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Der Beginn der packenden Sylt-Krimis von Thomas Herzberg jetzt im Bundle!
"Hannah Lambert ermittelt" ist mit über 1 Mio. verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Jeder Fall der spannenden Friesenkrimi-Reihe rund um Hauptkommissarin Hannah Lambert und ihre Kollegen ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen.
Das Bundle mit über 1.300 Seiten Lesestoff enthält:
AUSGERECHNET SYLT
Ausgerechnet Sylt ... denkt sich Hannah Lambert, schon bevor sie ihre neue Dienststelle in Nordfriesland antritt. Dort wartet bereits Arbeit auf die Hauptkommissarin: Auf dem Autoreisezug Richtung Westerland wurde ein Mann erschossen. Stück für Stück entwirren die Ermittler eine jahrzehntealte Fehde, bei der alle Beteiligten weit mehr als nur ihren üppigen Wohlstand zu verlieren haben …
EISKALTES SYLT
Auf einer tiefgefrorenen Weide wird die bestialisch zugerichtete Leiche eines Schafzüchters gefunden, inmitten seiner Tiere. Hannah Lambert und ihr Kollege Sven-Ole Friedrichsen machen sich umgehend auf die Jagd nach dem Täter. Dabei stoßen sie auf immer mehr schreckliche Details und müssen feststellen, dass hinter beinahe jeder Ecke eine neue Überraschung lauert.
MÖRDERISCHES SYLT
Nacheinander werden die Leichen zweier Callgirls gefunden, und schnell wird offensichtlich, dass sämtliche Spuren auf Deutschlands beliebtester Ferieninsel enden. Als dann eine dritte junge Frau verschwindet, beginnt ein Wettrennen, bei dem Hannah und Ole gezwungen werden, weiter als je zuvor über ihre Grenzen hinauszugehen.
STÜRMISCHES SLYT
Die Konzertpianistin Caroline Schumann ist jung, hübsch, erfolgreich – und tot. Während Orkantief ›Sabine‹ mit Urgewalt über die Insel fegt und allerorts Verwüstung hinterlässt, jagen Hannah und Ole den vermeintlichen Mörder. Dabei sind Lügen, Geheimnisse und zu viele Verdächtige noch ihr kleinstes Problem, denn Hannah wird auch von einer Altlast eingeholt, die sie abschütteln muss. Da ist weiterer Gegenwind garantiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ausgerechnet Sylt
Friesenkrimi (Hannah Lambert ermittelt 1)
Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 2.0
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, dazu auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
meine lieben Testleserinnen Lia und Birgit
meine neue Korrektorin Bärbel, die sich bei einem weiteren Durchlauf noch mal richtig „reingekniet“ hat
Covergestaltung: Chris Gilcher –http://buchcoverdesign.de
Ausgerechnet Sylt … denkt sich Hannah Lambert, noch bevor sie ihre neue Dienststelle in Nordfriesland antritt. Denn dort wartet bereits der erste Fall auf die Hauptkommissarin: Ein Mann wurde auf dem Autozug nach Westerland erschossen. Anfangs ermitteln Hannah und ihr junger Kollege Sven-Ole in sämtliche Richtungen. Schließlich könnte es sich bei dem Toten – einem Notar kurz vorm Ruhestand – auch um ein zufälliges Opfer handeln. Diese Möglichkeit scheidet jedoch aus, nachdem ein weiterer Mord geschieht. Stück für Stück entwirren die Ermittler eine jahrzehntealte Fehde, bei der alle Beteiligten weit mehr als nur ihren üppigen Wohlstand zu verlieren haben …
»Ausgerechnet Sylt« ist Teil 1 der neuen Friesenkrimi-Reihe rund um
Hauptkommissarin Hannah Lambert und ihre Kollegen.
Jeder Fall ist in sich abgeschlossen.
Am Ende wartet noch eine kleine Leseprobe von:
»Eiskaltes Sylt«
(Teil 2 meiner neuen Sylt-Reihe)
Weitere Informationen und Bücher findet Ihr auf meiner Homepage:
ThomasHerzberg.de
Thomas Herzberg auf facebook
»Rüm hart, klaar kiming« (weites Herz – klarer Horizont): Ein Zitat, das den inselfriesischen Kapitänen zugeordnet wird. Damit beschreiben sie – neben der Mentalität der Menschen, die dort zu Hause sind – auch eine in Deutschland einzigartige Landschaft. Sylt ist vermutlich der bekannteste Teil davon. Aber wer glaubt, auf der beliebten Ferieninsel nur Schickimicki vorzufinden, irrt gewaltig. Denn wer genauer hinsieht und einen kleinen Fußmarsch nicht scheut, stößt hier auf einmalige Orte, die man nie wieder vergisst. Es heißt nicht umsonst: »Wer sich in Sylt verliebt, den lässt die Leidenschaft nie wieder los.« Vom Millionär und Gentleman-Playboy Gunter Sachs stammt folgendes Zitat zum anderen Gesicht der Insel: »Ich fühle mich in Kampen auf Sylt ein bisschen wie ein Affe im Zoo … aber mit lieben Besuchern.«
Klar, wer den Sound neuester Sportwagen, Champagner und teure Boutiquen zum Glücklichsein braucht, wird auf Sylt ebenfalls fündig. Jeder wie er mag … und ich glaube, das beschreibt die Mentalität der Menschen hier am besten.
Sylt in Zahlen:
Länge von Nord nach Süd: 38 Kilometer
Breite von West nach Ost: 12,6 Kilometer (an der schmalsten Stelle sind es weniger als 500 Meter)
Und weil eben keine Straße nach Sylt führt, erfolgt die Anreise nur per Autozug, Fähre oder Flugzeug. Wer sich auf den Weg macht, dem wünsche ich viel Spaß auf der Insel. Vielleicht laufen wir uns ja zufällig bei Gosch über den Weg und essen zusammen ein Fischbrötchen. Aber Vorsicht: Nicht nur ich, sondern auch die Möwen dort sind verdammt hungrig ;)
Freitagmittag, vor der Autoverladung in Niebüll
»Mir reichts langsam! Da steht man extra mitten in der Nacht auf und verbringt trotzdem stundenlang in der Schlange vorm Autozug. Wenn es nicht gleich weitergeht, dann ...«
»Hör bitte auf, Jörg!« Martina Weinhold starrte zwar permanent aus dem Seitenfenster, doch ihre Stimme verhieß Kampfbereitschaft. »Die Kinder und ich schwitzen genauso – und wir meckern nicht die ganze Zeit rum.«
»Nächstes Jahr sparen wir uns Sylt einfach!« Jörg Weinhold wollte offensichtlich nicht einlenken, setzte stattdessen seine Tirade fort. »Der Urlaub fängt ja prima an! Den kann man jetzt schon komplett vergessen. Lieber hock ich zwei Wochen jeden Tag am Baggersee und lieg nachts in meinem eigenen Bett. Perfekt!«
»Willst du, Papa?« Die vierjährige Maja lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne und hielt ihrem Vater eine Saftflasche entgegen. »Du magst doch Trauben«, erklärte sie mit kindlichem Charme.
Aber der unverändert aufgebrachte Familienvater schob seine Tochter samt Flasche zurück auf die Sitzbank. »Ich hab doch gesagt, ihr sollt da hinten angeschnallt bleiben! Red ich Chinesisch, oder was?«
»Was soll den Kindern denn passieren? Wir haben uns seit zwei Stunden keinen Zentimeter bewegt.« Martina Weinhold zeigte nacheinander in sämtliche Richtungen. »Überall stehen Autos … höchstens ein Hubschrauber könnte auf uns krachen.«
Ihr Mann wollte etwas erwidern, als plötzlich am Wagen vor ihm die Bremsleuchten aufflammten. Die Hoffnung auf Vorankommen.
»Siehst du ...« Martina Weinhold tätschelte ihrem Mann von der Seite die Schulter. »... spätestens in ’ner Stunde fahren wir in Westerland vom Zug runter und liegen nachmittags schon am FFK-Strand in Rantum. Das nenne ich perfekt!«
»Na ja, vielleicht ist es wirklich ein bisschen schöner als am Baggersee«, lenkte Jörg Weinhold mit leiser Stimme ein. »Ich hab trotzdem das Gefühl, es wird jedes Jahr schlimmer.«
Seine Frau zuckte mit den Schultern und zeigte durch die Frontscheibe. »Fahr einfach!«, forderte sie ihn lachend auf. »Erst stehen wir stundenlang und dann kommst du nicht in die Gänge.«
Zehn Minuten später war die Autoverladung abgeschlossen. Ein Bahnmitarbeiter, der offensichtlich alle Zeit der Welt hatte, verriegelte hier und da noch eine Absperrung oder prüfte in aller Seelenruhe einen Verschluss. Kurz darauf setzte sich der Zug ruckelnd in Bewegung.
»So ’ne Karre fährt man auch nur, wenn man nicht mehr weiß, wohin mit seinem Geld«, moserte Jörg Weinhold und zeigte nach vorne. Direkt vor dem Minivan der Familie stand ein riesiger schwarzer SUV. Selbst die Scheiben waren rundum getönt, sodass vom Innenraum kaum etwas zu erkennen war. »Hast du den Typen gesehen, der drinhockt? Der war doch vorhin zum Pinkeln und hat uns …«
»Ich kann gar nichts sehen«, fuhr seine Frau genervt dazwischen. »Für mich sieht das Teil wie ein Sarg auf Rädern aus. Und ich frag mich, ob der Fahrer wenigstens nach draußen gucken kann – was für ein Auto ist das überhaupt?«
»Keine Ahnung. Wohl irgendein Ami.«
»Ist mir auch völlig schnuppe«, stöhnte seine Frau. Danach fiel sie gegen die Rückenlehne und ließ das Seitenfenster neben sich herunter. »Jetzt fängt der Urlaub an«, stellte sie erleichtert fest. Der Zug hatte ein wenig Fahrt aufgenommen, ihre Haare flatterten im Wind.
»Es zieht, Mama!«, erklang sofort Majas Protest von der Rückbank.
»Ich glaube, es ist ein Yukon, von General Motors«, erklärte der Familienvater, nachdem er eine Weile auf seinem Handy herumgewischt hatte. »Oder es ist ...«
»... mir immer noch völlig wurscht«, unterbrach ihn seine Frau. Sie drehte sich nach hinten, denn neben Maja saß im zweiten Kindersitz deren jüngere Schwester Emma, auf den Tag genau elf Monate alt. Die quengelte zunehmend lauter. »Ich glaube, sie hat die Windel voll«, bemerkte die Mutter mit gerümpfter Nase. »Am besten verpass ich ihr schnell ’ne neue, bevor wir in Westerland ankommen.«
»Bloß nicht!«, keuchte Jörg Weinhold. »Wenn wir nicht mal die Fenster aufreißen können, überleb ich die Aktion nicht.«
»Stell dich nicht so an!« Seine Frau hatte bereits den Sicherheitsverschluss am Kindersitz entriegelt und verfrachtete die winzige Emma direkt auf ihren Schoß. »Ich brauch die Wickeltasche, Maja.«
Dieses Utensil wanderte gleich im Anschluss nach vorne. Nachdem sämtliche Reißverschlüsse geöffnet waren, führte das zu einer logischen Frage. »Wo sind denn die ganzen Feuchttücher geblieben?«
Maja wedelte zwar mit einer durchsichtigen Plastiktüte, sah dabei jedoch aus, als wäre sie den Tränen nahe.
Grund genug für den Familienvater, sich ebenfalls nach hinten umzudrehen. »Das gibts doch gar nicht! Sie hat den ganzen Sitz mit ihrem Traubensaft vollgesaut. Die Feuchttücher hat sie gebraucht, um die Schweinerei ...«
Majas herzzerreißendes Schluchzen unterbrach diese Feststellung.
Martina Weinhold hatte derweil die Wickelaktion beendet und drückte ihrem Mann die kleine Emma in die Hände. Die gluckste gerade inbrünstig, schien sich über irgendwas köstlich zu amüsieren. »Ihre Windel hält jetzt bis Westerland. Dort holen wir zuerst in ’nem Drogeriemarkt alles Nötige, damit sie nicht wieder tagelang schreit, weil ihr Popo wund ist.«
Ein mittlerweile frustrierter Ehemann lieferte sein Fazit mit einiger Verzweiflung in der Stimme: »Erinnerst du dich an damals: unsere ersten Jahre ... ohne Kinder?«
»Klar! Du hast jedes Wochenende zwei Tage auf dem Fußballplatz gestanden und mich mit den Frauen von deinen dämlichen Kumpels alleingelassen. Davon hab ich heute noch Albträume.«
Jörg Weinhold winkte ab. Er zeigte durch die Windschutzscheibe. »Da vorne fängt der Hindenburgdamm an.«
Maja lehnte sich wieder zwischen den Sitzen hindurch und hatte schon den nächsten Kommentar auf Lager: »Papa hat gesagt, Sylt wäre ’ne Insel.«
»Das stimmt auch. Früher war hier links und rechts noch Wasser zu sehen. Heute hat man gar nicht mehr das Gefühl, als würde man auf ’ne Insel fahren.«
Nach einer weiteren Viertelstunde mit Zankerei, Gestank und Versöhnung – vorbei an den Orten Morsum, Keitum und Tinnum – erreichte der Autozug den Bahnhof von Westerland. Hier ging alles deutlich schneller. Die Absperrungen waren bereits geöffnet, als der Zug ruckelnd zum Stehen kam.
»Endlich!« Jörg Weinhold klang, als könnte er es gar nicht fassen. »Wir fahren direkt zu unserer Ferienwohnung, laden aus und dann gehts ab an den Strand. Das nenne ich Urlaub, Kinder!«
Neben ihm wedelte seine Frau mit der leeren Verpackung der Feuchttücher.
»Ach ja.« Es folgte ein Lachen, das trotz eines erforderlichen Umwegs erleichtert klang. »Vorher sorgen wir noch für ’nen sauberen Pöscher und dann ab an den Strand. Einverstanden?«
Gemeinschaftliches Nicken.
»Was ist denn mit dem da los?«, fragte Martina Weinhold. »Alle vor ihm sind längst vom Zug runter.« Diese Erkenntnis untermauerten bereits mehrere unterschiedliche Hupen von weiter hinten.
An diesem Konzert beteiligte sich jetzt auch Jörg Weinhold. »Wieso fährt der Vollpfosten nicht los? Braucht der ’ne Extraeinladung, oder was?«
In der Tat machte im schwarzen SUV vor dem Familien-Van der Weinholds niemand Anstalten, wenigstens den Motor zu starten. Im VW-Bus hinter ihnen stand offensichtlich jemand auf der Hupe, oder die klemmte.
Jörg Weinhold gestikulierte wütend und streckte seinen linken Arm aus dem offenen Seitenfenster, um seinem Hintermann einen freundlichen Gruß mit ausgestrecktem Mittelfinger zu schicken. »Ich steig mal aus und seh nach, was los ist.«
»Das lässt du schön bleiben!« Seine Frau hatte ihn an der Schulter gepackt und festgehalten. »Wenn du das zu regeln versuchst, kann ich wahrscheinlich die erste Woche allein mit den Kindern auf Sylt rumhocken. Und das, während irgendein Anwalt versucht, dich aus dem Knast zu holen. Ich erledige das!«, sprach sie und hatte bereits den Türöffner in der Hand.
»Wo willst du hin, Mama?« Die kleine Maja klang ängstlich. Ihre kindlichen Instinkte signalisierten vermutlich Gefahr. »Warte, ich komm mit!«
»Untersteh dich!«, fauchte ihr Vater. Sein zorniger Blick ließ die Vierjährige glatt erstarren.
Ein paar Meter weiter vorne hatte Martina Weinhold bereits die Beifahrerseite des SUV erreicht. Sie schüttelte den Kopf, weil sie durch die getönten Seitenscheiben keinen Blick ins Wageninnere werfen konnte. Also umrundete sie mit kleinen Schritten das Luxusgefährt, denn durch die Frontscheibe dürfte wohl mehr zu sehen sein.
»Hoffentlich kommt der Kerl gleich zu Potte!«, pöbelte Jörg Weinhold wütender als je zuvor. »Wenn das deine Mutter nicht schnell regelt, dann fahr ich die blöde Kiste selbst vom Zug runter.«
»Du sollst doch nicht fluchen, Papa.«
»Jetzt kann Mama anscheinend was sehen«, erklärte der Vater ein wenig kleinlauter. »Wird Zeit, dass wir ...« Jörg Weinhold verstummte für einen Moment. Was daran lag, dass seine Frau mit offenem Mund und kreidebleichem Gesicht vor dem schwarzen SUV stand. Ihr war anzusehen, dass sie mit einer Ohnmacht kämpfte. Martina Weinhold hielt sich an der gewaltigen Motorhaube fest, sackte aber trotzdem mit jedem Atemzug weiter in sich zusammen.
Ihr Mann wirbelte zur Rückbank herum und zeigte mit dem Finger auf die kleine Maja. »Egal, was passiert: Du bleibst hier sitzen! Hast du verstanden?«
Die Vierjährige nickte vorsichtig. »Und du?«
»Ich schau mal, was mit Mama los ist.« Jörg Weinhold hatte sich zurückgedreht, von seiner Frau war nichts mehr zu sehen. »Was geht denn da ab, verdammt?«
Am darauffolgenden Montagmorgen
Hannah Lambert kam sich im Gebäude der Landespolizei Schleswig-Holstein total verloren vor. Wie immer! Die endlosen Gänge glichen einem Labyrinth. Überall Türen, doch aus keinem der Räume drang ein Geräusch bis auf den Flur. Hinter den meisten saßen hoch bezahlte Beamte, die das Leben eines richtigen Polizisten auf der Straße längst vergessen oder nie erlebt hatten.
Selbst in der obersten Etage war die Atmosphäre mit der in einem Bestattungsunternehmen vergleichbar. Dort saß Hannah mittlerweile seit zwanzig Minuten auf dem Gang und wartete darauf, dass sich vor ihr eine Tür öffnete. Dahinter saß die Sekretärin des Leiters der Landespolizei. Während Hannah noch überlegte, wie lange ihr letzter Besuch hier in Kiel zurücklag, steckte eine grauhaarige Endfünfzigerin ihren Kopf in den Flur. »Herr Hoffmann hätte jetzt Zeit für Sie.«
Hannah fragte sich, was der wohl vorher getan hatte, denn seit ihrer Ankunft hatte niemand den Raum verlassen, auch ringsum herrschte Totenstille. Doch solche Angelegenheiten gehörten wohl zu den letzten großen Rätseln der Menschheit, die geduldig auf ihre Lösung warteten.
Hannah marschierte schnurstracks an der Sekretärin vorbei und bog nach links ab. Schließlich wusste sie ganz genau, wo der Chef der Landespolizei saß. Schon als kleines Kind hatte sie in dessen Büro gehockt – damals noch zwei Etagen tiefer – und mit Autos gespielt, während ihr Vater und Gerd Hoffmann über völlig uninteressantes Zeug redeten.
»Da ist ja mein Krümel!«, jubelte der Polizeichef und schoss hinter seinem Schreibtisch empor. Diesen Spitznamen, der auf Hannahs nicht gerade stattlicher Körpergröße beruhte, hatten mit ihrem Einverständnis zeitlebens nur zwei Menschen benutzt: ihr Vater Rainer Lambert, sowie dessen ältester und bester Freund, der ihr in diesem Moment lächelnd gegenüberstand. Erfreulicherweise waren es nur die beiden, da sich solche Kosenamen mit zunehmendem Alter immer mehr zu einer Belastung entwickelten.
»Gut siehst du aus!«, schwärmte Gerd Hoffmann.
Dieses Kompliment konnte nicht ernst gemeint sein. Hannah hatte zwei Nächte kaum geschlafen. Hinzu kamen Hunger und schlechte Laune, denn dieser Besuch in Kiel sollte den Beginn einer neuen Etappe markieren, vor dem sie sich schon seit Jahren hartnäckig drückte.
Der Polizeichef wirkte inzwischen ein wenig verunsichert. »Hast du gut hergefunden?« In seiner Not umschloss er Hannah mit beiden Armen.
Die lachte zum ersten Mal und schaffte es, sich aus der albernen Umklammerung zu befreien. Sie fiel in einen der zwei Besuchersessel vor dem Schreibtisch und schlug demonstrativ die Beine übereinander. »In Kiel kann man sich gar nicht verfahren«, erklärte sie und zeigte mit Blicken auf die andere Schreibtischseite. Das war zwar unhöflich, aber zumindest eine klare Ansage in Sachen weiterer Liebkosungen, auf die sie lieber verzichten wollte.
Gerd Hoffmann hatte diesen Wink verstanden und nahm in seinem eigenen Chefsessel Platz. Die fröhliche Miene und sein Lächeln hatten jedoch keinen Deut nachgelassen. »Erzähl schon … wie gehts dir?«
Hannah winkte ab. Das sorgte im Gesicht gegenüber für einen ersten Schatten.
»Ich meine zunächst gesundheitlich«, erklärte Hoffmann übereilt. »Bist du …?«
»Mir gehts gut!«, fuhr Hannah genervt dazwischen. Sie zeigte auf einen Terminkalender, der aufgeklappt auf dem Schreibtisch lag. »Du hast mich zu einem Gespräch eingeladen. Willst du mir auch verraten, warum? Oder wollen wir lieber über Dinge reden, die man sowieso nicht ändern kann?«
Gerd Hoffmann hatte sich auch weiterhin voll im Griff. Selbst die Antwort auf diese letzte – nicht besonders nette – Frage präsentierte er grinsend: »Wie wär’s mit einem neuen Job?«
Hannah nickte und versuchte krampfhaft, so interessiert wie möglich auszusehen. Tatsächlich hätte sie am liebsten sofort die Flucht ergriffen. Um sich in ihrem neuen Zuhause – einer Zweizimmerwohnung in Hattstedt, nahe Husum – wieder unter ihrer Bettdecke zu verkrümeln. Nichts hören, nichts sehen und am besten kein Wort reden. Genau so, wie sie es in den letzten zwei Monaten seit ihrer Rückkehr aus München getan hatte.
Passend dazu fuhr Gerd Hoffmann fort: »Hab gehört, auf deiner letzten Dienststelle gabs Ärger.« Diesen Umstand wischte er mit einer Handbewegung vorerst beiseite. »Versteh ich: Ein richtiger Fischkopp kann sich südlich vom Weißwurst-Äquator gar nicht wohlfühlen. Eine wie du ist nur an der Nordseeküste richtig aufgehoben. Da gehörst du hin!«
In Hannahs Gesicht war mit viel Fantasie ein Lächeln zu erkennen. Aber auch nur, weil der Mann vor ihr als Letzter auf dieser Welt ihren Zorn verdient hatte.
Als ihre Zähne endlich bereit waren, ihre Unterlippe loszulassen, war sie wenigstens zu einer Frage imstande: »Hab ich dir meine Beförderung zur Hauptkommissarin zu verdanken – trotz der Probleme in München?«
Hoffmann schwieg, was bereits Antwort genug war.
»Ich brauche deine Hilfe nicht, um bei der Kripo Karriere zu ma...«
»Und ob du meine Hilfe brauchst!« Gerd Hoffmanns Miene verfinsterte sich. »Du willst es bestimmt nicht wahrhaben, aber mir fällt auf Anhieb keine Dienststelle ein, die dich noch freiwillig nimmt. Und falls du’s vergessen hast: Da unten in München musste ich dir seinerzeit auch in den Sattel helfen – kein Problem, hab ich gern gemacht.«
Hannah hob den Kopf und schaute ihrem großen Gönner direkt in die Augen. Ihr war nach Heulen zumute, doch dafür war dies weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Ihr Mund öffnete sich millimeterweise. »Hast du mich eingeladen, um mir das alles vorzuwerfen?«
Hoffmann schüttelte energisch den Kopf. »Ich will dir einfach nur einen neuen Job anbieten. Hast du Interesse?«
Bevor Hannah antworten konnte, flog die Bürotür auf. Zwei Atemzüge später stand die graue Vorzimmerdame neben ihr und schaute mit gekräuselter Nase auf sie hinab. Die Erklärung für den Auftritt ließ nicht lange auf sich warten: »Ihre Vermieterin hat alle hier verrückt gemacht!«
Auf beiden Seiten des Schreibtischs sorgte schon dieser erste Satz für entsprechende Verwunderung.
Hannah fischte ihr Handy aus der Hosentasche und fand vier entgangene Anrufe, die sie bei aktiviertem Flugmodus natürlich nicht mitbekommen hatte. Alle stammten von ihrer neuen Vermieterin: Erna Hansen, die schon ihr ganzes Leben lang in Hattstedt wohnte und nach dem Tod ihres Mannes viel zu viel Platz in ihrem riesigen Bauernhaus hatte. Als Polizistin musste Hannah vor zwei Monaten nicht mal eine Verdienstbescheinigung vorlegen, um den Mietvertrag zu bekommen.
»Was wollte die Vermieterin denn?«, erkundigte sich Gerd Hoffmann. Ihm war anzusehen, dass er sich amüsierte. »Brennt’s irgendwo?«
Die Sekretärin seufzte übertrieben laut. »Frau Lambert hat wohl ihre Tür nicht richtig verschlossen, weshalb ihre Katze ausbrechen konnte.«
»Was ist mit meinem Joschi?«, fragte Hannah panisch und sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Doch sie kam nicht mehr zu einer weiteren Nachfrage.
»Ein Nachbar hat ihn eingefangen«, erklärte die ergraute Eminenz unterkühlt. »Sie sollen das Tier heute Abend bei Benno abholen.«
»Bei Bruno«, korrigierte Hannah. Sie klang erleichtert und fiel zurück in ihren Sessel. »Danke!«
Gerd Hoffmann sorgte mit einer Geste dafür, dass dieses Gespräch wieder unter vier Augen stattfinden konnte. Nachdem sich die Tür zu seinem Büro geschlossen hatte, fuhr er fort: »Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden: Dieser neue Job ist möglicherweise deine letzte Chance, um überhaupt noch irgendwo richtig Fuß zu fassen. « Hannah schluckte, kam nicht mal zu einer Antwort, denn der Polizeichef sprach unverhohlen weiter. »Deine Personalakte ist ein einziges Chaos. Seit der Geschichte mit deinem Sohn reiht sich ein Fiasko ans andere und ...«
»Darüber will ich nicht reden!«, fauchte Hannah aufgebracht. »Alles, was früher passiert ist, gehört für mich ab sofort zur Vergangenheit. Klar?«
»Natürlich … wenn du es dieses Mal wirklich ernst meinst.«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?« Die Tränen, die Hannah lange Zeit hatte unterdrücken können, liefen plötzlich ungebremst ihre Wangen hinunter. »Ich hab zehn Jahre lang nach Felixʼ Vater gesucht ...«
»... und ihn nicht gefunden«, vervollständigte Hoffmann der Form halber. »Glaub mir: Ich habe auch nichts unversucht gelassen.«
Hannah winkte ab und sorgte diesbezüglich für Ruhe. Es wurde höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Was ist das für ein Job? Sucht ihr einen neuen Pförtner?«
»Der Posten wird’s beim nächsten Mal«, erwiderte Hoffmann. Dieser Themenwechsel sorgte auch bei ihm für Erleichterung. Er langte nach einer Mappe auf seinem Schreibtisch und schlug sie auf. »Wir strukturieren um. Wieder mal!«, begann er im Zuge dieser Feststellung hörbar frustriert.
»Und irgendwann landet ihr dort, wo ihr angefangen habt«, erklang der passende Kommentar.
»Sei’s drum!« Hannahs zukünftiger Chef wollte sich diesbezüglich offenbar nicht auf Diskussionen einlassen. »Ich brauche jemanden für Nordfriesland ...«
»Für ganz Nordfriesland? Worum gehts denn dabei?«
»Um Mord!« Hoffmann warf die Mappe vor sich auf den Schreibtisch. »Wie gesagt: Wir strukturieren um – deine wenigen verfügbaren Kollegen von der dortigen Kripo haben schon mit anderen Verbrechen alle Hände voll zu tun.«
Hannah schwieg und wartete geduldig auf die Fortsetzung.
Die folgte stirnrunzelnd: »Du wärst für alles zwischen St. Peter-Ording und ...«
»... Westerland zuständig«, beendete sie kopfschüttelnd. »Hast du eigentlich ’ne Ahnung, was das für mich bedeutet?«
Hoffmann nickte zwar, doch sein Mund blieb fest verschlossen.
»Wie lange hab ich Zeit, um darüber nachzudenken?« Hannahs Kopf flog hin und her. Irgendetwas behagte ihr ganz und gar nicht. »Und wann soll’s überhaupt losgehen?«
»Gestern!«
Hannahs Kopf kam nicht zur Ruhe. Ihr nächstes Fazit lieferte sie mit hochrotem Gesicht. »Weil bereits mein erster Fall auf mich wartet: Die Sache auf dem Autozug, richtig?«
Hoffmann heuchelte Verwunderung. »Du weißt davon?«
»So wie jeder, der Radio hört.« Hannah lachte gekünstelt. »Ich glaube, es gibt niemanden in Schleswig-Holstein, der das nicht mitbekommen hat.«
Gerd Hoffmann war mit den Unterlagen auf seinem Schreibtisch beschäftigt, schob die hin und her. Sein Gehabe verdeutlichte, dass er auf eine Entscheidung wartete.
»Wem wäre ich denn unterstellt?«, wollte Hannah wissen. Wobei ihre Stimme keine große Euphorie an den Tag legte.
»Dem Chef der Polizeidirektion in Flensburg und mir. Ansonsten hast du – wenn es um Mord geht – vor Ort das Sagen und kannst auch auf alle Ressourcen beim Landeskriminalamt zurückgreifen.«
Hannah nickte bedächtig und sah Hoffmann unumwunden an. »Willst du mir das wirklich antun? Ausgerechnet Sylt?«
Hoffmann wich ihrem Blick aus, lieferte aber trotzdem eine Antwort: »Vielleicht ist das deine Chance, endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen.« Für seine nächste Frage holte er tief Luft. »Wie lange hast du deinen Sohn nicht mehr gesehen?«
»Ich war zuletzt Weihnachten da. Wieso fragst du?«
Das Gesicht des Polizeichefs wies Falten auf. »Gabs wieder Streit mit deiner Mutter?«
»Was denn sonst?« Hannah klang verbittert. »Sie hat nicht mehr gelacht, seit Paps tot ist – nicht mal gelächelt.«
Hoffmanns Blick wanderte in Richtung Fensterfront und verlor sich im Nichts. Trotzdem lieferte er leise eine Erkenntnis: »Wenn dein Vater noch leben würde, dann säße er jetzt hier, auf meinem Stuhl – wäre kurz vor der Pensionierung. Ist dir das bewusst?«
»›Wenn‹!« Hannahs Augen brannten, selbst als ihre Tränen längst versiegt waren. »Wenn er noch leben würde, wäre alles anders.«
Nach diesem Satz herrschte einige Zeit Schweigen. Gerd Hoffmann erhob sich ganz vorsichtig hinter seinem Schreibtisch und stützte sich darauf ab. Seine Rechte fuhr zentimeterweise nach vorne. »Dann sind wir uns also einig, Krümel?«
Hannah hatte sich ebenfalls erhoben und langte zaghaft nach dem Angebot in Form von vier Fingern und einem Daumen. »Können wir Sylt auch ausklammern? Alles andere wäre okay, aber Sylt ...«
»Können wir nicht!« Hoffmann hielt ihre Hand fest und schüttelte sie lachend. »Glaub mir: Wenn du dich wirklich auf die Zukunft konzentrieren willst, dann musst du endlich mit deiner Vergangenheit abschließen. Daran änderst du ohnehin nichts.«
Hannah befreite ihre Hand aus der Umklammerung und machte zwei Schritte nach hinten. »Wer ist bisher für die Sache auf dem Autozug verantwortlich?«
»Die Kollegen in Niebüll. Bei denen herrschen seit Freitag ziemlich chaotische Zustände. Aber du triffst dich heute noch mit ...« Hoffmann musste erneut die Aktenmappe zur Hand nehmen. »... Kriminalkommissar Sven-Ole Friedrichsen. Netter Kerl, jung und unverbraucht.«
»Und unerfahren!«, fügte Hannah nüchtern hinzu. »Ich weiß jetzt schon, was mich erwartet. Chaos ist wahrscheinlich noch harmlos ausgedrückt. Da muss garantiert erst mal einer gründlich aufräumen.«
»Eine!«, betonte Hoffmann Buchstabe für Buchstabe. Er sah aus, als wolle er sich selbst die Schulter klopfen. »Und die Beste dafür bist du – eine Hauptkommissarin, die schon seit ihrem ersten Tag bei der Kripo fast ausschließlich mit Mord zu tun hat. Ansonsten hätte selbst ich eine solche Personalentscheidung nicht rechtfertigen können – wie auch?«
»Und nun?« Hannah stand ihrem Chef und Ersatzvater gegenüber und hob fragend die Augenbrauen, während der verschmitzt lächelte.
Hoffmann hatte schnell einen Vorschlag parat: »Am besten holst du dir dein neues Auto beim Fahrdienst ab und machst dich auf den Weg nach Niebüll. Ich hab dich nämlich spätestens für Mittag dort angekündigt.«
»Dann warst du dir deiner Sache also sicher?«
»So sicher, wie man sich sein kann«, erklang es beinahe schüchtern. Das passte überhaupt nicht zu einem gestandenen Mann und Polizeichef von sechzig Jahren. »Du bist und bleibst mein Krümel – solange ich lebe.«
Hannah beschloss, über ihren eigenen Schatten zu springen. Nach der symbolischen Landung umarmte sie Gerd Hoffmann und hauchte ihm ein »Danke!« ins Ohr.
»Lass dich nicht unterkriegen!«, sagte der, als Hannah bereits die Klinke in der Hand hatte. »Wenn du dich ein bisschen eingelebt hast, wage ich mal einen Abstecher und besuche euch auf der Insel ...«
»›Euch‹?«
Hoffmann winkte ab. »Sieh zu, dass du endlich loskommst!«
Als Hannah ihren Dienstwagen – einen nicht ganz taufrischen 3er BMW, der vorher zu einem Kollegen vom Zoll gehörte – gute zwei Stunden später vor dem Revier in Niebüll parkte, machte sich gleich ein mulmiges Gefühl in ihren Eingeweiden breit. Bis vor etwa zehn Jahren hatte sie häufig genau hier Dienst geschoben und beinahe jeden Polizisten gekannt, der in Nordfriesland unterwegs war. Mit Ende zwanzig hatte sie geheiratet und ein paar Tage vor ihrem dreißigsten Geburtstag ihren Sohn Felix zur Welt gebracht. Das Glück schien komplett zu sein. Auch wenn ihre Mutter und ihr bereits kranker Vater sie oft genug vor einem italienischen Heißsporn namens Gianni Lorenzo gewarnt hatten. Der hatte, für seine frischgebackene Ehefrau und den Traum einer kleinen Familie, einen Großteil seines Temperaments an die Kette gelegt.
Dachte Hannah zumindest. Denn wie sich herausstellte, hielt diese Kette nur vorübergehend.
Heute – mit einundvierzig und Narben auf der Seele, die nie wieder verschwinden würden – fluchte sie oft genug über sich selbst und darüber, dass sie damals nicht wenigstens auf ihren Vater gehört hatte.
Lieber nichts überstürzen! Ein Ratschlag, den Rainer Lambert seinerzeit gebetsmühlenartig heruntergeleiert hatte. Doch auch das half bei seiner Tochter nicht.
Hannah starrte auf ihre Hände. Die umklammerten das Lenkrad mit weißen Knöcheln, obwohl sie längst stand. Die altbekannte Verbitterung war im Begriff, vollständig von ihr Besitz zu ergreifen. Seit beinahe zehn Jahren gab es keinen Tag in ihrem Leben, an dem sie Gianni Lorenzo nicht verdammte. Das, was er getan und noch viel mehr das, was er gelassen hatte.
Sie schüttelte den Kopf, um diese schmerzhaften Gedanken loszuwerden. Beim Blick in den Rückspiegel erschrak sie vor sich selbst. Sollte sie mit diesem Gesicht die Wache betreten, würden die Kollegen dort vermutlich spontan Reißaus nehmen.
***
»Sie hat zugesagt.« Gerd Hoffmann klang vorsichtig, doch es schwang am Telefon auch ein wenig Genugtuung mit. »Schätze, es wird nicht lange dauern, bis sie euch zwei besucht – hoffe ich wenigstens.«
Gertrud Lambert lachte verbittert. »Meine Tochter kommt schon seit Jahren nur dann, wenn sie es absolut nicht verhindern kann.« Hannahs Mutter holte geräuschvoll Luft. »Aber trotzdem danke für deine Hilfe; glaub mir: Rainer wäre stolz auf dich.«
»Kann ich sonst noch irgendwas für euch tun?«, erkundigte sich Hoffmann. Ihm war jedoch anzuhören, dass er auf das Gegenteil hoffte. Und er lieferte auch gleich eine Erklärung dafür: »Bei uns hier ist nichts mehr, wie es mal war. Hätte Rainer das miterlebt, wäre er schreiend im Kreis gelaufen.«
Gertrud Lambert schwieg eine Weile. Erst als ihr Gesprächspartner sich räusperte, fand sie ihre Stimme wieder. »Glaubst du, Hannah schafft das wirklich?«
Auch Hoffmann ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Unser Krümel ist auf der Flucht vor sich selbst – das kann nicht funktionieren. Falls sie es endlich vollbringt, mit ihrer Vergangenheit und diesem kriminellen Italiener abzuschließen, dann hat sie eventuell ’ne Chance. Ganz egal, was sie beruflich macht.«
»Und du glaubst, ausgerechnet Mord und Totschlag helfen ihr, mit den eigenen Problemen klarzukommen?«
»Ich habe keine Ahnung, Gertrud.« Zum ersten Mal im Verlaufe dieser Unterhaltung hatte Gerd Hoffmann seine Stimme nicht mehr im Griff. »Aber was ich weiß, ist, dass deine Tochter ’ne Menge Erfahrung mitbringt, was Mord betrifft. Oder hast du etwa einen anderen Vorschlag? Soll ich sie aus der Schusslinie ziehen und ihr genug Akten auf den Schreibtisch packen, damit sie bis zur Pensionierung beschäftigt ist?«
Erneute Stille. Dieses Telefongespräch war längst beendet, es fehlten im Prinzip nur noch die üblichen Floskeln zum Abschied.
Aber Gertrud Lambert fiel doch noch eine Frage ein: »Weißt du, wann sie nach Sylt rüberkommt?«
»Ich nehme an heute! Auf eurer Insel wartet schließlich Arbeit auf sie.«
»Der Tote vom Autozug?«
»Lass gut sein!«, mahnte Hoffmann. »Und falls ich doch irgendwas für dich tun kann, dann ruf einfach an. Irgendwie bekomme ich das schon hin.«
»Wieso tust du eigentlich so viel für uns? Alles, weil Rainer ...?«
»... der beste Freund und nebenbei auch der beste Chef war, den ich je hatte! Einer, den am Ende nur der Krebs besiegen konnte.«
***
»Sie sind bestimmt Hannah, richtig?«
Die sah sich im Polizeirevier von Niebüll gleich einem jungen Mann von mindestens einem Meter neunzig gegenüber. Ein gutaussehender Bursche mit hellwachen Augen, der vor ihr stand und grinste. Trotzdem wurde es wohl Zeit für eine klare Ansage: »Hannah Lambert, Hauptkommissarin, wenn’s recht ist!«
Diese unterkühlte Vorstellung sorgte bei ihrem zukünftigen Kollegen für einen halben Schritt nach hinten. Trotzdem wanderte ihr seine Hand entgegen. »Sven-Ole Friedrichsen … angenehm, Frau Lambert.«
Hannah tadelte sich innerlich. Sie hatte gleich die erste Chance vertan, auf dem Revier zumindest einigermaßen sympathisch rüberzukommen. In der Stadt war es anders, aber hier in der Provinz duzte sich so gut wie jeder mit jedem.
Kriminalkommissar Friedrichsen stand vor ihr und lächelte nur noch gequält. Der Großteil seiner Unbekümmertheit war von einem Moment zum nächsten verflogen.
»Hannah ist schon in Ordnung«, platzte es übereilt aus ihr heraus. Und auch die Hand vor sich schüttelte sie, vielleicht ein bisschen zu energisch. »Freut mich, Sven-Ole!«
»Ole reicht ... auf dich warten unser Büro und ’ne funktionierende Kaffeemaschine.« Der junge Kollege wirkte weiterhin leicht verunsichert, zeigte jedoch einen langen Gang hinunter. »Wir sitzen ganz am Ende, mit Aussicht auf den Parkplatz.«
»Perfekt!« Hannah klatschte in die Hände, um Tatendrang zu versprühen. Danach kam sie sich selten dämlich vor, es musste also schleunigst eine halbwegs vernünftige Frage her: »Was macht denn unser erster gemeinsamer Fall? Sitzt der Täter schon hinter Schloss und Riegel?«
»Hab erst mal alles gesammelt und auf Ihren Schreibti... also, auf deinen Schreibtisch gepackt.« Ole stand noch immer mit hängenden Schultern vor seiner neuen Chefin. »Auf Sylt werden wir übrigens schon erwartet. Der Kollege von der Kripo in Westerland läuft mittlerweile Amok.«
»Das sollte er lieber lassen«, erwiderte Hannah staubtrocken. »Wir haben mit einer Leiche vorerst genug zu tun.«
Kurz darauf standen die beiden Ermittler in ihrer zukünftigen Wirkungsstätte. Die bestand aus einem Raum von fünf mal fünf Metern, zwei Schreibtischen mit Drehstühlen, ein paar unansehnlichen Regalen und einem Kaktus, der auf der Fensterbank offensichtlich schon seit Jahren ums nackte Überleben kämpfte.
»Kennst du dich mit Mord aus?«, fragte Ole, der sich auf der Kante von einem der Schreibtische niedergelassen hatte. »Ich meine, so richtig?«
»Ich hab bislang niemanden umgebracht«, erklärte Hannah und klimperte dazu albern mit den Wimpern. »Aber ich hab schon ein paar Mörder ins Gefängnis gebracht … falls du das wissen wolltest.«
Ole zeigte zum anderen Schreibtisch hinüber, auf dem sich lose Blätter und Mappen stapelten. »Ich musste am Freitag zwei, drei Entscheidungen treffen ...«
»Und zwar?« Hannah plumpste auf den Stuhl hinter dem zweiten Tisch. »Tu mir bitte einen Gefallen: Fang ganz vorne an! Alles, was ich bis jetzt weiß, hab ich aus dem Radio.« Sie machte eine Geste, mit der sie ihr fragwürdiges Halbwissen über die Schulter warf. »Ich muss bis ins kleinste Detail informiert sein!«
Oles Gesicht verzog sich nachdenklich. Mit beiden Händen wühlte er in seinem beneidenswert dichten und strohblonden Haarschopf. »Der Autozug ist letzten Freitag kurz vor Mittag in Niebüll losgefahren«, begann er dann verhältnismäßig fröhlich. »Na ja, während der Fahrt nach Westerland gabs es keine besonderen Vorkommnisse ...«
»Wenn man mal davon absieht, dass in einem SUV ein Mann saß, dem bei der Ankunft angeblich der halbe Kopf fehlte. Stimmt das?«
Ole nickte und entschuldigte sich mit verhaltenem Lächeln. »Schätze, das war ein spezielles Geschoss. Erste Bilder von der Leiche findest du in der Mappe ganz oben.« Er zeigte auf einen der Stapel, die sich vor seiner Chefin erhoben. »Präziser Kopfschuss. Die Streifenkollegen vor Ort wussten nicht, was sie tun sollten und ...«
»Wundert mich nicht!«, unterbrach Hannah. »Wo steht denn der beschlagnahmte Zug?«
»Wieso ›beschlagnahmt‹?«
Hannahs Mund stand offen. Ihre nächste Frage brachte sie nur stammelnd hervor: »Heißt das, ihr habt den Zug ...«
»... wieder fahren lassen, nachdem ein Abschlepper den SUV runtergezogen hat.« Ole gestikulierte aufgeregt. »Im Auto hat niemand was angefasst, Ehrenwort! Nur der Notarzt und die Rettungssanitäter, als sie die Leiche rausgeholt haben.«
»›Rausgeholt‹?« Hannah war anzuhören, dass sie es gar nicht glauben konnte. »Die Kollegen lassen einen Mann aus dem Wagen zerren, dem der halbe Kopf fehlt? Ist das dein Ernst?«
Ole kaute auf seiner Unterlippe herum und nickte nach einigem Zögern.
»Wer hat das angeordnet? Dafür muss doch irgendjemand verantwortlich sein!«
»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass man eine Leiche nicht ...?«
Hannah winkte ab und sorgte damit auf Seiten ihres Kollegen zunächst für Ruhe. »Wo ist sie jetzt?«
»Wer?«
»Na, die Leiche!«
»Ach so! Man hat sie ins Krankenhaus von Westerland gebracht.« Oles Stimme klang nach neuem Mut. »Dort hat ein Arzt den Totenschein unterschrieben und ich schätze ...«
»Mir reichts für den Anfang«, keuchte Hannah und lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück. Sie starrte zur Decke. Dort hingen ebenfalls und haufenweise Leichen: Zerquetschte Fliegen, die jemand zwar erlegt, aber anschließend nicht beseitigt hatte. Direkt über ihrem Kopf klebte ein fetter Brummer, dessen Augen sie sogar zu erkennen glaubte.
Bei ihrer nächsten Frage klang sie ziemlich genervt: »Ist seitdem irgendwas passiert?«
»Ich glaube, der Mörder wusste ganz genau, was bei uns ab Freitagmittag los ist. Ich hab kaum jemanden erreicht, nicht mal beim LKA – neben Wochenende ist auch Ferienzeit! Aber ich kann bei der Bahn anrufen und fragen, ob die den Zug irgendwo parken können.«
Hannah nickte, tat anerkennend. »Nachdem der seit Freitag wahrscheinlich fünfzig Mal die Strecke Westerland/Niebüll und umgekehrt hinter sich hat? Klasse Idee!«
»Und was dann?«, fragte Ole resigniert.
»Wir fahren rüber! Bevor noch jemand auf die Idee kommt und unsere Leiche verbrennen lässt, weil die der nächsten im Weg ist.«
»Hast du einen Dienstwagen? Meiner ist gerade zur Inspektion.«
Inzwischen stand Hannah neben ihrem Schreibtisch und bereute es, sich mit dem jungen Kollegen gleich auf das Du eingelassen zu haben. Einen Untergebenen per Sie zu falten, fiel deutlich leichter.
»Jetzt herrscht hier Hochsaison. Ich wette, bei der Bahnverladung ist die Hölle los«, gab Ole zu bedenken.
Hannah zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn hoch. »Mit der Fahrkarte kommen wir schnell und problemlos ans Ziel ... lass mich mal machen!«
Am Verladebahnhof in Niebüll nahm Hannah die Spur, die Bahnmitarbeitern vorbehalten war und musste vor einem der Besagten beinahe eine Vollbremsung hinlegen, weil der aufgebracht gestikulierte. Sie ließ die Scheibe herunter und hielt sofort ihren Dienstausweis aus dem Fenster. »Ich bin Hauptkommissarin Lambert und das ist mein Kollege Friedrichsen«, erklärte sie postwendend mit einem Fingerzeig zum Beifahrersitz. »Wir müssen auf den ersten Autozug, der abfährt. Und bevor Sie fragen: Es geht um den Toten von Freitag. Wir ermitteln in der Sache.«
Der Mann von der Bahn – ein Vollbartträger, der vermutlich unmittelbar vor der Rente stand – sah relativ gelassen aus. »Das kann trotzdem dauern«, erwiderte der verkappte Barbarossa. »Seit ’ner Stunde geht nix mehr … die Rampe ist im Arsch.«
»Da gehört sie ja auch nicht hin«, witzelte Ole über seine Chefin gelehnt und fing sich dafür gleich zwei giftige Blicke ein.
Doch es half nichts. Hannah ließ auch das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und stellte den Motor ab. Der August zeigte sich selbst im hohen Norden von seiner wärmsten Seite und brachte jedes Auto – besser gesagt: dessen Insassen – nach kürzester Zeit zum Kochen.
»Ich frage mich, wann sie den Mist hier endlich in den Griff bekommen«, moserte Hannah, nachdem sie und Ole schon ein paar Minuten wortlos vor einer geschlossenen Schranke warteten. Nicht weit entfernt herrschte reges Treiben. Mittlerweile hatte sich ein halbes Dutzend Bahnmitarbeiter vor der Rampe versammelt. In erster Linie waren ratlose Gesichter zu erkennen. »Bist du häufiger auf Sylt?«, fragte Hannah ihren neuen Kollegen, um mit ihm ein Gespräch anzufangen. Der Beginn des gegenseitigen Kennenlernens war nämlich alles andere als positiv verlaufen.
»Ich fahre mindestens zweimal pro Woche rüber. An den Wochenenden sowieso, um mich mit meinen Leuten zu treffen.« Ole sah sich einem fragenden Blick gegenüber und lieferte bereitwillig die Erklärung: »Wir feiern zusammen und ...«
»... seid immer auf der Suche nach dem großen Glück mit Reetdach«, vervollständigte Hannah ketzerisch. »Aber das haben die wenigsten auf der Insel gefunden. Wirft man bei den Schönen und Reichen einen Blick hinter die Fassade, wird einem nämlich angst und bange«, schob sie hinterher.
»Ist das nur ’ne Vermutung oder sprichst du da aus eigener Erfahrung?«
Zuerst nickte Hannah, dann schüttelte sie immer energischer den Kopf.
»Ich bin gerade erst fünfundzwanzig geworden«, rechtfertigte sich Ole lachend. Dabei präsentierte er ein beneidenswert weißes und makelloses Gebiss. »Wenn ich jetzt nicht lebe, wann denn dann?«
»Die Rampe bewegt sich!«, jubelte Hannah. Weiter vorne schienen auch die Bahnmitarbeiter ihren Erfolg ausgelassen zu feiern. Einer reckte beide Daumen empor und klopfte im Anschluss seinem bärtigen Kollegen, der wohl für diesen Überraschungserfolg verantwortlich zeichnete, anerkennend auf die Schulter.
Vor dem BMW öffnete sich die Schranke. Rechts hupte der Fahrer eines Mercedes und gestikulierte wild.
»Was will der denn? Wir haben hier Vorfahrt!«, stellte Ole grinsend klar.
Hannah war längst losgefahren und hupte ebenfalls. Ein Stück weiter ging es die Rampe empor auf das Oberdeck des Autozugs. An dessen Ende wartete auch ein Bahnmitarbeiter, der aussah, als wäre er gerade erst aus dem Winterschlaf erwacht.
Plötzlich verzog sich Oles Gesicht sorgenvoll. »Was ist denn, wenn wieder jemand auf den Zug schießt? Schließlich stehen wir auf der Pole-Position!«
»Wäre ein komischer Zufall«, entgegnete Hannah völlig unbekümmert.
»Aber mal ernsthaft: Es könnte doch sein, dass …«
»Dann fang lieber gleich mit deinem Nachruf an. Den sehe ich schon vor mir: Partylöwe mit Polizeimarke und Loch im Kopf.«
»Das ist nicht witzig!«, protestierte Ole. »Woher wissen wir denn, ob nicht gerade jetzt irgendwo einer lauert, der es auf seine nächste Trophäe abgesehen hat?«
»Das weiß niemand.« Hannah wirkte unverändert gelassen. Sie zeigte auf die Ermittlungsakte, die im Schoß ihres Kollegen lag. »Am besten nutzt du die Zeit bis Westerland, um mir alles über den Toten zu erzählen.«
Oles Gesicht sah zwar immer noch etwas verkrampft aus, aber der Vorschlag seiner Chefin sorgte wohl für willkommene Ablenkung. »Der sichergestellte SUV ist auf einen gewissen Doktor Jakob Rubin aus Hamburg zugelassen. Ein Notar – der wäre nächsten Monat siebzig geworden. Im Jackett des Toten haben die Kollegen eine Brieftasche gefunden, in der ein gleichlautender Ausweis steckte. Das Foto darauf und der Rest von einem Gesicht sehen sich wohl ziemlich ähnlich.«
Erneut stand Hannahs Mund offen. »Und nicht einer ist zufällig auf die Idee gekommen, jemanden von der Spurensicherung anzufordern? Könnte ja sein, dass sich an solchen Utensilien Spuren befinden, die ein Polizeimeister beim Blick durch sein verstaubtes Brennglas übersieht. Du darfst nie vergessen, dass die Ausrüstung unserer uniformierten Kavallerie aus dem Mittelalter stammt. Selbst mit viel gutem Willen kann man so nicht vernünftig arbeiten.«
»Die Spurensicherung hab ich heute Morgen gleich als Erstes alarmiert«, verteidigte sich Ole. »Ich kann aber nicht sagen, ob die schon auf der Insel sind.«
»Und wieso nicht?«
»Weil ich nicht nachgehakt hab?«, erklang es leise.
Hannah sagte nichts mehr und wischte stattdessen auf ihrem Handy herum. Es klingelte mindestens zehnmal, bevor sich ein Mann mit atemloser Stimme meldete.
»Ja?«
»Doktor ›Ja‹?«
Der Mann am anderen Ende zögerte kurz. »Bist du das, Krümel?«
In diesem Moment fiel Hannah ein, dass es noch jemanden gab, der diesen dämlichen Kosenamen kannte und ihn mit diebischer Freude nutzte. Doch es wurde Zeit für eine Reaktion: »In voller Lebensgröße und gerade auf dem Weg nach Sylt, falls es dich interessiert.«
»Aber sicherlich nicht, um dort Urlaub zu machen«, antwortete Doktor Stefan Eickhoff, der Leiter der Kieler Rechtsmedizin. »Lass mich raten: Hat das was mit dem Toten auf dem Autozug zu tun?«
»Auf den wartest du doch bestimmt schon. Oder etwa nicht?«
»Wir haben uns an das Chaos bei den Kollegen an der Nordseeküste langsam gewöhnt. Soll dein Anruf bedeuten, du bist wieder im Dienst und an vorderster Front unterwegs, wenn irgendwo ’ne Leiche auftaucht?“
»Jemand muss den Scheißjob ja machen«, war Hannahs Antwort.
»Auf jeden Fall wird es dann wieder besser«, kommentierte Doktor Eickhoff erleichtert. »Weißt du schon was Genaueres über das Opfer?«
»Wir stehen auf dem Zug und sind gerade erst in Niebüll losgefahren. Wahrscheinlich bist du besser informiert als ich.«
Kurzes Zögern am anderen Ende der Leitung. »Du rufst doch nicht nur an, um Hallo zu sagen? Ich kenne dich viel zu lange, Krümel – das würde nicht zu dir passen.«
Hannah unterrichtete ihren Kollegen mit knappen Sätzen, was bisher passiert war. Diese Ausführungen endeten mit einem vernichtenden Urteil: »Sämtliche Spuren im Auto sind vermutlich ruiniert und der Tote wurde umfangreich bewegt, als man ihn rausgeholt hat.«
»Und trotzdem erwartet man von uns, dass wir das Haar in der Suppe finden, das uns bis gestern zum Täter führt«, fügte der Rechtsmediziner mit einiger Verbitterung hinzu. »Aber noch mal: Was willst du von mir, Krümel?«
»Kannst du rüberkommen?« Hannah klang ungewohnt kleinlaut. »Der Leichnam liegt derzeit im Krankenhaus in Westerland. Ich befürchte allerdings, dass nach einer Überführung nicht allzu viel übrig wäre, was uns hilft.«
»Weißt du, wann ich zuletzt auf Sylt war? Und insbesondere, mit wem?«
Hannah brauchte nicht lange zu überlegen. »Mit mir? Dann ist das mindestens zwanzig Jahre her.«
»Dein Vater hat mich angesehen, als wollte er mich am liebsten jeden Moment erschießen. Erinnerst du dich noch?«
»Du warst damals Student! Mediziner … die konnte er halt am wenigsten leiden.«
»Wie gehts dir? Hab lange nichts von dir gehört.«
Hannah nahm allen Mut zusammen. »Können wir das nicht hier persönlich besprechen? Ehrlich, Stefan: Wir brauchen einen wie dich, ansonsten wird mein erster Mordfall gleich ein gewaltiger Schlag ins Wasser.«
»Vorher muss ich noch die Arbeit von zwei Tagen an einem halben erledigen. Ich schaffe es definitiv nicht vor morgen früh«, offenbarte Eickhoff. »Und wie ich dich kenne, hast du damit …«
»… kein Problem! Ich pass auf, dass man deinen neuen Kunden im Kühlschrank liegen lässt, bis du hier bist.«
»Ist das normal?«, fragte Ole, nachdem dieses Telefonat beendet war. »Ich meine: Man braucht bestimmt ein dickes Fell, klar – aber so über einen Toten zu reden?«
»Ist nur intern!«, hielt Hannah mit leicht genervtem Unterton entgegen. »Man darf sich nicht jeden Mord zu Herzen nehmen, sonst hält man nicht lange durch. Glaub mir!«
»Und die Angehörigen? Was ist mit denen?«
Hannah schaute nach rechts und schüttelte den Kopf. »Meinst du etwa, denen erzähle ich, dass ihr Vater, Ehemann – oder was auch immer – in ’nem Kühlschrank liegt und darauf wartet, aufgeschlitzt zu werden?«
Ole fiel in das Kopfschütteln mit ein und öffnete erneut die Akte in seinem Schoß. »Dieser Jakob Rubin hat noch als Notar praktiziert. Auf seiner Homepage steht allerdings, dass das Notariat in Kürze geschlossen wird.«
»Logisch!« Hannahs Hände lagen auf dem Lenkrad, als müsste sie auch auf dem Autozug lenken. »Du selbst hast gesagt, dass der Mann nächsten Monat siebzig wird.«
»Und was hat das damit zu tun?«
»Ganz einfach: Mit siebzig ist für einen Notar von Rechts wegen Schluss.«
Ole nickte bewundernd. »Woher weißt du so was?«
»Keine Ahnung – vielleicht Allgemeinbildung?«
»Auf jeden Fall war dieser Notar wohl häufiger auf Sylt«, fuhr Ole hektisch fort, um das Thema gepflegt zu übergehen. »In seiner Brieftasche wurde ’ne Zehnerkarte für den Autozug gefunden. Ich hab schon bei der Bahn nachgefragt. Wir müssen schließlich wissen, wann und wie oft er die benutzt hat.«
»Nicht schlecht!«, lobte Hannah ihren Kollegen. Eine Premiere! »Wenn du beim nächsten Mal den Zug beschlagnahmen lässt und eine Leiche unangerührt bleibt, könnten wir uns auf Dauer ganz gut verstehen.«
»Jeder fängt doch irgendwann mal klein an«, rechtfertigte sich Ole. »Außerdem sind die in Westerland völlig ausgeflippt, weil das Chaos dort ohnehin für stundenlange Verspätungen gesorgt hat.«
»Dafür reicht auch ein krummes Gleis oder ’ne Lok, die nicht mehr will.« Hannah zeigte nach vorne. »Wir sind gleich da. Ab sofort versuchen wir, keine weiteren Fehler zu machen. Einverstanden?«
»Und was ist mit denen, die schon passiert sind?« Ole hörte sich wie ein Schuljunge an, der etwas ausgefressen und Angst vor einem blauen Brief hatte. »Gibst du das nach oben weiter?«
Hannah drehte sich wiederum zur Seite. »Wir wollen zusammen und nicht gegeneinander arbeiten. Das merkst du dir lieber … alles andere macht nämlich von vornherein keinen Sinn.«
Eine halbe Stunde später war die Entladung in Westerland abgeschlossen. Die meisten Autos bogen in Richtung Zentrum ab, Hannah raste in die entgegengesetzte Richtung, als wollte sie Sylt gleich wieder mit dem nächsten Autozug verlassen.
»Fahr die Nächste links rein, dann sind wir schneller bei der Werkstatt«, erklärte Ole.
Doch Hannah schien ihn gar nicht zu hören. Mit fest zusammengepressten Lippen rauschte sie weiter an den Bahngleisen entlang und hätte am Ende beinahe einen Transporter gerammt, der rückwärts aus einer Ausfahrt rollte.
»Kann es sein, dass du mit Sylt und allem hier ein Problem hast? Soll ich vielleicht lieber fahren?«, erkundigte sich Ole vorsichtig.
»Ich habe kein Problem mit Sylt!«, fauchte Hannah Silbe für Silbe zurück. Sie zeigte mit hochrotem Kopf nach vorne auf den Transporter, der immer noch im Schneckentempo rückwärts rollte. »Nur mit Idioten, die nicht wissen, wo sie hinwollen.«
Von da an herrschte vorerst Stille.
Ein paar Minuten später erreichten sie die Werkstatt, in der man am Freitagabend den sichergestellten SUV abgeladen hatte. Hannah parkte ihren BMW direkt vorm Tor und stieg ohne ein Wort aus. Ole dachte kurzzeitig nach, folgte dann aber seiner Chefin mit langen Schritten und blieb mitten im Werkstatttor neben ihr stehen.
»Sag mir bitte, dass das nicht unser Wagen ist!«, flüsterte Hannah in unheilvollem Ton. Dabei zeigte sie auf einen ursprünglich schwarzen SUV, der vor lauter Schleifstaub einen beinahe hellgrauen Farbton angenommen hatte. Da die Seitenscheiben offenstanden, war davon auszugehen, dass sich der Staub auch im Inneren des Wagens großflächig verteilt hatte.
»Hamburger Kennzeichen – das wird er wohl sein«, erklärte Ole mit Grabesstimme. »Ich kann nichts dafür, ehrlich! Wo sollte der denn sonst auf die Schnelle hin?«
Hannah hatte das Reden erneut eingestellt. Sie marschierte quer durch die Halle, umrundete den SUV und blieb vor dessen Motorhaube stehen, um das Einschussloch in der Windschutzscheibe näher zu betrachten. Den genauen Eintrittswinkel des Projektils würden die Kollegen von der Kriminaltechnik ermitteln. Ansonsten dürfte sich der Wagen vermutlich als nächste Sackgasse erweisen.
Im rechten Teil der Werkstatt befand sich die Lackiererei, wo zwei Männer intensiv mit dem Abschleifen eines anderen Fahrzeugs beschäftigt waren. Die beiden trugen weiße Overalls, ihre Gesichter wurden zum größten Teil von Staubmasken verdeckt.
Ole hatte die Zeichen der Zeit erkannt und brüllte gegen die Maschinen und ein plärrendes Radio an: »Könnt ihr bitte mal für ’nen Moment aufhören?«
Zwei Exzenterschleifer verstummten beinahe zeitgleich. Einer der Männer zog die Maske hoch und platzierte sie auf der Stirn. Darunter war seine eigentliche, recht gesunde Gesichtsfarbe zu erkennen. »Was ist denn?« Der Mann zeigte auf den Wagen, an dem er und sein Kollege arbeiteten. »Der soll heute noch in den Ofen und lackiert werden.«
Hannah hatte offensichtlich schon genug von diesem verstaubten Affentheater und verließ beinahe fluchtartig die Werkstatt.
Der Arbeiter war in Oles Richtung unterwegs und holte gleich zu einer fragwürdigen Begrüßung aus: »Pass mal auf, Meister … hier wird gearbeitet! Wenn ihr Zeitungsfritzen was wollt, müsst ihr das mit dem Chef bequatschen und nicht …«
Ole hatte seinen Dienstausweis gezückt, um eine Fortsetzung dieser freundlichen Ansprache zu verhindern. »Der Meister ist von der Polizei«, schickte er grinsend zurück. Danach zeigte er auf den SUV. »Hättet ihr das Teil nicht wenigstens abdecken können? Ist das echt zu viel verlangt?«
»Beschwer dich im Büro!« Ein Fingerzeig wies eine Etage höher. »Der Boss hockt da oben und qualmt den ganzen Tag.«
Ole hatte ebenfalls genug gehört und gesehen. Hannah stand inzwischen vor dem Werkstatttor und telefonierte. Er näherte sich ihr mit vorsichtigen Schritten und trat dann mit einem letzten, beherzten in ihr Blickfeld.
»Der Wagen wird heute in Kürze abgeholt und nach Kiel zur KTU gebracht«, erklärte Hannah, nachdem das Telefonat beendet war. »Die Kollegen von der Spurensicherung konnte ich noch erreichen, bevor sie in Niebüll auf den Autozug gefahren sind. Die haben gleich umgedreht und versuchen nun herauszufinden, auf welchem Zug der SUV mitgefahren ist. Vielleicht stoßen sie ja auf etwas – aber höchstens durch Zufall.«
Ole nickte und zeigte durch das Werkstatttor nach oben. »Heißt das, du willst mit dem Chef von dem Laden hier nicht mehr reden?«
Hannah beschränkte sich auf ein Kopfschütteln.
»Und was jetzt? Fahren wir zum Krankenhaus oder reden wir zuerst mit den Leuten, die auf dem Autozug hinter dem SUV gestanden haben? Vielleicht haben die mehr gesehen und …«
»Einverstanden!«
»Womit?«
»Mit den Leuten. Um das Krankenhaus hat sich hoffentlich schon mein Freund Stefan gekümmert, damit man dort die Finger von unserem Toten lässt.«
»Stefan? Ist das der von der Rechtsmedizin in Kiel?«
Hannah war bereits auf dem Rückweg zu ihrem Dienstwagen, blieb jedoch vor der Fahrertür stehen und nahm ihren Kollegen übers Wagendach mit Blicken ins Visier. Bei ihrer Größe ein Kunststück, auf Zehenspitzen. »Er leitet den Laden und ist der beste Leichenschänder, den ich je kennen gelernt habe.«
Ole erinnerte sich an das Telefonat seiner Chefin mit diesem Wunderdoktor. »Lief da mal was zwischen euch – also, mit dir und diesem Stefan?«
Hannahs Miene verfinsterte sich. Ihr Mund klappte bereits auf.
Doch Ole kam ihr eilig zuvor: »Vergiss es! Tu einfach so, als hätte ich nicht gefragt.«
»Wir kommen aus Gelsenkirchen und fahren jedes Jahr für zwei Wochen auf die Insel«, erklärte Martina Weinhold mit schwärmerischer Stimme. »Um mal richtig Luft zu schnappen. Täglich am Strand und abends was Leckeres essen, während man dem Sonnenuntergang zusehen kann.« Sie zeigte auf ihren Mann, der bisher kaum ein Wort gesagt hatte. Im selben Moment verflog ein wenig von ihrem Frohsinn. »Jörg schimpft zwar ständig über das Zug-Chaos, aber ...«
»Kann ich verstehen«, meinte Hannah. Der stumme Ehemann bekam sogar ein Lächeln als Lohn.
Das hielt dessen Frau jedoch nicht von einer gut gelaunten Fortsetzung ab: »Wenn wir erst mal am Strand liegen, ist alles vergessen.«
»Bis zum nächsten Jahr«, fügte Ole augenzwinkernd hinzu. Im Gegensatz zu seiner Chefin hatte er das Angebot angenommen und sich auf dem einzigen Sofa der kleinen Ferienwohnung niedergelassen. Neben ihm stand ein Maxi-Cosi, in dem ein Säugling vor sich hinbrabbelte.
»Sie sind doch bestimmt nicht gekommen, um mit uns über das alljährliche Urlaubs-Wirrwarr zu reden, oder?« Diese Frage stammte von Jörg Weinhold. »Wir haben Ihren Kollegen eigentlich schon alles erzählt. Am Freitag, auf dem Bahnhof, nachdem ...«
»Am meisten interessiert mich immer dieses ›Eigentlich‹«, unterbrach Hannah. Das Lächeln hatte sich längst aus ihrem Gesicht verabschiedet. »Fangen wir am besten ganz vorne an: mit dem SUV. Haben Sie dessen Fahrer gesehen, als er vor Ihnen auf den Zug gefahren ist?«
»Ich von der Seite und nur ganz kurz«, antwortete Frau Weinhold. »Wir haben uns noch gefragt, was das für ’n Auto ist. Jörg hat’s gegoogelt.«
Und der fügte hinzu: »Als wir gewartet haben, war der Typ zum Pinkeln. Sah ganz normal aus. Schon älter und ... keine Ahnung.«
»Halten wir also fest, dass Ihnen am Fahrer nichts Besonderes aufgefallen ist«, schlussfolgerte Hannah mit ungeduldiger Stimme. Sie überlegte kurz. »Wäre es möglich, dass ursprünglich mehr als eine Person im Wagen gesessen hat?«
»Wo sollte die denn geblieben sein?«, fragte der Familienvater. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, was er von solch einer Frage hielt. »Hat sich da jemand etwa in Luft aufgelöst?«
Hannahs Mund öffnete sich bereits für eine Antwort – sicher keine Freundlichkeit –, doch Ole kam ihr zuvor: »Können Sie mit absoluter Sicherheit sagen, dass niemand sonst im SUV war?«
Die Eheleute wechselten Blicke und nickten danach energisch. »Hundertprozentig!«, schickte Martina Weinhold noch hinterher.
»Dann kommen wir mal zur Fahrt nach Westerland«, fuhr Hannah fort. »Ist Ihnen auf dem Weg hierher irgendwas aufgefallen?« Sie holte tief Luft, um sich für eine längere Erklärung vorzubereiten. »Der Mann wurde ...« Sie verstummte kurz und warf einen Blick zur kleinen Maja. Aber die war gerade erst auf den Balkon der Ferienwohnung spaziert und ordnete dort ihre sandigen Strandspielzeuge. Auf die winzige Emma musste man in Sachen Details wohl noch keine Rücksicht nehmen. »... so, wie’s aussieht, aus einiger Entfernung mit einem Präzisionsgewehr erschossen. Haben Sie vielleicht irgendwo Mündungsfeuer aufblitzen sehen? Oder jemanden, der kurz aufgetaucht und danach gleich wieder verschwunden ist? Ein Heckenschütze ist meistens unsichtbar, aber es gibt auch welche, die Fehler machen.«
Die Eheleute wechselten erneut Blicke, die mündeten aber nur in ein gemeinsames Kopfschütteln. Dieses Mal lieferte Jörg Weinhold eine Erklärung obendrauf: »Es kann doch eigentlich nur in Klanxbüll oder hier auf Sylt passiert sein. Ansonsten ist doch alles so platt, dass man morgens schon sehen kann, wer abends zum Essen kommt.« Dabei lachte er leise.
Ole schaute zu seiner Chefin, die neben der Balkontür am Fensterbrett lehnte. »Da hat er recht«, war sein Kommentar, der jedoch eine Reaktion vermissen ließ.
»Wir beide haben in den letzten Nächten kaum geschlafen«, erklärte Martina Weinhold. »Die haben mich zwar nach zwei Stunden aus dem Krankenhaus entlassen, aber ich konnte am Freitag kein Auge mehr zutun. Hab immer wieder überlegt, warum jemand so etwas Schreckliches tut.« Das Gesicht der Frau verzog sich, wirkte längst nicht mehr so unbekümmert wie kurz zuvor. »Das Ganze ist ein paar Meter vor uns passiert – ich bin nur froh, dass die Kinder nichts davon mitbekommen haben.«
»Hätte jemand aus der Nähe geschossen, dann hätten wir’s doch gesehen oder gehört«, fügte ihr Mann energisch hinzu. »Ich hab erst kapiert, was los ist, als meine Frau vor dem SUV zusammengebrochen ist.«
Hannahs Aufmerksamkeit gehörte plötzlich, warum auch immer, der winzigen Emma, die mit ihren speckigen Armen ruderte, weil sie offensichtlich aus dem Maxi-Cosi befreit werden wollte. Noch sang sie ein – für Säuglingsverhältnisse – fröhliches Lied. Aber das dürfte sich schnell ändern, wenn nicht gleich jemand ihrer gekrähten Bitte Folge leistete.
»Ich denke, wir lassen Sie jetzt lieber allein«, sagte Hannah unvermittelt. Ihre Miene hatte sich dramatisch verändert, sie sah beinahe panisch aus. »Wie lange sind Sie noch auf Sylt?«
»Diese und nächste Woche«, entgegnete Frau Weinhold. »Falls Sie uns brauchen, wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«
»Schönen Urlaub noch.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Ole und reichte den Eheleuten nacheinander die Hand. Hannah hatte längst die Tür erreicht und winkte nur auf seltsame Weise zum Abschied.
»Geht es Ihrer Kollegin gut?«, flüsterte Jörg Weinhold, nachdem die bereits im Flur vor der Tür stand.
Ole zuckte mit den Schultern. »Der Fall nimmt uns alle ziemlich mit. Ich hoffe ...«
»Das hoffen wir auch!«, fuhr ihm Martina Weinhold ins Wort. »Finden Sie den Mörder, damit man wenigstens mit ’nem guten Gefühl am Strand liegen kann. Wer weiß denn, was hier auf Sylt ansonsten noch passiert?«
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen! Wir tun, was wir können«, beruhigte Ole die Frau.
Als er kurz darauf die Ferienwohnung verließ und den langen Flur davor in Richtung Fahrstuhl marschierte, war von Hannah nichts mehr zu sehen. Er bog nach links ab und horchte ins Treppenhaus. Ebenfalls Totenstille.
Und weil sein Kreislauf eine Aufmunterung gut gebrauchen konnte, entschied er sich dafür, die vier Stockwerke nach unten per pedes zu absolvieren. Vor dem Haus angekommen, saß seine Chefin bereits hinterm Steuer ihres Dienstwagens.
Ole fiel auf den Beifahrersitz und schwieg zunächst. Hannah umklammerte das Lenkrad auf gewohnte Weise. Aus ihren Fingerknöcheln hatte sich jegliches Blut verabschiedet.
»Was war das denn eben?« Die Antwort auf Oles Frage blieb aus. Also unternahm er einen weiteren Versuch, vielleicht sogar einen gewagten Vorstoß: »Du hast doch gesagt, dass wir zusammenarbeiten wollen. Soll das auf Dauer ’ne Einbahnstraße werden oder wie stellst du dir das vor?«
Hannahs Rechte löste sich vom Lenkrad und sorgte einstweilen für Ruhe. Ihr Mund bewegte sich kaum, als sie zu reden anfing. »Na gut, du erfährst es ja ohnehin irgendwann ...«
Margarete Bruhn hatte in der Nacht von Sonntag auf Montag schlecht geschlafen, beinahe gar nicht. Eigentlich wollte sie schon am Morgen bei der Polizei anrufen, weil von Stunde zu Stunde ein schrecklicher Verdacht in ihr wuchs. Dann hatte sie beschlossen, weiterhin zu warten. Schließlich fuhren die Züge vom Festland derart unregelmäßig, dass mögliche Pläne oder Verabredungen jederzeit an der nächsten Fahrplanänderung scheitern konnten.
Aber wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätte Doktor Rubin sie doch angerufen, um sich zu entschuldigen oder seinen Besuch auf einen der nächsten Tage zu verschieben. Für Freitag hatte er sich angemeldet, seither waren schon drei Tage vergangen.
Diese Gedanken plagten die alte Frau schon seit dem Aufstehen. Mittlerweile war es Montagnachmittag und nicht mal die einzige Zigarette des Tages, die sie – zusammen mit einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee und einem Stück Torte – seit vierzig Jahren genoss, wollte ihr schmecken.
Vierzig Jahre, ging es ihr durch den Kopf. Etwa genauso lange schlug sie sich mit Sorgen herum, die ausgerechnet am heutigen Tag ihren vorläufigen Zenit erreichten. Und sie wollte sich auch nichts vormachen: Diese Sorgen würden sie erst mit ihrem letzten Atemzug endgültig loslassen. Das stand fest.
Dabei war Margarete Bruhn all die Jahre nie mehr als ein kleines Rad im Getriebe gewesen; eine einfache Schreibkraft. Zumindest hatte sie sich diesen Umstand immer wieder eingeredet, bis sie es selbst irgendwann glaubte.
Die drei Männer, für die sie bis zum Ruhestand tätig gewesen war, hatten doch auch Gutes getan?
Nicht nur, zweifelsohne.
Aber es gab auch wirklich Gutes. Dessen war sie sich sicher und dieser Aspekt schaffte es von Zeit zu Zeit, für Beruhigung zu sorgen.
Margarete Bruhn stemmte sich mühsam aus ihrem Sessel hoch. Ihr Telefon stand auf einer kleinen Kommode neben der Eingangstür und brüllte sogar von dort deutlich hörbare Aufforderungen, wenn es mal klingelte. Sie schaute zum Tisch hinunter. Ihr Tortenstück hatte sie nicht mal angerührt, vom Kaffee war noch mehr als die Hälfte übrig und ihre heilige Zigarette verglühte schon seit Minuten im Aschenbecher.
Sie wankte in Richtung Flur. Nach dem Aufstehen brauchte ihr Kreislauf grundsätzlich eine Weile, bis der halbwegs Bereitschaft signalisierte. Doch für eine beinahe Achtzigjährige durfte sich die ehemalige Sekretärin wohl kaum beschweren. Immerhin schaffte sie noch all ihre Einkäufe allein und konnte mit dem Fahrrad – zumindest an guten Tagen – von Rantum bis nach Wenningstedt radeln, um sich dort bei Gosch mit einem köstlichen Fischbrötchen für die Rückfahrt zu stärken.
Am Morgen hatte sie das Radio eingeschaltet. Eigentlich nur, um den Wetterbericht zu hören. Vergeblich, denn gleich zu Beginn war von einem vermeintlichen Todesschützen die Rede und davon, dass ein älterer Mann auf dem Autozug nach Sylt ums Leben gekommen sei. Genauere Informationen gäbe es bislang nicht. Man stünde jedoch mit der Polizei in engem Kontakt, um eventuelle Gefahren für den Rest der Bevölkerung ausschließen zu können.
Nach diesem weiteren gefühlten Schlag in die Magengrube hatte Margarete zum Telefonhörer gegriffen. Dann erschien ihr das plötzlich albern und sie verfluchte sich selbst für all die Krimis, bei denen sie abends fast permanent die Wolldecke über den Kopf ziehen musste.
Solche verrückten Geschichten passierten im richtigen Leben nicht!
Die alte Frau stand unentschlossen vor ihrer Kommode und starrte auf das Telefon. Erst als das alte mit Wählscheibe nicht mehr wollte, hatte sie sich von ihrem Nachbarn überreden lassen, eins mit Tasten zu kaufen. Dieses Luxusteil stand nun auch schon seit über zwanzig Jahren neben der Eingangstür und klingelte nur noch ganz selten.
Ihre Finger zitterten, als sie erneut nach dem Hörer griff. Während sie noch überlegte, ob sie wegen ihrer Sorgen bei der Polizei anrufen sollte, erlöste sie die Türklingel von der Notwendigkeit weiterer Gedanken.
