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Hans Steinerstauch lebt seit über fünfzehn Jahren als Nichtsesshafter in Wien. Hier lernt der heute 63-jährige Tereza kennen, eine verwitwete Dame von altem, aber hoffnungslos verarmtem Landadel. Das ungleiche Paar geht eine intensive Beziehung ein, die schon bald wieder ein jähes Ende zu nehmen scheint, als Hans in einen Mordfall verwickelt und als Tatverdächtiger festgenommen wird. Während Oberstleutnant Georg Kammerer und Kontrollinspektorin Sabine Jordan von der Schuld Hans Steinerstauchs überzeugt sind, geben Tereza und Dr. Schuster, der zu Steinerstauchs Verfahrenshelfer bestellt wurde, alles, um dessen Unschuld zu beweisen. Während Tereza nach Nürnberg reist, um sich auf Spurensuche in Hans alter Heimat zu begeben, geschieht in Wien ein zweiter Mord und es überschlagen sich die Ereignisse.
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2021
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01. Das Frühstück im Park
02. Begegnung unter der Dusche
03. Tereza und Hans
04. Begegnung in der Wäscherei
05. Hans in Rage
06. Kammerer und Jordan
07. Dr. Florian Schuster
08. Vera und Bruno
09. Luisa und Wickerl
10. Tereza unterwegs
11. Kommissar Schlendrian
12. Tereza und Ludwig
13. Michael Steinerstauch
14. Bruno in Bedrängnis
15. Hans und Dr. Schuster
16. Verhörmarathon
17. Tereza und Michael
18. Hans und Bruno
19. Terezas Heimreise
20. Kammerer unter Druck
21. Zu Verkaufen
22. Schöne Bescherung
23. Fahndung
24. Großreinemachen
25. Anton Pichler
26. Kaffee
27. Geständnisse
28. Kompromisse
29. Fall gelöst
30. Bei Xaver
31. Der verhängnisvolle Fehler
32. Das Sandler-Frühstück
33. Bertl
34. Tereza und Bruno
35. Auf Leben und Tot
36. Der Brief
37. Hans im Glück
Bei der grässlichen Person die mürrisch Waren über einen Scanner zog, musste sich die Schöpfung erst in allerletzter Sekunde für einen Menschen und gegen ein Reptil entschieden haben. In dem winzigen und mit Waren überhäuften Supermarkt ging es überaus eng zu. Viel zu eng, nach seinem Geschmack. Es war fast unmöglich, den WhatsApp Dialog auf dem Smartphone des Mädchens in der Schlange vor ihm zu ignorieren und nicht mit zu verfolgen.
„Facebook, Twitter, WhatsApp, - sind das nicht alles potemkinsche Dörfer?“, brummte er in seinen nachlässig gepflegten Siebeneinhalbtagebart.
„Potenzkindische was?“, drehte sich die spindeldürre, vielleicht sechzehnjährige junge Frau nach ihm um und legte, ohne den Blick von ihrem Smartphone zu lösen, drei große Packungen Lakritz und anderes süßes Zeug aufs Band.
„Sie glauben mir nicht?“, überhörte er ihre Frage. „Dann probieren Sie es aus. Packen Sie Ihren Koffer, klettern Sie in einen Zug, fahren Sie mit ihm nach Facebook und machen Sie sich dort, mit all Ihren Freunden, ein paar nette Tage.“
Sie angelte mit der freien Hand nach einer der unzähligen Dosen geflügelter Hallo-Wach Limonade, die kreuz und quer in ihrem Wagen herumpurzelten. Dabei gestattete sie ihm einen großzügigen Blick auf ihre Unterwäsche. Das ganze Ensemble schien eigens zum Zwecke der Zurschaustellung konstruiert worden zu sein. Während sie ihr Höschen, scheinbar ausschließlich aus einem einzigen Stück dünner roter Schnur gefertigt, bis zur Taille straff hochgezogen hatte, war ihre Jeans so geschnitten, dass sie ihr keinen halben Millimeter weiter als zum Steiß reichen konnte.
„Sag Alter, magst mich verarschen? Meinst, ich weiß nicht, dass das in Amerika liegt und dass Züge soweit gar nicht fahren können?“ Sie starrte ihn kurz und mit weit aufgerissenen Augen an, und hatte sogar für den Bruchteil einer Sekunde damit aufgehört, mit ihren spinnenartigen Fingern das Smartphone zu malträtieren.
„Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber es würde mich schon interessieren, was Sie während eines belanglosen Einkaufes unentwegt der Welt mitzuteilen haben.“
Das Mädchen kramte umständlich die Geldbörse aus seiner abgewetzten Umhängetasche und zählte der Kassenfrau den angezeigten Betrag passend in die Klaue.
„Wenn du’s unbedingt wissen willst“, schnatterte sie in rotz-frechem Ton los, „ich habe gerade meiner Freundin geschrieben, dass hinter mir ein alter notgeiler Sandler steht, der mir die ganze Zeit auf den Arsch glotzt. Ob ich denn mein Pfefferspray mithabe, wollte sie von mir wissen. Ja, habe ich ihr geantwortet, und ich werde ihm auch gleich eine Ladung davon verpassen. Damit er sich’s merkt. Und sich schleicht.“
Den letzten Satz, bei dem sie ihm so nahekam, dass er ihren ungefrühstückten Atem wahrnehmen konnte, fauchte sie ihm wie eine räudige Katze ins Gesicht. Ihr Einkauf war indessen in einer Plastiktüte verschwunden und sie machte sich, mit provozierend langsamem Hüftschwung, vom Acker. Aber nicht, ohne ihm, und ohne sich dabei umzudrehen, den Finger zu zeigen.
„Ja wollen Sie denn Ihr Zeug nicht endlich aufs Band legen?“ Erneut wurde er angefaucht. Diesmal aus dem Rachen des verhinderten Reptils hinter der Kasse. Sofort legte er einen deutlichen Zahn zu. Nicht zuletzt, weil ihm die ungeduldige dicke Dame in der Schlange hinter ihm, die aggressiv nach Lavendel roch, bereits unruhig mit den Hufen scharrte und ihn mit den bösen Augen einer Sphinx zu durchbohren drohte, Angst einflößte.
Er zog den nagelneuen Hunderter aus seiner Hosentasche, den ihm Tereza für den Einkauf zugesteckt hatte, zahlte und nahm das Wechselgeld entgegen. Zuvor hatte der misstrauische Halbdrache den Geldschein zweimal hintereinander durch den Falschgelddetektor gezogen.
„Beim dritten Mal wird er automatisch geschreddert!“ versuchte er es mit einem Scherz, den keiner der Umstehenden sonderlich lustig fand.
Freudlos stopfte er seinen Einkauf in die dafür vorgesehenen Taschen und stelle alles in den Einkaufswagen zurück. Beim Wegfahren hörte er hinter sich ein leises Fauchen.
„Sonst kauft der immer nur ganz wenig ein. Nur so abgelaufenes Zeug das er um weniger als die Hälfte bekommt. Und heute zahlt der mit einem Hunderter? Da passt doch was nicht! Bestimmt hat der das Geld irgendwo gestohlen!“
Er drehte sich beim Gehen kurz um.
„Habe die Ehre, die Damen!“, verabschiedete er sich freundlich und es amüsierte ihn aufs köstlichste, wie die dicke Lavendelsphinx, in ihrer teuren und dennoch überaus geschmacklosen Handtasche, panisch nach ihrer Geldbörse kramte.
Am Ausgang hob er die zwei prallgefüllten Taschen aus dem Einkaufswagen und stellte sie neben sich ab. Ohne diese schwere Last wäre der Weg bis zu Tereza nicht weit gewesen. Derart voll bepackt, hatte er hingegen eine mühselige Schlepperei vor sich.
Es war ein kühler, aber sonniger Spätsommermorgen. Er überquerte die Venediger Au und quälte sich, schwerfällig, wie ein überladenes Maultier, durch den gleichnamigen Park. Terezas kleine, gemütliche, aber viel zu laute Wohnung lag auf der anderen Seite des Pratersterns. In der Novaragasse. Er spürte seine alten Knochen auf Schritt und Tritt und ihn überkam das sonderbare Gefühl, als schrumpften ihm die Beine und wüchsen seine Arme. Es kann nicht mehr lange dauern, so grübelte er, und ich werde meinen Einkauf über den Asphalt schleifen und dabei zwei breite Spuren hinterlassen.
„Alles nur Fassade!“, hörte er es rufen, „Nix dahinter!“
Er stellte seine schweren Taschen ab und sah sich um. Wenige Meter vor ihm saß die kleine unhöfliche junge Dame aus dem Supermarkt auf einer Parkbank und schob sich, in provozierend obszöner Weise, eine Lakritzstange in den Mund.
„Ich habe sie gegoogelt, deine blöden russischen Dörfer“, mümmelte sie ihm nicht ohne Stolz und mit vollgestopftem Mund entgegen.
„Mhh, dann scheinen ja Hopfen und Malz an Ihnen noch nicht vollständig verloren zu sein“, entgegnete er und bat, sich einen Augenblick setzten zu dürfen.
„Hans“, stelle er sich vor, „man nennt mich auch Hans im Glück. Aber Sie dürfen gerne weiter DU zu mir sagen.“
„Jaja! Schon recht!“, zog sie ihre Augenbrauen hoch. Dabei räumte sie, um ihm etwas mehr Platz zu schaffen, ihren ausgebreiteten Unrat etwas zur Seite.
„Solange du mir nicht an die Wäsche gehst, ist mir das alles scheiß egal!“
Nachdem sie seinen schleppenden Gang beobachten konnte, schätzte sie vermutlich die Gefahr, die in dieser Hinsicht auf sie lauerte, eher als moderat ein.
„Haben Sie auch einen Namen oder soll ich Sie einfach freche Rotzpipn nennen?“
„Leo!“, raunzte sie. „Oder eben Leoni! Und hör auf mit dem scheiß SIE!“
„Also wenn’s dir nix ausmacht, würde ich lieber Leoni zu dir sagen.“
„Das is mir wurscht!“ Sie nahm einen großen Schluck aus der Dose und stieß hörbar auf. So, dass man es riechen konnte.
„Magst auch an Schluck?“, hielt sie ihm die blaue Dose unter die Nase, der ein seltsamer Geruch entwich und an deren Ende ein beachtliches Stück Lakritz pappte.
Er lehnte dankend ab und fragte, ob sie denn gar keine Schule habe, am Montagmorgen um halb zehn Uhr in der Früh.
„Gute Frage – nächste Frage!“, bekam er ihre Antwort, wie eine Salve aus einer Maschinenpistole mitten ins Gesicht geschossen.
Es war zweifelsfrei ein dämlicher Versuch, zu dieser Zeit und an diesem Ort, ein Gespräch mit einer schlecht erzogenen sechzehnjährigen Schulschwänzerin zu beginnen.
„Tut mir leid“, ruderte er ein Stückweit zurück, „das war eine blöde Frage. Sicher sind die ersten drei Stunden ausgefallen“.
„He! Du bist ja ein richtiger Blitzmerker“, gluckste sie. „Und die letzten drei, da kannst einen drauf lassen, die fallen auch aus!“
„Und da gibt es keinen Krach mit den Lehrern oder mit den Eltern?“, versuchte er, sie etwas zu provozieren und aus der Reserve zu locken.
„He Alter! Was denkst denn du? Freilich gibt’s Trouble. Und nicht zu knapp. Die haben sogar eine ganze Lehrerkonferenz abgehalten. Nur wegen mir“, schlug sie sich, mit zweifelhaftem Stolz, mit der flachen Hand gegen die Brust.
„Und was ist dabei rausgekommen?“
Sie lachte überheblich.
„Also ich selbst hätte mich ja hochkant rausgeschmissen. Einige wollten das auch. Aber die ultraweichgespülten Lutscher unter dem Lehrerpack haben sich wieder mal durchgesetzt. Weil man mir mein Leben nicht verbauen will. Aber auch die sagen, dass es meine letzte Chance war.“
„Und die willst jetzt mit aller Gewalt vergeigen oder wie?“
„Ach was! Für heute bin ich doch entschuldigt. Mir zieht’s immer so im Gekröse, wenn ich mein Zeug habe!“
„Dein Zeug?“
„Oh Mann! Die Tante Rosa ist zu Besuch. Ich blute. Ich rinn aus. Verstehst?“
Sie fasste sich mit der freien Hand demonstrativ an den Schritt. Er musste an ihren String denken und fand, gerade eben viel zu viel Information erhalten zu haben. Um weitergehende Gedanken möglichst rasch zu vertreiben, wechselte er das Thema und fragte sie nach ihrer Familie.
Geschwister hatte sie keine. Das Einzige, was sie von ihrem Vater je mitbekommen hatte, war, wie sie es beschrieb, eine eingesprungene Fluchtrolle nach einem One-Night-Stand mit ihrer Mama. Ihre Mutter kümmerte sich zwar um sie, war aber tagsüber nur selten zu Hause. Sie betrieb eine bescheidene Wäscherei, in deren Hinterzimmer sie nebenberuflich einer kleinen, aber treuen männlichen Stammkundschaft, wie sie es ausdrückte, nicht nur die Hemden bügelte.
„Und wie hast du das alles rausgekriegt? Hat dir das deine Mutter einfach so erzählt?“
Es erstaunte ihn, wie auskunftsbereit und unbekümmert sie plötzlich über all das, ihm, einen für sie Wildfremden, berichterstattete.
„Na woher werde ich das wohl wissen? Erwischt habe ich sie, die alte Schlampe!“
„Du das mag ich überhaupt nicht, Leoni, wenn du deine Mutter eine alte Schlampe nennst. Das ist einfach ungehörig!“
„Aber wenn’s doch so ist?“
„Das ist egal! Es ist deine Mutter und es gehört sich einfach nicht!“, erhob Hans seine Stimme. „Und wann und wobei hast du sie erwischt?“, wenn ich fragen darf.
„He Alter! Das ist ja schon ewig her. Damals bin ich noch oft nach der Schule zur Mama in die Wäscherei und hab hinten in der Kammer meine Aufgaben gemacht. Einmal war eine Stunde ausgefallen. Ich stand zu früh im Laden und die Glocke an der Ladentür war natürlich auch mal wieder hin. Weiß der Teufel warum. Im Laden war weit und breit nix von der Mama zu sehen und da bin ich nach hinten. Als ich die Tür einen Spalt aufgemacht und in die Kammer gelinst hab, da glotzte ich auf den gigantischen, pickeligen Arsch von einem riesigen Kerl, der mit runtergezerrter Hose vor meiner Mama stand. Sie hockte vor ihm auf der Couch und er war gerade dabei, seine widerlichen fetten Pratzen in ihre Bluse zu schieben. Beide haben mich nicht bemerkt. Na ich bin leise auf und davon und zur Luisa gerannt. Das ist meine beste Freundin. Rotz und Wasser habe ich geheult. Brauchst nicht denken, dass ich mit Zwölf geschnallt hätte, was die da machen. Das hat mir alles erst die Luisa erklärt. Die kannte sich aus. Die hatte von ihrem Vater so ein Hefterl aus dem Schreibtisch gemopst. Da stand alles drin. Und Bilder waren da auch. Ich habe mich so geekelt und geschämt.“ Leoni hatte richtig wässrige Augen bekommen.
„Und was hat deine Mutter dazu gesagt? Ich meine, du hast sie doch sicherlich irgendwann mal darauf angesprochen?“
„Sag amal, stimmt’s noch bei dir da oben? Die hat doch keinen blassen Schimmer, was mich betrifft. Bis heute hat die nicht gepeilt, dass ich was weiß. Ich bin einfach nach der Schule nicht mehr in die Wäscherei. Der Mama habe ich erzählt, dass ich alt genug bin und am Nachmittag alleine zu Hause bleiben kann. Na die war richtig happy. Hat mir sogar einen Kuss gegeben und mir irgendeinen Schmarrn erzählt. Dass ich ihr großes Mädchen bin und dass sie stolz auf mich ist. Klar, jetzt konnt sie’s ja so richtig krachen lassen und drauf los rammeln. - Die alte Nutte.“
„Jetzt mach mal halblang und rede nicht so schlecht über deine Mutter, Leoni! Red lieber mal mit ihr! Du bist doch mittlerweile alt genug! Erzähl ihr einfach, was und woher du alles weißt! Und klage sie nicht von vornherein an! Hör dir erst mal an, was sie dir zu erzählen hat!“
„Du redest genauso einen Schmarrn daher wie die depperten Diplom Psychopathen aus dem Fernsehen“, wurde sie schon wieder schnippisch.
„Ich versuche nur, meinen Verstand zu benutzen und nicht voreilig zu urteilen. Gleiches rat ich dir übrigens auch. Frag dich doch mal, woher das Geld kommt, für deine, wie sagt ihr, geile Jeans hier zum Beispiel. Oder für dein funkelnagelneues Telefondingsda.“
Sie schaute etwas betreten auf ihr Smartphone und man sah ihr an, dass die kleinen grauen Dinger in ihrem Kopf anfingen zu arbeiten. Sie hatte während des Gespräches sogar völlig vergessen, ihre langen Spinnenfinger tanzen zu lassen.
„Du hast mir übrigens bisher noch immer nicht verraten, was du da wirklich dauernd tippst“, lachte er.
„Ich spiele Quizduell! Kennst das nicht?“
Er verneinte und sie rollte genervt mit den Augen.
„Du lädst dir zunächst eine App runter. Dann kannst gegen Freunde oder gegen Irgendwen aus dem Netz spielen. Du kriegst eine Frage und dazu vier mögliche Antworten. Für die Lösung hast zehn Sekunden Zeit. Der mit den meisten richtigen Antworten gewinnt. Eh klar. Ich gewinne oft, aber nicht immer. Deshalb spiel ich ja so häufig. Weil ich trainieren muss. Verstehst du? Denn wenn ich nächstes Jahr achtzehn werde, dann melde ich mich bei der Millionenshow. Und dann räum ich ganz groß ab. Am liebsten die Million. Aber dreihunderttausend bestimmt. Und dann spendiere ich der Mama und mir einen fetten Urlaub. Und die alten Fettsäcke muss sie dann auch nimmer ablutschen.“
„Mensch Leoni, jetzt hör bitte damit auf, fortwährend deine Mutter schlecht zu machen. - Und trotzdem! Ich find es ja wirklich prima, wenn man ein Ziel vor Augen hat. Aber man muss auch immer eine Alternative im Leben haben. Also versprich mir, die Schule nicht ganz aus den Augen zu lassen. Nur für den Fall, dass es mit der Million nix wird.“
Sie versprach es. Mürrisch. Allein aus Schutz vor weiteren gutgemeinten Ratschlägen. Und dennoch bekam sie gleich wieder Oberwasser.
„Na du musst es ja ganz genau wissen. Du hast bestimmt immer alles richtig gemacht. So wie du daherkommst, mit deinem abgeranzten Gewand. Wo ist denn deine Alternative? Oder ist sie das am Ende schon?“
Er grinste vergnügt, ließ sie wie einen Rohrspatz rumschimpfen und deutete auf die fast leere Packung widerlich süßer Lakritzstangen.
„Ist das dein ganzes Frühstück?“
„Nein, es gibt auch jede Menge Red Bull dazu. Das törnt so geil. Siehst du nicht meine kleinen Flügelchen?“
Sie sprach in Rätseln. Hans verstand nicht die Bohne dessen, was sie damit meinte und schüttelte entsetzt den Kopf. Er hatte heute noch nichts zu sich genommen. Allein beim Gedanken an etwas Essbares knurrte sein leerer Magen wie ein Dobermann, wenn der Postbote klingelt.
Sein Einkauf war nicht sonderlich gut sortiert eingepackt. Aus Angst vor dem fauchenden Reptil und der dicken Sphinx hatte er alles nur rasch und wahllos in die beiden Taschen gestopft. Es dauerte geraume Zeit, bis er Semmeln, Käse, ein Stück Salami und eine Flasche Milch beieinanderhatte.
Der Schweizer Taschenoffizier, sein einziger wirklich wertvoller Besitz, leistete gute Dienste und er schnitt, etwas umständlich, auf seinem Schoß, einige dicke Stücke von der Salami und dem Emmentaler ab, die er für Tereza und sich zum Frühstück eingekauft hatte.
Die arme Tereza. Sie hatte vermutlich bereits Kaffee aufgebrüht, und wartete auf ihn und seinen Einkauf. Die Alternative eines Picknicks im Park, bei schönem Wetter, in frischer Luft und in Gesellschaft dieses unbekümmerten Fratzen, der aus seinem noch kurzen, aber dennoch reichhaltigen Leben erzählte, machte an jenem Morgen für ihn das Rennen. Man braucht eben immer eine Alternative im Leben.
Leoni griff nach anfänglichem Zögern beherzt zu. Sie verputzten gemeinsam alle vier Semmeln und die gesamte Salami. Auch vom Käse blieb nur ein jämmerlicher Rest übrig.
Leoni wurde indessen immer gesprächiger. Sie schwadronierte, meist mit vollem Mund, über ihre Lehrer und ihre Freundin Luisa, die, nach ihrer Aussage, bereits herumvögelte, als gäbe es kein Morgen mehr.
Und auch die Freier ihrer Mutter, denen sie fast allesamt einmal aufgelauert hatte, bekamen ihr Fett ab.
„Einer“, lachte sie laut und besprühte Hans mit kleinen Salamiteilchen, „der kommt seit Jahren jeden Montag bereits um 6.00 Uhr in der Früh daher. Immer gleich nachdem die Mama aufsperrt. Anfänglich wusste ich gar nicht, dass der ziemlich reich ist. Er hat immer so einen blöden glänzenden Trainingsanzug an und tut nur so, als ob er joggt. Dabei geht er mehr, als dass er rennt. Richtig peinlich schaut das aus, weil er dabei immer diesen riesigen Beutel mit seiner dreckigen Wäsche mitschleppt. Den gibt er bei der Mama vorn am Tresen ab und verschwindet mit ihr nach hinten. Eine geschlagene Stunde braucht er, dieser komische Typ, bis er seinen anderen Dreck bei ihr losgeworden ist. Und immer, wenn er fertig ist, der notgeile Bock, dann rennt er sogar noch eine oder zwei Runden durch den Park. Erst danach geht er heim, duscht und fährt in sein Büro. Aber nicht, bevor er sich zum Abschied von seiner Alten an der Haustür ein fettes Busserl abgeholt hat. Kannst dir so was vorstellen? Immer einen Tag später holt diese depperte Kuh, ich schätze sie bestimmt zehn Jahre jünger als meine Mama, die gewaschenen und gebügelten Hemden wieder ab. Sie bezahlt für die Reinigung, und wirft der Mama obendrein ein fettes Trinkgeld in die Sparsau neben der Kassa. Ist das nicht der blanke Hohn? Mir tut die sogar a bisserl leid.“
„Und du bist dir sicher, dass du vollständig recherchiert hast, du kleine Detektivin? Womöglich“, lachte Hans, „huscht bei ihr, wenig später und unbemerkt, der Briefträger rein, nachdem sie ihren Gatten mit einem Busserl ins Büro verabschiedet hat.“
„Geh Hans“, rief sie entsetzt, „wie bist denn du drauf. Das glaub ich nicht. So unschuldig und deppert wie die ausschaut.“
„Hüte dich vor denen, die so brav ausschauen!“, schob er eine seiner offenbar schmerzhaften Lebenserfahrungen nach.
„Na ja, vielleicht hast du ja sogar Recht“, lachte Leoni, „dann wären die beiden wenigstens quitt.“
„Sag amal, warum nennst du dich eigentlich Hans im Glück? Das nimmt dir doch kein Schwein ab, mit der ausgefransten, speckigen Hose und dem grauselig gestopften Hemd. Für mich schaust nicht grad so aus, als hättest viel Glück gehabt. Und deine Haare, mal ehrlich, gehörten auch mal wieder geschnitten, meinst nicht?“
Hans lachte.
„Hast du niemals was vom Märchen vom Hans im Glück gehört?“
„Mhh? Mir hat zwar kaum jemand Märchen erzählt, aber die meisten kenn ich schon. Ist das nicht die Story mit dem Vollkoffer, der sich beim Tauschen dauernd bescheißen lässt?“
Hans musste schmunzeln und nickte.
„Okay“, versuchte sie, ihre glatte Stirn zu runzeln. „Dass könnt sich schon eher ausgehen und zu deinem Outfit passen. Nur würde ich mich dann lieber eBay nennen“, gluckste sie vor Vergnügen.
„eBay“? fragte er.
„Ach vergiss es einfach, Hans!“
Es ging stramm auf die Mittagsstunde zu. So gut und so lange kannte er seine Tereza noch nicht, um zu wissen, wie reißfest ihr Geduldsfaden war.
„Ich glaube, ich muss mich langsam verabschieden, Leoni. Ich danke dir für deine nette Gesellschaft und das interessante und offene Gespräch.“
„Jaja, ist schon gut. Brich dir nur keinen ab. - Aber Danke fürs Essen. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie gut Milch schmeckt.“
Er stand auf und entsorgte die Reste ihres gemütlichen Frühstücks in einem Abfalleimer. Körperlich und seelisch gestärkt, nahm er die etwas leichter gewordene Fracht wieder auf. Bereit, das letzte Stück zurückzulegen.
„Wir könnten ja mal gegeneinander quizzen“, schlug Leoni beim Abschied vor. „Komm, gib mir dein Telefon und ich lad dir rasch die App runter.“
„Leoni“, antwortete er, „ich fürchte, das wird nicht gehen. Ich besitze kein Mobiltelefon.“
Ihr stand der Mund offen.
„Du bist ja ein komischer Heiliger. Wie kann man nur ohne Telefon leben?“
Hans machte einen Schritt auf sie zu, bückte sich zu ihr runter, so, als wolle er ihr einen Kuss zum Abschied geben und flüsterte in ihr Ohr:
„Glücklich, Leoni, glücklich!“
T ereza öffnete ihm die Tür.
„Na Gott sei Dank, da bist du ja endlich. Ich wollte mich schon auf den Weg machen, um nach dir zu suchen.“
Er drückte Tereza einen flüchtigen Kuss auf die Wange und trat in die Wohnung. Sie nahm ihm eine der beiden Taschen ab und er folgte ihr in die kleine Küche.
„Tereza, bitte sei nicht böse. Ich habe unterwegs eine interessante junge Dame kennengelernt und da ist es einfach passiert.“
„Aber worauf, Hans, sollte ich dir denn böse sein? Da muss sich eben die alte, fade und langweilige Dame daheim ein kleinweinig auf ihr Frühstück gedulden, wenn der Herr etwas Interessanteres und Jüngeres kennengelernt hat.“ Tereza musste sich nicht sonderlich um einen angesäuerten, gereizten Ton bemühen.
„He Tereza, du brauchst doch nicht eifersüchtig zu werden. Was denkst du eigentlich? Die Leoni ist sechzehn oder vielleicht siebzehn! Wofür hältst du mich?“
„Na so wie es sich anhört, für einen der es gern mit halben Kindern treibt!“, grummelte sie.
Er musste lachen.
„Die Kleine ist mir einfach zugelaufen. Wir haben uns nett unterhalten, und, als wir Hunger bekamen, da haben wir halt leider, gleich drüben im Park, das ganze Frühstück zamgfressen, das ich für dich und mich eingekauft hatte!“
„Also besonders schön finde ich das nicht von dir. Gar nicht mal wegen des Frühstücks. Selbstredend habe ich im Kühlschrank noch eine Kleinigkeit an Essbarem gefunden und du bist sicherlich auch hübsch satt geworden, also sofern dir die Kleine etwas übriggelassen hat. Kinder, so hört man, müssen ja ordentlich essen. Besonders, wenn sie noch wachsen.“
„Du bist so süß, wenn du eifersüchtelst“, grinste er.
„Aber Hans, darum geht es doch gar nicht. Ja, ich habe mich geärgert! Aber warum habe ich mich geärgert? Weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Immer nervöser bin ich während der ewig langen Warterei geworden. Magst nicht mein altes Handy mitnehmen, wenn du in Zukunft mal wieder junge Mädchen aufreißt?“ Sie zeigte bereits wieder ihr gutmütiges Lächeln und legte ihm dabei sanft eine Hand auf die Schulter. „Wir kaufen dir eine Prepaid Card und du kannst wenigstens Bescheid geben. Mehr will ich doch gar nicht“
„Tereza, ich glaube, ich möchte das nicht. Schau, so ein blödes Handy hätte womöglich der ganzen schönen Begegnung die Spontanität genommen. Okay, du hast auf mich warten müssen. Das war freilich nicht schön. Hätte ich jedoch so ein komisches Handy bei mir gehabt und Anstalten gemacht, dich anzurufen, hätte das Mädchen womöglich ganz anders reagiert. Es hätte vielleicht gesagt, dass es nicht möchte, dass wegen ihm jemand warten muss. Oder du hättest am Telefon einfach komisch reagiert. Ich hätte Zustimmung oder Gleichgültigkeit, Zorn, Enttäuschung oder Ärger aus deiner Stimme hören können und entsprechend handeln müssen. Im schlimmsten Fall hätten wir eine Uhrzeit vereinbart. Ich komme in einer Stunde oder so. Ich hätte mich somit in ein zeitliches Korsett gezwängt. Von diesem Zeitpunkt an wäre die verbleibende Stunde gnadenlos heruntergetickt. Was immer ich getan hätte, Tereza, der Vormittag wäre sicherlich komplett anders, und lange nicht so spontan und interessant verlaufen.“
„Schön und gut, Hans! Du magst ja die Zeit genossen haben. Für mich hingegen war der Vormittag nicht sonderlich spannend. Ich sehe mich bei diesem albernen Spiel wie eine dumme Verliererin. Ich habe hier gesessen, unnütz gewartet und mir Sorgen gemacht. Schau Hans, so ein Handy kann doch auch recht nützlich sein. Was machst du denn, wenn dir plötzlich mal schlecht wird oder du hinfällst?“
„Dann - rufe ich um Hilfe!“
Tereza antwortete mit einem langen Seufzer und beließ es dabei. Für heute. Er merkte sehr wohl, dass das Thema noch lange nicht durch war. Aber es war ihr erster kleiner Disput und eine Streitkultur will behutsam entwickelt werden. So räumten sie schweigend den verbliebenen Rest seines Einkaufes aus den Taschen und verstauten ihn in der Küche.
Seit etwas mehr als drei Wochen wohnte er jetzt schon bei Tereza. Nur wenige Tage davor, lernten sie sich in einem Swingerclub kennen.
Der Club war keine zehn Minuten von Terezas Wohnung entfernt und residierte in einem unscheinbaren uralten Haus. Dass in diesem wenig attraktiven Wohnquartier nicht jedes Haus wie ein Ei dem anderen glich, war nur dem unterschiedlichen Grad des Verfalls geschuldet.
Vera und Bruno, beide in den Vierzigern, kauften dieses leerstehende, dem Verfall preisgegebene Haus, und richteten auf dessen ersten Etage ihren Lusttempel ein. Sie planten, sukzessive den Rest des Hauses zu renovieren, und den Club bei Bedarf zu vergrößern. Nichts deutete von außen auf das Geschehen hinter den Mauern hin. Lediglich ein kleines dezentes Messingschild, mit dem Schriftzug „Vera & Bruno“, zeigte seinen Besuchern an, ihr Ziel erreicht zu haben. Die Clubmitglieder wurden gebeten, sich bei Eintreffen und Verlassen möglichst ruhig und unauffällig zu verhalten. So wurde die Nachbarschaft lange nicht gewahr, was sich wirklich bei Vera & Bruno abspielte. Man hätte sich ebenso gut zu einer Partie Bridge treffen können oder um gemeinsam zu kochen.
Schließlich sickerte doch langsam durch, was sich hinter dem Messingschild verbarg, und von diesem Tag an störte es die Nachbarn. Zumindest jene, denen äußerst viel an Zucht und Ordnung gelegen war.
Bei der Besetzung des obersten Saubermanns tat sich ein unverheirateter verbissener dürrer Mann, jenseits der Fünfzig, besonders hervor. Er hinkte stark. Nachdem er als junger Mann von einem Auto angefahren worden war, hatte er das Leben zu seinem Feind erklärt und ausschließlich seine Verbitterung gepflegt.
Jeden Morgen, so etwa um halb fünf, führte er seinen widerlichen Spitz nach draußen. Ein unsympathisches Vieh, das schon Kinder gebissen hatte und, ebenso wie sein Herrchen, mit einem Bein etwas hatschte.
Im Schutze der Morgendämmerung zog er mit seinem Hausschlüssel eine tiefe Schramme über zwei Kotflügel und Türen in Brunos nagelneuen BMW X6.
Bruno war außer sich. Er hatte für teures Geld den Wagen umgehend neu lackieren lassen, als, nur wenige Tage später, die blinde Zerstörungswut erneut zuschlug. Er beschloss, schweren Herzens, fortan den Wagen einfach zerschunden zu lassen, ärgerte sich aber jedes Mal unsagbar, wenn er einstieg, und wieder einen neuen Kratzer entdecken musste. Mittlerweile ähnelte die Fahrerseite einem Strickmuster. Die Anzeige gegen Unbekannt hatte nichts eingebracht und war schon längst im Sand verlaufen. Das änderte sich erst, als sich der pure Zufall auf Brunos Seite schlug und Hans den ordnungsliebenden Nachbarn auf frischer Tat ertappte.
Hans verteilte aushilfsweise Werbeflyer. Er hatte sich, weil es ein heißer Tag werden sollte, schon sehr früh auf den Weg gemacht. Nachdem er beobachtet hatte, wie der Kerl zunächst seinem Spitz erlaubte, einen riesigen Haufen mitten auf den Gehweg zu setzen, war ihm bereits der Kamm geschwollen. Als sich dieser missliebige Geselle obendrein anschickte, mit seinem Schlüsselbund, auf jede Wagentür ein fettes Kreuz in den Lack zu ziehen, stellte ihn Hans zur Rede.
Äußerst aggressiv wurde ihm umgehend mit dem Spitz gedroht. Er bekam zu hören, dass ihm das alles einen Schweißdreck anginge und er sich gefälligst verpissen solle. Der unfreundliche Mitmensch hinkte daraufhin seinem hatschenden Spitz hinterher und verschwand im Haus gegenüber.
Hans hinterließ einen Zettel am Wagen. Auf ihm notierte er den Namen seines Kaffeehauses in der Leopoldstadt. Er habe alles beobachtet und man könne ihn, fast täglich, am Vormittag in Xavers Kaffeehaus antreffen. Man solle nur nach Hans im Glück fragen.
So kam es, dass sich Hans und Bruno kennenlernten. Dem mutwilligen Zerstörer wurde das Handwerk gelegt. Hans weigerte sich zwar, wegen durchwachsener Erfahrung mit der Obrigkeit, bei der Polizei oder später, falls es zu einer Verhandlung vor Gericht kommen sollte, auszusagen, aber Brunos Anzeige gegen diesen Menschen genügte vollkommen. Die Indizien waren erdrückend. Man konnte am Hausschlüssel genügend Rückstände vom Lack des BMWs nachweisen, und das Verhör dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis der Kerl alles zugegeben hatte. Der Herr mit Spitz musste mit einer drakonischen Geldstrafe rechnen, zu der sich ein horrender Schadenersatzanspruch addierten sollte.
Bruno bot Hans zum Dank einen großzügigen Geldbetrag an. Hans lehnte ab. Ihm, einem Nichtsesshaften, sei mehr mit einer trockenen Nische geholfen, in der er ungestört unterkriechen und bei Bedarf die Nacht verbringen könne.
Auch wenn seine Vera alles andere als begeistert war, richtete Bruno im Erdgeschoß des Clubs für Hans ein Lager ein. Hier hatte, in grauester Vorzeit, ein Greißler sein Geschäft geführt.
Hinter dem eigentlichen Laden befanden sich ein WC und eine kleine Kammer. In der stand sogar noch das eiserne Bettgestell, auf dem der ehemalige Geschäftsinhaber seine Mittagspausen verdöste, respektive, auf seine Weise, die Schulden bei der ein- oder anderen armen Hausfrau eintrieb, die seitenweise sein Anschreibbuch füllten. Er war ein guter Mensch gewesen und hatte stets großzügig anschreiben lassen.
In einer Ecke der Kammer war nachträglich eine Mauer eingezogen, und sogar eine großzügige Dusche installiert worden. Ein weiterer kleiner Raum, den man durch einen schmalen Gang erreichte und der dem Laden schon früher als Lager diente, war noch immer mit Regalen vollgestellt. Hier türmten sich gegenwärtig Putzmittel, Wäsche und Hygieneartikel aller Art, die alle eine Etage höher, in Veras und Brunos Etablissement, ihre Verwendung fanden.
Für die Hintertüre, durch die man in den Hof gelangte, überließ Bruno Hans einen Schlüssel. Die Ladentür, die direkt auf die Straße führte, war mit einem schweren eisernen Gitter fest verbarrikadiert und blieb verschlossen.
„Sicherer kannst nimmer wohnen“, meinte Bruno und sagte Hans zu, solange bleiben zu dürfen, bis er auch jenen Teil des Hauses renovieren und anderweitig nutzen wolle.
Er halte sich eh nie sonderlich lange am gleichen Ort auf, bedankte sich Hans für den Schlüssel.
Als er am selben Abend, nach einer ausgiebigen Tour durch seinen Bezirk, in seiner neuen Behausung eingetroffen war, sah er sich gerührt, da ihm Bruno die Kammer mit einer Matratze, Wolldecken, etwas Mobiliar, Handtüchern und einem Stück Seife recht gemütlich ausgestattet hatte.
Hans genoss vor allem die ruhigen und ungestörten Nächte. So lässt es sich prima leben, dachte er jedes Mal, wenn er am Morgen ausgeschlafen unter die Dusche stieg.
„Heilige Jungfrau! Wer sind Sie, und was tun Sie hier?“
Bevor er seine Augen öffnen und antworten konnte, musste sich Hans erst den Seifenschaum vom Kopf abspülen. Er hatte soeben die Haare gewaschen und reinigte sich gerade ausgiebig seine Ohren, als eine scharfe, ihm unbekannte weibliche Stimme in sein Ohr drang. Sie hatte den Duschvorhang zur Seite gezerrt und Hans mit schräg gestelltem Kopf eindringlich gemustert.
„Hans“, stellte er sich vor und reichte ihr seine seifennasse Hand nach draußen, „man nennt mich auch Hans im Glück.“
„Und was, um alles in der Welt, haben Sie hier zu tun?“
„Ich nehme eine Dusche, wie sie unschwer feststellen können. Wenn Sie auch gern duschen möchten? Wir sind beide recht schlank. Ich meine, das sollte sich bequem ausgehen!“
„Na das glaube ich Ihnen aufs Wort. Das würde Ihnen so passen. Ich bin doch keine von denen da oben!“
Sie hätte längst den Vorhang wieder zuziehen oder ihm das Handtuch reichen können, das über einem der beiden Stühle hing. Aber sie fand offenbar großen Gefallen daran, ihn von Kopf bis Fuß in Augenschein zu nehmen und zu begutachten.
„Allem Anschein nach, schauen Sie gerne älteren Herren bei intimen Handlungen zu. Machen Sie das in dem Etablissement, eine Stiege über uns, genauso?“, fragte Hans und grinste ihr spitzbübisch ins Gesicht.
Sie zog daraufhin so schnell den Vorhang zu, dass oben, an der Decke, einige Ösen aus der Schiene hüpften.
„Ich frage Sie jetzt zum allerletzten Mal!“, rief sie in einer Lautstärke, als müsse ihre Stimme plötzlich durch Mauerwerk oder eine geschlossene Türe dringen. „Wer hat Ihnen die Erlaubnis erteilt, hier zu duschen?“
„Wenn Sie mir das Handtuch hereinreichen und mir drei Minuten Zeit geben, werde ich Ihnen alles in Ruhe erklären. Sie können gerne solange Platz nehmen.“
Als Hans mit umgeschlungenem Handtuch aus der Dusche trat, verströmte er den herben männlichen Duft der Seife und sein frottiertes, unfrisiertes Haar zeigte lustig in alle vier Himmelsrichtungen. Er erklärte, warum es ihm erlaubt war, hier zu duschen und zu übernachten.
Die Dame wirkte sichtlich erleichtert. Richtig froh, sich nicht mit einem illegalen Eindringling herumschlagen zu müssen. Sie nahm den strengen Blick einer Gouvernante ab, ersetzte ihn umgehend durch eine sympathische, liebenswerte Miene und stellte sich ihm als Tereza Czornberg vor.
„Ich habe erst kürzlich bei Herrn und Frau Windisch die vakante Stelle als Hausdame angetreten“, lächelte sie freundlich. „Da werden wir uns hier unten wohl öfter begegnen“, fuhr sie fort. „Ich habe mehrmals täglich hier zu tun. Drüben in der kleinen Kammer liegt alles auf Lager, was ich für meine tägliche Arbeit benötige. Von frischer Bettwäsche, die ich selbstverständlich ständig wechsele, über Handtücher, Toilettenpapier, bis hin zu den Kondomen, die ich mehr als reichlich auslegen muss.“
Sie versicherte mehrmals, keineswegs die Absicht gehegt zu haben, diese Kammer zu betreten, um einen nackten Mann beim Duschen zu beobachten. Hätte sie das Wasser nicht rauschen hören und einen Wasserrohrbruch vermutet, wären sie sich womöglich nie, und schon gar nicht in dieser kompromittierenden Weise, begegnet.
Hans entgegnete, er würde sich durchaus freuen, wenn sie wieder einmal bei ihm hereinschaute. Gerade dann, wenn kein Wasser lief, würde er, vermutlich auch dann nicht sonderlich weltmännisch, aber ganz bestimmt wesentlich seriöser als heute gekleidet sein und sie gerne zum Kaffee empfangen.
„Dann warte ich lieber, bis das Wasser wieder rauscht. Nur, um Sie erneut zu kompromittieren“, grinste sie erhaben und stupste ihn mit dem Zeigefinger leicht auf seine weißbehaarte Brust.
Sie erhob sich um zu gehen, und Hans kontrollierte sorgsam den Sitz seines Handtuches, bevor er ebenfalls aufstand. Sie reichten sich zum Abschied die Hand und sahen sich, nur für den Bruchteil einer Sekunde, länger als notwendig in die Augen.
„Was für eine Frau“, sagte er leise zu sich, nachdem sie seine Kammertüre von außen ins Schloss gezogen hatte. Der ungewöhnliche Ort ihrer Begegnung, ihre kultivierte Ausdrucksform, aber auch dieser latent frivole Unterton während ihres kleinen, äußerst sympathischen verbalen Schlagabtausches, und die kurze intime Berührung mit dem Finger, waren keineswegs bar jeglicher Erotik. Das dokumentierte eindrucksvoll das Handtuch, das, nachdem er den Knoten auf der Seite gelöst hatte, noch lange nicht zu Boden fiel.
Bereits am nächsten Morgen klopfte es, viel zaghafter als ihre feste Stimme am Vortag erwarten ließ, an seine Tür. Hans hatte seine Morgentoilette längst hinter sich gebracht und Tereza überraschte ihn mit einer Thermoskanne voll duftenden Kaffees und frischen Kipferln.
Gegenseitige Sympathie ließ dieses kleine gemütliche Frühstück rasch zu einer fast täglich gepflegten Übung aufsteigen. Ihre kleinen Treffen waren sehr kurzweilig, denn man hatte sich viel zu erzählen. Besonders Terezas amüsante und spannende Geschichten über ihren neuen Job bei Vera und Bruno sorgten für gute Unterhaltung.
Tereza konnte sich, so erzählte sie, ihre Arbeitszeit weitgehend selbst einteilen. Vera und Bruno hatten, bis auf Sonntag, täglich ab 20.00 Uhr geöffnet. Die ersten Gäste trafen selten vor 21.00 Uhr ein. Vera und Bruno verließen ihr Etablissement nicht, bevor sämtliche dargebotenen lukullischen und erotischen Köstlichkeiten, sowohl von Gläsern und Tellern als auch von den Gästen untereinander, ratzeputz abgeschleckt und somit alle menschlichen Genüsse und Gelüste befriedigt waren. Das war selten vor 5.00 Uhr in der Früh der Fall.
Täglich brachte Tereza die besudelte Schmutzwäsche aus dem Club in eine kleine Wäscherei, um sie tags drauf, auf ihrem Weg zur Arbeit, gereinigt und gebügelt wieder abzuholen. Während des Tages bestand ihre Aufgabe darin, die Räume des Clubs wieder in den Zustand zu versetzen, wie ihn die nächsten Gäste vorzufinden wünschten. Sämtliche Wäsche musste gewechselt, Geschirr und Gläser mussten lückenlos aus allen Räumen und Ecken zusammengesammelt und abgewaschen werden. Die aufgestellten Plastikeimerchen, für benutzte Kondome und andere Hinterlassenschaften, musste sie entleeren und deren Inhalt beseitigen. Selbst versprengte kleine Kameraden, die ihren Weg nicht bis ins Eimerchen fanden, sondern im Rausch der Sinne in nahezu unzugängliche Ecken oder Bettritzen geknautscht worden waren, mussten aufgespürt und ebenso entsorgt werden. Ein unappetitlicher Dienst am Kunden, und schon mehr als einmal hatte sie sich vorgenommen, dem Erfinder des Gummihandschuhs eine Kerze in der Kirche anzuzünden. Je nachdem, welchem Fetisch die werten Gäste frönten, gab es für Tereza mehr oder weniger Ungustiöses zu beseitigen. Kurzum. Alles musste picobello aussehen, bevor am Abend die nächste illustre Gästeschar eintraf.
Und hier traf sich fürwahr ein buntes Häufchen. Ganz gleich, ob es sich um einen einfachen Bankangestellten in Begleitung der Assistentin seines obersten Chefs handelte, um Herrn Hochwürden und seine Kirchenvorstandsvorsitzende, oder ob das bisexuelle lesbische Ehepaar mit ihrer männlichen Urlaubsbekanntschaft um Einlass baten, nach spätestens einer Stunde, wenn man sich an der Bar etwas locker getrunken hatte, trugen alle die gleiche Garderobe und waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden.
Einzig Terezas Lieblingsgast, ein aus Argentinien stammender Flugkapitän, der, immer dann, wenn er ein paar Tage in Wien weilte, mit ein, zwei oder gar drei seiner Flugbegleiterinnen bei Vera und Bruno Entspannung suchte, unterschied sich um Längen von all den anderen Gästen. Nicht zu Unrecht verpassten ihm Vera und Bruno den Spitznamen Jumbo-Jet, obwohl dieser sympathische und lustige Zeitgenosse beruflich nur eine vergleichbar lächerliche Bombardier 400, auf der Strecke nach Klagenfurt oder Salzburg, flog.
Hans lauschte amüsiert Terezas Frühstücksgeschichten und fragte, woher sie all diese Details kenne, und ob sie selbst am Clubgeschehen teilnähme und aktiv mit von der Partie sei.
„Was denken Sie von mir, Herr Hans?“, empörte sie sich, musste aber sogleich etwas schmunzeln. Nein, sie habe lediglich zwei- oder dreimal bis Mitternacht an der Bar ausgeholfen, als Vera mit schlimmem Fieber im Bett lag. Natürlich habe sie nicht, sobald gegen Mitternacht das Geschäft an der Bar gen Null tendierte, im Gegensatz zu einer gesunden Vera, munter ins Geschehen eingegriffen. Vielmehr sei sie, selbstredend, jeweils hundemüde nach Hause geschlichen. Mitbekommen habe sie dennoch weit mehr als ihr lieb war. Der unappetitliche schwielige Priester etwa, und seine, um einen Kopf größere, walkürenhafte muffelnde Kirchenvorstandschefin, hätten den ganzen Abend vergeblich versucht, sie zu einem munteren Dreier zu bewegen. Was der Argentinier hingegen mit seinen drei Crewmitgliedern bereits auf den Barhockern und unmittelbar vor ihren Augen veranstaltete, sei an Standhaftigkeit, Einfallsreichtum und Aberwitz kaum zu überbieten gewesen.
Spätestens nach Mitternacht, sei die ganze muntere Gästeschar nur noch ein verklumptes, zuckendes und stöhnendes Knäuel menschlichen Materials, das alles andere als nach ihrem Geschmack sei.
Tereza und Hans waren sich beide völlig einig, dass dies nicht die Art Sexualität sei, zu der sie jemals Zugang suchen oder finden würden. Es fehlte ihnen sowohl an der exhibitionistischen als auch an einer, zumindest latent verfügbaren, bisexuellen Ader, die ihres Erachtens vonnöten sei, wolle man solche menschlichen Knäuel nackter Leiber, auf einer Spielwiese oder gar in einem Darkroom, unbeschwert genießen.
Nicht nur darin waren sich Tereza und Hans einig. Auch darüber, dass ein gemeinsames Frühstück auf Dauer nur Spaß macht, wenn man zuvor auch gemeinsam aufgewacht ist.
Knapp zwei Wochen nach ihrer ersten Begegnung packte Hans bereits seinen Rucksack und zog in die Novaragasse, in Terezas kleine, beschauliche Wohnung.
Terezas Familie kam aus Mähren. Sie entstammte einem alten und hoffnungslos verarmten Adelsgeschlecht, welches, sieht man von Tereza selbst ab, als ausgestorben galt. Sie selbst hatte sich jedoch gut und standesgemäß verheiratet. Mit ihrem Auserwählten, einem österreichischen Baron, lebte sie auf einem hübschen Anwesen im nordöstlichen Weinviertel.
Ihr Gatte erdreistete sich, plötzlich und unerwartet, vor etwa zehn Jahren, das Zeitliche zu segnen. Ein Hochsitz seiner freiherrlichen Jagd hielt seinem heftigen Liebesspiel nicht stand, und so segelte er, gemeinsam mit einer seiner Konkubinen, der drallen Gattin des größten lokalen Winzers, sieben Meter tief in den feuchten Waldboden. Sie fiel weich auf ihn und brach sich lediglich den Arm, er fiel hart auf eine Wurzel und brach sich das Genick, und Tereza fiel untröstlich aus allen Wolken, und es brach ihr das Herz.
Dabei hatten sie und ihr Baron, wie sie meinte, stets eine gute Ehe geführt. Zwar blieben sie, nachgewiesenermaßen wegen ihm, kinderlos, aber sonst fehlte es an nichts. Sie genossen das Leben in vollen Zügen. Sie gingen aus, hatten Gäste, reisten viel und hatten Sex. Und das nicht zu knapp. Nur dicke Dinger, wie er es nannte, und auf die er so scharf war, konnte und wollte sie ihm nicht bieten. Ein für ihn ärgerlicher Tatbestand, der jedoch seit Anbeginn ihrer Beziehung feststand und nicht zu ändern war, denn es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich ohne Not unter das Messer zu begeben. Aber vielleicht meinte ja ihr Gatte, ihr Busen wüchse noch, wenn er ihn nur regelmäßig düngte?
Nach fast zwanzig jähriger Ehe und nach seinem plötzlichen amourösen Tod gärte in ihr eine seltsame Mischung aus tiefer Trauer und grenzenlosem Hass. Tereza fand, er sei zu billig davongekommen. Sie hätte ihn gerne viel heftiger an ihrer Wut und tiefen Kränkung teilhaben lassen. Der Mistkerl hatte sie mit der Schmach zurückgelassen, vor der ganzen Welt als dummes Huhn dazustehen. Sie war vermutlich die Einzige im ganzen Weinviertel, die nichts von den Umtriebigkeiten ihres Gatten ahnte. Der verlor regelmäßig, spätestens ab Körbchengröße D, völlig den Verstand und ließ keinen Versuch aus, um bei seiner üppigen Beute zum Zug zu kommen. Und er kam fast immer zum Zug. Er sah gut aus, hatte Manieren und vor allem, er wirkte reich.
Der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten. Er war nicht reich! Gleich nach der Testamentseröffnung, klärte sie ihr Anwalt über ihre prekäre finanzielle Lage auf. Sie und ihr Baron hatten seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt. Sie war zwar nicht völlig Pleite, aber es war höchste Zeit die Reißleine zu ziehen. Das Landschlösschen durfte wegen alter Familienstatuten nicht verkauft werden. Aller Rest, die Jagd, die Wälder, alle landwirtschaftlichen Nutzflächen, Gebäude und Gerätschaften kamen unter den Hammer. Es reichte gerade, um alle Schulden zu tilgen und den Anwalt zu bezahlen. Das kleine Schloss war ohnehin zu groß, um alleine darin zu wohnen. So beschloss sie, dem Landleben und dem Getuschel hinter ihrem Rücken zu entfliehen. Sie hatte Glück, dass sich die Gemeinde bereitfand, das Schloss zu mieten, um es als kleines Heimatmuseum zu nutzten und gleichzeitig zu erhalten. Der ihr daraus zuwachsende monatliche Ertrag reichte aus, um sich in Wien, in der Leopoldstadt, eine kleine, bescheidene Wohnung zu mieten und die Dinge des täglichen Bedarfs zu decken. Für alles, was darüber hinaus ging, musste sie hinzuverdienen.
Zwar hatte sie vor Urzeiten ihre Matura absolviert und sogar ein Lehramtsstudium begonnen, hatte aber nach einigen Semestern alles hingeschmissen, um ihren Baron zu heiraten.
Als Witwe hinderte sie ihre abgrundtiefe Verbitterung daran, sowohl privat als auch beruflich einen Neuanfang zu wagen. Von Männern hatte sie ein für alle Mal die Schnauze voll und sie sah sich nach keiner neuen Beziehung um. Sie war mehr und mehr in sich gekehrt und ihr äußeres Erscheinungsbild glich sich ihrem inneren an. So war sie mit den Jahren zur grauen Maus mutiert. Sie glich einer alten Jungfer, die wesentlich älter wirkte, als sie tatsächlich war.
Beruflich fühlte sie sich saft- und kraftlos und hatte keine Energie für einen Neustart. Sie begnügte sich mit einfachen Gelegenheitsjobs und musste, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, annehmen, was zu kriegen war. Gegenwärtig wurden Hausdamen in Swinger Clubs händeringend gesucht.
Natürlich war Veras und Brunos Club nicht ihre erste Wahl gewesen. Aber die günstige Lage, in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung, bewog sie schließlich, den Job anzunehmen. Sie besaß kein Auto und so ersparte sie sich die Fahrten in überfüllten und übelriechenden öffentlichen Verkehrsmitteln, die sie mied, wie eine Katze einen Wolkenbruch.
Warum sich Tereza, nach zehn enthaltsamen Jahren, ausgerechnet Hans, einen Nichtsesshaften, jenseits der Sechzig, zum Sexualpartner wählte, mag sich einem neutralen Beobachter nur schwer erschließen. Es war schlichtweg jener kurze Moment mit dem langen Blick. Diese erste Begegnung in der Dusche.
Ein nackter, völlig eingeseifter Sandler, der körperlich gut in Schuss ist, unterscheidet sich von einem Herrn von edlem Geblüt so gut wie gar nicht. Und bevor Hans die Gelegenheit bekam, sich zu erklären, hatten die verschmitzten Augen dieses nackten, aus Schaum geborenen Mannes, bereits den Code geknackt, der Terezas Schoß für eine Dekade fest verschlossen hielt.
Hans war kein Sandler im üblichen Sinn. Einer der stank wie ein Bock. Einer der täglich bis zum Augenstillstand vollgesoffen unter Brücken oder auf den Lüftungsschächten der U-Bahnen lag und sich nachts mit einer Tageszeitung zudeckte. Hans war kein wirklicher Nichtsesshafter. Seine Sesshaftigkeit war nur selten von längerer Dauer. Er war ein Getriebener und musste einfach immer und immer weiterziehen. Aber er fand, nicht zuletzt wegen seiner umgänglichen, freundlichen und hilfsbereiten Art, stets neue Unterkünfte. Mal nur für eine Nacht. Selten länger als für drei bis vier Wochen. Und gerade mal zwei Wochen waren es, die er in der alten Greißler Kammer in Veras und Brunos Haus zugebracht hatte.
Im Gegensatz zu Vera bedauerte es Bruno, als Hans kurzfristig seinen Auszug ankündigte und den Schlüssel zurückgab. Bruno mochte Hans und seine kauzige Art. Sie waren sich einige Male in Xavers Kaffeehaus begegnet, wo ihn Bruno stets zu Kaffee und Kuchen und einem Glas vom besten Cognac des Hauses einlud. Dann feierten sie, Bruno meist ausgelassener als Hans, einmal mehr den Sieg über den bösen Nachbarn, dem Herrn des Spitzes.
Hans war in der Nähe von Nürnberg geboren. Dort hatte er die meiste Zeit seines Lebens verbracht. Vor etwa fünfzehn Jahren strandete er in Wien. Dabei war er nur auf der Durchreise gewesen. Er hatte sich mit einem alten Damenfahrrad auf den Weg gemacht. Er wollte damit Sibiu, in Rumänien, das ehemalige Hermannstadt, erreichen.
Ein älterer Herr, damals bereits über siebzig, ein Bildhauer, hatte im Nachbarhaus von Hans Eltern seine kleine Werkstatt betrieben. Ihm hatte Hans, als kleiner Bub, oft stundenlang fasziniert beim Holzschnitzen zusehen dürfen. Dabei hatte er aufmerksam den Geschichten gelauscht, die der alte, sich vor Heimweh verzehrende Mann, stets aus seiner Heimat Siebenbürgen erzählt hatte. Die Geschichten waren so blumig und voller Wehmut erzählt, dass der kleine Hans annehmen musste, es handele sich um das schönste Fleckchen auf Erden, um die Vorstufe zum Paradies.
Daran hatte sich Hans erinnerte, als er sich, nachdem er fast alles verloren hatte, mit seinem alten Rad, so ziemlich das letzte was ihm geblieben war, auf den Weg gemacht hatte. Er war zunächst bis Regensburg gefahren, weiter der Donau gefolgt und schließlich nach Wien gelangt. Wien kannte er aus besseren Tagen und hatte beschlossen, dort einige Zeit zu verweilen. Zeit war das einzige, von dem er ausreichend hatte. Als er nach einigen Wochen Wien verlassen und sich auf den Weg donauabwärts gemacht hatte, war er nur bis Bratislava gekommen. Er hatte rasch gemerkt, dass es sehr schwerer war, sich in einem Land zurechtzufinden, dessen Sprache man nicht mächtig war. Gerade dann, wenn es am Geld fehlt. Geld, das notfalls jede Sprache spricht. Zu allem Übel hatte man ihm sein Rad gestohlen, als er im Janko Kral Park übernachtet hatte. Fast drei Tage hatte er gebraucht, um zu Fuß nach Wien zurückzukehren. Hier, so hatte er beschlossen, wolle er nun doch für unbestimmte Zeit bleiben. Und hier ist er bis heute geblieben.
Von alledem, was vor seiner Flucht vor dem Überfluss, wie er es nannte, in Deutschland vorgefallen war, über seine Beweggründe, seiner Heimat den Rücken zu kehren, schwieg er sich beharrlich aus. Nur einmal, als Tereza seine Schuhe putzen wollte und deren ausgesprochen gute Qualität lobte, erwähnte er, dass dies noch ein selbstgefertigtes Paar seines Vaters sei und fügte unmissverständlich hinzu, dass für dessen Pflege er, und nur er persönlich, Sorge tragen werde. Auf weitere Fragen seine Zeit in Deutschland betreffend hielt er sich äußerst bedeckt. Er werde ihr, versprach er, zu gegebener Zeit alles erzählen. Er sei jedoch im Hier und Jetzt ausgesprochen glücklich. Was gestern war, interessiere ihn nur mehr am Rande.
Tereza war alles andere als auffällig. Sie war 55 Jahre alt. Groß und schlank. Sehr schlank. Sie hatte dunkle, kluge Augen, eine schmale Nase und schöne, wohlgeformte Lippen. Ihr dichtes, fast weiß ergrautes Haar hatte sie immer zu einem Zopf geflochten. Wenn sie ausging, trug sie diesen meist zu einem Knoten zusammengefasst. Ihr Stil war zeitlos, um nicht zu sagen hausbacken. Es überwogen Grautöne und Erdfarben. Sie trug stets Röcke, die ihre Knie verbargen. Dazu bevorzugte sie meist weiße Blusen, die oft mit Rüschen besetzt waren. Nie sah man sie in einer Hose. Eine Jeans an ihr wäre undenkbar gewesen. Ebenso wie hochhackige Schuhe. Sie wählte stets Schuhwerk mit flachen Absätzen. Lediglich ihr ruhiger und außerordentlich aufrechter Gang verlieh ihr etwas Erhabenes und ließ ihre aristokratische Herkunft erahnen.
Hans war mal blond gewesen. Hellblond als Kind. Dunkelblond als Erwachsener. Heute würde man seine Haarfarbe eher straßenköderblond bezeichnen. Er machte für sein Alter einen gut trainierten Eindruck und zwischen seinen markanten Zügen, zeigte sich eine gegerbte Haut von gesunder Gesichtsfarbe. Die graublauen Augen schauten spitzbübisch drein. Sein Haar schrie dringlich nach einem Schnitt. Es schien, als habe er, aus Verzweiflung und mit mäßigem Erfolg, selbst Hand an sich angelegt, was jedoch nicht der Fall war. Er besaß zwei braunbeige baugleiche Cordhosen und zwei karierte Flanellhemden. Alles war geflickt oder gestopft und müsste dringend erneuert werden. Hätte er eine bessere Haltung, würde er Tereza ein kleinwenig überragen. Die ewige Buckelei mit dem Rucksack hat jedoch seinen Rücken gekrümmt und ließ beide gleichgroß erscheinen.
Betrachtete man sie als Paar, so könnte man sie durchaus, mit ein kleinwenig Typberatung für Tereza, etwas neuer Kleidung für Hans und etwas Frisör für beide, vielleicht im Rahmen einer Vorher-Nachher-Show, in einer Apotheken Zeitschrift, als zwei rüstige Senioren ablichten lassen und zur Schau stellen.
Ihrem Alter zum Trotz hatte Tereza eine Haut wie Puderzucker. Ihr kleiner, runder Hintern wurde durch ihre Wespentaille appetitlich betont. Ihr Busen war wirklich klein. Klein aber wohlgeformt. Ihre winzigen, zartrosa Knospen richteten sich schon bei einer leichten Brise vorwitzig auf und lugten neugierig in die Welt. Es war Hans unverständlich, dachte er an ihren verblichenen Baron, wie man vor so etwas Schönem davonlaufen und sich wegen ein paar Pfund zusätzlichen Fettgewebes zu Tode stürzen konnte.
So etwas wie einen Bauch fand man an ihr nicht. Die nächste kleine Wölbung, die ihr Profil verlieh, war bereits die Pforte ins gelobte Land. Hier hielt ein flauschiges Grau ihr Allerheiligstes verborgen. Ein Grau, das sich frei entfalten durfte, aber, aristokratisch wohlerzogen, nur dort sprießte, wo es schicklich war. Sie verwendete kaum Kosmetika, noch versuchte sie, ihren berauschenden weiblichen Duft chemisch zu vertreiben. Und dennoch trug sie immer etwas Frisches an sich, etwas leicht Zitroniges, dessen Quelle sich ihm nie ganz erschloss. Vielleicht ist es ja gerade jenes zusätzliche Gen, welches der Adel in sich trägt und welches ihn zu dem macht, was er vorgibt zu sein.
Hans trug auch im Sommer einen Pullover. Zumindest hatte es den Anschein, denn sein überaus dichtes, fast weiß ergrautes Brusthaar spross üppig und vergaß auch Schultern und Rücken nicht, mit Naturwolle zu überziehen. Ganz ohne Bauch war das Leben an ihm nicht vorübergegangen, auch wenn dieser eher genetisch vererbt, als angefressen schien. Sein kleiner, flachgesessener Hintern war nicht der Rede wert. Was an dessen Vorderseite lustig baumelte war ganz in Ordnung, aber unübersehbar und erbarmungslos der Schwerkraft ausgesetzt.
Heute am späten Nachmittag war es soweit. Er war mit dem wenigen, was er besaß, bei Tereza eingezogen. Es war Sonntag. Es gab Kaffee. Sie hatte einen Apfelkuchen mit Streuseln gebacken und dazu eine große Schüssel Obers geschlagen. Sie saßen in der kleinen, heimeligen Küche und er konnte von dem köstlichen Kuchen nicht genug bekommen. Während er anschließend ausgiebig duschte, stopfte sie alles, was sie an Kleidung von ihm fand, in die Waschmaschine. Frisch geduscht zog er den Bademantel über, der für ihn an der Innenseite der Badezimmertür bereit hing. Er fand Tereza im Schlafzimmer. Sie hatte das zweite Bett frisch für ihn überzogen und wirkte nachdenklich.
„Mach es dir bequem“, lächelte sie und er gehorchte. Hans schlüpfte aus dem Bademantel und legte sich ins Bett. Aufgeregt. Wie ein Pennäler.
„Man verlernt es nicht, es ist wie Fahrradfahren!“, gab sie ihm aufmunternd zur Antwort.
Er hatte ihr etwas verunsichert gestanden, dass sein letztes Mal schon so viele Jahre zurückläge. Er könne sich gar nicht mehr recht entsinnen, was alles im Einzelnen dabei zu tun sei.
„Du meinst also aufsteigen, sich in den Sattel schwingen und in die Pedale treten?“
„So ähnlich!“, lachte Tereza, und schlüpfte aus ihrem Rock.
So wie sie sich eines Kleidungsstückes nach dem anderen entledigte, war es ihm, als würden dunkle graue Wolken vom Himmel geschoben. Als bräche, wie aus dem Nichts, eine strahlende Sonne hervor. Der Schmetterling der sich vor dem großen Spiegel am Fußende des Bettes seiner Verpuppung entledigte und sich vor seinen Augen zu voller Schönheit entfaltete, raubte ihm den Atem.
Und leider auch all sein Blut. Überall floss es hin, das verdammte rote Zeug. Nur nicht dorthin, wo er es jetzt so dringend benötigt hätte. Er gab also gleich an seinem ersten Abend eine Hängepartie. So sehr sich Tereza auch um ihn bemühte, alle Kunstfertigkeiten halfen nichts. Die Premiere war geschmissen und versaut. Klar sorgte er dafür, dass wenigsten sie etwas auf ihre Kosten kam. Schon aus Dank für ihre Mühe. Aber es war nicht das, was in seinem Drehbuch stand. Er war untröstlich. Er wollte jetzt alles andere, nur nicht wie zwei Löffelchen liegen. Auf seine Seite wollte er sich trollen, mit sich und der Welt hadern und so schnell wie möglich einschlafen.
Er wusste fast nie, was er in der Nacht geträumt hatte. Auch an diesem frühen Montagmorgen hatte er keinen Schimmer, was da über seine nächtliche Mattscheibe geflimmert war. Was immer es war, dachte er, den Traum will ich ab heute täglich träumen. Tereza war schon hellwach und ebenso bereit für ihn, wie er für sie.
Wie eine Amazone saß sie auf und verschluckte ihn in einem Zug.
„Ruhig, mein Brauner“, flüsterte sie und setzte ihr Pferdchen, kerzengerade sitzend und mit vorbildlich durchgedrücktem Rücken, in Bewegung. „Jetzt lauf“, befahl sie mit knapper stolzer aristokratischer Anweisung einen leichten Galopp und ihr Pferdchen gehorchte artig. Immer wilder wurde ihr Ritt. Mit jedem Sprung über unwegsames Gelände verlor Tereza mehr und mehr ihrer Contenance. Kurz vor dem Ziel schrie sie in höchstem Diskant ihre Befehle und befleißigte sich hierbei einer Wortwahl, die einer Straßenhure die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.
Nichts blieb von ihrem anfänglichen Stolz übrig, als sie zusammengekauert, wimmernd und mit rundem Rücken, wie ein Häufchen Elend, aber selig auf ihm hockte, während ihr noch immer beide Knie wie Espenlaub zitterten.
„Das waren nicht gerade die Worte, die dir deine Frau Mama beigebracht hat“, grinste Hans selbstzufrieden.
„Wie hätte ich mich denn, deiner Meinung nach, ausdrücken sollen?“, spitzte Tereza ihren Mund. „Dürfte ich den gnädigen Herren ersuchen, mir auf das Ende hin etwas tiefer beizuwohnen?“
„Wer weiß“, kicherte Hans und schuppste Tereza sachte von sich runter, „ob ich dann, wegen unvermeidlicher Lachkrämpfe, ebenso tapfer bis zum Ende durchgehalten hätte?“
Zufrieden und mit glühenden Köpfen lagen sie sich anschließend in den Armen. Sie waren mit sich und der Welt zufrieden und fielen erneut in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst kurz vor Mittag erwachten.
Bei einem späten Frühstück nahmen sie ihre Flachserei wieder auf und hielten Manöverkritik. Ihnen war klar, dass ihre wirkliche Premiere erst am heutigen Morgen stattgefunden hatte. Der Abend zuvor taugte lediglich zu einer Generalprobe, die, nach gutem alten Theateraberglaube, eh schiefgehen musste, wollte man eine gelungene Premiere und eine erfolgreiche und lange Spielzeit vor sich haben.
H ans Leben hatte mehr und mehr sesshaften Charakter angenommen. Nach etwa sieben Wochen hätte Tereza ihren Zustand ein eingespieltes Team gepriesen. Hans Begeisterung hielt sich hingegen in Grenzen. Während sich Tereza, nach dem zur Tradition gewordenen späten Frühstück, auf ihren täglichen Weg machte, um dem Chaos in Veras und Brunos Etablissement beizukommen, fühlte sich Hans in seiner Freiheit zunehmend beschnitten. Tereza hatte ihm, nachdem er sie gleich zu Beginn an einem ihrer freien Tage zum Frühstück versetzte hatte, ein straffes Programm auferlegt. Sie verlangte keineswegs einen finanziellen Beitrag, aber sie erwartete von ihm, dass er sich, während sie etwas zusätzliches Geld verdiente, derweil daheim um den Haushalt kümmerte. Hans erledigte derartige Tätigkeiten mit Sorgfalt, aber gleichzeitig mit hohem Aufwand, so dass ihm kaum mehr Zeit blieb, die Wohnung zu verlassen. Er fühlte sich regelrecht zu einem Domestiken degradiert, und hatte schon mehrmals in Gedanken sein Ränzlein geschnürt. Aber Terezas Venusfalle war erbarmungslos zugeschnappt. Was sie allmorgendlich bot, wenn sie ihm, noch vor dem Frühstück, ihre kleinen süßen Köstlichkeiten feilhielt, suchte seinesgleichen. Dass ihm, in gediegenem Alter und trotz seines eigenwilligen Lebensmodelles, noch einmal derartige Genüsse zuteilwürden, hätte er nie zu träumen gewagt.
Und dennoch. Es fehlten ihm seine Alleingänge. Die Streifzüge durch seinen Bezirk. Diese kleinen täglichen Kämpfe um eine Bleibe, um Nahrung, Kleidung oder auch nur um eine Dusche. Sie hatten ihn stets genötigt auf Menschen zuzugehen, Gespräche zu suchen oder sich für die eine oder andere, meist einfache Dienstleistung, anzudienen. Wenn Tereza, je nach Aufwand, am späten Nachmittag oder am frühen Abend nach Hause kam, besuchten sie natürlich hin und wieder ein Kaffeehaus oder ein Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen oder was zu trinken, aber das war es nicht, was ihm fehlte. Hans sah die Felle seiner Freiheit und Unabhängigkeit heimlich, still und leise auf und davon schwimmen.
Er beschloss, bei nächster Gelegenheit, mit Tereza über ihre gemeinsame Zukunft zu reden. Je früher sie sich aussprächen und für klare Verhältnisse sorgten, umso unkomplizierter und harmonischer würde ihr künftiges Zusammenleben werden.
Hans hatte tief in sich hineingehorcht. Selten, so stellte er fest, hatte er so viel für einen anderen Menschen empfunden. Er genoss die gemeinsamen Mahlzeiten. Er liebte die ruhigen Abende, an denen sie Radio hörten oder lasen und kaum etwas sprachen. Und natürlich genoss er die fast allmorgendlichen kleinen Exzesse gleich nach dem Aufwachen. Hier schien Tereza, weitaus nachdrücklicher als er, alles Versäumte nachholen zu wollen. Ein Umstand, den er sich gerne gefallen ließ, selbst wenn er ihn erbarmungslos an die Grenzen seiner Kraft führte.
Ihre Beziehung war bombastisch. Keine Frage. Aber ob sie einfach nur gute Freunde waren, die verdammt guten Sex miteinander hatten, oder, ob er sie wirklich liebte, dass hatte er noch nicht umfassend ergründet.