Hamid Rahimi - Mariam Noori - E-Book

Hamid Rahimi E-Book

Mariam Noori

4,3

Beschreibung

Kabul 1992. Hamid ist acht Jahre alt, er hat sich gerade mit seinem besten Freund Khalil ein Eis geholt, als die Bombe explodiert. Tote und Verletzte, wohin man schaut. Danach flüchtet er mit seiner Familie nach Deutschland. In seiner neuen Heimat fühlt er sich ausgestoßen. Als drei Jungen ihm absichtlich einen Fußball ins Gesicht schießen, schlägt er zu. Viele Jahre dauert es, bis er den schwierigsten Kampf seines Lebens - den Kampf gegen sich selbst - antritt. Vom Kriegsopfer zum Verbrecher, vom Drogenabhängigen zum Profisportler, vom Flüchtling zum gefragten Gesprächspartner. Hamid Rahimis Leben ist gezeichnet von scheinbar unvereinbaren Gegensätzen. Zwanzig Jahre nach seiner Flucht kehrt er als gefeierter Profiboxer in sein geschundenes Heimatland zurück und wird einer der Hauptakteure der Friedensbewegung in Afghanistan.

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Zum Schutz von Persönlichkeitsrechten wurden einige Namen, Orts- und Zeitangaben sowie sonstige Hinweise auf Personen geändert.

Erste Auflage 2013

© Osburg Verlag Hamburg 2013

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Clemens Brunn, Hirschberg

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

E-book Konvertierung: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg

ISBN: 978-3-95510-032-2

Seht her! Ein brennender Vogel am Himmel!

Das Herz in Flammen,

der Körper verraucht.

Zerfallen zu Asche, zu Asche und Staub.

Seht her! Da steht er wieder auf!

Aus Asche und Staub,

dem Himmel so nah,

fliegt er talauf.

Seht her! Wer hätte noch daran geglaubt?

Prolog

Kabul 2012

Am Abend des 30. Oktober 2012 klopft es an der Tür der Suite. »Wir müssen los – das Land wartet auf dich«, sagt mein Bruder. Ich streife routiniert meine Boxerhose über, doch beim Zubinden der Schuhe streiken meine vor Nervosität zitternden Finger. Die Bewegungen fallen mir schwer, als wäre mein Körper mit Zement übergossen, der langsam hart wird. Laut und eifrig pocht mir das Herz in der Brust, als ich in den Lift steige. Es ist so weit. Der Tag, auf den ich seit dem Moment gewartet habe, als ich aus diesem Land fortgegangen bin und mir geschworen habe wiederzukommen.

Vor dem Hotel Kabul Star stehen sechzehn gepanzerte Wagen. Soldaten mit Helmen warten in Schutzwesten. Ihr Blick ist ernst und wachsam. Türen werden aufgehalten, ich springe in einen der Wagen. Sirenen ertönen, durch das Panzerglas der Scheibe sehe ich Polizisten auf Motorrädern, die uns zusätzlich eskortieren. Es ist, als würde ich eine Armee anführen. Eine Armee, die bereit ist, mit mir in den Kampf zu ziehen.

Außer meiner Eskorte ist fast niemand unterwegs – kein Auto, keine Eselskarre, kein Fußgänger. Alle sitzen gebannt vor ihren Fernsehgeräten oder warten vor der Halle. Ruhe liegt über den sandigen Straßen meiner Geburtsstadt. Kabul. Kabuljan. Die Straßen sind so leergefegt, als hätte Gott über die Gassen und Ecken gehaucht.

Je näher wir dem Veranstaltungsort kommen, desto mehr Menschen tauchen auf, desto lauter wird es auch wieder, desto stärker pocht mein Herz. Vor dem Gelände hat sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt, das müssen Tausende sein, zehntausend. Über dreitausend haben einen der heißbegehrten Plätze drinnen im Saal ergattert, ein Vielfaches drängt sich vor der Halle, und ein Millionenpublikum hat sich um die Fernseher im ganzen Land geschart. Als ein traumatisiertes Flüchtlingskind von Hunderttausenden habe ich diese Stadt einst verlassen, und jetzt, bei meiner Rückkehr, bin ich in meiner Heimat so berühmt, dass mich von den Straßenkindern in den Gassen bis hin zum Präsidenten jeder kennt.

Seit langem war Afghanistan nicht mehr so ruhig und friedlich wie an diesem Abend, an dem sich alle sonst verfeindeten Volksgruppen, Paschtunen, Hazara, Usbeken, Tadschiken, im Saal und überall im Land versammeln, alle Zwistigkeiten vergessen und einfach nur Afghanen sind. Afghanen, die dieser eine Kampf vereint.

Wir bahnen uns unseren Weg zwischen Pick-ups mit aufmontierten Maschinengewehren hindurch, Hubschrauber kreisen über unseren Köpfen. Der Präsident hat die höchste Sicherheitsstufe verhängt. 1800 Soldaten und Sicherheitskräfte bewachen die Loya-Jirga-Halle im Parlamentskomplex von Kabul, wo sonst die Häupter des Staates über Fragen von politischer Wichtigkeit debattieren. Im Saal sind Politiker, Polizeichefs und Generäle, Reiche und einfache Menschen, verfeindete Warlords, fromme Mullahs und selbst einige Frauen. Und jetzt warten sie alle auf mich. Wegen mir sind sie hier.

Terrorismusexperten haben auf der Suche nach Sprengstoff Glühbirnen und Lautsprecher auseinandergeschraubt. Jeder, der hineinwill, muss durch mehrere Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren hindurch.

Wir betreten das Gebäude durch den Hintereingang. Fast jeder Journalist des Landes ist präsent. Heute werden sie nicht über Selbstmordattentäter oder gefallene Soldaten schreiben. Heute haben sie den Krieg vergessen. Heute dreht sich alles um meinen Kampf – den Kampf meines Lebens.

Irgendwer reicht mir ein Telefon – der Präsident von Afghanistan persönlich. Hamid Karzai entschuldigt sich, nicht persönlich anwesend sein zu können, aber er wünscht mir viel Glück. Glück – das kann ich brauchen. Ich bin durch sehr viel Pech und Glück gegangen, um heute Abend hier kämpfen zu können.

Das ist mein Traum. Ein Traum, gezeugt aus Freude und Leid. Ein Traum, in einer verwundeten Seele gereift. Ein Traum, aus einer langen Vergangenheit gewonnen wie Honig aus dem Nektar Tausender Blüten. Wie weit bin ich gegangen, um endlich anzukommen?

Ein Mullah spricht ein Gebet und segnet die Veranstaltung.

Dann endlich werde ich angekündigt. Die Stimme des Ansagers überschlägt sich. »Ladies and Gentlemen, please welcome, from Kabul, Afghanistan, the Peace Fighter – Hamiiiid Rahimiiii!«

Ich betrete die Halle. Jubelrufe ertönen. Blendende Scheinwerfer. Tosender Lärm. Der Saal ist in blaues Flutlicht getaucht. Zu heißen amerikanischen Rhythmen bahne ich mir einen Weg durch die tobende Menge. Ein Hauch von Las Vegas liegt in der Luft. Las Vegas in Kabul. Als ich den Ring erreiche, schlägt meine geballte Nervosität plötzlich in Angst um. Angst, nicht vor einem Bombenanschlag. Angst, nicht vor meinem Gegner. Angst, meine Landsleute zu enttäuschen. Sie setzen ihre Hoffnungen auf mich. Ein Land glaubt an mich.

Entschlossen steige ich durch die Seile in den Ring. Menschen kreischen und jubeln, recken die Hände in die Höhe, schwenken die afghanische Flagge. In der blauen Ecke mache ich mich warm, lasse die Hüften kreisen, bewege mich wie ein Tänzer durch den Ring und boxe mit meinen Handschuhen in die Luft, atme noch einmal tief durch.

Grauer Dunst liegt über dem Saal. Kunstnebel. Zigarettenrauch. Die dampfende Wärme der Leiber.

Der Gong ertönt. Es geht los.

Der Tag, an dem ich in den Ring stieg, um den bedeutendsten Kampf meines bisherigen Lebens anzutreten, ist nicht der Anfang meiner Geschichte. Meine Geschichte beginnt viel früher. In meiner Kindheit, die in Kabul ihren Anfang und ihr Ende fand. Hier ist sie, meine Geschichte.

Kapitel 1

Der Reissack

An einem wunderschönen Tag im Spätsommer 1983 bin ich zur Welt gekommen. Schon die Umstände meiner Geburt waren so außergewöhnlich, wie mein Leben es werden sollte. Die Sonne ging gerade über dem Hindukusch auf und färbte den Himmel flammend rot, von den Minaretten brüllten die Muezzins den frühmorgendlichen adhan, den Aufruf zum Gebet. Das Zimmer meiner Mutter war feuchtwarm, sie wälzte sich im Bett und nässte das Baumwolllaken mit ihrem Schweiß ein.

Kurz darauf, als wären die Schmerzen nie gewesen, knöpfte sie ihr mintgrünes Kleid zu, steckte die Haare zum Dutt und machte sich auf den Weg. Der Bauch wog schwer und mit annähernd dreißig fühlte sie sich fast schon zu alt zum Kinderkriegen. Doch bevor sie dieses Kind auf diese Welt bringen würde, gab es da noch etwas zu erledigen, vorher würde sie nicht entbinden – so hat sie es mir jedenfalls später erzählt. Dank ihrer außerordentlichen Fähigkeit, bis zum Vergessen zu verdrängen, hatten die Krämpfe sie zunächst auch nicht aus der Ruhe bringen können. Doch nach den ersten Schritten unter der Kabuler Mittagssonne fühlte sie erneut diesen entsetzlichen Druck im Unterleib. Die Wehen. Zweifel begannen in ihr aufzukeimen. Was, wenn sie es nicht mehr rechtzeitig schaffte? Was, wenn sie in Ohnmacht fiel? In Zeiten wie diesen konnte niemand auf helfende Hände hoffen.

Am 25. Dezember 1979 war die Rote Armee ins Land einmarschiert. Sowjetische Fallschirmspringer waren im Kabuler Flughafen Tapa-i-Maranjan gelandet, Militärflugzeuge am Himmel erschienen, Panzer über die staubige Erde gerollt. Eine Ära des Krieges war eingeläutet worden, das Problemkind Afghanistan war geboren, nun war ihr eigenes auf dem Weg. Seitdem hatten sich die Menschen verändert. Die Gesetzlosigkeit, die sie tun ließ, was ihnen gefiel, und die Tatsache, dass, was ihnen gefiel, über den Grad ihrer Menschlichkeit entschied, spalteten die Bevölkerung in Engel und Ungeheuer. Und Engel waren in diesen Tagen eine ungeheuerliche Seltenheit.

Weiß Gott, was ihr die dogmatischen Mullahs unterstellen würden, wenn sie es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus schaffte und sich mit gespreizten Beinen auf den Bürgersteig legen musste. Verlassen durfte sie sich nur auf sich selbst. Irgendwie würde sie die Geburt hinauszögern können. Irgendwie würde sie das schon schaffen. Irgendwie schaffte sie es doch immer.

Die Straßen waren menschenleer, eine beklemmende Stimmung lag in der Luft. In der Nacht hatten Widerstandskämpfer, die Mudschaheddin oder »Gotteskrieger«, mithilfe ihrer Bazookas einen Panzer abgeschossen. Nun musste der Feind Vergeltung üben und seinerseits etwas in die Luft sprengen, was den Afghanen gehörte, und da die Afghanen nicht viel besaßen, wurden stattdessen ihre Heimat in Schutt und ihre Körper in Asche gelegt. Seit die Gotteskrieger vom US-amerikanischen Geheimdienst finanziert und mit Waffen versorgt wurden, war der Krieg brutaler geworden. Die Menschen flohen in Scharen aus dem Land. Warum war sie noch hier? Warum?

Die bedrohliche Atmosphäre bereitete ihr Unwohlsein. Sie mied die Hauptstraße. Der Weg führte über eine Gasse, wo es nach allem stank, was Menschen und Köter ausscheiden konnten. Die Sonne stand im Zenit, die Luft war zum Schneiden dick, es wehte nicht einmal das leiseste Lüftchen. Mit flauem Magen und weichen Knien stützte sie sich gegen eine Lehmwand. Sie atmete schwer, ihre Wangen glühten und das Herz hämmerte in ihrer Brust. Doch wäre sie wohl kaum meine Mutter gewesen, wenn diese Strapazen sie zum Umkehren bewogen hätten. Aufzugeben, ohne getan zu haben, was sie tun zu müssen glaubte, kam für sie nicht infrage.

Sie dachte an den Sack Reis, den Grund ihres irrsinnigen Ausflugs. Ein Sack Reis, glaubte sie, könne bei sparsamer Rationierung ein Kind mehrere Jahre am Leben erhalten. Am Abend zuvor hatte sie in der Vorratskammer drei Reissäcke zählen können. Drei Reissäcke für drei hungrige Kindermägen. Jedes ihrer Kinder hatte den Anspruch auf einen eigenen Sack Reis – wer will auch nur ein einziges Reiskorn mit anderen teilen, wenn der Magen vor Hunger an der Wirbelsäule klebt? Nun würde aber ein viertes Kind dazukommen. Ein Baby wächst rasch zum Kleinkind, es hat ständig Hunger und fühlt sich schnell benachteiligt. Es zermürbte sie, nicht eher daran gedacht zu haben. Kriege beginnen mit Raketen und Bomben und enden in Hunger und Armut. Mit Gottes Hilfe würden sie und ihre Kinder vielleicht den Beginn überleben. Doch nur mit ihrer Selbsthilfe würden sie auch das Ende des Krieges erleben.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt zum Einkaufen. Die Menschen hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert und die wenigen verkaufsbereiten Händler schliefen oder beteten das Mittagsgebet. Sie machte einen Bogen um einen offenen Gully. Die Straßen waren uneben und löchrig, tiefe Krater hatten das Gelände in eine Mondlandschaft verwandelt. Mit schweren Schritten trug sie ihren birnenförmigen Leib durch die schmalen Gänge, bis sie endlich einen geöffneten Verkaufsstand erreichte.

So schwer die Zeiten auch waren – später sollte sie sich mit Wehmut an diese Jahre zurückerinnern. Was für ein Privileg es damals doch war, sich als Frau unverschleiert und ohne Begleitung aus dem Haus wagen zu dürfen! Bevor die selbsternannten Sittenwächter das Land einnahmen, Freiheit priesen und Sklaverei verschrieben, bevor sie Frauen Burkas wie Leichensäcke über die Köpfe stülpten, bevor sie Menschen ihr Menschsein verboten.

Der Standverkäufer war ein ungebildeter Narr, ein besauod – das konnte sie ihm an der Nasenspitze ansehen. Er trug einen staubbedeckten Turban, einen fleckigen tumban – weite Hosen – und einen ungepflegten Schnauzer, an dessen buschigen Borsten gelbes Irgendwas klebte. Während er eine gellende Unterhaltung mit einem anderen Mann führte, popelte er in der Nase. Kreisende Bewegungen. Er pulte einen schleimigen Popel heraus und streifte ihn an seinem tumban wieder ab. Meine Mutter rümpfte die Nase. Sie musste ihn dreimal ansprechen, bis er sie überhaupt wahrzunehmen geruhte. Sein träger Opiumblick signalisierte Abscheu und Ekel. Seinen popeligen Zeigefinger auf sie gerichtet, bellte er: Halt den Mund, halt den Mund, wenn Männer Männergespräche führen. Der Schatten seines Turbans fiel auf ihren üppigen Bauch. Dumme Hazarafrau, plusterte er sich auf. Dumme Hazarafrau, wiederholte er grinsend und entblößte braune Kautabakzähne.

Meine Mutter blieb ungerührt. Hatte sie es doch längst aufgegeben, solche Menschen belehren zu wollen. Das wäre, als wolle man einen Waldbrand mit einem Wasserglas löschen. Sie erinnerte sich an ein Zitat ihres Lieblingsdichters Scheich Saadi: Ein Dummer ist wie eine Trommel – nach außen laut, von innen leer.

Erneut durchfuhr sie ein qualvoller Schmerz, sie fühlte sich wie aufgespießt und presste die Lippen aufeinander. Das Kind. Der Reis. Wortlos streckte sie dem Verkäufer den von ihrem Schweiß nass und klebrig gewordenen Geldschein entgegen. Der Mann warf einen gierigen Blick darauf und schürzte die Lippen. Dann holte er tief Luft: Zum Schuhputzen tauge sie, ein Schlitzauge sei sie – eine Hazarafrau mit einem Braten in der Röhre. Und so weiter. Er rotzte braungrünen Geifer auf den Boden.

Für gewöhnlich passierte ihr so etwas nicht mehr so häufig. Als stellvertretende Schulleiterin genoss sie in der Nachbarschaft Ansehen und Respekt. Dieser besauod musste ein besonders dummes Exemplar Mann sein. Sie ertappte sich beim Gedanken, ihn rügen zu wollen. Doch das Atmen fiel meiner Mutter immer schwerer, ihr stures Baby drängte unerbittlich darauf, zur Welt gebracht zu werden. Sie hatte keine Zeit mehr. Mit fester Stimme forderte sie ihren Reissack ein.

Hazarafrau, Hazarababy, schnaubte sie, die widerten ihn wohl an – aber Afghanengeld, das möge er doch. Also hier, nimm, nimm dein Afghanengeld! Nimm es und gib mir den Reis für mein Kind, keuchte sie und warf den Geldschein in die Luft. Er sank in gleitenden Bewegungen, wie eine Feder, zu Boden. Den Opiumblick geweitet, hob der Verkäufer den Schein auf und wischte mit seiner Handfläche sorgfältig darüber.

Dieser Geldschein, er hielt das blassgrüne Papier gegen das Sonnenlicht, ist wertvoller als du und dein Balg zusammen. Hazar Hazara, tausend Hazara, haben nicht den Wert eines einzigen echten afghanischen Geldscheins.

Wieder rotzte er braungrünen Geifer auf den Boden. Braungrüner Geifer verschmolz mit lichtgelber Erde. Braungrüner Geifer sickerte in den Boden. Womöglich wird an dieser Stelle bald eine Pflanze wachsen, überlegte meine Mutter. Eine hässliche, braungrüne Kautabakpflanze.

Dann warf er ihr den Sack Reis vor die Füße. Los, hau ab! Er wedelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Na, hau doch ab!

Müden Schrittes, den Reissack wie einen Säugling im Arm, machte sie sich auf den Heimweg. Sie wusste nun, dass sie es nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffen würde. Von Schmerz und Hitze übermannt, setzte sie sich auf eine steinerne Bank. Sie konnte nicht weiter. Es ging nicht mehr. Sie würde es hier zu Ende bringen müssen. Alleine.

Und dort, im Schatten eines blühenden Akazienbaums, sollte ich zur Welt kommen. Ihre milchweiße Haut war von der Sonne versengt, die Füße aufgebläht, das mintgrüne Sommerkleid raubte ihr die Luft wie eine Korsage, doch sie trug ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Denn den Reis hatte sie besorgt. Nun gab es nur noch eine letzte Pflicht gegenüber ihrem ungeborenen Kind zu erfüllen: Sie musste mich auf diese Welt vorbereiten. Also wandte sie sich an mich, wie sie mir später erzählte, und gab mir einige Worte mit auf den Weg. Entscheidende Worte.

Ein Monolog

Bitte entschuldige, was du heute mitanhören musstest. Es tut mir leid. Du darfst den besauod dieser Welt nicht böse sein. Die Dummheit anderer ignorieren zu können zeugt von innerer Kraft. Sie zu ignorieren bedeutet nicht, sie akzeptieren zu müssen – du darfst sie nicht akzeptieren! Sie ist die Wurzel allen Übels. Intoleranz, Faschismus und Fügsamkeit wachsen aus ihr. Dummheit bringt Menschen dazu, alles zu glauben, weil sie nichts wissen, und die Meinungen anderer anzunehmen, weil sie keine eigene besitzen. Nie darfst du akzeptieren, was nicht zu akzeptieren ist, verstehst du?

Auf die Frage, was mir am liebsten wäre, Junge oder Mädchen, habe ich immer geantwortet: ein Mädchen. Dabei ist es mir eigentlich ganz egal, was für ein Geschlecht du hast, nur sage ich gerne Dinge, die sonst keiner sagt. Auch das möchte ich dir beibringen: auszusprechen, was sich keiner sonst auszusprechen traut.

Warum wünschst du dir ein Mädchen, Fatima? Wünsch dir lieber einen Jungen, Fatima. Bete, und vielleicht bekommst du einen Jungen, Fatima. Jungen ernähren die Familie, Mädchen kosten nur Geld. Jungen besitzen einen gesellschaftlichen Wert, Mädchen nicht. Das sagen sie – kannst du dir das vorstellen? Beten soll ich für einen Jungen. Gott hat weit Besseres zu tun, als alberne Sonderwünsche zu berücksichtigen. Draußen auf dem Land, wo der Anteil der besauod besonders groß ist, ertränken manche Mütter ihre neugeborenen Mädchen. Ihre leblosen Körper treiben wie welke Seerosen an der Wasseroberfläche. Und warum? Weil sie das Pech hatten, als Mädchen auf diese Welt zu kommen.

Wenn du ein Mädchen bist, wird das Männergeschlecht es dir schwermachen. Du musst wissen, Männer hegen große Furcht vor ihren Frauen. Sie werden versuchen, dich zu zähmen, wie ein wildes Tier, denn du könntest eine eigene Meinung entwickeln, davonlaufen und sie so vor der afghanischen Gesellschaft bloßstellen. Mit Verboten, Erniedrigungen und Prügeln werden sie versuchen, deinen Willen zu brechen, um dich in ein gehorsames Schoßhündchen zu verwandeln. Lass das niemals zu, hörst du? Wähle immer lieber die Strafe für Ungehorsamkeit als die Belohnung für Fügsamkeit.

Keine Frage, als Junge hast du es einfacher. Wäre die Welt ein Männerkörper, Afghanistan wäre sein Herz. Als Junge wirst du spucken, fluchen und gewalttätig sein dürfen, ohne verurteilt zu werden. Man wird dich entschuldigen – du seist eben nur ein Junge. Niemand wird dir vorschreiben, wie du zu leben oder wen du zu lieben hast; und das alles nur, weil du ein kleines Stückchen Fleisch mehr zwischen den Beinen hast. Wenn du deine Frau prügelst, wird man dich dafür nicht ins Gefängnis stecken. In unserer Gesellschaft hat dein Wort, wenn du ein Junge bist, mehr Gewicht als das von zehn Frauen – eine schreiende Ungerechtigkeit, findest du nicht?

Ein Mann zu sein hat aber nicht nur Vorteile. Du wirst immer, zu jeder Zeit, in jedem Moment, stark sein müssen. Wenn du dir wehtust oder Kummer im Herzen trägst, wird niemand deine Tränen trocknen wollen. Man wird dich für jedes Anzeichen von Schwäche auslachen und dir zurufen: Sei ein Mann! Du wirst deine Brust aufblähen und alles tun, was ein Mann eben so tun muss.

Sobald du deine ersten Schritte gegangen bist, wirst du lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Sobald du Frau und Kind hast, musst du ihre Ehre und ihren Stolz, nang und namooz, mit deinem Leben verteidigen. Sobald das Land vom Krieg heimgesucht wird, wird man dich in die Schlacht zwingen, wo du gegen deinen Willen kämpfen, töten oder sterben musst. Keiner wird fragen, wie es dir dabei geht, denn du bist ein Mann, und die Freiheit, ein Mann zu sein, hat eben ihren Preis.

Ganz gleich, welches Geschlecht du hast, wünsche ich mir, aus dir einen ordentlichen Menschen machen zu können. Nun liegt aber nicht alles an mir. Wenn das Leben dich mit Bitterkeit und Leid straft, die Menschen dir mit Boshaftigkeit und Eiseskälte begegnen, wirst du dich schützen und dein Herz verschließen wollen, und die Gefahr ist groß, dass dich das kalt, grausam und einsam machen wird. Die Rohheit der Menschen wird dich wie ein plötzlicher Wintereinbruch überraschen. Das Schicksal ist oft ungerecht, mein Kind. Noch kannst du dir nicht vorstellen, welche Ungerechtigkeit da auf dich zukommt. Ungerechtigkeit ist ein unzumutbarer Schmerz – diesen Schmerz werde ich dir nicht ersparen können.

Es heißt, ein Kind sei schon im Mutterleib empfänglich für die Außenwelt. Du spürst meine Sorgen, Ängste und Freuden, du verstehst sie nur noch nicht. Du hattest es schwer. An manchen Tagen habe ich ängstlich meine Fingernägel in den Bauch gebohrt oder geheult und dich dadurch in Unruhe versetzt. Der Krieg macht mir Angst. Er dringt bis ins Innerste ein, bis er die Seele erreicht. Er macht uns verrückt, ängstlich und kalt, und wir gebären verrückte, ängstliche und kalte Kinder. Ich habe versucht, ihn von dir fernzuhalten, nur manchmal bin ich machtlos. Einfach machtlos.

Nun muss ich feststellen, dass ich dir nur Schlechtes über die Welt und ihre Menschen erzählt habe! Dabei wollte ich dich auf das Leben vorbereiten, nicht etwa Angst verbreiten. Selbstverständlich hat dieses Leben auch unvorstellbar Schönes zu bieten. Du in deiner warmen Höhle kannst dir die Größe unseres Planeten gar nicht ausmalen. Du wirst es gar nicht glauben, wie erfüllt plötzlich dein Herz sein wird, wenn du einem echten Freund oder der großen Liebe begegnest. Allein der Liebe wegen lohnt sich ein Aufenthalt auf Erden.

Natürlich findest du hier Dunkelheit wie Licht, Schlechtes wie Gutes, und genau das wird deine Reise so aufregend machen. Du wirst erstaunt sein über die Schönheit, den Mut, den Willen und die Stärke mancher Menschen; deinen Mund wirst du aufsperren und das Herz wird dir vor Bewunderung höher schlagen. Hier gibt es Menschen, die wie Helden kämpfen, um diese Welt zum Guten zu verändern. Ich hoffe, dass du dich an ihnen orientieren wirst, und vielleicht darf ich sogar hoffen, dass du selbst einer von ihnen wirst.

Weißt du, es ist überhaupt nicht schwer, die Welt zu verändern. Veränderung ist nichts Großes. Heute entscheidest du dich, einer streunenden Katze Milch zu geben, morgen pflanzt du einen Samen, übermorgen teilst du dein Brot mit einem Hungernden. Du meinst, damit doch die Welt nicht verändert zu haben? Aber sagen wir, die Katze bekommt Junge, der Baum trägt Früchte, der Hungernde teilt seine Brothälfte wieder mit einem anderen Hungernden. Ein Leben erzeugt neues Leben, eine Veränderung bringt neue Veränderungen. Begonnen hätte alles bei dir – wärst du dann nicht schon ein Held?

Oft ist es das Leid, das uns zu Veränderungen zwingt. Das uns zwingt, uns selbst zu verändern, um nicht unterzugehen. Das Leid ist eine mächtige Kraft, wenn man sich ihm stellt. Es wird dir große innerliche Stärke abfordern, am Leid zu wachsen, nicht zu zerbrechen. Aber du kannst es schaffen, mein Kind.

Wenn der Schmerz unerträglich wird, erinnere dich an die Legende vom Simurgh. Er ist ein mächtiger Vogel mit dem bunten Körper eines stolzen Pfaus, den scharfen Krallen eines starken Löwen und der Kraft von dreißig Vögeln. Er musste erst verbrennen, um aus seiner Asche wiederauferstehen und im neuen Glanz erstrahlen zu können. Begreifst du, was das bedeutet? Hör nie auf zu kämpfen. Denn am Ende deines Leidensweges wirst du ein Neuer sein. Stark. Siegreich. Und frei wie ein Simurgh.

Kapitel 2

Die Eier der Silberadler

»Du hast recht«, antwortete ich. »Ich höre es auch.«

Ssssschhhhhhüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü pfiff es, wie Wind, der sich an Bäumen rieb. Khalil schaute in den Himmel, der dieselbe blassblaue Farbe wie seine Augen hatte.

»Wenn der Himmel Geräusche macht, schlägt entweder ein Blitz oder eine Rakete ein.« Sein Kinn zitterte, wie immer wenn er nervös war.

»Das ist doch nur ein Flugzeug. Du bist ein Angsthase, Khalil.« Ein Angsthase ohne dil, Mut. Ich stupste ihn freundschaftlich an. Er reagierte nicht und stierte weiter zur Himmelsdecke hinauf. In seinen Pupillen spiegelten sich buttergelbe Wolken. Himmelaugen, Khalil hat Himmelaugen, überlegte ich.

»Ich habe ein ungutes Gefühl, wir sollten zurückgehen.«

»Das kannst du vergessen«, entgegnete ich harsch. Das gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht. Ich hatte lange auf ihn einreden und eine Menge Überzeugungskraft einsetzen müssen, um ihn hierherzulotsen. Schließlich war es uns streng verboten, unser Plattenbau-Wohnviertel Makrorayon zu verlassen. Wir waren über das Feld gerannt, von dem man sich erzählte, es sei voller vergrabener Minen, und waren dann durch ein Loch im Stacheldrahtzaun in die Nähe der Kaserne gelangt. Ein Stück Stacheldraht war herausgesprungen und hatte sich in meine Wange gebohrt. Es hatte geblutet und etwas wehgetan. Kurz darauf hatte sich aber schon eine geronnene Kruste über dem Kratzer gebildet. Wie schnell das geht, dachte ich. Wie schnell manche Wunden heilen.

»Du weißt genau, wenn in der Nähe des Makrorayon eine Rakete einschlägt oder eine Bombe hochgeht, werden unsere Eltern nach uns suchen, und dann erfahren sie, dass wir uns davongeschlichen haben.« Khalils Gesicht war knochenweiß. »Meine Mutter bringt mich um.«

»Jetzt mach dir nicht ins Hemd, du Angsthase«, spöttelte ich.

Ja, Khalil war ein geborener Angsthase. Er fürchtete sich vor Dunkelheit, Gewitter, Sprengkörpern, Soldaten, davor, bestraft zu werden, und vor hundert anderen Dingen, vor denen sich Kinder eben fürchten. Zudem hatte er noch allerlei idiotische Phobien. Zum Beispiel fürchtete er sich vor Knöpfen: Große, kleine, bunte, schwarze, weiße oder graue Knöpfe – vor einfach allen Knöpfen hatte er Angst. Der Anblick eines Knopfes jagte ihm einen Schauer über den Rücken, deshalb mussten alle Knöpfe von seinen Kleidern entfernt werden. Eines Tages bat er uns darum, in seiner Gegenwart bitte keine Knöpfe mehr zu tragen. Seine Eltern lachten. Ich lachte. Wie sollte das funktionieren – ein Leben ohne Knöpfe? Doch Khalil lachte nicht. Entweder er oder die Knöpfe. Anfangs provozierte ich ihn absichtlich und trug Hemden mit besonders vielen Knöpfen. Einmal rastete Khalil aus und riss mir einen Knopf aus dem Saum. Einfach so. Der besonders große blauschimmernde Plastikknopf landete auf der Erde und Khalil zertrat ihn wie eine Kakerlake. Gewöhnlich war Khalil friedlich wie ein Lamm, aber so ein Knopf konnte ihn fuchsteufelswild machen. Ich lachte, bis ich Bauchschmerzen bekam. Khalil ließ vom Knopf ab und sah mich vorwurfsvoll an – der Ausdruck tiefster Traurigkeit erschien auf seinem Gesicht. Nur eine Bitte hatte er gehabt. Nur eine Bitte, mehr nicht – war das denn von seinem besten Freund zu viel verlangt? Seine Lider zitterten. Eine dicke Träne kullerte über seine Wange. Ich verstummte. Beschämt schaute ich zu Boden. Er wischte die Träne weg, drehte sich um und ging. Ganze drei Tage sprach er kein einziges Wort mit mir. Es waren die längsten drei Tage meines Lebens. Da verstand ich: Mit der Knopf-Sache war nicht zu spaßen. Also trennte ich die Knöpfe von meinen Kleidern ab.

Eins sei an dieser Stelle betont: Khalil war kein Feigling. Um das zu verstehen, muss man sich den Unterschied zwischen Feiglingen und Angsthasen vor Augen führen. Angsthasen sind furchtsam, zurückhaltend und weinerlich, sie können aber auch mutig sein. In Extremsituationen, wenn beispielsweise ein Freund in Gefahr ist, können sie ihre Ängste überwinden und heldenhaft handeln. Die Angst, durch Nichtstun etwas Schlimmes geschehen zu lassen, ist größer als die, sich selbst in Gefahr zu begeben. Feiglinge sind da anders. Sie würden in jedes Loch kriechen, um vor der Gefahr zu fliehen, ganz egal, was auf dem Spiel steht. Sie sind elend, ehrlos und gemein, haben keine Moral.

Khalil war kein Feigling. Das ließe sich anhand vieler Episoden aus seinem Leben belegen. Zum Beispiel der folgenden: Eines Tages fand er einen Grashüpfer, und Khalil hatte Riesenangst vor Grashüpfern – mehr noch als vor Knöpfen. Es lag an ihrem eigenartigen Aussehen oder den antennenartigen Fühlern – er konnte es nicht genau erklären. Der besagte Grashüpfer war außerdem kein gewöhnlicher Grashüpfer. Er war absonderlich groß. Khalil kam es vor, als würde der Grashüpfer immer größer werden und von Sekunde zu Sekunde wachsen. Seine giftgrüne Haut schimmerte wie Fischschuppen, die blutroten Augen starrten ihn an und seine Fühler waren lang und spitz wie zwei Pfeile. Khalil fröstelte es beim Anblick dieses absonderlich großen Grashüpfers. Normalerweise hätte er einfach einen Bogen um das hässliche Insekt gemacht, doch dieses Mal war es anders, denn der Grashüpfer zappelte in einer Pfütze und war dabei zu ertrinken. Khalil beobachtete ihn. Er paddelte mit seinen hässlichen dürren Beinchen und schlug mit seinen ekelhaften Grashüpferfühlern um sich. Soll er doch ertrinken, versuchte Khalil sich einzureden. Ein Paar Fühler weniger auf dieser Welt!

Doch plötzlich überkamen ihn merkwürdige Gedanken; er glaubte, Verzweiflung in den Augen des Grashüpfers zu sehen. Vielleicht versteckte sich hinter dieser giftgrünen Schale ein warmes, weiches Herz. Vielleicht hatten Grashüpfer warme, weiche Herzen wie Menschen. Und was würde Gott wohl davon halten, wenn Khalil einfach weiterging? So entschied Khalil, das einzig Richtige zu tun: Er tauchte seine kleinen Hände in die schmutzige Pfütze und fischte den Riesengrashüpfer heraus. Die Fühler bohrten sich in seine Fingerspitzen. Khalil bekam eine Gänsehaut. Schließlich setzte er das Insekt an einem sicheren, grün bewachsenen Plätzchen wieder ab. Wochenlang verfolgten ihn Albträume, wie ihn riesengroße Grashüpferfühler aufspießten. Doch Khalil war glücklich. Mit Albträumen lebte es sich besser als mit einem schlechten Gewissen.

Ssssschhhhhhüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü …

Ich horchte auf. Das Geräusch erinnerte an das wilde Rauschen von Baumkronen während eines wütenden Orkans. Ich sah mich um.

Schneeflocken rieselten vom Himmel und begruben die Erde unter einer weißen Decke. Eine Krähe setzte sich auf einen kahlen Ast und ließ etwas Schnee herabstäuben. Ein Militärlaster überquerte die Straße, die gefrorene Erde knirschte unter seinen Rädern, vereiste Pfützen brachen ein. Hinter der Kaserne rauchte ein uniformierter Soldat eine Zigarette. Er wirkte noch sehr jung. Halb Mann, halb Junge, dachte ich. Wir versteckten uns hinter einem verlassen herumstehenden Panzer. Von dort aus ließ sich die Gruppe von Jungen gut beobachten. Es waren fünf, und extra wegen dieser Jungen war ich hierhergekommen. Jamal und seine Bande. Ich wollte einer von ihnen werden.

Einer der Jungen sprach mit dem Soldaten, der Soldat steckte ihm etwas zu.

Ssssschhhhhhüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü …

Der Junge gab ihm ein Päckchen.

Ssssschhhhhhüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü …

Der Soldat musterte es prüfend.

Ssssschhhhhhüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü …

Er zog an seiner Zigarette. Die Glut brach ab und zerbröselte in der Luft.

»Ich hab ein ungutes Gefühl«, wiederholte Khalil flüsternd. Ich verdrehte die Augen und schnaufte genervt. Dabei hatte er recht; Geräusche, die vom Himmel kamen, ließen nichts Gutes erahnen. Ständig flogen Düsenjets und Kampfflugzeuge über unseren Köpfe hinweg. Sie kamen aus Bagram, dem sowjetischen Luftwaffenstützpunkt, und bombardierten Orte, an denen sie Mudschaheddinkämpfer vermuteten – oder auch nicht. Es kam nämlich auch vor, dass sie ihre Bomben über belebten Straßen abwarfen. Vielleicht war es der verzweifelte Versuch, einen Krieg zu gewinnen, den sie nicht mehr gewinnen konnten.

Die Sowjetunion und die von ihr gestützte kommunistische Regierung Afghanistans drohten an den Widerstandskämpfern zu scheitern, und nun rotteten sie das Volk aus. Die Gotteskrieger waren keine Soldaten, sondern überwiegend von den Mullahs angeworbene Bauern, die zumeist noch nie zuvor gekämpft hatten. Doch waren sie bereit, in diesem Krieg ihren letzten Tropfen Blut zu opfern – und genau das machte sie so stark. Auf zehn getötete Mudschaheddin folgten zwanzig neue. Das afghanische Volk stand überwiegend hinter ihnen, denn es liebte seine Unabhängigkeit. Schließlich waren es Gotteskrieger, die sich zusammengetan hatten, um den Feind zu vertreiben. Noch kämpften sie für ihr Vaterland. Noch waren sie Helden.

1980 war ein Bündnis aus verschiedenen islamischen Splittergruppen gegründet worden: die Allianz für die Freiheit Afghanistans. Die sieben wichtigsten Mudschaheddingruppierungen hatten ihren Hauptsitz in Pakistan und wurden von der CIA unterstützt. Untereinander heftig zerstritten, waren sie sich nur in der Bekämpfung des Kommunismus einig. Dafür kassierten ihre Führer Milliarden Dollar und lebten selbst in Luxus, weit weg von den Gefechten. Und jetzt, gegen Ende der achtziger Jahre, waren sie ihrem Hauptziel schon sehr nahe gerückt: der Vertreibung der sowjetischen Soldaten aus dem Land.

Beim Blick nach oben zeigte sich mir ein trügerisch friedvoller Himmel; nur wenige zarte Wolken verdeckten die blasse Sonne wie ein dünner weißer Schleier.

»Das Warten ist am schlimmsten. Minuten vergehen wie Stunden«, murmelte Khalil.

»Keine Angst«, beruhigte ich ihn. »Ich pass schon auf dich auf.«

»Was willst du überhaupt von Jamal und den anderen?« Er kickte gegen einen Kieselstein. »Du hast doch mich – bin ich nicht dein Freund?« Sein Blick war gesenkt.

»Natürlich bist du das.« Ermunternd ergriff ich seine Hand. Sie war trotz der Eiseskälte warm, wie die Haut eines Tieres. »Der beste Freund der Welt.«

Ich musterte Khalil. Seine weizengelben Locken lugten aus seiner Mütze heraus, ein Schleimfaden troff aus seiner roten Nase und seine blaue Cordhose war an den Knien verdreckt. Khalils Mutter Eva war eine junge Russin, die besonders viel Wert auf die Kleidung ihres Sohnes legte. An diesem kalten Wintertag trug er einen karamellfarbenen Mantel aus Lammfell, ein königsblaues Halstuch und eine aus weißem Kaninchenfell gefertigte wärmende Uschanka, die typisch russische Mütze. Hier draußen, vor einem verrosteten Panzerwrack auf kahler Erde, umgeben von nackten Ästen, die an den im Wind zitternden Baumkronen froren, und von Stacheldraht, der all diese Trostlosigkeit umrahmte, wirkte er verloren. Er war wie eine weiße Mohnblume, die aus einem Misthaufen ragte.

Ich kann mich nur noch aus Erzählungen daran erinnern, wie Khalil und ich Freunde wurden. Es passierte, noch bevor ich meinen ersten Schritt gegangen bin oder mein erstes Wort gesprochen habe, an einem wundervollen Nachmittag im Frühling. Damals wehte eine milde Brise, grünes Gras tanzte im Luftzug, sonnengelber Ginster blühte und versprühte würzigen Blumenduft. Über den Balkonen der Wohnungen im Makrorayon blähten sich frisch gewaschene Kleider wie weiße Friedensflaggen im Wind. Ringsum war es laut, Mütter lachten schrill und tranken Tee, Kinder kicherten und verschlangen schmatzend Wassermelonen. Alle genossen das Picknick mit den Nachbarn. Nur ich nicht. Abseits der Gruppe zupfte ich gedankenverloren Grashalme mitsamt ihrer Wurzel aus der Erde.

Den kleinen Jungen, der auf mich zugekrabbelt kam, bemerkte ich zuerst nicht. Ehe ich verstand, was los war, riss er mir das Gras aus der Hand und bewarf mich damit. Die feuchten grünen Halme blieben an meinen Wangen kleben. Der Junge gluckste vergnügt. Es hieß, dass ich daraufhin die Augen weitete und die Brauen zusammenkniff. Der Ausdruck eines unschuldigen Kleinkindes war aus meinem Gesicht verschwunden. Ich schnappte mir einen Erdbrocken und warf damit nach ihm. Die schwarze Erde verfing sich in seinen weizenblonden Locken. Er schüttelte sie ab und lachte erneut vor Freude. Ich schäumte vor Wut und wiederholte den Vorgang. Khalil blinzelte mich verständnislos an. Dann senkte er den Kopf und rammte ihn mir wie ein Stier in die Brust. Ich kippte nach hinten um. Er kicherte. Wütend trat ich nach ihm, verfehlte ihn aber, verlor die Geduld, versuchte es erneut, um zuletzt erschöpft aufzugeben. Khalil, der noch immer heiter kicherte, ließ sich zu mir fallen. Dann legte er seinen Kopf auf meine Brust. Verblüfft über diese Geste, stieß ich ihn beiseite, woraufhin er nur noch lauter lachte und seinen Kopf fester an mein Herz drückte. Ich unternahm noch einige Versuche, bis ich es einfach geschehen ließ und irgendwann in sein fröhliches Glucksen einstimmte.

So zumindest haben es uns unsere Mütter erzählt und ich glaube diese Geschichte gern. Wir besiegelten damit eine Freundschaft, die nicht lange währen und doch die einzig wahre in meinem Leben bleiben sollte. Einige Jahre später fand man uns in derselben Position wieder, nur dieses Mal lag ich mit meinem Kopf auf seiner Brust und suchte seinen Atem.

»Ich spüre deinen Puls.« Khalil drückte meine Hand.

»Was?«

»Über unsere Hände. Spürst du meinen nicht?«

»Doch.« Über meine Hand fühlte ich das Pochen seiner Schlagader.

»Ich glaube, unsere Herzen schlagen im selben Takt«, sagte er leise. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.

»Ich glaube auch«, stimmte ich ihm zu.

Ssssschhhhhhüüüüüüüüüüüüüüüüüüüü …

Das Pfeifen war ganz nah. Es war so weit: Das erste Kampfflugzeug erschien am Himmel, dicht gefolgt von einem zweiten. Wie zwei silberne Adler, dachte ich im Stillen.

Eins. Zwei. Zwei silberne Adler.

Mit ihren spitzen Stahlmäulern zerrissen sie die Wolkendecke und hinterließen zwei klaffende Wunden im Himmel.

Eins. Zwei. Zwei klaffende Wunden.

Als sie über unseren Köpfen vorbeirauschten und sich entfernten, setzte ein silberner Adler zum Tiefflug an und verlor dabei zwei Eier.

Eins. Zwei. Zwei Eier krachten auf die Erde.

Eins. Zwei. Zwei Eier zerbrachen.

Eins. Zwei. Zwei Explosionen.

Die Adler flogen davon. Sie schauten nicht zurück – nicht einmal nach ihren verlorenen Eiern. Mein Herz schlug schnell. Khalils Hand war nassgeschwitzt. Ich spürte seinen Puls. Sein Herz schlug schnell. Unsere Herzen schlugen schnell – im selben Takt.

Wir beobachteten die Feuerbälle, aus denen eine dunkle, pilzförmige Rauchwolke aufstieg. Nicht weit davon entfernt standen Häuser und ragten Minarette auf.

»Ich glaube, unsere Schule wurde getroffen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Dort liegt unsere Schule.« Er deutete Richtung Rauchwolke. »Und dort haben sie die Bomben abgeworfen.« Der graue Qualm schwebte wie eine schwere Gewitterwolke über der Stelle.

»Von hier aus kannst du das doch gar nicht erkennen.« Ein kalter Windstoß fegte über das offene Gelände.

»Ich glaube doch.«

»Und wenn schon«, erwiderte ich achselzuckend. Es war Wochenende, somit stand das Gebäude leer. Ich hatte ohnehin keine großen Sympathien für die Schule, und der Gedanke, dort vielleicht nicht mehr hingehen zu müssen, gefiel mir gut.

»Ich mag die Schule.« Khalils Hand umschlang noch immer meine. Anders als ich war Khalil ein fleißiger und guter Schüler.

»Hm«, meinte ich abwesend und peilte die Gruppe Jungen hinter der Kaserne an. Jamal und die vier anderen.

»Wir sollten nachschauen«, raunte Khalil. »Das sollten wir wirklich, denn …«

»Psst«, fiel ich ihm ins Wort. »Sei mal kurz still.« Die Jungen interessierten mich momentan mehr als die Schule. Wie sollte ich an sie herantreten? Obwohl ich es oft geprobt hatte und die verschiedensten Möglichkeiten durchgegangen war, schien auf einmal alles wieder vergessen. Da schüttelten sich die Jungen plötzlich die Hände und gingen auseinander.

»Nein!«, rief ich lauter als gewollt. Verdammt, wieder eine verpasste Gelegenheit! Ich überlegte einen kurzen Augenblick, Jamal hinterherzulaufen, doch das hätte armselig ausgesehen.

»Hamid …«

»Waaas?«, fuhr ich Khalil an.

»Ich glaube … ich bin mir nicht sicher … ich denke …« Er hielt inne.

»Nun spuck’s schon aus«, sagte ich genervt.

»Ich glaube, meine Mutter hat da heute etwas gesagt …« Er atmete ungleichmäßig. Eine trübe Atemwolke bildete sich vor seinem Mund. Allmählich fing er an, mich nervös zu machen.

»Los, jetzt sag schon«, forderte ich ihn auf.

»Ich glaube, sie hat gesagt, dass sie heute nicht in die Schule gehen würde, weil sie krank sei …«

»Ich verstehe nicht – was hätte sie denn heute in der Schule gewollt?«

»Ich glaube, sie meinte, sie würde heute nicht zum Treffen in die Schule gehen. Ja, ich glaube, das meinte sie. Ja, ich bin mir sicher.« Khalils Blick war besorgt.

Und da begriff ich. »Was meinst du damit? Welches Treffen?« Mein Herz pochte. Die Fragen waren überflüssig. Ich kannte die Antwort bereits.

»Ein Lehrertreffen. Sie wollten den neuen Stundenplan besprechen, deine Mutter …«

Ein Gedanke. Meine Mutter. Ich löste mich aus seinem Griff und rannte los. Es fiel mir schwer, durch den trüben Vorhang aus mühsam zurückgehaltenen Tränen den Weg zu erkennen. Kieselsteine sprangen gegen mein Hosenbein, die kalte Luft kratzte in meinem Rachen, Rotze lief aus meiner Nase. An einer glatten Stelle rutschte ich aus und schlug mir das Knie auf. Hinter mir hörte ich Khalil rufen. Ich rappelte mich wieder hoch, lief weiter, ohne zurückzuschauen. Meine Gedanken kreisten nur um meine Mutter. Wie hatte ich das vergessen können? Gestern erst hatte sie darüber gesprochen. Heute trafen sich die Lehrer in der Schule. Heute. In der Schule.

Vielleicht war ja gar nicht die Schule getroffen. Khalil irrte sich bestimmt.

Er irrte sich häufig.

Ja.

Bestimmt.

An den Krieg hatte ich mich gewöhnt. An die Angst. Die Gefahr. Damit konnte ich mich irgendwie arrangieren. Wir spielten, aßen Eiscreme, feierten Geburtstag, besuchten die Schule – und zwischendurch wurde Kabul durch Granat- und Raketenbeschuss in einen Trümmerhaufen verwandelt. Wenn es knallte, hielt ich meine Ohren zu und duckte mich. Wenn es qualmte, schloss ich meine Augen und hielt ein Tuch vor meinen Mund. Wenn es blutete, wischte ich es einfach weg wie einen Kleckser Marmelade. Wenn nachts die Bomben fielen, kroch ich unter die Wolldecken meiner Mutter, wo es gemütlich und sicher war. Und wenn ich Angst hatte, betete ich zu Gott. Für alles gibt es eine Lösung, hatte meine Mutter einmal gemeint.

Nur an eines gewöhnte ich mich nie: an diese ungewissen Sekunden dazwischen. Wenn ich wusste, gleich wird etwas Schreckliches passieren, gleich werde ich etwas sehen, was ich nicht sehen will. Die Sekunden, in denen eine Rakete sich am Himmel zeigte und ich nicht wusste, wo sie einschlagen würde. Die Minuten, wenn Mutter zum Einkaufen ging und draußen die Kalaschnikows abgefeuert wurden. Diese Momente schnitten mir zersetzend ins Mark, und so erging es allen.

Diese Angst hatte zur Folge, dass man am Leben festhielt. Man wollte leben – koste es, was es wolle. Ja, sogar solche, die dieses Dasein leid waren, denen alles genommen war, die alles verloren oder nie etwas besessen hatten, denen nichts heilig war und die nur dahinwelkten wie vertrocknete Blätter an morschen Bäumen, sogar sie verspürten im Angesicht des Todes einen neu gewonnenen euphorischen Willen zum Leben. Der Grund waren die Bestien – die Bomben, Raketen, Minen. Jeder wusste, wie grausam sie waren. Wir hatten davon gehört oder es mitangesehen. Wenn sie angriffen, rissen sie ihren Opfern Arme und Beine aus, sprengten Rückenmark und Gehirne, verbrannten Haut und Haare. Die Opfer schrien. Sie schrien, während sie brannten, schrien, wenn sie halb tot, halb lebendig aus der Ohnmacht aufschreckten und zwischen fremden Körperteilen ihre eigenen suchten. Das Schreien hatte erst ein Ende, wenn sie tot waren. Sobald aber ihre Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Schwestern und Brüder die Unglücksstelle erreicht hatten, fing das Geschreie wieder von vorn an. Die Angehörigen rupften sich die Haare aus der Kopfhaut, wie sie es sonst nur mit den Federn ihrer Hühner taten. Sie schrien Allahu akbar!, Gott ist groß, wenn sie inmitten von Trümmern und Leichenbergen die Reste ihrer Liebsten fanden. Noch Jahre später, als die meisten der Erinnerungen an meine Heimat verblasst waren, hallten ihre Schreie nach – eingefangen in meinem Gedächtnis wie das Rauschen in der Muschel.

Der Weg erschien mir wie eine Ewigkeit. Je näher ich der Unglücksstelle kam, desto mehr verdichtete sich der dunkle Rauch, desto heftiger zitterten mir die Knie und desto klarer wurde, dass Khalil wohl recht gehabt hatte – unter den getroffenen Gebäuden schien auch unsere Schule zu sein. Wieso bombardierten sie unsere Schule? Warum? Als würden Mudschaheddinkämpfer die Schulbank drücken und sich mit Mathematikaufgaben abplagen! Mein Bauch füllte sich mit Wut. Warum war unser Leben so wertlos? Warum taten Menschen anderen Menschen so etwas an? Ihre Herzen mussten kalt sein. Eisig wie der Wind. Bitterkalt wie der Schnee. Gefroren wie das Eis.

Als ich ankam, war ich außer Atem. Meine Augen tränten, ich hechelte und meine Nase lief. Ich wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht, meine Rotze verteilte sich auf den Wangen. Ringsum war der Schnee von der Hitze der Rakete geschmolzen. Dunkler Rauch vernebelte die Sicht. Einige Helfer stemmten bereits Trümmer und hoben Bretter an. Ein Nebengebäude der Schule war eingestürzt. Ich übersprang die Trümmerhaufen und kämpfte mich nach vorne. An einer Stelle brannte es, Rauchwolken stiegen auf, ich entdeckte eine Blutlache am Boden. Mein Rachen füllte sich mit Galle, mir wurde übel vor Angst. »Madar!«, brüllte ich.

Feuer, Qualm, Trümmer. Verzweiflung machte sich breit. Wo sollte ich nach ihr suchen? Das eigentliche Schulgebäude war stehen geblieben, nur die Fenster waren auf breiter Front geborsten. Überall lagen Glassplitter auf dem Hof verstreut. Blutige Glassplitter. Die Schule schien mich aus leeren Augen stumm anzublicken.

»Madar!«, winselte ich. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich um. Die Kaninchenfell-Uschanka war verrutscht.

»Hamidjan, ich bin da.« Auch Khalil war den ganzen Weg gerannt, seine Wangen waren glühend rot und die Augen glasig. Vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Mitgefühl. Brüderlich ergriff er meine Hand. Hand in Hand, Puls an Puls, bahnten wir uns einen Weg durch Qualm und Trümmer. Wo nur war meine Mutter?

Was geschah mit Kabul? Letzte Woche noch ein Haus, heute ein Trümmerhaufen. Gestern noch ein Kino, heute ein Trümmerhaufen. Eben noch eine Schule, jetzt ein Trümmerhaufen. Heute noch Kabul, morgen ein Trümmerhaufen. Das geschah mit Kabul – Trümmerhaufenkabul.

Ein Polizist versperrte uns den Weg. »Hey, was wollt ihr hier? Das ist kein Spielplatz.« Er stemmte seine staubgraue Hand gegen meine Brust.

»Ich suche meine Mutter«, stotterte ich. »Sie … sie … ist … Lehrerin.«

»Sie ist nicht hier. In der Schule war nur ein alter Hausmeister, den hat’s erwischt, als er gerade den Hof gefegt hat.« Er kratzte sich teilnahmslos am Kinn. »Der ist mausetot.«

Mein Atem stockte. »Sind Sie sich sicher?«

»Ja, und jetzt haut hier ab.«

Ich dachte an den Hausmeister. Er war ein alter Mann mit weißem Haar und runzeliger Haut gewesen. Die Zähne waren ihm ausgefallen, und wenn er lächelte, sah er wie ein Säugling aus. Jeden Tag fegte er mit seinen klapperdürren Armen den Hof und den Flur der Schule. Er fegte sehr langsam. Manchmal brauchte er einen ganzen Schultag nur zum Hof-und-Flur-Fegen. Die Schule entließ ihn trotzdem nicht: weil er alt war und nicht mehr lange zu leben hatte. Soll er doch fegen, wenn er unbedingt fegen will. Eines Morgens zog ihm Jamal den tumban herunter. Der alte Hausmeister trug keine Unterhosen. Jeder konnte einen Blick auf seinen hängenden Pimmel werfen, der aussah wie eine schrumpelige Dattel. Als er sich hektisch bemühte, seinen tumban wieder hochzuziehen, geriet er ins Wanken, fiel vornüber, und wir sahen seinen Hintern, der aussah wie ein alter Kürbis. Alle lachten. Ich auch. Der Hausmeister wurde puterrot. Nie hätte er erwartet, in seinem Alter noch derart beschämt zu werden. Mit wackeligen Beinen rappelte er sich wieder auf und wir sahen ihn und sein runzeliges Säuglingslächeln nie wieder. Hof und Flur fegte er nur noch, wenn die Schule leer stand. So wie heute. Und nun war er tot. Mausetot. Wegen einer schrumpeligen Dattel und eines alten Kürbisses.

»Er tut mir leid«, meinte Khalil mit wässrigen Augen.

»Du hast ihn überhaupt nicht gekannt.«

»Er war alt und hätte es verdient gehabt, in seinem Bett zu sterben.« Er zog schniefend den Schleimfaden an seiner Nase hoch und rückte die Uschanka wieder gerade.

»Das stimmt. Mir tut er auch leid.« Ich rieb mir die Augen, einerseits betrübt, anderseits dankbar, dass es nicht meine Mutter erwischt hatte. Allah shukur. Gott sei Dank.

»Wir müssen nach Hause«, sagte ich.

»Warte, du hast da was.« Khalil fuhr mir mit der Handfläche über das Gesicht und wischte meinen Rotz und meine Tränen weg. So ein Freund war er. Er ließ meinen Schmerz einfach verschwinden. Dann säuberte er seine Hand an der Lammfelljacke und lief voraus.

Ich blieb kurz stehen und schaute ihm nach. Seine Uschanka hüpfte wie ein weißes Kaninchen auf und ab. Seine Stiefel malten Spuren in den Schnee. Ein wundervolles Gefühl strömte durch meinen Körper. Wohltuend wie ein raumfüllender, blumiger Duft. Warm wie ein lichter Sonnenstrahl. Ein Gefühl der Dankbarkeit. »Khalil!«, rief ich. Er blieb abrupt stehen und drehte sich um. Ich formte ein Horn mit meinen Händen. »Du bist der beste Freund der Welt!« Zuerst verstand er nicht, dann errötete er und ein scheues Lächeln erschien auf seinen Lippen. Zusammen rannten wir zurück nach Hause. Unsere Füße malten Spuren in den Schnee. Zwei paarige Linien von Fußspuren im Schnee. Zwei Freunde. Zwei Herzen. Ein Takt.

Aus der Ferne konnte ich die bleigrauen Fassaden der Wohnungen des Makrorayon ausmachen. Shurawi-Wohnungen, RussenWohnungen, deren Bau von den Sowjets veranlasst worden war. In diesem Stadtgebiet lebten russische Staatsfunktionäre und kommunistisch ausgerichtete Afghanen oder solche, die für die Kommunisten arbeiteten. Mohammed Nadschibullah hatte zwei Stockwerke über uns gewohnt, bevor er Präsident von Afghanistan geworden war. Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater Landwirtschaftsingenieur gewesen und bekam vom Staat gut honorierte Auslandsaufträge.

Der Makrorayon war die Miniaturausgabe einer typisch sowjetischen Plattenbausiedlung. Klein-Moskau. Als hätte jemand ein Areal aus einer sowjetischen Stadt herausgeschnitten und es, wie ein unpassendes Teil in ein Puzzle, in Kabul platziert. Die Außenfassaden der Häuser hatten eine entsetzliche Farbe, der Putz fiel von den Wänden, und doch waren es Luxuswohnungen. Der Luxus bestand darin, dass aus den Wasserhähnen Warmwasser floss, der Strom meistens funktionierte und wir richtige Toiletten mit Spülung besaßen, während die meisten Afghanen ihr Geschäft noch auf Plumpsklos verrichteten. In Afghanistan war das echter Luxus. Die gewöhnlichen Häuser in Kabul waren einstöckig und von Mauern umgeben, die shurawi-Wohnungen dagegen mehrstöckige Plattenbauten mit Balkonen. In der näheren Umgebung befanden sich Kindergärten, Eisdielen, Restaurants, Supermärkte und Basare, wo es nach Gewürzen und gerösteten Erdnüssen roch und bunte Stoffe und Teppiche feilgeboten worden. Im Sommer schmeckte die Luft im Makrorayon nach frisch gegrilltem Hammelfleisch und die Kronen der Bäume trugen Granatäpfel, rot wie die untergehende Sonne Kabuls. In den Innenhöfen standen Sitzbänke aus Stein, dort aßen Männer gesalzene Pistazien und stritten über Politik. Im Sommer picknickten Eheleute mit ihren Kindern im nahe gelegenen Park.

Khalil verabschiedete sich. Khodahafez, auf Wiedersehen; Gott schütze dich. Unser Wohnviertel war in weiße Farbe getaucht, Schnee lag auf Schaukeln und Sitzbänken. Kinder hatten Schneemänner gebaut. Ein schöner Ort. Mein Makrorayon war noch kein Trümmerhaufen. Gott schütze dich.

Kapitel 3

Tränensuppe

Ich klopfte an die Haustür. Meine Mutter schloss auf, sie war kreidebleich und hatte gerötete Augen.

»Wo warst du?«, fragte sie. Ihre Stimme klang wütend und erleichtert zugleich. Ich schlang meine Arme um ihre Hüften. Ihr warmer Mutterkörper wärmte meinen. Ich drückte meinen Kopf gegen ihr Mutterherz. Dumm dumm, dumm dumm, dumm dumm, schlug es schnell. Ein warmes, weiches Mutterherz. Ich atmete ihren Duft ein: Minze, Mehl und Seife. Ein wirklich wundervoller Geruch. Sie streichelte meinen Hinterkopf. In diesem Moment gab es für mich auf dieser Welt nichts Schöneres, als meinen Kopf für immer in ihrer Kleidung zu vergraben und ihren Duft einzusaugen.

»Sie haben die Schule bombardiert.« Sie löste sich aus meiner Umarmung. »Ich habe überall nach dir gesucht.«

»Ich weiß«, antwortete ich zögerlich.

»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst den Makrorayon nicht verlassen?« Sie schaute mich klagend an. »Das Herz bleibt mir stehen, wenn ich nach dir suche und dich nicht finden kann. Wie viele Mütter suchen nach ihren Kindern und finden sie nie wieder?« Sie schluckte. »Solche Gedanken machen mich verrückt.«

Sie berichtete, dass sie sich heute früher als sonst auf den Weg zur Schule gemacht habe, um aufzuschließen. Als stellvertretende Direktorin hatte sie einen Zweitschlüssel. Da habe sie das Pfeifen der Kampfflugzeuge gehört. Zuerst sei sie weitergegangen. Schließlich kreisten die Bomber oft wie Aasgeier über Kabul. Meistens drehten sie ihre Runden und flogen davon, ohne Bomben abgeworfen zu haben. Warum auch sollten Kampfflieger eine Schule oder den Makrorayon bombardieren?

Warum? Warum? Warum? Darum. Sie taten es einfach. Darum. Das war halt der Krieg. Darum. Das war die ganze Antwort. Warum? Darum. Ganz einfach.

Plötzlich, so erzählte meine Mutter weiter, sei sie dann losgelaufen und zurückgerannt. Wenn sie die Schule bombardierten, dann konnten sie genauso auch den Makrorayon bombardieren. Sie musste ihre Kinder einsammeln – eins, zwei, drei, vier Kinder – und in Sicherheit bringen. Im Laufen hielt sie ihre grüne Krokodilhandtasche wie einen Schirm über ihren Kopf. Hinter ihr hörte sie es knallen und bersten. Sie blickte nicht zurück. Auf dem Weg sammelte sie ihre Kinder ein. Kind Nummer eins, Jacqueline, die Älteste, band ihrem Schneemann eine Schleife um. Sicher hatte sie die Bomber gehört. Doch sie waren ja weit, weit weg. Jedenfalls weit genug, um sie nicht zu erschrecken. Schließlich war Jackie kein Mädchen, das schnell in Panik geriet. Sie war schon dreizehn. Halb Frau, halb Mädchen. Was die Krokodilhandtasche über ihrem Kopf solle, wollte Jackie wissen. Meine Mutter nahm den Arm herunter.

Die Flugzeuge haben Bomben abgeworfen.

Ja, das wisse sie, aber was habe die Krokodilhandtasche damit zu tun?

Zum Schutz. Meine Mutter kam sich lächerlich vor.

Eine Krokodilhandtasche? Jackie lachte sie aus.

Wo war Wahid? Er war Kind Nummer zwei.

Er rauchte heimlich drüben hinter der Mauer.

Wo war Julie? Sie war Kind Nummer drei.

Zu Hause.

Wo war Hamid, der Jüngste? Er war Kind Nummer vier.

Jackie überlegte. Bei Khalil. Er wohnte zwei Häuserblocks weiter. Sie klingelten bei ihm. Niemand machte auf, denn auch Eva suchte gerade ihren Sohn. Draußen begegneten sich die besorgten Mütter. Eva trug eine Schürze, und ihre honigfarbenen Haare waren in bigudi, Lockenwickler, gedreht. Wo sollten sie nach uns suchen? Im Makrorayon waren ihre Söhne anscheinend nicht. Khalil hatte nur Hamid, Hamid nur Khalil. Sie waren immer zusammen – nur: Wo waren sie?

»Eva war sehr aufgebracht«, berichtete meine Mutter.

»Es ist ja nichts passiert«, murmelte ich schuldbewusst.

»Ohne meine Erlaubnis darfst du die Wohnung nie verlassen, hörst du? Den Makrorayon schon gar nicht, hörst du?«

»Ja«, sagte ich.

»Versprich es mir.«

»Ich verspreche es dir.« Da fiel mir ein: »Der Hausmeister ist tot. Mausetot.«

»Woher weißt du das?« Meine Mutter sah mich mit großen Augen an. Sie hatte ihre Brille abgenommen, in einem der Gläser war ein Sprung.

»Ich war an der Schule.«

»Was um Gottes willen hattest du da zu suchen?«

»Dich. Ich hab nach dir gesucht.«

»Oh. Möge Gott seiner armen Seele gnädig sein.«

Ich nickte. »Mama, die Schule hat keine Fenster mehr. Und die Gebäude ringsum sind nur noch Trümmerhaufen.«

»Die ganze Stadt verwandelt sich nach und nach in einen Trümmerhaufen, mein Kind.« Sie schüttelte den Kopf, als könne sie es selbst nicht glauben. »Von heute an geht ihr nicht mehr in die Schule. Das ist zu gefährlich.«

Mir konnte das nur recht sein. »Aber du, Mama? Wenn es so gefährlich ist, darfst du auch nicht mehr zur Schule gehen.«

»Wenn ich nicht mehr zur Schule gehe, habe ich keine Arbeit mehr.«

»Das macht doch nichts, unser Vater verdient genug«, tröstete ich sie.

»Darum geht es nicht, mein Kind. Darum ging es nie«, sagte sie traurig.

Darum ging es nie. Meine Mutter liebte ihren Beruf als Lehrerin. Aus ihren Erzählungen wussten meine Geschwister und ich, dass es sie Fleiß und Durchsetzungskraft gekostet hatte, diesen Posten überhaupt zu bekommen. Sie liebte das Unterrichten. Es gab ihr das Gefühl, etwas Sinnvolles und Nützliches zu tun. Sie brachte Kindern etwas bei, bereitete sie auf das Erwachsenenleben vor. Sie war mitverantwortlich, welche Erwachsenen aus ihnen wurden. Meine Mutter war Lehrerin geworden, weil sie etwas verändern wollte. Bildung war für sie der Weg zu einem besseren Afghanistan. Wissen war wie eine kostbare Pflanze, die zwischen wuchernden Schlingranken wuchs, aufblühte und das Unkraut verdrängte. Die widersinnigen Ideologien und die fanatische Propaganda der fundamentalistischen Mullahs fielen nur dort auf fruchtbaren Boden, wo zuvor nichts Besseres gesät worden war. Kritische Gemüter waren dazu fähig, starre altertümliche Bräuche und Denkgewohnheiten aufzusprengen. So hatte sie schon gedacht, bevor der Krieg begonnen und das Land in Aufruhr und Chaos versetzt hatte. Und nun waren Menschen wie sie wichtiger als je zuvor. Die neue Generation war neuen Grausamkeiten ausgesetzt: Ihre Spiele wurden von Bombardements unterbrochen, ihre Freundschaften zerrissen, ihre Familien auseinandergesprengt.

Eine Kinderseele war zerbrechlich wie ein Kristallglas – damit spielte man nicht!

Sie war brüchig wie dünnes Eis – darauf trat man nicht!

Sie war rein wie ein weißes Laken – das beschmutzte man nicht!

Die Realität war anders. Die neue Kriegskindergeneration war sonderbar: Ihre Gesichter waren so ernst, ihre Blicke so streng, ihre Ansichten so radikal. Wie lange würde das gutgehen? Wie lange? Diese Kinder redeten schon in jungen Jahren über Politik und Krieg. Im Radio drehte sich alles nur um Politik und Krieg, die Eltern sprachen nur über Politik und Krieg – das steckte an. Aus ihnen wurden kleine Politiker, kleine Gotteskrieger, kleine Kommunisten, kleine Soldaten, kleine Mullahs – nur keine Kinder. Kaum hatte sich der erste Flaum auf der Oberlippe eines Jungen gebildet, wurde er in die afghanische Armee gezwungen, um die Widerstandskämpfer zu bekriegen. Er konnte weinen, kreischen und winseln – es nutzte nichts. Hatten die Eltern genug Geld und Einfluss, konnten sie ihren Jungen freikaufen und zurückholen.

Viel schlimmer war es da, wenn diese Jungen den Märtyrertraum träumten. Männer, die noch halbe Kinder waren, lächelten bei dem Gedanken, den bärtigen Helden zu spielen und für ihr Vaterland zu sterben. Als schahid umzukommen war gleichbedeutend mit einem Freifahrschein ins Paradies. Sobald diese halben Männer, halben Kinder einmal angefangen hatten, diesen Traum zu träumen, konnten ihre Eltern nichts mehr für sie tun. Sie verloren ihre Söhne – weil Männer mit Gewehren und Bomben die einzigen Helden im Land waren.

Diese Kinder verkümmerten an ihren Sorgen. Sie verdarben an ihren Erfahrungen und ließen sich das nicht einmal anmerken, weil sie stark wie Erwachsene sein wollten. Sie waren wie Äpfel, die von außen normal aussahen, während sie von innen her verfaulten. Das machte meiner Mutter Angst. Sie hoffte, als Lehrerin zumindest einen winzigen Beitrag zur Entwicklung ihrer Schüler leisten zu können, und wenn es ihr gelang, nur ein einziges Kind auf den richtigen Weg zu bringen, so meinte sie, habe sie ihr Soll auf Erden erfüllt.

Für dieses Ziel hatte sie hart gekämpft. Als sie neunzehn Jahre alt gewesen war, hatte ihr mein Großvater eröffnet, dass es Zeit zum Heiraten sei.

Zeit zum Heiraten? Niemals. Sie wolle noch so viel tun. Noch so viel verändern. Die Welt sei aus den Fugen, da könne sie doch nicht einfach heiraten. Sie kenne doch die afghanischen Männer; die und ihre Moral, die und ihre Traditionen, die und ihre dummen Vorschriften. Ein Mann würde ihren Bauch rund machen, sie an den Herd ketten und ihr die Träume ausprügeln.

So müsse das nicht sein. Es gäbe auch gute Männer. Er sei doch ein guter Mann, oder etwa nicht? Sie sei doch mit denselben Freiheiten aufgewachsen wie ihr Bruder, oder etwa nicht?

Ja, er sei meistens ein guter Mann gewesen und, ja, sie sei mit vielen Freiheiten, nicht aber denen ihres Bruders, aufgewachsen. Sie wolle selbst entscheiden, wann und wen sie heirate.

Mein Großvater unterdrückte ein Lachen. Nun sei es aber genug. Es sei beschlossene Sache. Wo käme die Gesellschaft hin, wenn Frauen ihre Ehemänner selbst aussuchen dürften?

Dann könne er auch gleich ihren Körper in einen Sarg stecken, ihn zunageln und unter der Erde vergraben!

Es sei beschlossene Sache. Seine Tochter habe nur Flausen im Kopf. Es sei an der Zeit zu heiraten.

Flausen im Kopf?

Ja, Flausen im Kopf.

Damit meinte er ihre ständigen Demonstrationsmärsche. Meine Mutter demonstrierte für Bildung, Frauenrechte, Menschenrechte, Meinungsfreiheit und allerlei andere Rechte. Der modern ausgerichtete König Sahir Schah hatte Afghanistan in den sechziger Jahren zwar zu einem freieren Ort gemacht, indem er für Frauen das Wahlrecht sowie das Recht auf Schulbesuch eingeführt hatte. Seitdem war das Land weltoffener und liberaler geworden. Doch schon damals gifteten die gespaltenen Zungen der Moralapostel gegen die neu gewonnenen Freiheiten. Altmodische Regeln und erstarrte Traditionen waren der Anker ihres sinkenden Schiffes, den sie nicht losließen und der sie nun mit in den Abgrund zog. Die rückwärtsgewandten Sittenwächter tolerierten keine Veränderungen, sahen jede Entwicklung Afghanistans als eine Annährung an den ungläubigen Westen. Mit ihren Hetzkampagnen fanden sie gerade in ländlichen Gebieten Gehör, wo hauptsächlich Analphabeten und strenggläubige Menschen lebten.

So kam es, dass in der Geschichte Afghanistans auf jeden Schritt nach vorn zehn zurück folgten. Schon 1928 hatte der König Amanullah Khan von einem fortschrittlichen Afghanistan geträumt. Er ließ einen Flugplatz bauen sowie auf den Märkten westliche Kleidung unters Volk bringen, und seine Ehefrau Soraya zeigte sich öffentlich ohne Schleier. Doch die erzürnten Mullahs stoppten diese Entwicklungen schnell. Der König musste fliehen, sein Flugplatz wurde in einen Folterort umfunktioniert, in Afghanistan wurden die Uhren wieder zurückgestellt.

Meine Mutter kannte die Geschichte ihres Landes. Jede neu erworbene Freiheit bewegte sich wie ein neugeborenes Lämmchen auf wackeligen Beinen. Sie sah es als ihre Pflicht an, diese Freiheiten zu verteidigen und zu schützen. Bei einer ihrer Demonstrationen streckte sie einem lüstern dreinblickenden Polizisten die Zunge heraus. Er verpasste ihr eine satte Ohrfeige und steckte sie ins Gefängnis. Beschämt zahlte mein Großvater dem Polizisten das für ihre Freilassung geforderte Bakschisch.

Von da an saß er auf heißen Kohlen. Seine Tochter war rebellisch. Er musste sie schnell verheiraten, bevor sich ihre Aufmüpfigkeit in der afghanischen Gesellschaft herumsprach. Denn, so versicherte er meiner Mutter, nichts sei den afghanischen Männern verhasster als rebellische Frauen. Er habe einen guten Mann für sie ausgesucht – einen Landwirtschaftsingenieur. Einen gebildeten Geschäftsmann, der sie mit zu sich nach Kabul nehmen würde. Dort könne sie studieren, müsse nicht sofort Kinder in die Welt setzen und hätte eine Hausangestellte, die an ihrer Stelle koche und putze.

Nein! Meine Mutter glaubte ihm kein Wort. Dann könne er sie gleich in ein Gefängnis stecken und den Schlüssel ins Meer werfen. Nein! Sie würde Wen-auch-immer nicht heiraten.

Nein? Doch! Aus.

Meine Mutter weinte drei Tage und drei Nächte. Vergebens, denn am vierten Tag kam Wer-auch-immer – ihr zukünftiger Mann –, um sie zu holen. Was blieb ihr schon übrig? Fortlaufen? Wohin? Zu wem? Sie hatte doch nur ihre Familie. Womöglich wäre es gar nicht so schlimm, verheiratet zu sein, redete sie sich gut zu. Es solle sie ja geben, Ehen, die gar nicht so schlimm waren. Er war ein gebildeter Geschäftsmann. Sie würde studieren dürfen, nicht sofort Kinder in die Welt setzen müssen und hätte eine Hausangestellte – das hörte sich doch gar nicht so übel an, wenn es denn wahr war. Womöglich war auch Wer-auch-immer gar nicht so schlimm. Vielleicht war er ein guter, interessanter, attraktiver Mann. Sie könnten zusammen ins Kino gehen oder ein Picknick genießen und über Gott und die Welt sprechen. Dann hätte sie endlich jemanden zum Reden. Er würde sie küssen. Sie würden sich ineinander verlieben. Ver-lie-ben, ver-lie-ben, ver-lie-ben, sang sie leise vor sich hin.