die Polen in Verdacht, die kurz mal über die Grenze kamen, die Hütten aufbrachen und mit dem Stehlgut schnell wieder verschwanden.
Mittlerweile diskutierte man über die Aufstellung eine Bürgerwehr.
„Paul, weist du etwas darüber? Du wohnst doch in Forst!“ versuchte Junke Informationen zu bekommen. Paul reagierte sehr langsam, gefiel ihm doch das umherfahren durch die Stadt. Lässig am Lenkrad sitzend und den Arm heraushängend. Dann und wann grüßte er mal einen Forster im Vorbeifahren.
„Wat? Ach so, ne … Die kriegen uff de Fresse, wenn se erwischt werden“!
Das war deutlich. Ernie grinste Matze an und schüttelte leicht den Kopf.
Junke fuhr in seinen Ausführungen fort und so berichtete er, dass auch immer öfter Illegale, meist Rumänen und Bulgaren, durch die nahegelegene Neiße wateten und sich dann den Bahnhof in der Stadtmitte suchten. Von hier aus würden sie dann über Cottbus nach Berlin mit der Bahn fahren. Aber auch ortsansässige Taxiunternehmen waren nur zu oft am Weiterkommen der Illegalen beteiligt.
Sie fuhren in regelmäßigen Abständen den grenznahen Bereich ab und sammelten die Reisenden auf. Selbst beim Bahnhof boten sie ihre Dienste an, was natürlich strafbar. Aber für eine schnelle Mark gehen die ganz schön viel Risiko ein.
„Warum ist das strafbar?“, wollte Ernie wissen.
„Na ja, entweder ist das Beihilfe zum Unerlaubten Aufenthalt oder sogar Schleusung. Je nachdem wo der Taxifahrer die Leute aufnimmt oder was er denen abknüpft“.
Ihre Rundfahrt durch Forst stoppte nun vorübergehend beim Bahnhof, den sie sich kurz zu Fuß ansahen. Hier war zur Mittagszeit nicht viel los und so setzten sie ihre Streife durch die Forster Innenstadt fort.
Ernie fiel auf, das unter jedem Straßenschild ein "polnischer" Name stand. Junke erklärte dazu, dass es sich hierbei nicht um polnische Namen handelte, sondern dass es sich um sorbische Straßen,- und Ortsnamen handelt. Die Sorben sind eine Völkergruppe, die früher in der Niederlausitz gelebt hat.
Heute noch sollen bis zu 60.000 Menschen dieser Minderheit angehören. In der DDR wurden sie regelrecht gehätschelt und ihr Brauchtum gefördert.
Die nördlichste Abschnittsgrenze reichte bis nach Horno. Die Bewohner des kleinen Grenzdorfes waren von den riesigen Schaufelbaggern des Braunkohleabbaus bedroht. Ernie und Matze fuhren hier täglich durch, da das der direkte Weg zu ihrer Unterkunft in Jänschwalde war.
Junke zeigte den beiden mehrere handgemalte Plakate, die stumm gegen den Tagebau protestierten. „Es gibt ein sorbisches Sprichwort", fuhr er mit seinen Erläuterungen fort, „da heißt es: Der liebe Gott hat uns die Lausitz geschenkt, und der Teufel hat die Kohle dort vergraben".
„Das ist hier das Lausitzer Braunkohlerevier. Mit der geförderten Kohle werden die Kraftwerke Jänschwalde, Schwarze Pumpe und ich glaube auch Boxberg, weiter im Süden, beliefert. Jetzt nach der Wende gibt es hier zwei große Stimmungslager. Die einen wollen natürlich den Erhalt, allein schon wegen der wichtigen Arbeitsplätze, die anderen wollen natürlich ihren Ort behalten. Wer hat schon Lust umzusiedeln?!“
Ernie und Matze konnten die neun großen Kühltürme des Kraftwerks Jänschwalde von weitem sehen. Aus den noch längeren drei Schornsteinen dampfte es ordentlich.
Nach der Grobeinweisung in die wichtigsten Ortschaften und Straßen, zeigte Junke ihnen die Grenzstreifenwege, die direkt an der Grenze verliefen. Mal fuhr man direkt auf dem Deich, mal dahinter oder sogar direkt an der Neiße, wenn die Witterung es zuließ.
„Herrliche Natur“, entlockte es Matze. Ernie fand das eher langweilig, er war drauf und dran ein kleines Schläfchen zu halten. Seine Diensteinstellung hielt ihn aber davon ab.
Im südlichen Bereich von Forst, zwischen Keune und Groß Bademeusel, zeigte Junke ihnen bekannte Übertrittsstellen von Illegalen. Hier waren ganz deutlich die Ausstiegsspuren am Neißeufer zu sehen. Fußabdrücke und heruntergetretenes Gras waren eine klare Spurenlage. Teilweise lagen sogar alte Bekleidungsgegenstände direkt daneben, die die Illegalen einfach liegen ließen, nachdem sie sich trocken umgekleidet hatten.
Jetzt im Sommer führte die Neiße nur wenig Wasser, oftmals nur knietief. Hüfttief war sie meistens in den Bögen, die der Fluss häufig machte. Das war für einen Schwimmer sicher kein Problem, aber für Nichtschwimmer war der Grenzübertritt schon gefährlich. Paul wusste zu berichten, dass Zöllner an irgendeinem Wehr, welches wusste er nicht mehr, schon mal einen Toten rausgefischt hatten.
Für Ernie und Matze waren die neuen Eindrücke faszinierend.
Allerdings war hier eine ganz andere Art von Dienst erforderlich, als sie das bisher in ihrer Einsatzabteilung gewohnt waren. Hier würde es darauf ankommen, selbstständig zu arbeiten, taktisch klug vorzugehen und eigenverantwortlich Maßnahmen zu treffen.
Zu einem großen Problem könnte die mangelhafte materielle Ausstattung werden. Die MÜT verfügte über gerade mal drei einsatzbereite Fahrzeuge. Das Prunkstück war ein zehn Jahre alter dunkelgrüner VW-Bus T3 1,9l aus einer aufgelösten Einsatzeinheit, mit 135.000 KM auf der Uhr. Der Bus verfügte über zwei Schiebetüren, einer Standheizung, aber ohne Radio.
Das zweite Gefährt war ein zweitüriger hellgrüner Lada Niva, der für schwieriges Gelände geeignet war, aber auf der Straße brachte er nur 90 km/ h. So schnell fuhr aber keiner, denn bei 70 km/h war der Lärm der Achsen und der Stollenreifen nicht mehr auszuhalten.
Den Abschluss der vielfältigen Auswahl bildete der dunkelgrüne Wartburg 353. Der war weder mit Funk noch mit Blaulicht ausgerüstet. Aber zum hin und her fahren und zur verdeckten Ermittlung war der Zweitakter sehr gut geeignet, befand Ernie nach einer kurzen Probefahrt. Die Dreizylinder-Einlitermaschine hatte einen unglaublich guten Anzug und schaffte immerhin 170km/h.
Auch die andere Ausrüstung ließ zu wünschen übrig. Tragbare Handfunkgeräte gab es gar nicht und das eine Nachtsichtgerät war zwar zu gebrauchen, aber das dazugehörige Ladegerät fehlte. Ferngläser, Handschellen und Taschenlampen brachten die Westbeamten glücklicherweise aus ihren Heimatdienststellen mit in den Osten.
Als sie Hartel auf das Problem ansprachen, sagte der: „Improvisieren, improvisieren meine Herren, aber ich versuche beim Amt in Frankfurt/ Oder Druck zu machen.
Aber vergesst nicht, die haben die komplette Grenze zu Polen und zu den Tschechien auszustatten.“
Tatsächlich sollten erst in den nächsten Monaten zahlreiche schon gebrauchte Einsatzmittel zur Verfügung stehen. Doch bis sie einsatzfähig zu den Dienststellen an die Grenze kamen, vergingen viele Wochen.
Neben der Einweisung in den Grenzabschnitt, ließen sich Ernie und Matze von Junke grob in die rechtliche Lage einweisen. Der erklärte ihnen, dass es sich bei den Illegalen zunehmend um Rumänen oder Bulgaren handelte, die für einen Aufenthalt in Deutschland ein Visum benötigten. Wenn also der Rumäne oder Bulgare kein Visum besitzt, dann hält er sich illegal in Deutschland auf und ist vermutlich auch illegal nach Deutschland eingereist. Das ist strafbar!
Wenn man nun den polnischen Grenzbehörden glaubhaft versichern kann, dass der Illegale aus Polen gekommen ist, dann steht einer Rückführung nach Polen nichts mehr im Wege.
Bedingung ist aber, dass man den genauen Ort, also das Grenzzeichen und die Uhrzeit angibt. Außerdem braucht man den Reisepass des Illegalen.
In Polen werden sie dann in die Bahn gesetzt und dürfen heimfahren. Asylanträge werden selten gestellt, und wenn, dann entscheidet das Grenzschutzamt in Frankfurt/Oder über die weitere Vorgehensweise.
Für den Anfang reichte den beiden diese Information, alles Weitere würde sich dann aus dem täglichen Dienst ergeben.
„Für heute reicht es“, befand auch Junke beendete die erste Schicht. „Ich will noch an den Baggersee, heute ist Bikini-Wetter“.
Auch Ernie und Matze machten Feierabend und fuhren mit vielen neuen Eindrücken nach Jänschwalde zurück.
In den ersten Tagen hatten sie mit ihrem Trupp 4 keinen Aufgriff. Die anderen drei Trupps waren aber auch erfolglos.
Echt komisch fanden Ernie und Matze diesen Umstand, da die Ostkollegen gerne von ihren "zahlreichen" Aufgriffen erzählt hatten. Doch Junke erklärte ganz gelassen, dass das nun mal so sei. Mal ist Flaute und ein anderes Mal brennt die Hecke, das ist ganz normal.
Am fünften Tag ihrer Abordnung, wollten sie nach Beendigung ihrer Frühschicht gegen 16.00Uhr, anschließend nach Hause fahren. Beide hatten in der Woche mit ihren Frauen zu Hause telefoniert und die frohe Kunde gemeldet.
Das hatte auch daheim etwas den Druck genommen. Der Rest lässt sich dann auch noch erklären, wenn man erst einmal wieder zu Hause ist.
Rolf Junke hatte morgens gegen 08.00Uhr eine Besprechung mit Hartel, sodass Ernie und Matze mit Paul Brach alleine losfuhren. Der gemütliche Paul klemmte sich wie immer hinter das Lenkrad des VW-Busses und kutschierte Ernie und Matze ziellos durch den nördlichen Grenzabschnitt. Ihm war es egal wohin es ging, Hauptsache er konnte umherfahren.
Später, gegen 10.00Uhr, meldete sich Junke über Funk. Er wollte von der Dienststelle abgeholt werden. Nach seiner Aufnahme ließ er Paul in den südlichen Abschnitt fahren. In Döbern, einer 2000 Seelenortschaft, zeigte Junke seinen Trupp Kollegen die ortsansässige Glasbläserei. Hier konnte man sehr günstig Glasprodukte aller Art erwerben. Matze war völlig begeistert und war kaum wieder wegzubekommen.
Nach einem kleinen Imbiss, später an der Würstchenbude im Ortszentrum, nahmen sie ihren Streifendienst wieder auf.
Mehr oder weniger ein Zufall bescherte ihnen dann, am Ortsausgang von Döbern, ihren ersten Einsatz.
„Guck mal da", platzte Matze los, „ guck mal dort drüben, die da mit der Tasche, die sehen mir aber sehr nach Ausländer aus."
Ernie sagte gar nichts, er konnte von der hinteren Sitzbank nicht viel erkennen. Er sah nur zwei männliche Gestalten mit Reisetaschen in der Hand. Eigentlich kein Grund zur Unruhe.
Paul, der den VW Bully fuhr, gab aber gleich Vollgas und steuerte auf die beiden verdächtigen Personen zu, die in Richtung Döbern unterwegs waren. Rolf Juhnke war eher gelassen. Als er endlich aus dem Bully stieg, da waren Ernie und Matze schon aus den Schiebetüren gesprungen und bei den beiden Männern.
Jetzt war es auch für Ernie ersichtlich, dass es sich hier um zwei Ausländer handelte, denn der südländische Einschnitt