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Ein Roman (1906) über das Leben in Europa vor dem I. Weltkrieg. Ein junger Mann, der das Leben kennenlernen will, verliebt sich in eine verheiratete Frau. Die Ehre der Dame muss gerettet werden. Turbulenzen und Machenschaften um die Güter zwischen den deutschen und polnischen Adligen. "Hans der Pole" von Valeska Gräfin Bethusy-Huc
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Seitenzahl: 457
Veröffentlichungsjahr: 2023
Valeska Gräfin Bethusy-Huc
Hans der Pole
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Inhaltsverzeichnis
Titel
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
XXIX.
XXX.
XXXI.
XXXII.
XXXIII.
XXXIV.
XXXV.
XXXVI.
XXXVII.
XXXVIII.
XXXIX.
XXXX.
XXXXI.
XXXXII.
XXXXIII.
XXXXIV.
Anhang
Impressum neobooks
Der Wagen fuhr von der staubigen Chaussee ablenkend über einen Landweg, der von Apfelbäumen überblüht war. Unter den rosigen Zweigen grünten die Felder und dahinter stand die dunkle Wand des Kiefernwaldes, erhellt von Birken mit weißen Stämmen und zartgrünem Laube.
Hans Walsberg blickte hinüber und sah dann seinen Freund Benno Arden an, der neben ihm im Wagen saß. Ein glückliches Lächeln spielte um Hansens Mund. "Dort habe ich im vorigen Jahre einen kapitalen Bock geschossen", sagte er. "Heute gegen Abend fahren wir hinaus - es stehen noch ein paar gute Böcke dort. Und den Wald muss ich Dir zeigen!" Die Freude an der heimischen Scholle blitzte ihm aus den Augen.
"Ist Warozin eigentlich Majorat?", fragte der andere.
"Nein -"
"Nun, für Dich kann's gleich sein, Du bist der einzige Sohn - aber im Allgemeinen sollten alte Familiengüter in unserer schnelllebigen Zeit so viel als möglich zu Majoraten gemacht werden, um sie den Familien zu erhalten. Der Güterschacher nimmt so überhand!"
Das junge Gesicht Benno Ardens nahm dabei einen altklugen Ausdruck an.
"O, ich würde mich nie von Warozin trennen", rief Hans lebhaft. "Jeden Baum und jeden Steg kenne ich hier. Wenn ich auf Urlaub herkomme, ist's, als spräche jedes Ding zu mir - Du kannst Dir so etwas nicht vorstellen, Du bist ein Stadtkind -"
"Ich glaube doch, ich kann's verstehen, und ich freue mich darauf, Deine Heimat kennen zu lernen und -"
Er verschluckte den Nachsatz "und Deine Mutter", denn es fiel ihm ein, dass diese Mutter eigentlich die einzige Schattenseite seines Freundes war, eine Frau aus dem Volke, die der alte Baron Walsberg unbegreiflicherweise geheiratet hatte und die nun als Witwe auf dem Herrensitz saß und das Gut für ihren noch minderjährigen Sohn verwaltete.
Benno war mit Hans Walsberg zusammen auf der Kriegsschule gewesen, vor drei Wochen hatten sie gleichzeitig das Leutnantspatent erhalten, sie trugen dieselbe Uniform und nannten einander Freunde - Hans, weil Bennos korrekte Ausgeglichenheit ihm imponierte, Benno, weil Hans außer ihm der einzige Träger eines alten Namens im Regiment war.
"Dort hinter den Pappeln liegt der Gutshof", sagte Hans. Der Wagen fuhr an einer Gartenmauer entlang, der Duft blühenden Flieders mischte sich mit leichtem Stallgeruch. Jetzt ging es durch einen Torweg - da lag das langgestreckte Haus mit dem hohen Dach und der breiten Holzveranda. - "Willkommen daheim!" rief Hans, die Hand auf die Schulter des Freundes legend, der sich unwillkürlich ein wenig in Positur rückte.
Hansens Blick überflog den Platz vor der Veranda. Dort pflegte seine Mutter sonst zu stehen, wenn er kam. Heute war sie nicht da, auch der alte Johann fehlte - nein da kam er atemlos vom Garten her gerannt - gerade noch zu rechter Zeit, um den Wagenschlag zu öffnen.
"Untertänigst guten Morgen, gnädiger Herr!"
"'n Tag, Johann, 'n Tag - was ist denn los, Alter, bist Du krank? Wie siehst Du denn aus? Wo ist die Frau Baronin?"
Der Alte machte ein verzweifeltes Gesicht, wie einer, der weinen möchte und es nicht wagt. "Frau Baronin sind mit den Herren bei'm Ananashaus".
"Mit was für Herren?"
"Ach, der Herr Baron wissen nicht? Der Herr von Wolffen sind hier und - die anderen Herren".
Hans überhörte den Nachsatz.
"Wolffen ist mein Vormund", sagte er erklärend zu Benno, "das trifft sich schlecht - aber komm, ich will dich zunächst in Dein Zimmer führen, nachher suchen wir Mama im Garten".
Sie traten in das Haus. Gegenüber stand die Tür des Gartensaales offen. Man sah einen für mehrere Personen gedeckten Tisch mit halbgefüllten Gläsern und durcheinander geworfenen Servietten.
Hans blieb befremdet stehen.
"Wer ist noch hier?" frage er.
"Ach, bloß noch die beiden Herren von Mielosenski-"
"Wer sind denn die, was wollen die hier?"
Vom Garten her klangen Stimmen.
Eine stattliche Frau in mittleren Jahren kam eilig die Stufen der Veranda herauf und eilte auf Hans zu.
"Mein Hans, mein lieber Sohn!" Sie schlang beide Arme um Hans und küsste ihn mit einer wilden Zärtlichkeit.
"Du triffst es schlecht, aber ich werde Dir alles erklären, alles - ", sie bemerkte Benno und wandte sich an ihn.
"Es tut mir leid, dass Sie es heute so unordentlich finden, so alles durcheinander", sagte sie, und dann wieder zu Hans gewendet: "Wie ich Dir den Wagen schickte, wusste ich nicht, dass der Wolffen und die anderen gerade heute kommen würden - auf einmal waren sie da, ich kann nichts dafür".
"Aber Mama, erkläre mir nur, was ist es denn mit diesen Leuten?"
"Alles wirst Du wissen, alles, alles - ach, da sind sie schon - "
Herr von Wolffen kam, von zwei Herren gefolgt. In wunderlich gehaltener Weise begrüßte er seinen Mündel, so etwa, wie man einander bei einem Kranken begegnet, der äußere Schonung erfordert; die verschiedenen Herren wurden vorgestellt, ohne dass sie wussten, was sie auseinander machen sollten, und in die nichtssagenden Begrüßungen hinein klang auf einmal ein lauter, unartikulierter Ton, wie ein Aufschluchzen, und der alte Johann rannte zur Haustür hinaus, die Stufen der Veranda hinab, dass Hans ihm entsetzt nachstarrte.
"Lass ihn", sagte seine Mutter, "er ist schon alt, er ist wie ein Kind - geh' jetzt in Dein Zimmer mit Deinem Freunde, gehe, ich werde Dir nachher alles sagen!"
"Ja, gehe nur jetzt", sagte Herr von Wolffen hinzu, "aber es ist gut, dass Du gerade heut kommst, denn es ist ein wichtiger, entscheidungsvoller Tag für uns alle!"
Hans sah von einem zum andern hin. Eine tiefe Falte stand auf seiner jungen glatten Stirn.
"Ich verstehe Euch nicht", sagte er, "aber wenn es etwas Schweres ist, das ich erfahren soll, so bitte ich Euch, es mir zu sagen - ich bin kein Kind, das der Schonung bedarf, und Herr von Arden ist hier mein Freund, ihr dürft offen vor ihm sprechen, also, ich bitte Dich, Mama, sprich!"
"Ach Gott, mein Sohn, mein liebes Kind, es ist ja noch nicht ganz bestimmt - man kann es ja noch nicht sagen" -
"Ich bitte in der Kanzlei einzutreten", damit öffnete Herr von Wolffen eine Tür um gleich darauf mit den beiden Fremden hinter derselben zu verschwinden. "Mutter!" wiederholte Hans bittend, die Hand der Frau ergreifend.
"Ich kann nichts dafür Hans", sagte sie in Weinen ausbrechend, "aber die beiden Herren sind hier, um sich Warozin anzusehen - sie bietten einen guten Preis" -
"Einen Preis? Einen Preis für Warozin!", schrie Hans auf. Mutter, dafür gibt's keinen Preis, Warozin gehört mir, ich trenne mich nie davon, hörst Du, nie, nie -"
Benno Arden war an die Glastür getreten und blickte in den Park hinaus. Weder Hans noch seine Mutter achteten auf ihn.
"Ach mein lieber Sohn, Du weißt ja nicht alles, es ist zu schrecklich, Deine arme Mutter hat zu viel gelitten - so viel -" ihre Stimme erstarb in Schluchzen. Hans stand ihr einen Augenblick fassungslos gegenüber. Dann erinnerte er sich plötzlich Benno Ardens. Mit einer hastigen Bewegung wandte er sich nach ihm um.
"Komm", sagte er mit veränderter Stimme, "es tut mir leid, dass Du es so triffst - ich sehe ja noch nicht klar - aber zunächst können wir doch nicht alle im Korridor bleiben - ich begleite Dich!"
"Ich fürchte, ich bin hier sehr ungelegen", erwiderte Benno in ersichtlicher Verlegenheit. "Erlaube, dass ich den nächsten Zug benutze - - "
"Nein, erst muss ich genau wissen, was hier vorgeht - bitte, komme mit mir ins Fremdenzimmer, das jedenfalls für Dich zurechtgemacht ist und dort werde ich Dir in spätestens einer halben Stunde Bescheid bringen".
"Lasse mich Dich lieber im Garten erwarten, ich sehe dort einen schönen Platz unter der Linde -"
"Gut, wie Du willst".
Benno entfernte sich. Hans kehrte zu seiner Mutter zurück, die, beide Elenbogen auf das Treppengeländer stützend, das Gesicht in ihre Hände vergraben, bitterlich weinte.
Er umfasste sie.
"Mutter, was ist geschehen?"
Sie hob den Kopf und fasste mit beiden Händen das Treppengeländer, als wolle sie es zerbrechen.
"Gequält haben sie mich, der Vormund und der Inspektor, immerzu, immerzu! Ich wollte nicht, dass sie Dich auch quälen sollten, Du solltest glücklich sein, was brauchtest Du auch zu wissen, dass es schlecht hier stand, Du konntest es doch nicht ändern. Aber jetzt, wo Du Offizier bist, wollte der Vormund es Dir sagen - wir standen vor der Subhastation oder vor dem Verkauf an die Landbank, die so wenig zahlen wollte. Da kamen diese Mielosenskis - wie die Engel vom Himmel kamen sie - und sie wollten so viel bezahlen, dass uns noch ein Vermögen von 300 000 Mark übrig bleiben wird - wie soll man denn da "nein" sagen? Wenn Warozin subhastiert wird, sind wir Bettler!"
Totenblass mit fest aufeinander gepressten Lippen stand Hans neben ihr.
"So stand es - und ich - ich ahnte nichts" - murmelte er. Die Frau fing wieder an zu weinen.
"Ach Du Lieber Du - Du warst ja noch ein Kind mit Deinen 20 Jahren, warum sollte man Dir das Leben schwer machen", stieß sie hervor.
Mit seinen 20 Jahren! War er wirklich noch so jung? Und hatte er wirklich wie ein rechtes Kind immer nur in den Tag hinein gelebt in dem Bewusstsein, dass es um den väterlichen Besitz zwar nicht glänzend stand, dass es aber doch ein schönes Gut sei, das er einmal übernehmen und dann zu ungeahnter Blüte heraufbringen würde? Das alles erschien ihm jetzt so unmöglich, so ganz unwahrscheinlich - ihm war, als sei er plötzlich alt geworden, so alt, dass aller Jugendfrohsinn ihm wie ein fernliegender, für alle Zeiten zerstörter Traum erschien.
"Subhastiert - subhastiert sollte Warozin werden - und ich wusste nichts!" wiederholt er.
Sie dachte nur daran, sich vor ihm zu rechtfertigen.
"Wir hätten es Dir ja diesmal gesagt - der Vormund und ich, wir hatten es schon besprochen. Die Subhastation hätte doch erst in einem halben Jahre oder so herum stattgefunden. Da solltest Du noch einmal froh sein in Warozin, und als Du schriebst, Du brächtest noch einen Freund mit, das dachte ich: es ist gut, er soll noch einen schönen Tag haben mit seinem Freunde - der Vormund sollte erst übermorgen kommen - da war noch Zeit genug zum Weinen und zum Traurig sein, und Dein Freund wäre vorher abgereist und hätte nichts schlimmes gehört. Da kommt der Wolffen vor drei Stunden hier an mit den Käufern - ich denke, der Schlag rührt mich! Aber es ist doch gut, Hans, es ist doch gut für uns - bloß dass Du nichts gewusst hast, und wie Du so blass und erschrocken ausgesehen hast, das hat mich verrückt gemacht, Hans, und mir ist der Kopf so wirr, siehst Du, und dass Du nun nicht noch den einen schönen Tag haben solltest - - "
Hans unterbrach sie.
"Wenn sie erst vor drei Stunden gekommen sind, dann haben sie es doch noch nicht gekauft, dann kann noch alles rückgängig gemacht werden -"
Sie trocknete ihre Tränen und sah ihn mit großen, erstaunten Augen an.
"Rückgängig? Aber es ist ja so ein großes Glück Hans -"
"Ein Glück, das mir fast das Herz bricht, Mutter, und über das Du heiße Tränen weinst -"
"Ach Hanitschko, ich weine doch bloß über Dich, wie es Dir so weh tut, und auch weil das alles so schnell kommt, und ich bin doch seit 21 Jahren hier in Warozin und habe Dich hier geboren, und Du bist doch mein ganzes Glück und mein einziges, was ich auf der Welt habe!"
Sie fing wieder an zu weinen, und Hans strich unwillkürlich wie tröstend über ihren braunen Scheitel, aus dem sich ein paar widerspenstige rötlich schimmernde Löckchen stahlen, und ihm war zu Mute, als sei er in diesem Augenblicke viel älter als seine Mutter.
"Ich gehe jetzt zum Vormund", sagte er und schritt der Kanzlei zu, in die vorher Herr von Wolffen mit den beiden Fremden eingetreten war.
"Tu's nicht, tu's nicht, Hanitschko, es nutzt ja doch nichts", rief sie ihm nach. Aber er war schon hinter der Tür verschwunden. In der Kanzlei saß Herr von Wolffen am Schreibtisch, und die beiden anderen saßen ihm gegenüber. Bei Hansens Eintritt sahen sie alle auf, wie Leute, die bei einer wichtigen Sache unliebsam gestört werden. Aber ehe Herr von Wolffen das tadelnde Wort, das er offenbar auf den Lippen hatte, aussprechen konnte, stellte Hans die Situation klar, indem er sagte:
"Wenn hier von Verkauf von Warozin die Rede ist, so denke ich, dass ich als Erbe und künftiger Besitzer dabei sein muss".
Herr von Wolffen rückte seinen Kneifer gerade.
War denn das das Kind in Kadettenuniform, das er bisher gekannt und mit leichter Mühe bevormundet hatte?
"Mein lieber Hans, das Leben bringt eben noch andere Konflikte mit sich, als man sie im Kadettenkorps kennen lernt, ich habe es daher für überflüssig gehalten, Deine Jugend vorzeitig mit Dingen zu beunruhigen, die noch nicht spruchreif waren. Wenn Du an unserer Verhandlung Teil zu nehmen wünschest, so wird das die Sache weder für Dich noch für uns erleichtern".
Hansens Wangen brannten.
"Ich habe im Kadettenkorps allerdings keine anderen praktischen Einblicke ins Leben gewinnen können als die, die mit dem Dienst zusammenhingen", sagte er, "aber ich werde suchen das zu verstehen, was Du mir sagen wirst, Onkel Wolffen. Weshalb ist von einem Verkauf von Warozin überhaupt die Rede?"
Herr von Wolffen zuckte die Achseln. Er nahm eins der dickleibigen Rechnungsbücher, die vor ihm lagen, und schob es Hans hin.
"Wenn Du das durchsehen willst, wirst Du Dir selbst die Antwort auf Deine Frage geben können", sagte er.
Da erhob sich der ältere der Herren von Mielosenski, ein schmächtiger Mann mit einem feinen, blassen Gesicht.
"Es tut mir sehr leid, Herr von Walsberg, dass wir Ihnen Kummer bereiten", sagte er, an Hans herantretend, und mit einem leichten Lächeln Herrn von Wolffen streifend, fügte er hinzu: "Und ich begreife auch, dass die Interpellation des jungen Herrn Ihnen gerade in unserer Gegenwart einige Verlegenheit bereitet, mein verehrte Herr von Wolffen. Aber ich möchte zugleich Ihnen beiden sagen: mein Bruder und ich, wir sind genau orientiert über die missliche Lage, in der sich die Verwaltung von Warozin befindet, wir wissen, dass das Gut überschuldet ist, dass Meliorationen notwendig sind und Barmittel bei dem erschöpften Kredit nicht zu beschaffen sind. Wenn wir trotzdem ein gutes Gebot machen, so geschah das in der Überzeugung, dass Warozin diesen Preis wert ist. Wir sind nicht gesonnen, aus Ihrer momentanen Verlegenheit Nutzen zu ziehen und den Preis zu drücken. Sie können daher auch in unserer Gegenwart diesem jungen Herrn offen sagen, dass Sie das Gut unter keinen Umständen mehr zu halten vermögen".
"Ich kann Ihnen leider nicht widersprechen", sagte Herr von Wolffen, "Du hörst damit in kurzen Worten, wie es steht - - "
"Aber ist es denn ausgeschlossen, dass die ganze Arbeitskraft eines jungen Menschen hier Wandel schaffen könnte?" rief Hans. "Ich bin bereit, sofort den Abschied zu nehmen und wie ein Tagelöhner zu leben und zu arbeiten -"
Herr von Mielosenski trat mit ausgestreckten Händen auf ihn zu.
"Lassen Sie mich Ihre Hände drücken, Herr von Walsberg, wenn ich einen Sohn hätte, ich wünschte ihn mir nicht anders, als Sie sind, und mein Herz blutet, dass gerade ich es sein muss, der Ihnen das Erbe Ihrer Väter entreißen will!"
Seine Augen schimmerten feucht, er sprach ein paar Worte in polnischer Sprache zu seinem Begleiter, auch dieser erhob sich und trat an Hans heran.
"Glauben Sie auch mir, dass ich ganz mit Ihnen fühle, Herr von Walsberg, es ist ein schweres Schicksal, und wir bitten Sie, uns nicht zu zürnen wegen einer Sache, die zu ändern weder in Ihrer noch in unserer Macht steht".
"Ich kann das aber nicht glauben, dass es so hoffnungslos steht", rief Hans, "ich bitte Sie, mir Zeit zu lassen, mich wenigstens persönlich genau zu informieren -"
Wieder wechselten die Mielosenskis einige Worte in polnischer Sprache, während Herr von Wolffen heftig auf seinen Neffen einsprach.
"Willst Du die einzige Chance, die sich noch bietet, vorübergehen lassen, dann lege ich die Vormundschaft nieder, dann macht, was Ihr wollt".
Der ältere Mielosenski trat zwischen sie.
"Was Herr von Walsberg verlangt ist nicht mehr als recht und billig", sagte er, "mein Bruder und ich sind einverstanden damit, dass der junge Herr erst in alles Einsicht nimmt. Wir werden in drei Tagen wiederkommen und hoffen dann bestimmt die Angelegenheit zum Abschlusse zu bringen mit der vollen Zustimmung des Herrn von Walsberg, dem wir die Berechtigung zuerkennen, in dieser Sache entscheidend mitzusprechen".
Als kurze Zeit darauf der Wagen mit den beiden Mielosenskis von der Rampe rollte, sagte Herr von Wolffen zu seinem Mündel: "Na, wenn nun aus der ganzen Sache nichts wird, dann kannst Du und Deine Mutter betteln gehen - aber ich wasche meine Hände in Unschuld!"
Vierundzwanzig Stunden später wusste Hans, dass ihm nichts anders übrig blieb als der Verkauf. Er hatte Rechnungsbücher und Wirtschaftsbeläge fast die ganze Nacht hindurch studiert, bis vor seinen, in solchen Dingen ungeübten Augen Zahlen und Worte in wirrem Durcheinander verschwammen. Er hatte lange Unterredungen mit Herrn von Wolffen und den Beamten gehabt, hatte dann wieder studiert und gerechnet - und nun wusste er genau, wie schlecht es um Warozin stand.
Benno Arden war abgereist, Herr von Wolffen ebenfalls. Hans ließ ein Pferd satteln und ritt mit heißem Kopf und schwerem Herzen hinaus, dem Walde zu. Noch einmal wollte er dort unter seinen Bäumen auf seinem Grund und Boden stehen, Abschied nehmen - Abschied nehmen! Die Augen wurden ihm feucht dabei. Rotgoldene Sonnenlichter lagen über dem grünen Kleefeld, an dem der Feldweg entlang führte. Und so üppig stand der Klee, so recht zur Freude des Landmanns. Dort am Rande des Waldes waren Rehe herausgetreten und ästen ruhig weiter, als wüssten sie, dass ihnen heut von dort her keine Gefahr drohte. Jetzt nahm der Wald den Reiter auf. Langsam ging das Pferd über den moosigen Weg. Hinter den Bäumen und Büschen war es Hans, als lugten liebe Augen nach ihm aus - Kindheits- und Jugenderinnerungen drängten sich um ihn, und die Zweige raunten und die Vogelstimmen im Walde riefen: Weißt Du noch, erinnerst Du Dich?
Ja, ja er kannte sie alle. Hier hatte er seinen Vater auf einer Pirschfahrt begleitet, dort hatte er den ersten Hasen, dort den ersten Bock geschossen. Unter den Eichen am Wiesenrande war der Zauber der Waldeinsamkeit ihm zum ersten Male zum Bewusstsein gekommen, und auf dem Wege zwischen den Fichten hatte der alte Waldhüter ihm Schmugglergeschichten erzählt. Unwillkürlich schlug er den Weg zu dem ganz von Holz erbauten Waldhüterhause ein, das verloren am Wiesenrande unter uralten Eichen stand; aber auf halbem Wege wandte er sein Pferd. Nein, er konnte den Mann jetzt nicht sehen - was sollte er ihm sagen? Wie sollte jener, der im Laufe der Zeiten selbst wie ein Teil seines Waldes geworden war, es verstehen, dass der "junge Herr" nicht für alle Zeit sein Herr und Herr des Waldes hier bleiben sollte? Hans ritt am Wiesenrande hin und bog in den Weg ein, der durch die Schonung führte. Er erinnerte sich, als Kind gesehen zu haben, wie sie gepflanzt wurde. Jetzt waren die Kiefern ihm schon über den Kopf gewachsen, und auf ihren dunklen Zweigen standen die jungen lichtgrünen Triebe wie Kerzen, die sie zu freudigem Empfange dem Herrn des Waldes entgegenstreckten. Dem Herrn des Waldes! Morgen oder übermorgen kamen die Mielosenskis.
Unter einer der hohen Samenkiefern, die die Schonung überragte, war eine halbzerfallene Moosbank. Hans stieg vom Pferde, strich über den glänzenden Hals des Tieres und warf ihm die Zügel über den Kopf.
"Bleib' hier, Schwarzer", sagte er. Und das Pferd senkte den Kopf und knabberte an den Gräsern auf dem Wege, als habe es verstanden, dass es galt, hier zu rasten. Sie kannten einander ja schon von der Fohlenkoppel her - und sie waren immer gute Kameraden gewesen, der "junge Herr" und der Schwarze. Hans setzte sich auf die Moosbank und sah dem Pferde zu.
Von dem musste er sich nun auch trennen! Eine halb entwurzelte junge Fichte stand am Wege. Noch trugen ihre Zweige die lichtgrünen Maitriebe - aber Luft und Sonne würden die bloßliegenden Wurzeln austrocknen, und dann musste sie zugrunde gehen.
"Das ist mein Bild", murmelte Hans, "die Wurzeln der heimischen Scholle entrissen, dem Untergange geweiht" - er stützte den Kopf in die Hände, und schloss die Augen. Das Leben schien ihm so wertlos!
Aus dem Forst tönte das Gurren der wilden Tauben. In den Büschen am Wiesenrande begannen die Nachtigallen zu locken. Wie das alles Hans an seine Kindheit erinnerte! Vor seiner Seele stand die Gestalt seines Vaters, wie er ihn zuletzt hier an dieser selben Stelle gesehen hatte - kraftvoll und lebensvoll. Hans war ein zehnjähriger Junge. Ein Förster machte damals seinem Vater irgendwelche Vorstellungen; und durch den Nebel der Vergangenheit hindurch hörte Hans die Stimme seines Vaters, die längst für immer verstummt war, antworten: "Ach was, ich pfeife drauf! Ich tue, was ich will, auf alles andere pfeif' ich!". Und dann hörte er plötzlich das leise heimliche Lachen seiner Mutter. Sie lachte und sang nur, wenn sie mit Hans allein war. In Gegenwart des Vaters duckte sie sich, wie ein scheuer Vogel. Was hatte Hans doch für eine sonderbare Kindheit gehabt zwischen diesen beiden Menschen, die nichts Gemeinsames zu verbinden schien. Warum hatten sie sich geheiratet - warum musste Hans ins Leben gesetzt werden - wozu war denn sein Leben nütze? Wenn er Warozin daraus ausstrich - was sollte er noch? Wäre es nicht besser, nicht zu sein? Wie der Gedanke ihn lockte! Hier unter den Bäumen, umtönt von all den vertrauten, lieben Waldstimmen auslöschen - nicht mehr denken, nicht mehr leiden. - Freilich - die Mutter war noch da; aber sie freute sich ja so über das Geld, das nach dem Verkauf übrig blieb. Trotz garte in Ihm auf. - Mochte sie doch das ganze Geld haben, allein für sich - sie würde sich schon trösten!
Etwas Warmes, Weiches berührte seinen Kopf. Hans fuhr auf. Der Schwarze stand vor ihm, beschnupperte ihn und sah ihm mit großen braunen Augen ins Gesicht, als habe die Regungslosigkeit seines Herrn ihn beunruhigt. Auf den Waldwipfeln lag der letzte Goldglanz des Abends, und der Frühlingshimmel spannte sich lichtblau verheißungsvoll darüber aus.
O Gott, es war doch schön, das alles!
Hans atmete tief auf; und plötzlich griff er nach einem breiten Holzscheit, das am Wege lag und begann die losen Wurzeln der Fichte in den weichen Waldboden einzugraben. Dann richtet er das Bäumchen gerade und stampfte den Boden mit den Füssen fest.
"Dir konnte ich noch gerade helfen", murmelte er - und er freute sich, dass der junge Baum nun wieder fest stand, und der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass er in zehn Jahren wohl wiederkommen und nachsehen könnte, was aus seinem Pflegling geworden sei. Dabei zerflatterten ihm die Todesgedanken wie Nebel, er fühlte das warme Leben in seiner Hand, die soeben das Leben der Fichte erhalten hatte, fühlte, dass es eine Lust war, die Waldluft zu atmen, dem Wipfelrauschen und Vogelstimmen zu lauschen - zu leben und jung zu sein.
"Vielleicht zerschlägt sich der Verkauf doch noch", dachte er "oder ich komme noch einmal hierher zurück - irgendwo wartet das Glück vielleicht auf mich und kommt und setzt mich auch wieder in den Boden ein, aus dem sie mich jetzt herausreißen".
Er wandte sich dem Pferde zu.
"Komm, Schwarzer, wir wollen nach Hause reiten!"
Als Hans den Hof erreichte, sah er seine Mutter mit dem Dorfschullehrer vor der Veranda stehen.
"Hanuschko!" rief sie ihm zu, "komm' und höre einmal den Rektor an, ich möchte wissen, was Du dazu meinst".
Der Rektor näherte sich Hans in einer Haltung, die einen Grad unterwürfiger war, als die, die er seiner Mutter gegenüber angenommen hatte.
"Ich wollte sehr gebeten haben, ob die Herrschaften nicht möchten an dem "Elternabende" teil nehmen, den wir morgen veranstalten, Herr Baron".
Hans stieg vom Pferde und reichte dem "Rektor" die Hand.
"Wir sind nicht in der Stimmung Festlichkeiten mitzumachen, Herr Rektor".
"Ach Gott, Herr Baron, ein Vergnügen ist so ein "Elternabend" ja für niemand, und uns wird's auch schwer genug, denn wir verlieren zwei Nachmittage in der Schule mit den Vorbereitungen, und Geld kostet's auch noch - aber die Regierung verlangt's doch einmal von uns Lehrern -"
"Es ist auch ganz hübsch, Hanuschko", fiel Hansens Mutter ein. "Die Kinder sagen da Geschichte und führen ein Stück auf, und die Eltern sehen zu".
"Ja, was hat denn aber die Regierung damit zu tun?" fragte Hans, und der Rektor erklärte:
"Es ist ja wegen dem Deutschtum! Zur Pflege des Deutschtums müssen wir so was machen - und man kommt als Lehrer in einen schlechten Ruf, wenn man's nicht tut. Ich halte ja gar nichts davon, denn die Kinder werden da bloß herausgeputzt und dressiert und Eitelkeit und Missgunst wird unter ihnen erregt, gerade so wie unter den Eltern, und acht Tage lang haben die Kinder und die jüngeren Lehrer auf nichts anderes die Gedanken als auf den Unsinn. Aber was soll ich machen? Ich will doch nicht in schlechten Ruf kommen. Und nun reden ja die Leute, dass Warozin soll an die Polnische Banka Ludovie verkauft werden".
"Wer redet davon?" rief Hans dazwischen.
"Nehmen nicht übel, Herr Baron, aber im Kretscham ist schon seit acht Tagen die Rede davon -"
"Das ist gelogen, wir verkaufen nicht an die Banka Ludovie!" schrie Frau von Walsberg entrüstet; "wenn wir überhaupt verkaufen, so ist's an einen deutschen Herrn Landgerichtsrat."
"Ich bitte nicht übel zu nehmen, aber ich dachte mir, dass vielleicht gerade die Frau Baronin möchte zu dem "Elternabend" kommen als deutsche Edelfrau - "
Frau von Walsberg lachte.
"Nu, was werde ich denn nicht eine deutsche Frau sein", sagte sie. "Lebe ich doch hier über der deutschen Grenze, bin ich doch natürlich eine Deutsche und Mutter von deutschem Offizier! Wer ist denn so dumm, dass er denkt, ich bin nicht eine Deutsche?"
"Ich denke, wir geben einen kleinen Beitrag, Mutter", mischte sich Hans darein, "und damit ist die Sache wohl abgemacht, Herr Rektor."
"Ganz wie die Herrschaften befehlen - ich dachte mir, es wäre doch meine Pflicht - -"
"Schon gut, lieber Rektor" - Hans zog sein Portemonnaie und reichte dem Rektor drei Mark.
"Da für Kuchen, für die Kinder - adieu, lieber Herr Rektor!"
Als Hans neben seiner Mutter die Veranda durchschritt, sagte diese:
"Eigentlich schade, Hanuschko, dass Du nicht hingehen willst, so was ist doch lustig und eine Abwechslung:"
"Es war eine Unverschämtheit von dem Rektor, darauf anzuspielen, dass Du Dich als Deutsche dokumentieren solltest", erwiderte Hans erregt.
Sie lachte.
"Ach, die Leute sind ja dumm mit ihrer Wirtschaft jetzt, ob deutsch oder polnisch! Die Kinder müssen doch Deutsch lernen, sonst können sie ja hier nichts werden, und zu was ist denn die Grenze? Wenn eins hier lebt und hat sein Auskommen - da ist er deutsch! Und wenn einer in Polen bleibt, wie mein Bruder Stasch, und er hat dort sein gutes Auskommen, da ist er Pole! Ich weiß nicht, warum sie da erst so viel Gerede machen." Im Hausflur trat ihnen der alte Johann entgegen, ein Telegramm in der Hand haltend.
"Jesus Maria, gewiss von den Mielosenskis!" rief Frau von Walsberg, die Depesche öffnend. Dann sah sie erstaunt ihren Sohn an.
"Denke Dir, der Stasch telegraphiert, dass er heute Abend kommt, und ich solle ihn von der Bahn holen lassen. Gerade wie ich von ihm spreche, dass er sein gutes Auskommen hat, da telegraphiert er! Da ist gewiss etwas passiert!" Hans schwieg. Er hatte diesen Onkel, der eine Oberinspektor-Stelle in Polen bekleidete, nur einmal flüchtig gesehen, erinnerte sich aber seiner mit einem Gefühl der Animosität, das er nicht begründen, oder auch nicht überwinden konnte. Frau von Walsberg eilte in die Wirtschaftsräume, um ihre Anordnungen für den Besuch ihres Bruders zu treffen. Hans hatte die dumpfe Empfindung, als bedecke der Himmel über ihm sich mit unheilschwerem Gewölk. Er durchschritt das Haus und trat hinaus in den etwas verwilderten Park, um den der Maiabend seine Zauber spann. Unter alten Linden führte der Weg bis zu dem von dunklen Zypressen umstandenen Platze, auf dem inmitten des Parkschattens die Familiengräber lagen. Eine Bank stand dort zu Füßen des Grabes von Hansens Vater. Frau von Walsberg vermied den Platz, aber Hans suchte ihn auf, so oft er in Warozin war. Hans fühlte die Liebe seiner Mutter mit dankbarer Rührung - aber er fühlte auch von Jahr zu Jahr stärker, dass kein rechtes Verstehen, kein innerer Zusammenhang zwischen ihr und ihm war. Umso inniger wandten seine Gedanken sich dem früh verstorbenen Vater zu, und er suchte sich sein Bild klar und verständnisvoll zu vergegenwärtigen. Dabei war es eine Frage, die immer wieder quälend in ihm auftauchte. Wie war es gekommen, dass dieser Mann, aus dessen nachgelassenen Briefen ein hochgebildeter, wenn auch eigenwilliger und eigenartiger Geist sprach, wie war es zugegangen, dass er ein "Mädchen aus dem Volke" heiratete? Hans wusste, dass seine Mutter nach Warozin gekommen war, um dort die Wirtschaft zu führen. Sein Vater war damals 45 Jahre alt gewesen, ein reifer Mann, der wahrscheinlich mancherlei erlebt, sicher viel nachgedacht und nach unruhigen Reisejahren ein Einsiedlerleben in Warozin geführt hatte. Hans blickte auf den efeuumsponnenen Hügel hinab. Würde ihm jemals eine Antwort werden auf die Frage, die über sein Dasein entschieden hatte? Die stolze, schwerblütige Art des Vaters und der leichte stets im Augenblick wurzelnde Sinn der Mutter - er fühlte beides in sich nachklingen, und die Disharmonie beider Eigenarten spiegelte sich in seinem eigenen Empfinden. Sein bewusstes "Ich" strebte dem Vater nach, aber daneben lebte etwas in ihm, das die Impulse der Mutter in seinem Blute vibrieren ließ. Eine Fledermaus huschte in lautlosem Fluge vorüber und berührte seine Stirn mit ihren Flügeln. Er schauerte zusammen. Es rauschte über ihm in den Lindenzweigen wie geheimnisvolle Stimmen. Hans warf sich auf den Efeu des Grabes.
"Vater - was soll denn werden - was soll denn werden?"
Und während er sich quälte um die dunkle Zukunft mit seinem unruhigen Herzen, ging in ewiger Schönheit die Mainacht mit leisen Schritten durch den Park und ließ Bäume und Blumen, Käfer und Vögel träumen von Leben und Blühen, von Werden und Freuen.
Drei Tage darauf stand in der "Ostdeutschen Nationalzeitung" zu lesen:
"Wieder ein Gutsverkauf an die Polen! Das Rittergut Warozin, 550 Morgen, 10 800 Mark Grundsteuer-Reinertrag, soll an die Herren von Mielosenski verkauft werden. Die Verhandlungen sind, wie wir hören, noch nicht zum Abschlusse gelangt. Es besteht somit noch eine Hoffnung, dass dieser Grundbesitz dem Deutschtum erhalten bleiben kann und dass der kecke Handstreich durchkreuzt wird, mit dem sich das Polentum in dem Kreise Ulzenburg, der bisher nur deutschen Grundbesitz umschloss, einzunisten versucht. Freilich bedarf es dazu einer schärferen Wachsamkeit und schneidigeren Haltung, als sie bisher dergleichen Vorkommnissen gegenüber von der Regierung eingenommen wurde. Es fragt sich da, ob die Worte, die der Reichskanzler unlängst über die Bekämpfung des Polentums als nationale Lebensfrage gesprochen hat, nur Worte bleiben oder Taten zeitigen sollen. Der Besitzer des Gutes, Baron Walsberg, ist Leutnant im 220. Regiment. Obgleich noch minderjährig, hat er jedenfalls die Entscheidung zu treffen. Der Vormund, der die Verhandlungen eingeleitet hat, ist Rittmeister d. R. Beide zählen somit zu den Kreisen der Gesellschaft, welche Se. Majestät der Kaiser als die "Edelsten der Nation" bezeichnete. Noblesse oblige!"
Diese Nachricht, sofort nach Berlin telefoniert, blitzte noch zur selben Stunde mit den Depeschen des Wolffschen Bureaus durch ganz Deutschland, an demselben Tage durch die "Reuter"- und "Stefani"- Agenturen und die "Associated Press" über ganz Europa und um den Erdball herum. Während Hans seinen Kummer tief in sich verschloss und seinem Kameraden Benno Arden Schweigen zur Ehrenpflicht gemacht hatte, wusste plötzlich die ganze Welt darum. Im Gegensatze zu der verschärften Staatsaktion, welche die Regierung jüngst noch im Landtage angekündigt hatte, wirkte die Nachricht sensationell. Im Auslande wurde sie mit schadenfrohen Worten kurz kommentiert, von deutschen Blättern in entrüsteten Artikeln ausgesponnen. Berliner Blätter deuteten alsbald auch an, dass der Kaiser sich höchst ungnädig über diesen Fall ausgelassen habe.
Der Regierungspräsident von Arden hatte gerade an seinen Sohn Benno geschrieben, er möchte zur Feier seines Geburtstages noch seinen Freund Leutnant von Walsberg mitbringen, da getanzt werden sollte und die Tänzer rar wären. Zur selben Stunde, als der Brief etwa in den Händen Bennos sein musste, wurde Herrn von Arden die "Deutsche Nationalzeitung" mit der blauangestrichenen Notiz vorgelegt. Das korrekte stets ein gemäßigtes Wohlwollen ausdrückende Gesicht des Präsidenten wurde einen Schein blasser.
"Das ist ja unerhört!" fuhr er den Regierungsrat an, der ihm das Schriftstück vorgelegt hatte. "Telefonieren Sie sofort an den Landrat von Ulzenburg und fordern Sie schleunigen Bericht." Die telefonische Antwort brachte den Bescheid, dass der Landrat auf einer Urlaubsreise begriffen, im übrigen im Landratsamt wohl die missliche pekuniäre Lage von Warozin, ein Verkauf an Polen aber nicht bekannt sei.
"Das ist ja eine Haupt - " der Regierungspräsident unterbrach seinen Gefühlsausbruch und sah den Regierungsrat an.
"Was ist da zu machen?"
"Sehr fatal - es ist der dritte Polenverkauf in unserem Bezirk."
Der Rat blickte mit tiefem Ernst auf das ominöse Zeitungsblatt herab, der Präsident ging erregt im Zimmer umher. Dann sagte er:
"Zunächst muss die Presse zum Schweigen gebracht werden."
"Ja, wünschen der Herr Präsident, dass ich -"
"Nein, nein, ich fahre selbst zum Professor von Schulen."
Eine Viertelstunde später rollte das Coupé des Präsidenten der Vorstadt zu, wo Professor von Schulen eine Villa bewohnte. Dieser Professor wäre dem Präsidenten eigentlich unsympathisch gewesen, wenn er es nicht für eine Pflichtsache gehalten hätte, fast liiert mit ihm zu sein. Stand er doch an der Spitze des Nationalvereins zur Wahrung des Deutschtums, dieses Vereins, der die "Ostdeutsche Nationalzeitung" ins Leben gesetzt und seit Berufung des Professors von Schulen auf der ganzen Linie eine unheimliche Rührigkeit entfaltet hatte.
Das Coupé hielt vor einem gepflegten Vorgarten. Ein Bernhardiner erhob sich in königlicher Haltung von der Haustürschwelle, als die Glocke, die den Besuch anmeldete, erklang, und legte sich beim Anblicke des Coupés befriedigt wieder hin. Ein Diener in dunkler Livree geleitete den Präsidenten durch die mit afrikanischen Waffen und Tigerfellen dekorierte Eintrittshalle, die Treppe hinauf und bat, in einem kleinen Empfangszimmer zu warten, bis er den Herrn Professor benachrichtigt haben würde. Herr von Arden blickte mit einem gewissen Unbehagen um sich. Erstens war ihm das intensive, fremdartige Parfüm-, das den Raum erfüllte, unangenehm, dann lag ein gewisses, schwüles Etwas über der ganzen Einrichtung, das ihm auf die Nerven fiel. Diese mit orientalischen Seidenstoffen bezogenen Möbel, diese Frauenporträts in zum Teil recht derangierter Toilette, die vielen eleganten Überflüssigkeiten, die den Raum erfüllten, das alles war nicht der Rahmen für einen Mann der Arbeit und Pflichterfüllung, dachte der Präsident, aber zugleich wiederholte er sich, dass Professor von Schulen dennoch ein solcher Mann sei und dass man ihn jedenfalls gar nicht entbehren könnte. Da drang ein Ton an sein Ohr, der ihn zusammenzucken ließ wie unter einem Peitschenhiebe - eine Frau hatte laut und hell irgendwo gelacht. Die Stirn des Präsidenten rötete sich - nicht weil in einem eleganten Junggesellennest eine Frau ihre Gegenwart verriet - aber weil Professor von Schulen gestattete, dass sie es in dieser Weise vor den Ohren des ersten Vertreters der Regierung tat. Unwillkürlich richtete er sich höher auf - das Unpassende dieser Situation musste er gleich von vornherein markieren. Da wurde die Portiere zurückgeschlagen.
"Mein hochverehrter Herr Präsident, welche unerwartete Freude und Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen. Ich war gerade im Begriff, mich zu Ihnen zu begeben, es hat offenbar eine merkwürdige Ideen-Assoziation zwischen Ihnen und meiner Wenigkeit stattgefunden - aber wollen Sie mir nicht die Ehre erweisen hier in mein Arbeitszimmer einzutreten, ich weiß, Sie lieben das bric-à-brac, das uns hier umgibt, nicht, das ist auch nur der Empfangsraum für alle Welt - ein Besucher wie Sie gehört ins Allerheiligste!"
Es war doch schwer, in kühler Reserve zu bleiben dieser überströmenden Liebenswürdigkeit gegenüber und dem Blick dieser weichen, braunen Augen abweisend zu begegnen. Der Präsident hielt es daher für das Beste, sofort zu der question of matter überzugehen. Er zog das Blatt der "Ostdeutschen Nationalzeitung" mit der blau angestrichenen Stelle aus der Tasche.
"Ich komme in einer besonderen Angelegenheit", begann er. Da fiel ihm auch schon der Professor ins Wort.
"In dieser selben Angelegenheit wollt ich zu Ihnen, Herr Präsident, denn es ist mir ganz außerordentlich fatal, dass gerade unsre Zeitung einen so aggressiv gegen die Regierung gerichteten Passus gebracht hat! Ich war so überbürdet mit Arbeit, dass ich die Redaktion des "Provinziellen" nicht durchsehen konnte; wer durfte dann auch ahnen, dass dieser Lapsus vorkommen würde."
Der Präsident hatte inzwischen wieder seine ruhige, korrekte Haltung angenommen.
"Ich hab natürlich keinen Augenblick geglaubt, dass die betreffende Stelle von Ihnen herrühren könnte, Herr Professor", sagte er, "die Frage ist nur die: wie machen wir diese Wendung wieder gut? Wenn ich mich persönlich auch ganz und gar eliminiere, so meine ich doch, wir schaden dem Ganzen, wenn wir das Vertrauen zur Regierung untergraben."
"Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Herr Präsident, unsere Bestrebungen, das Deutschtum im unseren Ostmarken zu stärken, können natürlich nur Erfolg haben, wenn wir Hand in Hand mit der Regierung gehen. Zu meinem großen Bedauern sind ja manche Maßnahmen getroffen worden, die sich nicht ganz mit unseren Zielen decken."
"Das möchte ich doch bezweifeln, Herr Professor."
"Herr Präsident, Sie müssen mir ein offenes Wort gestatten, wie man es eben nur einem so hochdenkenden Manne gegenüber aussprechen darf - ist doch unser beider Bestreben nur darauf gerichtet, die nationale Sache zu fördern, nicht wahr?"
Der Präsident machte eine zustimmende Bewegung, und der Professor fuhr fort:
"Vor allem meine ich, dass die Triebkraft der öffentlichen Meinung in ihrem vollen Werte geschätzt und verwendet werden müsste, und dazu könnte unsere Zeitung in viel ausgedehnterem Maße als bisher dienen:"
"Gewiss, an eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung in regierungsfreundlicher Weise denke ich ja auch in erster Stelle, aber Sie sprachen von Maßnahmen."
"Da Sie darauf zurückkommen, Herr Präsident, so möchte ich mir erlauben zu bemerken, dass es mir nicht opportun scheint, wenn wir einerseits den Kampf gegen das Polentum predigen und in der nächsten Zeitungsspalte die Nachricht von der Auszeichnung eines Mannes bringen müssen, der eine unpatriotische Handlung begangen hat. Ich erinnere nur an die Ernennung zum Deichhauptmann des Prinzen Hertram - dieses Mannes, der seine an der Grenze belegene Besitzung Scharnowitz an einen Nationalpolen verkauft hatte!"
"Der Prinz hat sich aber zugleich Verdienste um die Ausgestaltung des Dammnetzes erworben."
"Weil seine noch deutschen Güter gerade am meisten von den Überschwemmungen des Chelmflusses zu leiden hatten - sehen Sie, mein verehrter Herr Präsident, ich kenne die Personalien all dieser Leute, und es gibt mir jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn ein Mann, dessen nationales Empfinden ich als nicht ganz rein kenne, wenn ein solcher Mann irgendwie in den Vordergrund gestellt wird. Gerade unser grundbesitzender Adel muss mit leuchtendem Beispiel im Kamp um das Deutschtum vorangehen, und ich versichere Sie, diesen Herren würden ihre Pflichten erst klar werden, wenn Sie einmal ein Exempel statuierten, einen Mann, der um des Mammons willen sein nationales Empfinden verkauft hat, an den Pranger stellten zum abschreckenden Beispiel für andere! Sie ahnen vielleicht doch nicht in ganzem Umfange, wie scharf im feindlichen Lager mobil gemacht, wie alle Schleusen geöffnet werden, damit die polnische Sturmflut deutsches Land überströme. Ich habe die überraschendsten Aufschlüsse darüber in Händen, wie nahe verquickt die polnische Bewegung mit der sozialdemokratischen ist; glauben Sie mir, wir stehen an der Schwelle ernstester Ereignisse, wenn wir erhaltenden Parteien nicht fest geschlossen, Hand in Hand vorwärts gehen!"
"Das ist allerdings auch meine Ansicht", sagte der Präsident sehr ernst, "und ich hoffe, Sie geben mir in den nächsten Tagen Gelegenheit, eingehend mit Ihnen über diese Dinge zu konferieren."
"Sie kommen meiner Bitte zuvor, Herr Präsident; um auf den Ausgangspunkt unseres Gespräches zurückzukommen, so hoffe ich eine Aktion eingeleitet zu haben, die anstatt des polnischen Käufers einen deutschen für Warozin herbeischafft."
"Sie denken an einen Ankauf durch die Landbank?" bemerkte der Präsident.
"Pardon, Herr Präsident, ich habe leider erfahren, dass der Vormund des Barons Walsberg in erster Linie an die Landbank herangetreten ist, mit dem Preise, den diese bot, aber nicht zufrieden war."
"Ja, unsere Mittel sind natürlich nur beschränkt; wenn diese Herren nicht selbst das Gefühl dafür haben, dass sei, selbst mit kleinem Verlust, besser tun, an die Landbank als an einen Polen zu verkaufen, so ist das ein trauriges Zeichen der Zeit."
"Ganz meine Auffassung, Herr Präsident! Trotzdem hoffe ich Wege gefunden zu haben, um Warozin in deutschen Händen zu erhalten."
"Das wäre wirklich ein nationales Werk, Herr Professor; darf ich näheres darüber erfahren?"
"Gewiss, Herr Präsident, Sie wissen, ich stehe Ihnen mit meiner schwachen Kraft vollständig zur Verfügung! Die Sache ist die: Warozin grenzt, wie Sie vielleicht wissen, mit den Besitzungen des Herzogs von Allenstein. Der Generaldirektor des Herzogs ist mein persönlicher Freund - ich habe allen Grund anzunehmen, dass ein polnischer Nachbar ihm sehr unerwünscht wäre, und da er gerade auf der Rückreise von Karlsbad unsere Stadt passiert, habe ich ihn telegraphisch um eine Unterredung gebeten. Ich erwarte ihn eigentlich jeden Augenblick und bin überzeugt, er wird sich bereitfinden lassen, den polnischen Handstreich auf Warozin zu verhindern. Einstweilen habe ich selbst an Frau von Walsberg geschrieben und ihr einen Käufer in Aussicht gestellt, denn - ich wollte zwar eigentlich nicht davon sprechen, aber Ihnen gegenüber, Herr Präsident, geht mir immer das Herz auf - also, im Falle der Generaldirektor Blei weder für sich noch für seinen Herzog kaufen will, springe ich selbst in die Bresche."
"Wie, Sie wollten - - -"
"Warozin kaufen, wenn es keinen anderen Weg gibt, die Polen fern zu halten, gewiss, Herr Präsident!"
Herr von Arden reichte ihm die Hand; in diesem Augenblick hatte er wieder einmal alle Animosität gegen den Professor vergessen.
"Wenn wir viele Männer wie Sie hätten, Herr von Schulen, da stände es besser um uns!"
"Ihre große Liebenswürdigkeit überschätzt mich, Herr Präsident", sagte der Professor, sich tief verneigend, "vielleicht darf ich Ihnen sogleich eine Notiz vorlegen, die ich schon für alle Fälle für unsere Zeitung vorbereitet hatte."
"Ach, Sie haben auch schon daran gedacht! Darf ich bitten?"
Der Professor schob auf seinem monumentalen Schreibtisch eine Sphinx von französischer Bronze zur Seite und zog darunter ein beschriebenes Blatt hervor, das er dem Präsidenten reichte.
Herr von Arden las:
"Wie wir hören, ist es der persönlichen Initiative unseres Regierungspräsidenten zu verdanken, dass weitere Kreise für den Verkauf von Warozin interessiert worden sind. Unsere Leser werden sich erinnern, dass dieser seit Urväterzeiten deutsche Besitz in polnische Hände übergehen sollte. Es soll ein opferfreudiger Patriot gefunden sein, der bereit ist, das Gut zu kaufen, da der bisherige Besitzer, Baron von Walsberg, leider nicht in der Lage ist, es halten zu können."
"Sie beschämen mich", sagte Herr von Arden, aber der Professor widersprach lebhaft.
"Ich habe nur ausgesprochen, was Sie dachten, Herr Präsident. Sie kamen zu mir, um diese Initiative zu ergreifen!"
Er geleitete seinen Gast zurück durch die Waffenhalle, vorüber an dem schweifwedelnden Bernhardiner, und öffnete selbst die Tür des Coupés, strahlend vor Liebenswürdigkeit und Bonhomie, und Herr von Arden fuhr davon. Sobald der Professor aus seinem Gesichtskreise verschwunden war, hatte er wieder das undefinierbare unangenehme Gefühl, das ihn jedes Mal nach dem Zusammensein mit ihm beschlich.
"Wenn man doch reich wäre!" seufzte er. "Reichtum bedeutet Unabhängigkeit!"
Aber er war nicht reich, und er hatte vier Kinder. Somit war er darauf angewiesen Karriere zu machen, und da hieß es beständig: lavieren, Kompromisse eingehen.
Und Schulen war so begabt und konnte ihm so nützlich sein. Melancholisch blickte er durch das Fenster des Coupés hinaus auf die Straße.
Da tauchte ein großer, breitschultriger Mann vor ihm auf. Dem Impulse des Augenblicks folgend, gab der Präsident das Zeichen zum Halten des Wagens, und die Tür des Coupés öffnend, rief er hinaus:
"Herr Generaldirektor Blei!"
Der Angerufene wandte sein mächtiges, von dichtem, graumeliertem Haar umlocktes Haupt nach dem Wagen hin und trat grüßend näher.
"Sehr erfreut, Herr Präsident!"
"Sie sind im Begriff, zu Herrn von Schulen zu gehen?"
"Fällt mir gar nicht ein!"
"Aber Herr von Schulen erwartet Sie!"
"Das schadet ihm nichts und mir auch nicht!"
"Immerhin - es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, ich bin zufällig informiert - haben Sie Zeit, Herr Generaldirektor?"
"Für sie habe ich immer Zeit, Herr Präsident!"
"Dann steigen Sie ein." Der Präsident lehnt sich hinaus und rief dem Kutscher zu: "Fahren Sie über die Promenade."
Der Generaldirektor stieg ein.
"Es ist ein glücklicher Zufall, der Sie mir in den Weg führt", begann Herr von Arden. Und er entwickelte ihm die ganze Angelegenheit mit Warozin und schloss damit, dass ein deutscher Käufer sich ein eminentes Verdienst um das Deutschtum erwerben würde, was höheren Ortes des größten Beifalls sicher sein würde.
Der Generaldirektor hatte ruhig zugehört, bloß in den Winkeln seiner blauen Augen spukte etwas wie ein unterdrücktes Lächeln.
"Herr Präsident", sagte er endlich, "nach meiner Ansicht ist es ein höchst patriotisches Werk, ein heruntergewirtschaftetes Gut an einen Polen zu verkaufen, denn der verkracht sicher darauf, und dann ist man ihn los!"
"Herr Generaldirektor, ich habe in vollem Ernste gesprochen!" sagte der Präsident vorwurfsvoll.
"Ich auch", versicherte der Generaldirektor. "Anstatt eine Polenhetze zu organisieren, sollten wir vor unseren eigenen Türen kehren, unseren Kram in Ordnung halten und, ohne viel Geschrei zu machen, ein jeder auf seinem Posten fest stehen. Warum soll ich meinem Herzog Warozin anhängen oder warum soll ich meine ohnehin in Anspruch genommene Arbeitskraft noch mit der Bewirtschaftung eines eigenen Gutes beschweren?"
"Aber die nahe Nachbarschaft eines Polen kann doch für Sie nicht angenehm sein", warf der Präsident ein.
Der Generaldirektor zuckte die Achseln.
"Davor fürchte ich mich nicht - höchstens sehen die Leute dann mit eigenen Augen, dass sie es bei mir besser haben als bei dem "Schlachzüzen".
"Ich verstehe doch nicht, Herr Generaldirektor, dass sie diese Sache so ruhig ansehen. Bedenken Sie: der erste polnische Grundbesitz in einem Bezirk, in dem bisher nur deutsche ansässig waren. Schon die Unverschämtheit dieser Leute empört doch unsereins."
"Verzeihen Sie, Herr Präsident, aber ich sehe hier nur die Konsequenz einer Tatsache sich vollziehen. Wir haben den Polen so viel Grundbesitz abgekauft, dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn sie nun ihrerseits das von uns erworbene Geld in Gütern anlegen. Ich meine: kräftigen wir nur unseren deutschen Gutsbesitzerstand - das ist das beste Mittel gegen das Polentum. Und gerade weil ich die Phrasen des Professors von Schulen nicht ausstehen kann, gehe ich nicht zu ihm."
"Ich bin erstaunt, Sie so sprechen zu hören, Herr Generaldirektor, und Ihr Urteil über Herrn von Schulen ist mir ebenfalls ganz überraschend."
"Ja, Herr Präsident, ich kann keine Mördergrube aus meinem Herzen machen - mir liegt einmal dieses semitische Wunderkind nicht!"
"Meinen Sie den Professor von Schulen damit?"
"Allerdings - Sie sind erst zu kurze Zeit hier, Herr Präsident, um alle diese Verhältnisse zu kennen, aber unsereiner, der hier alt und grau geworden ist, kennt sich ja einigermaßen aus."
"Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich einweihen wollten!"
"Gern, Herr Präsident, habe ich doch die Familie gekannt, noch ehe sie in diesem jüngsten hoffnungsvollen Sprossen gipfelte, denn Schulens Vater, der reiche Jude Schmule, war Pächter der herzoglichen Kohlengruben, in denen er seine Millionen erworben hat."
"Davon hatte ich keine Ahnung", murmelte der Präsident.
"Er spricht nicht gern von seinem Vater, der Herr Professor", versetzt der Generaldirektor", "aber er hat Unrecht damit, denn der alte Schmule ist in seiner Art ein ganzer Kerl, lebt als kaufmännischer Patrizier, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, in Berlin W., hat Einfluss an allen Ecken und Kanten und ist eine Persönlichkeit - heißt übrigens jetzt auch Schulen, hat nur den Adel dem Sohne allein überlassen. Der kam mit 16 Jahren als Wunderkind auf die Universität, machte den Dr. phil. und jur., wurde mit 22 Jahren habilitiert, mit 27 Jahren ordentlicher Professor - Leuchte der Wissenschaft, und da sein Vater aus den materiellen Gütern Gewinn genug gezogen hat, stürzte er sich auf die idealen Güter, die gerade en vogue sind, na - Sie wissen ja selbst, wie er in Patriotismus, Sozialreform, Flottenbegeisterung und dgl. macht. Er hat's verstanden, Liebling im Kultusministerium und Schützling der allmächtigen Schmollergruppe zu werden - endet jedenfalls noch mal an hervorragender Stelle im Reichsamt des Innern - aber ich sage: Gott sei Dank, dass er mir in meinen Kram nicht hineinpfuschen kann - für mich bleibt's 'ne Kreuzung von Jud' und Jesuit!"
Der Generaldirektor sah ungeniert nach seiner Uhr.
"Verzeihung, Herr Präsident, aber ich möchte hier absteigen, ich habe noch einen wichtigen Abschluss heut zu machen."
"Ich bin Ihnen dankbar für das Zeitopfer, das Sie mir gebracht haben - es hat mich alles sehr interessiert, wenn ich auch nicht umhin kann, Ihnen nochmals mein Bedauern auszusprechen, dass - "
"Ich bitte um Ihre Nachsicht, Herr Präsident!"
Der Generaldirektor verließ den Wagen und schritt grüßend davon.
Herr von Arden blickt ihm mit einem leisen Gefühl von Neid nach. Der da stand fest auf seinen Füßen und hatte den Mut der eigenen Meinung. Immerhin - so ungünstig er Schulen beurteilte, dass er einflussreich, von oben her gestützt und ein Mann mit einer Zukunft war, hatte er doch zugegeben.
Der Präsident seufzte tief auf und fuhr nachdenklich nach Hause.
Inzwischen saß Frau Maria von Mielosinska, die Gattin des Käufers von Warozin, auf einer der seidenen Ottomanen im orientalischen Salon der Villa Schulen, und die weiße, gepflegte Hand des Professors glitt liebkosend über ihr rötlich schimmerndes Haar, während er mit den weichsten Modulationen, deren seine Stimme fähig war, sagte:
"Ich tue alles für Dich, mein süßes Lieb; wenn es nicht anders geht, kaufe ich Warozin, und anstatt des von Dir so sehr gefürchteten Landaufenthaltes an der Seite Deines Mannes machen wir ein verstecktes Liebesnest daraus, in das wir uns ab und zu einmal flüchten, wenn uns die übrige Welt zu langweilig wird!"
Maria Mielosinska schmiegte sich lächelnd an seine Brust.
"Ich wusste, dass Du mir helfen würdest, Charles", flüsterte sie, "ich würde sterben, wenn ich mit meinem Manne die Hälfte des Jahres au fond de la sampagne sitzen müsste, wie dieser schreckliche Schwager "Oberlandsgerichtsrat" es haben will. Sie sprachen beide französisch, nur den deutschen Titel hatte sie in hartem gebrochenen Deutsch hervorgestoßen.
"Der Schwager ist ein Unmensch, eine Frau wie Du gehört nicht auf das Land", sagte Charles. "Wie kommt Dein Schwager auf diese Idee?"
"O, er sagt, wir verbrauchen zu viel Geld in Paris, ein halbes Jahr sollen wir sparen." Sie lachte. "Kannst Du Dir mich als so eine Art von deutscher Hausfrau denken?"
"Nein, Schatz, das wäre, als ob man von einem Vollblute Ackerarbeit verlangte!"
"O ja, Du verstehst mich! Und dann handelt es sich noch um Lonka - ach Du - eigentlich ist es schrecklich, dass ich nächstens eine erwachsenen Tochter haben werde."
"Wenn man als halbes Kind heiratet - die Konsequenzen der Tatsachen", meinte er lächelnd. "Aber was hat Lonka mit den Wünschen Deines Schwagers zu tun?"
"Das ist eine Geschichte! Er sagt: in der Hand der Frauen liegt die Zukunft Polens - darin hat er ja Recht, dass wir Polinnen immer viel für unser Vaterland getan haben. Aber er findet uns - mich speziell, glaube ich - nicht auf der Höhe stehend. Er hat ein Programm für die Erziehung polnischer Frauen, sage ich Dir - und darin steht, dass sie nicht zu früh in die Welt treten, ernsthaft erzogen, auf ihre Mission vorbereitet werden sollen. Und nun soll Lonka, wenn sie aus der Pension kommt, mit uns aufs Land gehen - so eine Dummheit! Jeder Polin liegt ihre Mission im Blute, so was lernt sich nicht und braucht keine Vorbereitung - ach, ich glaube mein Schwager erdolchte mich, wenn er wüsste, dass ich das alles einem Deutschen verrate! Aber Du bist gar kein richtiger Deutscher, mein Liebling, Du bist international!"
"So international wie die Liebe", erwiderte er, den Arm um sie schlingend.
Benno Arden hatte Hans Walsberg überredet, die Einladung seines Vaters anzunehmen, obgleich Hans nicht in der Stimmung war, eine Gesellschaft mitzumachen.
"Es ist Dir gerade gut, Dich herauszureißen, nicht immerfort über Warozin zu grübeln", sagte er, "ich habe schon mit Onkel Egon wegen des Urlaubs gesprochen:"
Egon von Arden war der Bruder des Präsidenten und Kommandeur des 220. Regiments, in dem die beiden Freunde standen.
Am selben Tage, an dem dieser die Urlaubsgesuche zur Geburtstagsfeier seines Bruders genehmigt hatte, stand die Notiz über den Polenverkauf in der "Ostdeutschen Nationalzeitung". Sie wirkte in der kleinen Garnison wie eine einschlagende Bombe. Es hatte sich ja inzwischen herumgesprochen, dass Warozin verkauft werden sollte und dass der Oberlandesgerichtsrat von Mielosenski darum handelte. Aber niemand hatte bisher darin eine politische Aktion gesehen. Nun war der Verkauf als solche gestempelt worden.
"Aber ein preußischer Beamter, das ist doch kein Nationalpole", sagte einer der Kameraden, als die Sache im Kasino verhandelt wurde.
"Der ist ja nur vorgeschoben, der eigentliche Käufer ist ein Stockpole", erklärte ein anderer, "und mit dem durfte Walsberg sich natürlich nicht einlassen."
"Er ist ja noch gar nicht majorenn, die Mutter führt die Verhandlungen!"
"Aber er muss doch, wie die Zeitung sehr richtig sagt, Einfluss darauf haben."
In den Streit der Meinungen hinein trat Hans ahnungslos, denn er hatte die Zeitung noch nicht gelesen.
Er merkte sofort die veränderte Stimmung um sich her. Auf seine Frage wurde ihm das Zeitungsblatt gereicht.
Er las, dann ließ er das Blatt sinken und sah die Kameraden an.
"Ihr verurteilt mich, wie es scheint, ebenso wie dieser Zeitungsschreiber, der mich nicht kennt und nichts Näheres von der Sache weiß", sagte er mit vor Erregung heiserer Stimme.
Einer der älteren Kameraden trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Ich weiß nicht, wie die Verhältnisse liegen, lieber Walsberg, und ob es für Sie möglich ist, in der Sache noch etwas zu tun. Aber ich glaube im Namen aller Kameraden zu sprechen, wenn ich sage: versuchen Sie es wenigstens, diesen Verkauf zu hintertreiben."
Hans biss die Lippen zusammen. Sollt er hier im großen Kreise davon sprechen, wie tief er unter dem Verkauf litt, sollte er erzählen, was er selbst vor kurzem erfahren hatte, dass Herr von Wolffen das Gut der Ansiedelungs -kommission vergeblich angeboten, dass er erst zu dem polnischen Käufer zurückgekehrt war, als alle deutschen Quellen, an die er sich wandte, versagten? Hätte das nicht ausgesehen wie eine Entschuldigung einer Sache wegen, an der er sich unschuldig wusste? Nein - nein!
Er verbeugte sich.
"Ich danke Ihnen, Herr Oberleutnant", sagte er in dienstlicher Haltung. Dann verließ er das Kasino und ging nach Hause.
Schon das Abendblatt brachte Notiz von der Initiative des Regierungspräsidenten.
Hans hatte am Nachmittag keinen Dienst gehabt. Auch nicht einer der Kameraden hatte ihn aufgesucht. Jetzt trat Benno Arden, das Abendblatt in der Hand haltend, in Hansens Stube.
"Das ist hübsch von meinem Alten", sagte er, "nun wird noch alles gut!"
Hans zuckte die Achseln. Er war sich nicht so minderwertig, so bei Seite erschienen wie jetzt, wo fremde Menschen bestimmten und zu Rate saßen über das, was ihm das Liebste und Heiligste war: seine Heimat.