Hamburg - Deine Morde. Jeder Mord braucht einen Täter - Andreas Behm - E-Book

Hamburg - Deine Morde. Jeder Mord braucht einen Täter E-Book

Andreas Behm

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Beschreibung

Weil sich der pensionierte Hamburger Kommissar Harald Hansen im Ruhestand langweilt, eröffnet er ein Detektivbüro. Sein erster Auftrag, erteilt von einer geheimnisvollen Blondine, scheint harmlos zu sein. Doch dann liegt in seinem Büro die Leiche des Journalisten Konradi. Alle Indizien sprechen gegen Hansen, und er kommt in Untersuchungshaft. Dort legt er verzweifelt ein Geständnis ab, denn ein anonymer Erpresser bedroht das Leben seiner Familie. Bei einem Krankenhausaufenthalt gelingt Hansen schließlich die Flucht. Er nimmt den Kampf um seine Freiheit auf – unterstützt von der Mutter des Opfers. "Jeder Mord braucht einen Täter" ist der letzte Fall des Hamburger Kommissars Harald Hansen aus der Reihe "Hamburg - Deine Morde".

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„Hamburg – Deine Morde. Jeder Mord braucht einen Täter. Harald Hansens letzter Fall“ ist der vierte Teil der Reihe um den Hamburger Kommissar Hansen. Teil 1 „Hamburg – Deine Morde. Die Moral eines Killers. Harald Hansens 1. Fall“ erschien im August 2011 im ACABUS Verlag, der zweite Teil „Hamburg – Deine Morde. Der Lippennäher. Harald Hansens 2. Fall“ im September 2011. „Hamburg – Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland. Harald Hansens 3. Fall“ folgte im Oktober 2012.

Alle Handlungen und Personen, ausgenommen Ereignisse und Personen der Zeitgeschichte, sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Die Nennung von Markennamen dient lediglich der Beschreibung.

Andreas Behm

Hamburg – Deine Morde

Jeder Mord braucht einen Täter

Harald Hansens letzter Fall

Behm, Andreas: Hamburg – Deine Morde. Jeder Mord braucht einen Täter. Harald Hansens letzter Fall, Hamburg, ACABUS Verlag 2014

Originalausgabe

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-332-1

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-333-8

Print: ISBN 978-3-86282-331-4

Lektorat: Alena Behrens, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Marta Czerwinski, ACABUS Verlag

Umschlagmotiv: http://pixabay.com

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2014

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Prolog

Sie nannten ihn den Schlangenweg. Hansen dachte an einen schmalen Pfad, undurchdringliches Dickicht links und rechts, züngelnde Kreaturen. Doch die Realität sah anders aus. Der Weg war bloß eine Zufahrt, die sich bis zu einem großen, eisernen Tor schlängelte, das den Eintritt in eine abgeschlossene Welt markierte.

Er saß auf der Rückbank und schaute in das Halbdunkel der Stadt. Die beiden Uniformierten gingen freundlich und respektvoll mit ihm um. Die Handschellen hatten sie ihm mit Bedauern angelegt. Es täte ihnen leid, aber als ehemaliger Kollege kenne er ja die Vorschriften. Sein Versprechen, ohne Handschellen keinen Ärger zu machen, nützte nichts.

Das Tor öffnete sich. Sie fuhren in eine Gasse, flankiert von vier Meter hohen Mauern.

Der Streifenwagen hielt vor einer Tür aus Metall. Die Polizisten stiegen aus. Hansen musste warten. Sie hatten ihm die Prozedur erklärt. Die motorgetriebene Tür schwang auf, sie gingen hinein, legten ihre Dienstwaffen in ein Schließfach und kehrten zurück, um ihn zu holen. So sollte verhindert werden, dass eine verhaftete Person in der Schleuse an eine Waffe gelangen könnte. Man wusste nie, wie die Leute reagierten, die hier angeliefert wurden.

Sie führten ihn in die Schleuse, die höchstens acht Quadratmeter maß. Links neben dem Eingang sah er die grau lackierten Schließfächer, an der Seitenwand eine Holzbank. Gegenüber befand sich eine verglaste Kabine, in der zwei Justizvollzugsbeamte standen. Sah aus wie ein Kommandostand. Dickes Glas, schusssicher. Die zweite Tür der Schleuse war ebenfalls aus dickem Glas mit metallenem Rahmen und natürlich war sie geschlossen.

An der Scheibe klebte ein von Hand beschriebener Zettel:

NIX ANFASSEN! AUTOMATIK

Sonderregelungen für Ex-Kommissare gab es nicht. Die Aufnahmeprozedur in der UHA – die Abkürzung für Untersuchungshaftanstalt – wurde für ihn nicht geändert.

Es wurde geprüft, ob er der war, der er sein sollte. Harald Hansen, geboren 1948, wohnhaft in Hamburg …

Er fühlte sich seltsam unbeteiligt. Ein Beamter fragte ihn, ob die Daten korrekt seien. Es war sein dritter Versuch, eine Antwort zu bekommen.

Hansen antwortete mit ›ja‹, obwohl er nicht zugehört hatte. Ein zweiter Beamter, auf dessen Uniform der Name Bremer stand, ein kräftiger Kerl mit tätowierten Unterarmen, den Hansen ohne Uniform für einen Insassen gehalten hätte, führte ihn durch die aufschwingende zweite Tür der Schleuse. Hansen fragte nach dem ›Nix anfassen‹-Schild.

»Die Türen sind mit einer Automatik ausgestattet«, erklärte der Beamte geduldig. »Ist eine Tür offen, bleibt die andere zu. Die Dinger öffnen sich nicht besonders schnell. Passt zu diesem Haus. Hier hat man Zeit. Aber manche Zeitgenossen sind ungeduldig und drücken gegen die Türen, während sie sich öffnen. Das mag die Steuerung der Automatik nicht und streikt dann. Deshalb der Hinweis.«

Er brachte ihn in einen Warteraum, eine bis unter die Decke weiß gekachelte Zelle, mit einem gemauerten Podest und einer Holzauflage als Sitzbank, sonst nichts.

Einige Minuten später musste er sich einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen. Es folgte ein kurzes Gespräch, in dem ihm der weitere Ablauf erklärt wurde. Um 2:30 Uhr führte ihn ein Beamter in einen Gang nahe der Eingangsschleuse. Hier befanden sich mehrere Zellen, die der vorübergehenden Unterbringung dienten. Dunkelgrün lackierte Holztüren mit Metallriegeln und kleinen Klappen in Kopfhöhe, die aus der Gründerzeit zu stammen schienen. Der Beamte öffnete eine Tür und Hansen betrat die karge Kammer, in der er die restlichen Nachtstunden verbringen sollte.

Metallisches Klacken des Riegels, rasselnder Schlüsselbund.

Geräusche, die ihn von nun an täglich begleiten sollten und kategorisch wirkten.

Kapitel 1

Ende Juli 2010, acht Monate vor seiner Verhaftung, wurde Kriminalhauptkommissar Harald Hansen pensioniert. Die für Tötungsdelikte zuständige Dienststelle LKA 41 verlor fünfunddreißig Jahre Erfahrung und den erfolgreichsten Ermittler ihrer Geschichte. Viele Reden wurden gehalten und Lobeshymnen gesungen. Manche ehrlich, andere scheinheilig.

Das Bedauern von Kriminaldirektor Michael Thorwald gehörte in die erste Kategorie. Er hatte Hansen in den letzten Jahren zwei talentierte junge Kollegen zur Seite gestellt, um sie von seinem Wissen profitieren zu lassen.

Thomas Bernstein und Vera Becker mussten nun unter neuer Führung zeigen, was sie gelernt hatten. Sie hätten gern weiterhin mit ihm zusammengearbeitet, denn sie wussten, dass der berüchtigte Griesgram im Alter milder geworden war.

Eine Handvoll Kollegen bedauerte seinen Weggang ebenfalls. Die Anzahl derer, die drei freudige Kreuzchen in ihren Kalender malten, war deutlich größer, denn Hansens Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten und Hierarchien hielt sich bis zum Schluss in engen Grenzen.

Der August fühlte sich wie Urlaub an. Im September widmete Hansen sich den jahrelang vernachlässigten Hobbys. Er las viel und ordnete seine Vinylscheibensammlung. Er versuchte sich mit Elan in die neue Rolle als Hausmann und Betreuer der neunjährigen Tochter seiner Lebensgefährtin einzuarbeiten. Mareike freute sich. Onkel Harry brachte sie morgens in die Schule, half ihr nachmittags bei den Hausaufgaben und war leicht rumzukriegen, wenn sie ihren kindlichen Charme einsetzte.

Ihre Mutter war anfangs begeistert. Nadja Kunze arbeitete 30 Stunden die Woche als OP-Schwester im Barmbeker Krankenhaus. Da Harry nun jeden Tag zuhause war, kam sie seltener in Konflikte als Mutter und Berufstätige. Sie überlegte, ob sie eine Vollzeitstelle antreten sollte. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und hatte noch einen langen Weg bis zur Rente vor sich. Es konnte nicht schaden, ein paar zusätzliche Punkte auf dem Rentenkonto anzusammeln, solange Harry noch fit genug für die Betreuung von Mareike war.

Doch bald kamen ihr Zweifel. Harrys individuelle Art der Haushaltsführung führte zu kleinen Streitereien. Wenn sie ihn freundlich auf Versäumnisse hinwies, reagierte er gekränkt. Wenn sie ihn bat, eine Sache anders zu erledigen, zeigte er sich misslaunig und stur.

Den ersten großen Streit gab es, nachdem Harry eines Tages beschlossen hatte, die Küchenschränke gründlich zu putzen und bei der Gelegenheit eine neue Ordnung einzuführen.

Nadja kehrte abends vom Dienst zurück, ging in die Küche und musste drei Türen öffnen, bevor sie ein Wasserglas fand. Teller, Tassen, Becher, Brotbretter und Töpfe. Nichts befand sich mehr dort, wo es am Morgen noch gewesen war. Nadja hatte bei einer sechsstündigen Operation assistiert, an deren Ende ein toter Motorradfahrer auf dem OP-Tisch lag.

Sie war ausgelaugt und frustriert. Sie rastete aus und schrie Harry an, wie sie es nie zuvor getan hatte. Er brüllte zurück, enttäuscht darüber, dass seine stundenlange Schufterei nicht gewürdigt wurde.

Mareike stand weinend in der Tür. »Warum schreit ihr so?«

Nadja und Harry verstummten. Er stürmte an dem Kind vorbei auf den Flur, schnappte sich seine Jacke und öffnete die Wohnungstür. Er drehte sich um.

»Keine Sorge, wird alles wieder gut«, rief er dem Mädchen zu und verschwand.

Ohne Ziel stapfte er durch den Nieselregen. Nicht gerade das ideale Wetter, um seine Wut herauszulaufen. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, doch die Schachtel lag warm und trocken in der Wohnung. Zurückgehen? Kam nicht infrage. Die Leuchtreklame einer Sports-Bar lockte ihn an. Wenigstens hatte er sein Portemonnaie dabei.

Er betrat die Bar und freute sich. Es gab eine Raucherlounge. Er suchte sich einen Platz und bestellte ein Bier. Aus dem Automaten holte er sich Zigaretten. Der Barmann gab ihm Streichhölzer. Nun konnte der Abbau der Wut beginnen.

Hansen interessierte sich nicht für Sport. Er beachtete die Monitore mit der Übertragung eines Zweitligaspiels nicht.

Hauptsache, man ließ ihn in Ruhe.

Er sah sich um und begriff, warum es diese Bars gab. Der Sport war Nebensache. Diese Bars gehörten zu den letzten Refugien für Männer, die in Ruhe ihr Bier trinken und eine Auszeit von Zuhause nehmen wollten.

Es wurde nicht wieder gut, wie Hansen Mareike versprochen hatte. Im Oktober und November strebte der Ex-Kommissar zügig auf eine Ruhestandsdepression zu.

Nachdem er morgens Mareike zur Schule gebracht hatte, legte er sich oft wieder ins Bett und vergammelte den Vormittag. Im Haushalt tat er nur noch das Nötigste. Sein erstes Bier des Tages öffnete er schon am Nachmittag. Er rauchte zwanzig Zigaretten am Tag, obwohl die Ärzte ihm vor zwei Jahren nach seiner Herzoperation dringend geraten hatten, das Rauchen aufzugeben. Sein innerer Zustand zeigte sich auch im äußeren Erscheinungsbild. Die grauen Haare lagen über den Schultern, oft strähnig, weil er sie zu selten wusch. Der Bart bedeckte das halbe Gesicht. Der Bauch wuchs zum Bierfass heran.

Mareike litt besonders unter der Situation. Wenn sie Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben hatte oder sich nicht so verhielt, wie er es verlangte, wurde er schnell ungeduldig und schnauzte sie an. Manchmal schickte er sie auf ihr Zimmer und schloss sie ein. Gemeinsames Spielen fand nicht mehr statt.

Das sensible, lernbehinderte Mädchen verstand nicht, warum Onkel Harry, den es liebte und bewunderte, sich plötzlich so abweisend zeigte. Die Neunjährige tat das, was viele Kinder tun, wenn sie von geliebten Menschen Zurückweisung erfahren: Sie suchte die Schuld bei sich selbst. Ihr Held, der große Polizeikommissar, mochte sie nicht mehr. Sie musste also etwas getan haben, was ihn nachhaltig verärgerte.

Sie gab sich Mühe, besonders brav zu sein, buhlte um seine Zuneigung. Er reagierte mit noch mehr Abweisung.

Ihre schulischen Leistungen sackten ab. Im letzten Jahr hatte sie von dem Unterrichtskonzept ihrer Schule profitiert, die neue Wege bei der Förderung und Integration lernschwacher Schüler ging. Nun fiel sie wieder weit hinter das Leistungsniveau der anderen zurück.

Nadja versuchte verzweifelt, mit Harry ins Gespräch zu kommen. Doch sobald sie seine offensichtlichen Probleme nur andeutete, zog er dicke Mauern hoch, erhob unsinnige Vorwürfe oder flüchtete in die Sports-Bar, um erst zurückzukehren, wenn Nadja bereits im Bett lag.

Sie lag dann allein im Doppelbett, wütend und besorgt zugleich. Er schlief im eigenen Zimmer auf der Schlafcouch.

Das hatte auch sein Gutes. Seitdem er wieder stark rauchte und dazu viel trank, schnarchte er unerträglich laut.

Nadja musste handeln. Sie liebte Harry, aber sie musste ihre Tochter schützen. Sie stellte ihm ein stilles Ultimatum. Bis Jahresende gab sie ihm Zeit, die Kurve zu kriegen, ansonsten würde sie ihn bitten, auszuziehen.

Vielleicht konnte ein vertrauter Mensch von außen helfen.

Nadja rief Doktor Heinrich Peters an, den Rechtsmediziner und langjährigen Freund von Harry. Sie schilderte ihm die Entwicklung der vergangenen Wochen und war von seiner Reaktion überrascht.

»Ich hätte mich sowieso innerhalb der nächsten Tage bei dir gemeldet«, sagte er. »Fünfmal habe ich versucht, mich mit Harry zu verabreden, fünfmal kassierte ich eine Absage und bei jedem Mal wurde diese schroffer. Scheint so, als hätte der alte Stinkstiefel ein Riesenproblem. Ich mache mir mal Gedanken, wie wir ihm helfen können. Was hältst du von einem Überraschungsgast an Heiligabend? An dem Tag kann er nicht einfach weglaufen und ich kann ihm in aller Ruhe die Leviten lesen.«

»Willst du dir das wirklich antun?«, fragte Nadja. »Du versaust dir damit das Weihnachtsfest.«

»Ach was. Seit dem Tod meiner Frau habe ich fast jedes Jahr den Dienst an den Feiertagen übernommen, um nicht allein zuhause rumsitzen zu müssen. Dieses Jahr habe ich frei. Ich komme gerne zu euch.«

»Toll, ich danke dir. Du bist sowieso jederzeit bei uns willkommen.«

Hoffnung keimte in Nadja auf. Heinrich Peters war ein kluger, besonnener Mensch, der außerdem genau wusste, wie man mit Harry umgehen musste. Sie kniff sich spielerisch in ihr herausragendstes Merkmal, die Nase, und führte ein kurzes Selbstgespräch.

»Nicht aufgeben, Nadja. Wir kriegen den alten Griesgram wieder auf die Spur. Und wenn gar nichts hilft? Dann bist du mit 42 Jahren jung genug, um dir einen anderen zu suchen.«

Am 24. Dezember bemühte Hansen sich um Harmonie. Trotzdem waren die negativen Schwingungen als Grundrauschen den ganzen Tag vorhanden.

Wie von Nadja erwartet, ertönte pünktlich um 18 Uhr der zweifache Türgong. »Machst du auf, Harry?«, rief Nadja aus der Küche, »Ich kann grad nicht.«

Hansen öffnete die Wohnungstür und sah einen kleinen Mann mit Glatze und Nickelbrille, der drei bunt verpackte Pakete auf den Unterarmen balancierte.

»Heinrich! Das ist ja eine schöne Überraschung. Hat Nadja dich eingeladen?«

»Nun lass mich erst mal rein. Mir rutschen gleich die Geschenke weg.«

»Klar. Komm, ich nehme dir was ab.«

Hansen schnappte sich die beiden oberen Pakete und brachte sie ins Wohnzimmer. Peters folgte ihm mit dem größten Teil, das für Mareike bestimmt war.

Nadja kam mit einem Tablett, auf dem sechs kleine Schalen standen, aus der Küche. Es sollte Fondue geben, mit Fleisch, denn Hansen mochte kein Käsefondue. In den Schalen waren selbst gemachte Soßen. Sie stellte das Tablett auf den Esstisch und umarmte Peters.

»Ich freue mich, dass du heute mit uns feierst.«

Hansen bemerkte, dass Nadjas Begrüßung seines alten Freundes diesmal besonders herzlich ausfiel.

»Ist das große Paket für mich?«, fragte Mareike.

»Erst Guten Tag sagen«, mahnte Nadja.

»Guten Tag, Heinrich. Ist das große Paket für mich?«

Peters lachte. »Natürlich ist das große Paket für die Kleinste im Bunde.«

Mareike verstand ›im Bunde‹ nicht. »Bin ich das?«

»Genau.«

»Juhu!«

Nadja bremste ihre Tochter und stellte den Fahrplan auf.

»Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Die Männer decken jetzt den Tisch, ich schneide das Fleisch und du bist ein braves Mädchen und gehst für ein paar Minuten auf dein Zimmer. Wenn alles fertig ist, rufen wir dich. Dann darfst du die Geschenke auspacken und danach essen wir. Gespielt wird erst nach dem Essen.«

Als erfahrene Mutter wusste Nadja, Mareike würde sehr schnell bekannt geben, dass sie satt sei. Doch Mareike blieb länger als erwartet am Tisch sitzen, denn sie durfte unter genauer Anleitung und Beobachtung ihre Spieße mit Wurststückchen selbst in den Topf mit heißem Fett stecken.

Nach anderthalb Stunden gab Hansen als Letzter den Kampf gegen die von Nadja aufgetischten Fleischberge auf. Alle außer Mareike hatten mehr gegessen als ihnen gut tat.

Peters erklärte sich bereit, mit dem Mädchen die neuen Spielsachen auszuprobieren, während Hansen und Nadja den Tisch abräumten. Der Nachtisch wurde wegen Überfüllung der Mägen verschoben.

Nadja gab Peters ein verstohlenes Zeichen und schlug ihrer Tochter vor, die Geschenke in ihr Zimmer zu bringen.

»Ich gehe auf den Balkon, um eine zu rauchen«, verkündete Hansen. »Kommst du mit?«

Peters nickte. »Aber nur, wenn wir eine Probe von dem hervorragenden Cognac nehmen, den ich dir geschenkt habe.«

Hansen holte sofort zwei Cognac-Schwenker und schenkte ein.

Bei acht Grad war es draußen feucht und milde. Der Balkon des nächsten Stockwerks schützte die Freunde vor dem Nieselregen.

Peters nippte am Cognac. »Seidenweich.«

Er strich sich mit der flachen Hand über die Glatze und spürte die Anspannung in den Kiefermuskeln. Das Gespräch, das er nun führen musste, würde kein angenehmer Klönschnack unter Freunden werden.

»Endlich sehen wir uns mal wieder«, begann der Doktor vorsichtig und legte gleich nach. »Ich dachte schon, du wolltest mir die Freundschaft aufkündigen.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Hansen erstaunt.

»Gegenfrage: Wie oft habe ich dich angerufen, um mich mit dir zu verabreden? Wie oft hast du abgesagt, im Tonfall variierend zwischen förmlich und schroff?«

Hansen sog an seiner Zigarette, blies den Rauch aus.

»Tut mir leid, wenn ich mich im Ton vergriffen habe. Natürlich will ich die Freundschaft mit dir nicht aufkündigen. Ich hatte nur in letzter Zeit keine Lust auf Unterhaltung, wollte ein wenig für mich sein, meine Ruhe haben.«

»Erzähl mir keinen Mist, Harry. Du hast ein Problem und das weißt du. Deine Mauligkeit mir gegenüber ist nicht wichtig, vergeben und vergessen. Viel schlimmer ist, dass du auf dem besten Weg bist, alles wegzuwerfen, was du dir in den letzten zwei Jahren aufgebaut hast. Erinnere dich an dein Leben, bevor du Nadja kennenlerntest. Wie viele Jahre hast du allein in deiner Bude gehaust? Du hattest nichts außer deinem Job. Nach dem ersten Weihnachtsfest mit Nadja und Mareike sagtest du mir, es sei das schönste Weihnachten deines Lebens gewesen. Und jetzt?«

»Hat Nadja dich vorgeschickt?«

Peters schluckte seinen Ärger runter und redete ruhig und sachlich weiter.

»Nadja und ich hatten ein langes Telefongespräch über dich. Sie hat mir von ihren Sorgen und Nöten erzählt. Und leider ist es so, dass du die Hauptursache für ihre Sorgen bist.

Niemand will dir an den Karren fahren. Wir wollen dir helfen.«

»Ich bin also an allem schuld, ja? Vielen Dank! Ich bin alt genug, um mir selbst zu helfen.«

Peters trat einen Schritt näher an Hansen heran.

»Okay, wenn dir so nicht beizukommen ist, dann eben anders.« Er stürzte den Rest Cognac die Kehle runter und holte tief Luft, bevor er leise und eindringlich sagte:

»Harald Hansen, du kannst dein Leben versauen, wie es dir gefällt. Aber du solltest dringend über deinen egoistischen Tellerrand hinausschauen und begreifen, dass du eine Familie hast und Verantwortung für sie trägst. Nadja ist eine starke Frau, die kriegt ihr Leben auch ohne dich auf die Reihe. Aber merkst du wirklich nicht, was du Mareike derzeit antust? Für die Kleine bist du ein Held, der erfolgreiche Kommissar, der die Guten beschützt und die Bösen der gerechten Strafe zuführt. Sie liebt dich, du bescheuerter, alter Griesgram. Und was machst du? Du meckerst wegen jeder Kleinigkeit, brüllst sie an, wenn sie etwas nicht schnell genug kapiert und weist sie ab, wenn sie um deine Zuneigung bettelt. Hast du eine leise Ahnung davon, was das in ihr auslöst? Nein, du bist ja vollauf mit der eigenen, hausgemachten Krise beschäftigt. Mareike glaubt, sie sei schuld daran, dass du sie nicht mehr magst.«

»Das stimmt doch nicht! Ich liebe die Kleine!«

»Glaube ich dir. Leider bist du momentan unfähig, es zu zeigen. Was meinst du, warum Mareike in der Schule so schlecht geworden ist?«

»Wahrscheinlich ist sie unkonzentriert. Ist doch normal bei Kindern in ihrem Alter.«

»Ja, wahrscheinlich ist sie unkonzentriert …«, Peters machte eine effektvolle Pause, » … weil sie ständig darüber nachdenkt, wie sie deine Liebe zurückgewinnen kann.«

Der kleine Mann in Hansens Hirn, der die Abteilung ›Schlechtes Gewissen‹ leitete, flüsterte triumphierend:

»Siehste! Ich bin nicht allein mit meiner Meinung.«

»Hmm«, sagte Hansen und dann: »Scheiße! Ich fürchte, du hast recht. Ich war in letzter Zeit manchmal ziemlich grob zu ihr. Aber ich regle das, ich krieg das wieder hin, versprochen.«

»Man sollte nur versprechen, was man auch halten kann. Du schaffst es, wenn du dich deinem Problem stellst. Nadja und ich helfen dir.«

»Wie soll diese Hilfe aussehen?«, fragte Hansen. »Wollt ihr mich zum Seelenklempner schicken? Vergesst es!«

Peters lachte befreit. Der Durchbruch war gelungen.

»Du solltest mich besser kennen, Harry. Ich bin Pragmatiker. Was ich dir vorschlagen will, hat nichts mit Seelenklempnerei zu tun. Komm, wir gehen rein und reden zu dritt weiter. Nadja weiß auch noch nichts von meiner Idee. Hör einfach zu. Nein sagen kannst du später.«

Hansen bestand darauf, ein klärendes Gespräch mit Mareike zu führen, bevor Peters seinen Vorschlag erläutern würde. »Ich muss mal kurz Abbitte leisten«, sagte er.

Zehn Minuten später kam er lächelnd zu Nadja und Peters ins Wohnzimmer. »Sie hat mir verziehen.«

Peters erzählte von seinem Nachbarn Rüdiger, der die Schadensabteilung der Hansa-Versicherung leitete.

»Rüdiger sucht derzeit ein bis zwei gute Ermittler, die zweifelhafte Schadensfälle untersuchen sollen. Das wäre der ideale Nebenjob für dich, Harry. Du würdest als freier Mitarbeiter tätig sein und könntest selbst festlegen, wie viele Tage im Monat du arbeiten willst. Die Bezahlung erfolgt nach festem Tagessatz plus Spesen. Du behältst deine Unabhängigkeit und hast endlich wieder eine Beschäftigung, die dir liegt. Rüdiger war begeistert, als ich ihm deine Mitarbeit in Aussicht stellte. Es gibt nur eine Voraussetzung. Du müsstest ein Gewerbe anmelden, sowas wie ›Privatdetektei Hansen‹. Ich habe mich schlau gemacht. Du brauchst einen Gewerbeschein, ein Führungszeugnis und eine Auskunft aus dem Gewerbezentralregister. Keine großen Hürden, schnell zu erledigen.«

Hansen kraulte seinen Bart. »Ich weiß nicht. Wie soll das gehen? Da muss ich ja bestimmt mal für Tage weg. Wer soll sich dann um Mareike kümmern?«

»Rede keinen Unsinn«, sagte Nadja. »Bis letzten Sommer hast du voll gearbeitet, da haben wir das auch hingekriegt. Ich finde Heinrichs Idee toll. Du kannst deine Fähigkeiten nutzen und das tun, was dir im Blut liegt. Ob du nun Mörder jagst oder Versicherungsbetrüger, spielt doch keine Rolle. Mir sind die Betrüger eindeutig lieber. Außerdem kannst du die Arbeit so dosieren, wie du es brauchst. Wenn du weiterhin nur zuhause rumhockst, gehst du vor die Hunde. Und unsere Beziehung geht mit.«

Nadja forschte im Gesicht ihres Partners und entdeckte Ansätze eines Lächelns. Lange nicht gesehen, dachte sie.

»Das grenzt an Erpressung«, sagte Hansen freundlich. »Okay, ich verspreche, darüber nachzudenken.«

Die Idee seines Freundes hatte ihm sofort gefallen, aber das wollte er nicht zugeben.

Die Verhandlungen mit Rüdiger Diepgen von der Hansa-Versicherung verliefen problemlos. Hansen würde zunächst, je nach Zeitaufwand, zwei bis drei Fälle pro Monat zugewiesen bekommen. Diepgen sicherte ihm das Recht zu, Fälle abzulehnen, zum Beispiel, wenn Hansen gerade für andere Klienten tätig sein sollte. Er war zwar nicht darauf aus, Privataufträge anzunehmen, aber man wusste ja nie.

Seine Bezahlung war unabhängig von den Ermittlungsergebnissen. Das war wichtig, denn Hansen wollte nicht als Auszahlungsverhinderer für die Versicherung tätig sein. Seine Ergebnisse sollten eine Hilfe für die Entscheidungsfindung der Schadensabteilung sein, mehr nicht.

Ende Januar bezog er sein Büro in einem Gewerbeblock im Stadtteil Hammerbrook. Die Gegend war nicht besonders exklusiv. Das Haus, ein schmuckloser Betonklotz, lag in direkter Nachbarschaft zur Zulassungsstelle und dem Straßenstrich an der Süderstraße. Das Büro war klein, aber erschwinglich. Immerhin gab es ein Bad mit WC und Waschbecken und eine Küchenzeile mit Kühlschrank und Mikrowelle.

Zur Eröffnung schenkte Nadja ihm eine Kaffeemaschine und Heinrich Peters überreichte einen Messerblock. Kein besonders sinnvolles Geschenk des Rechtsmediziners, angesichts der Tatsache, dass in der Küche kein Herd vorhanden war und Hansen nicht die Absicht hatte, im Büro zu kochen. Allenfalls würde er sich eine Fertigmahlzeit in der Mikrowelle warm machen. Er stellte den Block vorerst neben der Spüle ab.

Seine ehemaligen Kollegen informierte Hansen nicht von seiner neuen Tätigkeit. Privatschnüffler wurden in Polizeikreisen so gern gesehen wie Wespen auf einem Stück Kuchen. Außerdem wollte er im Falle eines Scheiterns sein Büro ohne großes Aufsehen und hämische Kommentare wieder schließen können.

Hansens erster Versicherungsfall führte ihn in ein Dorf in Dithmarschen. Er sollte die Umstände eines fragwürdigen Unfalls mit Todesfolge klären. Hansens Recherchen verhalfen der Witwe des Toten zur Auszahlung der Lebensversicherung.

Sie rutschte nicht in Hartz IV ab und konnte ihrem Sohn eine Zukunft bieten. Hansens Arbeit als Kommissar hatte selten so positive Effekte gehabt.

Im zweiten Fall sollte er eine mögliche Brandstiftung untersuchen. Ein Elektroladen in einer niedersächsischen Kleinstadt war komplett ausgebrannt. Die Brandermittler konnten eine Brandstiftung weder beweisen noch ausschließen. Ursprung des Brandes schien ein Schwelbrand an einer Kaffeemaschine gewesen zu sein. Der Besitzer war gut versichert und ebenso hoch verschuldet. Eine gefährliche Konstellation, die schon so manchen Versicherungsnehmer in Versuchung geführt hatte. Allerdings hatte der Mann ein Alibi, das von siebenundvierzig Zeugen bestätigt wurde. Er hatte an einer Familienfeier teilgenommen. Hansen bezweifelte die Zeugenaussagen. Auf einer Feier mit fast fünfzig Leuten, auf der getrunken, getanzt und gequatscht wurde, hätte niemand bemerkt, wenn sich einer der Gäste für eine Viertelstunde davongeschlichen hätte. Und eine Viertelstunde hätte gereicht, denn das Lokal, in dem gefeiert wurde, lag nur fünf Fußminuten von dem Laden entfernt. Hansen brauchte einen Zeugen, der den Ladenbesitzer gegen ein Uhr nachts in der Nähe des Ladens gesehen hatte.

Zunächst tat Hansen das, was Polizisten oft tun müssen. Er betätigte sich als Klinkenputzer in der Nachbarschaft. Auf eine mögliche Belohnung hingewiesen, wurden die Leute gesprächig, leider ohne Nützliches zu sagen.

An der dreiundzwanzigsten Tür verbuchte Hansen einen Teilerfolg. Dem Bewohner war ein Obdachloser aufgefallen, der ab und zu nachts durch die Gegend streifte. Doch wie sollte der frischgebackene Detektiv den Tippelbruder finden?

Hansen schaute sich die Brandruine an. Ein schnörkelloser Flachbau aus den Siebzigern, schwarz verrußte Wände, ein nach innen gestürztes Dach. Das Grundstück war durch einen Bauzaun gesichert.

Warnschilder verkündeten: Betreten verboten! Einsturzgefahr!

Hier konnte er keine neuen Erkenntnisse gewinnen.

Hansen zog die unangenehme Konsequenz und legte sich nachts auf die Lauer. Er saß in seinem Auto, eingepackt in drei Lagen Kleidung, und fror bei minus vier Grad erbärmlich. Den Motor zu starten, kam nicht in Frage, das wäre zu auffällig gewesen. Wenigstens saß er windgeschützt.

Wie halten die Obdachlosen das aus?, fragte er sich, schob die Hände unter die Oberarme und beobachtete die Straße.

Es war nicht leicht, wach zu bleiben, denn es passierte nichts.

In der zweiten Nacht überquerte eine getigerte Katze die Straße.

In der dritten Nacht um halb drei hatte die Kälte ihn paradoxerweise weichgekocht. Er setzte sich ein Limit. Um vier Uhr würde er aufgeben, ins Hotel fahren und zehn Stunden im Bett bleiben.

Kurz vor drei Uhr hörte er ein Schlurfen. Ein Schatten passierte seinen Wagen. Der Schatten trug einen Rucksack und zwei große Tüten. Der Tippelbruder!

Hansen zwang seine steifgefrorenen Gliedmaßen aus dem Auto.

Eine Hexe schoss ihm in den Rücken. Er ignorierte den Schmerz und rief: »Hallo, Moment bitte!«

Die schwer bepackte Gestalt zog erschrocken den Kopf ein und beschleunigte ihren Schritt. Beladen mit allem Hab und Gut, halb erfroren und von Arthrose gebeutelt, war der Effekt gering. Der müde, übergewichtige, unsportliche Ex-Kommissar hatte den Mann nach wenigen Schritten eingeholt.

»Bitte warten Sie. Keine Angst, ich will nur reden.«

Der Obdachlose blieb stehen und drehte sich halb zu Hansen um. »Ich aber nicht. Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Es könnte sich für Sie lohnen.«

Der Mann stellte seine Taschen ab. Seine rechte Hand glitt in die Jackentasche und kam mit einem Messer wieder zum Vorschein. »Ich bin kein leichtes Opfer. Hau ab!«

Hansen hob beschwichtigend beide Arme. »Bitte! Ich will wirklich nur reden. Geben Sie mir fünf Minuten. Kommen Sie, wir setzen uns da auf die Bank.«

Hansen vertraute seinem Instinkt, drehte dem Obdachlosen den Rücken zu und steuerte eine überdachte Bushaltestelle an. Die Nervenbahnen im Kreuz sendeten Warnsignale. Hansen setzte sich.

Der Tippelbruder stand unschlüssig mit dem Messer in der Hand auf dem Gehweg. Hansen tat nichts. Endlich steckte der Mann das Messer weg und setzte sich neben Hansen.

»Na gut, fünf Minuten.«

Der Mann hieß Albert und war seit drei Jahren auf Platte, wie seinesgleichen das Leben auf der Straße nannte. Zunächst zierte er sich, doch dann rückte er mit der Wahrheit heraus.

Hansens Durchhaltevermögen in eiskalten Nächten wurde belohnt. Albert übernachtete mehrmals pro Woche in einem Hinterhof neben dem Elektrogeschäft, wenn im Obdachlosenasyl kein Bett mehr frei war. So auch in der Nacht des Brandes. Er hatte den Ladenbesitzer gesehen, als der nach Mitternacht sein Geschäft durch den Hintereingang betreten hatte. Später wurde er durch den Krach des einstürzenden Flachdachs geweckt und sah die Flammen im Gebäude wüten. Albert bekam Angst, dass man ihn für einen Brandstifter halten würde, raffte seine Sachen zusammen und floh. Er hätte zur Polizei gehen und eine Aussage machen müssen, aber er handelte so, wie er sein Leben seit langer Zeit führte. Er machte einen großen Bogen um mögliche Schwierigkeiten und lief Problemen davon. Wochenlang traute er sich nicht, den gewohnten Schlafplatz aufzusuchen, bis zu diesem Tag.

Hansen brauchte eine halbe Stunde und eine Flasche Korn, die er aus seinem Auto holte, um Albert zu einer Aussage bei der Polizei zu bewegen.

Am frühen Morgen kehrte er in sein Hotel zurück und legte sich ins Bett. Sein Körper brauchte zwei Stunden, um die normale Kerntemperatur zu erreichen.

Mit der Zeugenaussage konfrontiert, verwickelte sich der Elektrohändler in Widersprüche und gestand schließlich die Brandstiftung.

Hansen fuhr nach Hause, schrieb seinen Bericht für die Versicherung und lag drei Tage lang mit Fieber, Schnupfen und Husten flach. Trotzdem war er umgänglicher als in den Wochen vor Weihnachten.

Drei Wochen später bekam Hansen seinen ersten Privatauftrag, der ihn direkt in die Katastrophe führen sollte.

Tagebuch 1

Kriminaldirektor Michael Thorwald erhob sich von seinem ergonomisch geformten, auf eigene Kosten angeschafften Bürostuhl und überreichte Nadja Kunze ein schmales, dunkelblaues Notizbuch.

»Wir mussten uns natürlich ansehen, was er geschrieben hat«, erklärte er mit betrübtem Gesicht. »Ich entschuldige mich für diese Indiskretion. Nachdem festgestellt wurde, dass keine für unsere Ermittlungen relevanten Fakten enthalten sind, habe ich mich dafür eingesetzt, dass Ihnen das Buch ausgehändigt wird.«

Nadja Kunze schlug die erste Seite auf.

Sonntag, 27. Februar 2011

Liebste Nadja,

ich sitze in meiner Zelle im Zugangshaus A und habe zu viel Zeit zum Denken.

Ein Vollzugsbeamter war so nett, mir dieses Notizbuch und einen Stift zu besorgen.

Ich habe beschlossen, eine Art Tagebuch zu schreiben. Harry Hansen schreibt Tagebuch! Wer hätte das je gedacht? Ich weiß nicht, ob ich Dir schreibe oder ob ich es tue, um meine Gedanken zu ordnen. Eine leichte Aufgabe habe ich mir damit nicht gestellt, ich bin ein blutiger Anfänger, was das Niederschreiben von Gefühlen und Erlebnissen angeht. Du kennst mich ja. In mir wohnt immer noch der schweigsame Einzelgänger, aber Deine „Familientherapie“ zeigt Wirkung.

Nadja klappte das Buch zu und kämpfte die aufkommenden Tränen nieder. Sie bedankte sich bei Thorwald, der ihr die Hand gab und ein wenig verschämt seine Hilfe anbot. Sie verließ sein Büro und rannte wie eine Flüchtende durch die Flure der Abteilung, um jedes Gespräch und jedes Bedauern der ehemaligen Kollegen von Harry zu vermeiden. Sie stieg in den Astra Kombi, den Harry gekauft hatte – den zweiten, nachdem ein wirrer Vollidiot den ersten angezündet hatte –, wischte sich zornig die Tränen aus den Augen und fuhr mit jaulenden Reifen vom Parkplatz des Polizeipräsidiums.

Zuhause machte sie sich eine Tasse Tee, setzte sich auf das Sofa und las in Harrys Tagebuch.

Seit zwei Tagen bin ich hier. Den ganzen Tag allein in der Zelle, das macht mir zu schaffen. Am Montag, also morgen, soll ich in eine Abteilung verlegt werden, in der die Regel nicht so streng gehandhabt wird. Die Zellentüren sind dort am Tage mehrere Stunden offen, sagte man mir. Meine Nachbarn werden Kleinkriminelle sein – Diebe, Betrüger und Drogenabhängige. Die Anstaltsleitung will verhindern, dass ich auf Leute treffe, die mir eine Haftstrafe verdanken.

Langsam begreife ich, was mit mir geschieht. Ich bin meiner Freiheit beraubt, eingesperrt. Mein gewohntes, selbstbestimmtes Leben wurde mir genommen. Der Tagesablauf wird nun von anderen bestimmt. Kein Bier mehr am Abend, keine Wahl, wo man essen gehen könnte, geschweige denn, was man essen möchte, keine Gespräche mit Dir, Nadja. Mareike muss nun ohne mich ins Bett gehen, ich kann ihr keine Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Ich habe nichts bei mir, außer den Klamotten, die ich trage und dem, was Du in aller Eile in die kleine Reisetasche gepackt hast, die mit peinlicher Gründlichkeit durchsucht wurde. Du hast wenigstens die Nerven behalten und das Wesentliche zusammengesucht, während ich konsterniert im Wohnzimmer stand.

Wie wirst Du Mareike erklären, was passiert ist? Warum Onkel Harry plötzlich nicht mehr da ist? Ich beneide Dich nicht um diese Aufgabe.

Ich hoffe, Du glaubst an mich. Ich bin kein Mörder, auch wenn der Anschein etwas anderes sagt.

Ich glaubte immer, ein Mensch zu sein, der gut mit sich allein klar kommt. Nach zwei Tagen U-Haft bin ich schlauer. In meiner Zelle habe ich keinen Fernseher, nicht mal ein Radio. Internet ist eh verboten, Handys ebenso, wie auch jedes andere Mittel, mit dem ich unkontrolliert mit der Welt draußen kommunizieren könnte. Morgen werde ich meinen Anwalt treffen und ihn bitten, Dir zu helfen, damit Du mir einen Fernseher schicken kannst. Ich brauche Geld, damit ich im Anstaltsladen einkaufen kann. Kein Bargeld, das ist verboten. Man muss es sich auf ein sogenanntes Eigengeldkonto überweisen lassen, das hier eingerichtet wird. Meine Einkäufe werden dann mit dem Guthaben verrechnet. So steht es in der Hausordnung. Die ist übrigens 19 Seiten lang. Alles ordentlich geregelt.

Was für einen Mist schreibe ich denn? Mein Anwalt (danke, dass Du Dich gekümmert hast) soll baldmöglichst einen Haftprüfungstermin beantragen. Wenn der gut für mich läuft, bin ich in wenigen Tagen wieder bei Euch.

Ich wundere mich gerade über meine Unkenntnis. Obwohl ich mehr als dreißig Jahre bei der Kripo war, weiß ich fast nichts darüber, wie die Prozeduren hier ablaufen. Meine Aufgabe war es, genügend Beweise zu sammeln, um eine Verhaftung zu ermöglichen. Die Abläufe im Knast und die Formalien der Justiz interessierten mich nur, sofern es für meine Arbeit wichtig war.

Ich bin müde, ich lege mich hin und denke an euch.

Nadja Kunze klappte das Buch zu und atmete tief durch. Der Druck in den Augen wuchs. Der Ton der Türklingel ließ sie zusammenzucken. Das musste die Nachbarin sein, die Mareike nach Hause brachte. Nadja schluckte die aufkommenden Tränen runter. Niemand sollte sie weinen sehen, ihre Tochter schon gar nicht.

Kapitel 2

Am Dienstag, dem 22. Februar 2011, nachmittags, saß Hansen am Schreibtisch des kleinen Detektivbüros. Die im Aschenbecher abgelegte Zigarette rauchte ebenso wie Hansens Kopf, dem es nicht gelingen wollte, eine strukturierte Spesenabrechnung für die Versicherung zu erstellen. Er scheiterte schon an der Vorsortierung der Belege. Mit Umsatzsteuer, sieben oder neunzehn Prozent, ohne Umsatzsteuer nach Paragraph Dingsda des StGB … ach nee, das war ja das Strafgesetzbuch. Wie hieß nochmal das Buch mit den Steuergesetzen?

Er schenkte sich Kaffee nach.

Wird auch nicht helfen, dachte er. Für diese Aufgabe bräuchte ich was Stärkeres.

Jemand klopfte an die Bürotür. Wer konnte das sein? Die Detektei Hansen war bisher nirgendwo marketingtechnisch tätig, weder im Branchenverzeichnis (zu teuer), noch im Telefonbuch (zu neu) oder im Internet (keine Ahnung).

Find’s raus, dachte Hansen und rief: »Kommen Sie rein. Die Tür ist offen!«

Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Hansen sah ein schmales Gesicht, halb verdeckt von einer großen Sonnenbrille mit fast schwarzen Gläsern, umrahmt von gewelltem, blondem Haar, das bis über die Schultern reichte. Rote Lippen mit perfektem Schwung fragten: »Herr Hansen?«

»Ja?«

»Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

Eine angenehme, leise Stimme.

Hansen stand auf, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und machte eine einladende Geste.

»Natürlich. Treten Sie ein.«

Die Frau schloss die Bürotür hinter sich. Sie trug einen hellbraunen Kamelhaarmantel mit großen Kragenaufschlägen und Lederhandschuhe. Lackstiefeletten in Rot, passend zur Farbe der Lippen, bewegten sich auf Hansen zu. Vier Schritte mit wiegender Hüfte, die auf jedem Laufsteg der Welt gut ausgesehen hätten, dann hatte sie seinen Schreibtisch erreicht. Er wollte ihr die Hand reichen, doch sie warf einen Blick auf den IKEA-Stuhl neben sich.

»Darf ich?«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

Sie setzte sich, mit kerzengerader Haltung und Abstand zur Lehne, die schlanken Beine ausgerichtet, die Knie aneinander liegend. Sie erinnerte ihn an irgendjemand. Mit dem Zeigefinger berührte sie den Steg ihrer Brille.

»Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Eine Bindehautentzündung, meine Augen sind derzeit sehr lichtempfindlich.«

Hansen zeigte Verständnis. Die tiefstehende Februarsonne schickte ihre Strahlen durch das einzige Fenster des Büros und erschwerte ihm nachmittags regelmäßig die Sicht auf den Monitor. Leider hatte er keine Vorhänge angebracht und eine Jalousie war nicht vorhanden.

Die Rauchschwaden der letzten Zigarette hingen wie Nebelfetzen zwischen ihm und seiner Besucherin, die nun Finger für Finger an ihren Handschuhen zupfte, um sie abzuziehen. Hansen ließ sich in seinen Chefsessel fallen.

Plötzlich wusste er, an wen ihn die Frau erinnerte.

Lauren Bacall, Humphrey Bogarts Ehefrau! In Hansens Kopf tauchten Schwarzweißbilder aus dem Film ›Tote schlafen fest‹ auf. Bogart spielte den Privatdetektiv Philip Marlowe, Lauren Bacall seine Klientin. Hansen schob die Bilder weg.

»Was kann ich für Sie tun, Frau …?«

»Aus Gründen der Diskretion bitte ich Sie, mich einfach Laura zu nennen.«

»Ja gut, ich bin Humphrey …, äh nein, Harry.«

Mein Gott, wie peinlich war das denn?

Mit einem Hauch von einem Lächeln nahm sie Hansen die Scham. »Sie sind doch diskret, Harry?«

»Solange ich dadurch nicht kriminell werde, ja«, antwortete er erleichtert.

»Das dürfte nicht der Fall sein. Es geht um meinen Mann.«

Hansen zögerte kurz, dann beschloss er, seinem Grundsatz treu zu bleiben. »Tut mir leid, ich befasse mich nicht mit Fällen von Ehebruch.«

Lauras Hände krampften sich um die Lederhandschuhe.

»In der Hinsicht mache ich mir keine Sorgen, Harry.«

Das zweite Fettnäpfchen. Weiter so, Harry!

»Verzeihung, ist auch kaum vorstellbar, dass ein Mann so blöd sein kann, Sie zu betrügen.«

Die großen, dunklen Brillengläser schauten ihn an. »Danke für das Kompliment.«

Gerade noch die Kurve gekriegt! Bleib in der Spur, Harry.

»Kaffee?«

»Gerne, schwarz bitte.«

Nachdem Hansen den Kaffee eingeschenkt hatte, erklärte Laura ihr Anliegen.

»Mein Mann ist ein toller Mensch, aufmerksam, zärtlich, verständnisvoll und gebildet. Er hat sogar Humor. Sein Wesen und meines ergänzen sich auf ideale Weise. Ein Leben ohne ihn möchte ich mir nicht vorstellen.«

»Das klingt beneidenswert. Wo ist das Problem?«

»Kennen Sie sich mit wahrer Liebe aus, Harry?« Sie hob Einhalt gebietend die Hand. »Sie müssen nicht antworten. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Zur wahren Liebe gehört meiner Ansicht nach auch, die Schwächen des Partners zu erkennen und bereit zu sein, sie zu akzeptieren. Wir sind ein ungleiches Paar. Mein Mann stammt aus einfachen Verhältnissen. Wir leben von dem Vermögen, das meine Familie erwirtschaftet hat. Kein Problem für mich, für meinen Mann leider schon. Er ist in einem Alter, in dem Männer gerne ihre Lebensmitte-Krise bekommen. Und aus seiner Sicht hat er keine persönlichen Erfolge, auf die er mit Stolz zurückblicken kann.«

Der Mann muss also Mitte vierzig sein, wie alt ist Laura?, fragte sich Hansen. Auf dem Teil des Gesichts, das er unterhalb der Sonnenbrille sehen konnte, fand er keine Falten. Und ein Halstuch verhinderte den Blick auf die darunter liegende Hautpartie.

»Er ist vertrauensselig und in geschäftlichen Belangen … sagen wir, unterdurchschnittlich begabt«, fuhr Laura fort. »Diese Kombination hat mich im vorigen Jahr fünfzigtausend Euro gekostet, weil er einem Betrüger aufgesessen ist. Den Verlust des Geldes kann ich verschmerzen, viel schwerer wiegt die Beschädigung des Selbstbewusstseins meines Mannes.«

Hansen nickte und griff zur Zigarettenschachtel.

»Stört es Sie, wenn ich rauche?«