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Beschreibung

Dies ist die Geschichte von Hanzu, dem Jäger. Hanzu ist ein Verbannter, der als einsamer Wanderer eine Heimat sucht. Auf seiner Reise muss er sich vielen lebensgefährlichen Gefahren stellen. Als er nach endlos erscheinenden Strapazen endlich sein ersehntes Reich findet, scheint er erstmals zur Ruhe zu kommen. Doch die Sicherheit trügt...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Table of Contents

Copyright

Titel

Einführung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Epilog

Nachwort

 

© Copyright 2019 by Felix Traitteur

 

Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte bleiben vorbehalten.

Hanzu

der

Jäger

Dies ist die Geschichte von Hanzu, dem Jäger.

Hanzu ist ein Verbannter, der als einsamer Wanderer eine Heimat sucht. Auf seiner Reise muss er sich vielen lebensgefährlichen Gefahren stellen. Als er nach endlosen Strapazen endlich sein ersehntes Reich findet, scheint er erstmals zur Ruhe zu kommen. Doch die Sicherheit trügt...

Kapitel 1

Endlos. Alles weiß. Die ganze Luft. Weiß. Alles weiß. Wohin nur? Die Beine sind schwach. Jeder Schritt tut weh. Es ist kalt. So klirrend kalt. Unerbittlich wütet der Wind. Kein Ende in Sicht. Kein Weg zu finden. Das war das falsche Gebiet. In diese Gegend hätte er nicht reisen dürfen. Nicht zu dieser Zeit. Ein fataler Fehler. Der Fehler eines Unerfahrenen. Jetzt bloß nicht anhalten. Es muss weitergehen. Der Körper ist müde, will schlafen. Er braucht Nahrung.

Aufgeben, so etwas gab es nicht. Nicht in seiner Welt. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Durchalten, erdulden, sich durchbeißen. Das war die Devise. Stets folgt nach langer Arbeit irgendwann der Lohn.

Eine weitere Stunde verstreicht. Zwei Stunden. Drei Stunden. Keine Änderung. So unermüdlich der Schnee die Luft durchzieht, so unermüdlich gehen die schweren Beine ihren Gang, obwohl der Körper nicht mehr Willens ist. Die Augen können nichts mehr sehen. Das Licht der Hoffnung versinkt im Schnee. Ein wahrer eiserner Wille bricht. Dem ewigen Weiß folgt der Fall in die tiefe, ungewisse Dunkelheit. Es braucht ein Wunder.

Das war also seine neue Welt. Hierhin hatte die Reise geführt. Und noch bevor sein Leben hier begonnen hatte, sollte es schon enden?

Eigentlich mochte er Schnee. Er liebte auch die Kälte. Es war einfach seine Natur. Dass einmal ausgerechnet der Schnee für seinen Tod verantwortlich sein könnte! Daran hätte er nie gedacht. Nicht in so jungen Jahren. Aber Vorsicht war nicht gerade Hanzus Stärke.

Die Reise war von Anfang an mit großen Schwierigkeiten behaftet. Schon das erste Gebiet, in das er gelangte, versprach nichts Gutes. Hanzu merkte es schnell. Es war besetzt.

Mit jedem Schritt durch das gefährliche Gebiet steigerte sich die Anspannung deutlich, obwohl es keine Anzeichen für eine herannahende Gefahr gab. Es war auch niemand in der unmittelbaren Nähe. Darüber war er sich mehr oder weniger im Klaren. Seine Sinne waren ausgezeichnet. Hanzus Instinkt sagte jedoch etwas anderes: die Gefahr war da.

Er gelangte von einer kargen Ebene in ein Waldstück. Trotz seiner Vielfalt an Leben war der Wald von einer nahezu ehrfurchtsvollen Stille erfüllt. Der Boden war gefroren und knirschte bei jedem noch so vorsichtigen Schritt. Seit einigen Tagen war es merklich frostig geworden, und Hanzus Atem dampfte in der kalten Waldluft. Der Himmel zog zu, und der erste Schnee des Jahres ließ sich nieder. Der ein oder andere Vogel blickte auf ihn herab, und ein Hase hüpfte in der Ferne in sein Blickfeld, sah ihn einen Moment frech an, bevor er im Dickicht verschwand. Auch die Tiere dieses Waldes schienen es irgendwie zu wissen: Hanzu war ein Fremder, der dieses Gebiet nur durchqueren wollte. Hier auf die Jagd zu gehen, war keine gute Idee.

Vielleicht könnte er Glück haben. Bestenfalls waren die Einheimischen gerade nicht vor Ort, und es würde keinen Zwischenfall geben. Dennoch war es nun mal so, dass er es überdeutlich spürte. Hanzu fühlte es in der Art der Stille.

Mag dieser Augenblick ein Bild von faszinierender Romantik gezeichnet haben - seine ganze Atmosphäre, das Zusammenspiel der Wolken, der Fall der dicken Schneeflocken, die langsam treibende Nebelbank, die zart über dem Boden dieses märchenhaften Waldes schwebte, so spürte Hanzu aber in dieser so unschuldig erscheinenden Stille eine Bedrohlichkeit, die seine Aufmerksamkeit von allem anderen abhielt. Er hatte keinen Zweifel. Ohne Probleme käme er nicht aus diesem Wald. Mit jedem Schritt wurden seine Sinne schärfer. Und mit jedem Schritt wandelte sich die Schönheit der Natur heimlich in ein Gespenst. Nach zwei Stunden der Wanderung offenbarte sich ein anderes Gesicht des Waldes, und niemand hätte dieses Bild noch als romantisch beschrieben. Die Dämmerung bescherte ein unheilvolles Licht, der Nebel kam dicht und schwer aus den Tiefen des Waldes gekrochen und schlich Stück um Stück voran, die Bäume wurden zu geisterhaften Gestalten und finstersten Schatten. Aus der unschuldigen Stille wurde, was Hanzu von Anfang an wahrgenommen hatte, jene Art der Stille, die ausgefüllt ist mit Gefahr und in der die Luft vor lauter Spannung zu knistern scheint.

Obwohl er durch seine Sinne längst darauf gefasst war, wirkte es fast ein wenig unwirklich, als er den steilen Hang hinauflief, wo der Wald sich ein wenig lichtete. In einem Moment betrachtete er noch den ausschwärmenden Nebel über der Kuppe, und kein Augenzwinkern später erschienen sie wie aus dem Nichts.

Es hatte keine lange Belauerung stattgefunden. Es waren nicht sonderlich viele, aber sie waren stark. Jeder einzelne.

In der Mitte thronte der größte, und wie es schien auch der älteste: der Graubart. Seine Erscheinung war die eines Anführers, aber tatsächlich waren die Gruppenverhältnisse recht verschwommen.

Die beiden zu seiner Seite waren von dunklerer Farbe und ebenfalls von großer Statur.

Das Bild, das sie ausdrückten, sagte: hier sind wir, und wir werden dich nicht so einfach ziehen lassen.

So plötzlich sie da waren, so schnell erfolgte der Ansturm. Die Art ihrer Annäherung ließ dann wohl endgültig den geringsten Zweifel einer friedlichen Begegnung verblassen.

Der Graubart war der Erste. Unmittelbar vor Hanzu blieb er einen kurzen Moment stehen. Hanzu bewegte sich nicht, erwiderte aber seinen Blick. Die anderen erschienen und positionierten sich seitlich. Der Graubart musterte ihn durchdringend, und er merkte es sofort: an Hanzus Haut klebte Blut.

Hanzu teilte das gleiche Schicksal wie ein jeder von dieser Gruppe. Es war ein Bündnis der Verbannten, und Hanzu war ein Verbannter. Seinesgleichen erkennt man schnell.

Die Attacke kam unmittelbar. Beide gingen direkt aufeinander los. Das Gefecht war von solch einer ungezügelten Wildheit, dass Hanzu zunächst nicht einmal bemerkte, dass sich die anderen bereits einmischten. Hanzu musste sich zu allen Seiten verteidigen. Er ging so klug vor, dass er es immer wieder schaffte, sie voneinander zu trennen, um sich mit dem gefährlichsten von ihnen zu messen, der unzweifelhaft der Graubart war. Aber was er auch tat, die Angriffe und Verletzungen von hinten nahmen zu und wurden schlimmer, und schließlich erwischte ihn einer und ließ sich nicht abwehren, worauf alle anderen folgten.

Wahrscheinlich hätte Hanzu nur ein Signal geben müssen, dass er aufgibt, und sie hätten von ihm abgelassen. Der Graubart wollte wissen, ob Hanzu eine Bereicherung für die Gruppe wäre, und dies war schon nach wenigen Augenblicken offensichtlich. Jeder andere hätte wohl aufgegeben und sich der Gruppe angeschlossen. So aber nicht Hanzu. Ein Hanzu ergibt sich nicht. Ein Hanzu kämpft immer bis zum Tod.

Wohl wusste er schon, wie aussichtslos die Lage nun war. Trotzdem entflammte er noch einmal seine letzten Reserven, wonach endgültig feststand, dass er seine Chancen verspielt hatte. Der Blutrausch hatte alle erfasst.

Hanzu konnte sich nicht mehr losreißen, so sehr er es auch versuchte. Jede Sekunde würden sie sich daran machen, ihn endgültig auseinanderzunehmen. Dann geschah das Unerwartete.

Ein extrem unangenehmes Geräusch ließ alle Beteiligten stocken, und vollkommen unversehens waren sie weg. Hanzu ahnte nicht, warum sie so reagierten. Offensichtlich wussten sie mehr als er.

Hanzu hob sich mühevoll auf die Beine und rannte trotz seiner schweren Verletzungen durch den Schnee. Seine Gegner waren bereits über den Hügel verschwunden. Obwohl er nicht wusste, warum sie geflohen waren, tat er es ihnen gleich. Er wollte dieses verfluchte Gebiet nur noch verlassen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Das nächste Gebiet, in das er gelangte, war ebenfalls besetzt. Hanzu fand schnell Spuren. Es waren viele. Sie brauchten eher keinen Zuwachs. Das Gefühl der Bedrohung hatte er hier nicht. Es beschlich ihn eher eine gewisse Neugierde. Dennoch muss man sagen, dass er keinen sonderlich starken Drang hatte, sich der Gruppe anzuschließen. Er war nun seit einigen Monaten ein einsamer Wanderer, und tatsächlich fiel ihm die Umstellung gar nicht besonders schwer. Er empfand es mehr als ein Abenteuer. Natürlich galt es stets, konzentriert zu bleiben. Der wahre Ernst des Lebens hatte begonnen. Er war ein Jäger, und er war alleine. Das war die Tatsache. Es war schwieriger an Nahrung zu kommen, und auch alle anderen Gefahren nahmen zu. Aber Hanzu würde man unter seinesgleichen als sonderbar betrachten müssen. Er trotzte allen Vorzeichen. Er lernte schnell. Er war unfassbar groß, schnell und stark. Das wichtigste und eigentümlichste Merkmal von Hanzu war aber nicht seine Stärke, sondern sein grundsätzlicher Hang zur Einsamkeit. Diese Eigenschaft kam ihn nun zugute. Schon in der Gruppe war er derjenige, der sich am häufigsten zurückzog und ab und an ganz alleine die rohen Gegenden erforschte. Der Unterschied war: diesmal gab es kein Zurück.

Die Bewohner dieser Gegend zeigten sich nicht oder waren gerade nicht vor Ort, und so konnte Hanzu konnte seine Reise zunächst ohne Zwischenfälle fortsetzen. An Nahrung mangelte es nicht, denn es gab reichlich Hasen, Rehe und Wildschweine. Er konnte endlich seinen leeren Magen füllen. Seit einiger Zeit hatte er nichts mehr gegessen. Seine Wunden nach der Auseinandersetzung mit den Verbannten konnten heilen. Er fand genügend Ruhe, sich von allen Strapazen zu erholen. Wäre nur der Hirsch nicht gewesen!

Hanzu hatte das Gebiet schon fast durchquert. Er war schon neugierig, was die nächste Gegend versprechen würde. Er wanderte entlang eines Flusses und vermutete auf der anderen Seite auf Beute stoßen zu können, weshalb er eine Gelegenheit suchte, diesen zu überqueren. Der Fluss war zwar nicht sonderlich breit, aber die aufkommenden Niederschläge hatten doch für eine ordentliche Strömung gesorgt, und die Stromschnellen variierten stark und trugen eine gewisse Unberechenbarkeit mit sich.

Hanzu liebte das Wasser. Es hatte ihm noch nie irgendeine Angst eingeflößt. Deshalb würde jeder vernünftige Verstand jene Stelle, die er als die richtige zum Überqueren befand, als wagemutig oder gar halsbrecherisch bezeichnen. Hanzu sagte sich aber: das sieht spannend aus!

Bis zur Hälfte gelangte er nahezu spielerisch. Leichtfüßig wie ein Reh sprang er von Felsen zu Felsen. Den größten Brocken, der aus dem Wasser ragte, unterschätzte er jedoch. Es war derjenige, über den er sich eigentlich gar keine Gedanken machte. Bei diesem Felsen konnte nichts schiefgehen. Und das beste war: wer ihn erreicht hatte, war mehr oder weniger am Ziel, denn danach war der Weg einfach. Hier reihte sich Stein an Stein.

Einen Haken gab es dann aber doch. Der Felsen war ohne Zweifel von allen am weitesten entfernt. Für Hanzu war der Sprung jedoch keine große Herausforderung. Er hätte vielleicht doppelt so weit springen können. Nun, tatsächlich war die Überwindung der Distanz weniger das Problem, die Einschätzung ebenjener war aber durchaus mangelhaft. Er sprang ein Stück zu weit und landete zwar noch auf dem Felsen, aber auf einer tückischen Stelle, die heimlich abfiel und zudem auch noch besonders glatt war. Er rutschte ins Wasser, und die Strömung riss ihn fort.

Hanzus Glück war jenes Hindernis, welches ihm den größten Schmerz verursachte. Er prallte mit voller Wucht gegen die große Fichte, die der letzte Sturm über den Fluss gelegt hatte. Der Baum brachte ihn wieder an Land.

Abseits des Flusses gelangte er in einen Waldabschnitt, der vor einiger Zeit Opfer eines verheerenden Sturmes gewesen sein musste. Es wimmelte vor toten Bäumen, und es herrschte frischer Bewuchs. Hier dauerte es nicht lange, bis er aufmerksam wurde. Etwas Großes musste in der Nähe sein. Es musste sehr groß sein, so gewaltig, dass selbst der wagemutige Hanzu nicht sicher war, ob er sich dieser Macht stellen wollte. Er folgte der Spur eine halbe Stunde lang, und plötzlich fand er eine Menge Blut. Nicht weit davon entfernt lag ein abgetrenntes Bein. Von nun an war es noch leichter der Spur zu folgen. Das Tier war ohne Zweifel todgeweiht. Diese Tatsache ließ die Zuversicht auf Beute wachsen. Ein so schwer verletztes Tier konnte er bezwingen, wie groß es auch immer sein mochte.

Hanzu kannte diese Tiere. Aber es war eine Sache, kleinere Exemplare in der Gruppe zu jagen, etwas ganz anderes war, ganz alleine einen wildgewordenen Bullen vorzufinden. Hanzu würde gleich zwei brutale Lektionen der Natur auf einmal lernen müssen.

Seine Schritte wurden langsam und sein Blick war vollkommen konzentriert. Es war ein trauriger Anblick. Wenn ein Tier von solchem Anmut auf der Seite liegt, und es scheint nicht der geringste Hauch von Leben in ihm, und in seiner wahren Blüte scheidet es dahin, dann ist es für die einen tragisch, für die anderen ein Geschenk.

So ähnlich musste Hanzu empfunden haben. Es war ein Geschenk. Dennoch war schon eine gewisse Ehrfurcht vorhanden. Er hatte noch nie so einen großen Hirschbullen gesehen, und schon gar nicht aus der Nähe. Das Tier machte zwar keine Regung, trotzdem blieb Hanzu zunächst vorsichtig. Er bewegte sich langsam darauf zu, hielt auch das ein oder andere Mal an, zögerte dann aber wenig, es genauer zu untersuchen, als er schließlich nahe genug war. Instinktiv hatte er sich dem Hirsch von der hinteren Seite genähert und testete nun, ob er noch lebte, aber so sehr er auch zog, der Hirsch ließ sich zu nichts bewegen. Dann nahm er noch einmal einen kurzen Moment Abstand, bevor er erneut testete. Dieser Vorgang wiederholte sich noch einige Male, denn seit einiger Zeit war ein Gewitter aufgezogen, und dies brachte in die ohnehin schon ungewohnte Situation noch mehr Unruhe.

Während der nächsten Annäherung brach dann ein Donner vom Himmel von solcher Gewalt, dass Hanzu aufsah. Kaum eine Sekunde später folgte das, was ihn am meisten ablenkte: der Blitz und der Einschlag. Es war einer der wenigen großen Bäume, die es hier noch gab. Die Gewalt riss ein Viertel seines Stammes ab.

Der Lichtblitz hatte die Nacht für einen Moment zum Tag gemacht, ein ohrenbetäubender Krach schallte erschütternd in Hanzus Ohren, und ein gezeichneter Baum - dies war der heftigste Ausdruck des Gewitters dieser Nacht.

Es war im selben Moment, als eine andere Gewalt durch die Luft rauschte. Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit. Dies reichte aus. Darauf hatte er gewartet. Hanzu bemerkte es noch. Es blieb keine Zeit mehr, zu reagieren. Das mächtige Geweih rauschte auf ihn zu. Hanzu schrie.

Dies war die erste Lektion. Unterschätze nicht die Todgeweihten.

Hanzu war geflohen. Er hatte die Nacht im Dickicht verbracht. Das Gewitter war heftig. Es dauerte Stunden. Viel schlimmer als das Toben am Himmel war der Schmerz in seinem Bein. Die Wunde war tief.

Früh morgens näherte er sich erneut dem Bullen. Er brauchte lange, denn das verletzte Bein war nahezu nicht zu benutzen. Der Hirsch lag auf der Seite, an derselben Stelle. Diesmal stellte er sich nicht tot. Er wusste wohl, dass er Hanzu schwer verletzt hatte. Schon als Hanzu sich auf zwanzig Meter näherte, schnaubte er plötzlich warnend. Hanzu blieb augenblicklich stehen. Aber es war nicht nur wegen dem Bullen. Seine Augen wandelten sich und fixierten ein anderes Ziel. Die wahren Herrscher dieses Waldes tauchten hinter dem Hirsch auf. In diesem Gebiet waren es nicht nur drei. Diese Gruppe war groß.

Es folge die zweite Lektion. Sei dir deines Glückes nie ganz sicher.

Sie hatten den Hirschbullen entdeckt. Und sie hatten Hanzu entdeckt. Einige von ihnen bewegten sich zum Bullen, und andere gingen sofort auf Hanzu zu. Ihre Haltung war aggressiv. Sie drohten und kamen ihm immer näher. Hanzu gab ihnen zu verstehen, dass er ihr Gebiet verlassen würde, doch ein Halbstarker war bereits nahe. Hanzus Blick wurde urplötzlich so stechend und furchteinflößend, dass der Angreifer sofort stehen blieb und schließlich sogar einen Meter zurückwich. Alle anderen stoppten ebenfalls. Hanzu drehte sich und ging humpelnd seinen Weg. Die Beute war verloren.

Was macht ein einsamer Jäger, der nicht jagen kann?

Hanzu hatte ein Problem. Die Wunde entzündete sich so stark, dass er kaum noch laufen konnte. Er würde nicht mehr so schnell an genügend Nahrung kommen. Es blieb nur: Warten, hoffen, und solange es geht von dem leben, was sich findet. Eine geschützte Stelle gab ihm Zuflucht. Er kauerte sich zusammen und saß die Situation die meiste Zeit aus. Er war schließlich groß und kräftig.

Nach vielen Wochen der Nahrungsarmut war Hanzu nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Wunde heilte langsam. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Was würde zuerst geschehen? Würde die Wunde heilen, damit er jagen kann? Oder würde er verhungern?

Es kam der Moment, als Hanzu spürte, dass die Kraft ihn endgültig verlassen würde. Wenn er noch ein einziges Mal die Augen zum Einschlafen schließen würde, dann würde er vielleicht nicht mehr aufwachen. Er beschloss, einen letzten Versuch zu wagen.

Die Verletzung schmerzte. Seine Muskeln waren kraftlos. Mühevoll gelangte er an den Rand einer Waldlichtung und blieb stehen. Plötzlich klarten seine Augen einen Moment auf.

Da waren sie. Sie überquerten die Lichtung. Sie blieben stehen. Hanzu sah sie an, und ein jeder von ihnen blickte zu Hanzu. Dann wendete einer seinen Blick ab und zog weiter, und alle anderen verschwanden ebenso.

Hanzu hatte verstanden. Die Einheimischen würden ihn nicht aufnehmen oder ihm helfen. Aber sie duldeten ihn in ihrem Gebiet, solange er schwer verletzt war.

Eine Stunde lang irrte er scheinbar recht ziellos durch den Wald. Er war unendlich müde, und so schwer und krank seine Schritte aussahen, so war bei einem jedem zu befürchten, dass es denn sein letzter gewesen wäre. Aber Hanzu schleppte sich voran, und man könnte kaum fassen, wie weit er noch gekommen ist, bevor er an einer Böschung zusammenbrach.

Sein Atem war unglaublich schwer. Sein Kopf schien traurig herabzuhängen. Sein ganzer Körper war ausgezehrt. Auf den ersten Blick war dies das Bild eines Sterbenden.

Nur zwei unscheinbare Dinge, die kaum zu bemerken waren, störten dieses Bild. In den Augen des Sterbenden blitzte ein Funken der Hoffnung, und sein keuchender Mund trug den Hauch eines Lächelns.

Hanzu hatte schon lange eine Fährte. Jetzt war er da. Keine drei Meter vor ihm befand sich ein dichtes Gestrüpp. Und darin war der Hase. Und der Hase war tot und gefroren.

Der harte Winter war seine Rettung. Manch anderem war es noch schlechter ergangen. Es war nicht viel, was er in der Folgezeit fand. Aber es reichte.

Bis zum Frühjahr war er hier geblieben. Es brauchte seine Zeit, bis er sich wieder vollständig erholt hatte. Als er sich auf den Weg in das nächste Gebiet wagte, ahnte er nicht, dass die große Verzögerung seiner Reise wegen der schwerwiegenden Verletzung durch den Bullen sein großes Glück war. Letztendlich hatte der Bulle ihm das Leben gerettet.

Es dauerte bis in den Sommer hinein, als Hanzu in eine Gegend gelangte, die nicht besetzt war. Unzweifelhaft musste der Wald, den er gerade durchquerte einmal von enormer Größe und Schönheit gewesen sein. Aber so etwas hatte Hanzu in seinem Leben noch nicht gesehen. Es war eine einzige Ruine.

Die letzten Bäume, die noch standen, ragten wie mahnende schwarze Statuen aus dem Boden. Leben gab es hier nicht. Es war eine einzige, leblose Einöde. Er wanderte sechs Tage lang, und sechs Tage lang sah er keinen grünen Halm. Hanzu wurde Zeuge des Ergebnisses des schwersten Waldbrandes seiner Zeit. Hier hatte nichts und niemand überlebt. Es war genau jenes Gebiet, in das er gelangt wäre, hätte der Bulle ihn nicht davon abgehalten. Auch Hanzu wäre zum Opfer des Feuers geworden. Diesen Gedanke hatte er natürlich nicht. Das einzige, das ihn ab und zu an den Bullen erinnerte, war ein Zwicken in seinem Bein, das letzte Überbleibsel seiner Verletzung.

Diese Gegend war also nicht besetzt. Aber hier hatte der Feuerteufel gespukt. Das Gebirge, das dem toten Wald folgte, war durchaus auch mit Bäumen bewachsen, aber es war steinig und steil, und man gelangte in leblose Höhen, wo ewige Stürme tobten und der Winter nie früh genug kam und seine nicht enden wollende weiße Gewalt über die Berge legte.

Dieses Gebiet mied Hanzu vorerst. Es galt zunächst die vielversprechenden Bereiche auszumachen und die Größe zu erkunden. Eines schien fast überall gleich. Die Gegenden waren nach Hanzus Geschmack. Es war jene Art der wilden Natur, die er liebte.

Den ganzen Sommer verbrachte er schließlich mit der Erforschung. Das Ergebnis war zwiespältig. Was sich nicht ein einziges Mal geändert hatte, war eine gewisse Bewunderung für all das, was er gesehen hatte. Von Anfang an fühlte er sich hier durch und durch wohl. Der erste Eindruck sprach unmittelbar: Das bleibt auf ewig meine Heimat!

Der Gesamtüberblick warf dann leider einen Schatten. Es gab vielerorts einfach zu wenig Nahrung. Hanzu gelangte in einen inneren Konflikt. Die Stimme der Vernunft sagte: Zieh weiter. Anfänglich erhörte er diese Stimme auch und war das ein oder andere Mal weitergezogen, um zu sehen, ob er auf Vielversprechenderes treffen würde. Aber so oft er ausschwärmte, so oft trieb es ihn wieder zurück. Denn die andere Stimme war stärker. Sein Instinkt offenbarte ihm nämlich folgendes: Dieses Land wird hart zu dir sein. Es wird dich immer wieder an die Grenze bringen. Vielleicht wirst du hier nicht sonderlich alt werden. Aber in all der wilden Rohheit dieser Natur steckt ein ganz besonderer Geist, und dieser wird dir die Geheimnisse seines Landes offenbaren, weil, du, Jäger Hanzu, dieses Land lieben wirst, wie kein anderer es jemals geliebt hat.

Die Luft hatte sich merklich verändert. Auch an den Blättern der Bäume war es zu erkennen. Hier begann der Winter früher.

Es war das letzte Gebiet. Vielleicht war es eine düstere Vorahnung, dass er es bislang gemieden hatte. Das auffälligste Merkmal war: es war steil, und es wurde steiler.

Hanzu wusste vielleicht selbst nicht, warum er so weit gelaufen war. Zweifellos war die Aussicht besonders, und je weiter er ging, desto schöner mutete es an. Dennoch ahnte er längst, dass er auf diesem Weg auf kein lebensfrohes Land mehr stoßen würde. Irgendetwas trieb ihn jedoch an, und dabei ahnte er nicht. dass er sich gleich der größten Gefahr der Gegend stellen würde. Dann kam der Wind.

Hanzu landete auf der sagenhaften Drachenkopfhöhe, ohne die einmalige Schönheit dieses Ortes wahrnehmen zu können. Er lernte zunächst dessen hässliche Seite kennen.

Er war weit vorgedrungen und in ungeahnte Höhen gelangt. Die ersten Schneeflocken wirkten unscheinbar, aber sie machten ihm klar, dass es Zeit für den Rückweg war. Von da an ging es schnell. Der Wind gewann rasant an Schärfe. Der Niederschlag nahm zu. Hanzus Schritte wurden eiliger, denn er spürte es. Das, was jetzt gleich folgen würde, war nicht normal. Hanzus rannte.

Der Klang, der unmittelbar folgte, ließ Hanzus Blut gefrieren. Er hatte etwas Tödliches, wie ein eisiger Kampfschrei, mächtig und martialisch, als hätte man den Gott von Eis und Schnee erzürnt.

Hanzu musste Schutz suchen, denn viel Zeit blieb nicht. Bereits jetzt war nur noch wenig zu sehen, und es wurde schlimmer. Die Bäume, der Boden, die ganze Luft - eine einzige, endlose weiße Front brach über das Gebiet, und Hanzu fand sich mittendrin und drohte, einzuschneien. Bald sah er nur noch weiß, und er hörte nichts als ein brachiales Tosen und Rauschen. Die Flucht durch den Schnee wurde zum Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Ein rettendes Ufer war schon längst nicht mehr zu sehen. Hanzu lernte bereits bei seinem ersten Aufstieg die schlimmste Tücke des Berges kennen: den weißen Sturm. Er war eine regionale Besonderheit.

Stunden vergingen. Hanzu kämpfte sich weiter voran. Der Weg, den er geschafft hatte, war angesichts der zu bewältigenden Macht durchaus beachtlich, aber seine Schritte wirkten nicht mehr entschlossen, sondern müde und hoffnungslos. Der Sturm hatte nicht eine Sekunde nachgelassen. Hanzu wurde immer häufiger umgeworfen, und aus manchen Schneeverwehungen konnte er sich nur mühevoll befreien. Die Pausen wurden länger, und er betrachtete die unfassbaren Massen, die vor ihm lagen. Wenn er liegenbleiben würde, würde er nie mehr wieder aufstehen. Er würde einfach von einem endlosen, weißen Meer verschlungen werden.

Dann schien genau das zu geschehen. Es war ein Schritt zu viel. Er sah es nicht. Hanzu sank. Er war zu nahe an einen Abhang gelangt. Der Schnee löste sich und riss ihn mit. Der Aufprall war durch die Schneemengen recht leicht, aber er schlug sich den Kopf an. Er war bewusstlos. Einen Tag und eine Nacht lang regte er sich nicht. Der Schnee hatte ihn leicht bedeckt. Nicht lange nach seinem Fall hatte der Sturm sich gelegt. Die weiße Invasion stoppte.

Es brauchte seine Zeit, bis er wieder stand. Sein Kopf schmerzte, er war müde und verwirrt. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis er sich der Lage bewusst wurde: Er war eingeschneit. Hier kam er nicht mehr weg.

Mit dem Morgen war die Sonne erschienen, und tatsächlich gab es den ein oder anderen Moment, da kaum eine Wolke am Himmel zu finden war. Der Wind war im Verhältnis relativ schwach geworden, aber im Verlauf des Tages nahmen die Wolken wieder zu. Am späten Mittag begann es erneut, zu schneien.

Hanzu hatte einen kleinen Unterschlupf gefunden. Hier war er halbwegs geschützt. Der Schnee konnte die kleine Höhle nicht einnehmen.

Eine ähnliche Lage hatte er erst kürzlich erlebt. Es war die zweite Hungersnot seines Lebens. Es war wieder ein Wettlauf mit der Zeit. Nur dieses Mal musste keine Wunde heilen, sondern der Schnee musste weichen.

Die Wochen zogen vorbei, aber der ersehnte Wetterumschwung kam nicht. Hanzu schlief die meiste Zeit. Wenn er wach war, dann blickte er häufig sehnsuchtsvoll in die Ferne über das endlose Weiß. Ab und zu aß er Schnee. So ging die Zeit schleppend dahin, seine Kräfte schwanden, und schließlich gelangte er wieder an jenen Punkt, da jeder Schlaf sein letzter hätte sein können. Hanzu stand nicht mehr auf.

Schwierige Situationen hatte er zuhauf gekannt, aber bislang war er eben auch nie ganz auf sich alleine gestellt gewesen. Jetzt gab es keinen Ausweg. Vor seinen Augen wurde es immer dunkler. Er stand schon so weit neben sich, dass er den warmen Föhn nicht einmal bemerkte. Er sah nicht mehr, wie schnell die weiße Macht auf einmal schwand, und er hörte auch nicht das unaufhörliche Plätschern des Regens auf den Felswänden. Als sich die Sonne dann zeigte, wärmte sie mit der Kraft der Frühlingssonne, obwohl doch eigentlich gerade die eisernste Zeit des Winters vorherrschte. Aber er nahm auch dies nicht wahr.

Hanzu hatte entschieden. Er hatte sich aufgegeben. Er fand keine Kraft mehr, und auch keinen Mut. Er konnte keine Beute mehr machen. Er war alleine. Hier gab es keine Hilfe und kein Entrinnen. Es war still. Nichts als Stille. Das musste der Tod sein.

Ein Laut! Aus der Luft. Aber doch so nah. Ein fordernder Ruf. Wieder und wieder. Das erste Zeichen von Leben. Seit Wochen. Markant ist der Laut, durchdringend und störend. Er verspricht nichts Gutes in einem Moment, da der eigene Körper mehr tot als lebend scheint. So ist es nun mal, wenn das Ende naht. Dann kommen sie und holen dich. So ist es recht. Komm nur! Der Geist ist bereit. Der Körper spürt nichts.

Wider Erwarten kam er nicht, der Tod aus der Luft, die Stimme hingegen blieb, und immer, wenn er einschlafen wollte, dann folgte unweigerlich ein fordernder Ruf. Er kannte den Klang, er hatte ihn schon oft gehört, bislang hatte er aber nie eine wirkliche Bedeutung für ihn gehabt. In diesem besonderen Moment konnte er nun aber nicht anders als zuzuhören, und mehr und mehr bekam er ein komisches Gefühl, als wäre in der anfänglich so störend erscheinenden Stimme eine gewisse Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft geboten, und, als würde sie sogar zu ihm sprechen. Dies machte ihn irgendwie neugierig. Er wollte nachsehen, aber seine Lider zu öffnen, schien in diesem Moment eine schier unlösbare Aufgabe zu sein. Der folgende Ruf aber drang so durchdringend in seine Ohren, als wäre es ein Befehl. Wach auf! Folge mir! Komm!

Das war ein besonderes Land. Um hier zu überleben, brauchte es einen guten Instinkt. Hanzu hatte einen außergewöhnlichen Sinn für das Ungreifbare. Die Stimme weckte seinen Lebensgeist, und der entscheidende Funke in seinen Augen war gezündet, als er sie gewaltsam öffnete, und da sah er flüchtig und verschwommen einen Schatten kreisen. Vom Himmel hallten weiterhin fordernde Befehle. Komm! Komm!

Hanzus Vorahnung einer letzten möglichen Chance trieb noch einmal ein ungeahntes Feuer in seinen halbtoten Körper. Mit aller Gewalt drückte er sich auf die Beine, atmete schwer, taumelte, fiel wieder nieder und erhob sich abermals, immer diese anfeuernden Laute in den Ohren, während er es schließlich schaffte, sich auf den Beinen zu halten. Nach einigen mühevollen Anläufen folgte er endlich der seltsamen Stimme, die grundsätzlich fordernd und befehlend blieb und dennoch immer diese freundliche Farbe in sich trug. Dann, auf einmal, verstand Hanzu, wohin die Stimme ihn führen wollte, als er die Fährte aufnahm. Kurz darauf erblickte er im Schnee ein sterbendes Reh. Nichts weiter musste er tun, als ihm ein Ende zu bereiten.

Sofort, als Hanzu das Reh erlegt hatte, erklang erneut die Stimme. Ihre Freundlichkeit hatte sie abrupt verloren, die Forderung hingegen war deutlich und nicht misszuverstehen, und keine Sekunde später folgte dem Ruf der Schatten der Luft. Er landete einige Meter entfernt, in sicherem Abstand, und er krähte, als wolle er sagen: Sieh an, ich habe dich zu diesem sterbenden Tier geführt. Ich habe dir das Leben gerettet. Jetzt möchte ich meinen Anteil!

Sicherlich war es nicht üblich, mit den Raben zu speisen. Unzweifelhaft aber forderte der große Kolkrabe mit der markanten Stimme sein Recht ein, und Hanzu senkte nur kurz den Kopf, drehte ihn zur Seite, und gab dem Raben zu verstehen, dass er bekommen solle, was er verdiene.

Der Rabe hatte Hanzu zum Reh geführt. Das gefundene Reh rettete Hanzus Leben. Die letzten Schneereste verschwanden. Er saß auf dem höchsten Punkt der Höhe, auf einem großen Felsen, blickte in die Ferne und sang ein Lied. Es war das erste Mal, dass er seine Stimme hier klingen ließ. Damit dankte er dem Reh, er dankte dem Kolkraben, und er dankte dem Berg.

Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen seinem unberechenbaren Terrain, seiner Wetterphänomene und seiner wilden und rohen Einsamkeit lernte er dieses Land über alles lieben. Im Besonderen liebte er jenen Ort, der ihn fast das Leben gekostet hätte, die Drachenkopfhöhe. Zugleich gefährlich war sie wie auch friedvoll, sie war gleichsam beängstigend und wunderschön. Wer einmal über die endlose Schlucht geblickt hatte, würde diesen Anblick nie vergessen. Aber dieses Gebiet war eben auch außerordentlich schneereich.

Einmal mehr hatte er das Glück auf seiner Seite. Das Glück im Unglück - vielleicht war dies das Schicksal des großen Jägers Hanzu. Vor nicht allzu langer Zeit erst war er von seiner Familie verstoßen worden. Es war gerecht. Was Hanzu getan hatte, war unverzeihlich. Es war unzweifelhaft ein selbst herbeigeführtes Unglück, dass er nun ganz alleine war. Und doch würde Hanzu nicht mehr leben, wenn nicht geschehen wäre, was geschehen ist, denn mittlerweile waren alle tot. Deshalb war selbst die Verbannung sein Glück.

Hanzu wuchs in einer mittelgroßen Gruppe auf, die von seinem Vater und seiner Mutter angeführt wurde. Er hatte zahlreiche Brüder und Schwestern.

Obwohl er das jüngste Mitglied der Familie war, erntete er schnell den Respekt von allen, da es ihm äußerst früh gelang, eine entscheidende Funktion bei der Jagd zu erzielen. Noch bevor er ausgewachsen war, war er schon schneller als alle seine Geschwister. Selbst seinen Vater, der außergewöhnlich groß und kräftig war, überragte er irgendwann deutlich.

Hanzus Vater spürte schnell die außerordentliche Stärke seines Sohnes, aber er erkannte auch seine Eigensinnigkeit und seinen Unwillen, seine Rolle in der Gruppe wahrzunehmen. Stolz war Hanzu, schlau und unfassbar instinktiv, aber auch zu unerschrocken, forsch, und manchmal gar leichtsinnig. Zu alledem gesellte sich eine gewisse Unberechenbarkeit. So sehr er die Stille und Einsamkeit in seinem Herzen trug, so schnell konnte er völlig unerwartet aus der Haut fahren und somit ein ganz anderes Gesicht zeigen.

Konkurrenz gab es wenig. Die Erfahrenen verstanden es relativ gut, für Harmonie zu sorgen. Natürlich hatte jeder seinen eigenen Kopf. Und einen ganz besonders eigenen Kopf hatte eben Hanzu. So wundert es wenig, dass die häufigsten Auseinandersetzungen mit ihm zu tun hatten. Nun muss man aber gerechterweise erwähnen, dass jenes Problem, dass zu seiner Verbannung führte, zumindest nicht durch Hanzu seinen Anfang nahm. Es war sein ältester Bruder, ein eifersüchtiger Charakter, der mit ihm konkurrierte, ohne dass Hanzu ein großes Interesse daran fand, diesen Wettbewerb zu erwidern. Tatsächlich konnte Hanzu nämlich auch ein sehr überlegenes Wesen zeigen. Solange man körperlich unterlegen ist, ist es nicht verwunderlich, wenn man sich einen gerade erlegten Hasen von seinem großen Bruder wegnehmen lässt. Aber Hanzu war stärker als sein Bruder, noch bevor er gleich groß war. Und Hanzu wusste das auch. Vielleicht wäre es klüger gewesen, den Konflikt früher auszutragen.

An jenem Tag hörte die Gruppe nur den Streit. Sein erfahrener Vater wusste es zuerst, noch bevor er Hanzu erblickte: Es war nicht nur eine einfache Auseinandersetzung. Es war ein Kampf auf Leben und Tod.

Als sie Hanzu dann heimkehren sahen, wussten es alle. Man sah es an seinem Blick. Sein Körper war blutbeschmiert, und seine Augen eiskalt.

Der Vater zögerte nicht. Er ging sofort auf Hanzu los. Er zeigte jene Art der Haltung, die klarmachte, dass der nächste Kampf auf Leben und Tod unmittelbar folgen würde, würde Hanzu nicht sofort den Rückzug antreten.

Obwohl man es Hanzu nicht ansah, so wusste er irgendwo in seinem Herzen ganz genau, dass es falsch war, was er getan hatte. Deswegen zog er sich sofort ohne ein einziges Murren zurück. Sein Leben würde sich ab sofort ändern. Er würde nie wieder zurück in die Gruppe können. Von nun an war er ein Verbannter. Für immer würde Blut an ihm kleben.

Fortan lebte Hanzu das Leben eines Ausgestoßenen, und bald verschwanden die Erinnerungen an die Familie. Er hatte endlich eine Heimat gefunden und konzentrierte sich auf das Überleben.

Ende des Winters geschah es dann aber erstmals, dass er auf Spuren einer Gruppe in seinem neuen Reich traf. Hanzus schöner Gesang wurde gehört und machte neugierig.

Er wusste, dass es keine kleine Gruppe war. Die Folgen einer Konfrontation waren trotzdem nicht wirklich absehbar. Dieses Gebiet gehörte jetzt ihm. Er würde es auf Gedeih und Verderb verteidigen. Hanzu war eben nun mal Hanzu.

Er folgte den Spuren unmittelbar, um sich einen Überblick zu verschaffen, aber die anderen hatten ihn bereits wahrgenommen. Schwierig war es, zu ergründen, was die Annäherung bewirkte. Es war eben ein spezielles Gebiet und es war unwahrscheinlich, dass die Gruppe Anspruch darauf erheben würde. Sie brauchten auch keinen Zuwachs. Und dennoch, trotz all dieser Umstände belauerten sie ihn und schränkten ihn in seinem Bewegungsradius ein, indem sie ihn umkreisten. Das Land schien schweigend und still in diesen Tagen, als würde es selbst wie gebannt die anstehende Auseinandersetzung erwarten. Einzig ein stetiger Ostwind durchströmte die Weiten mit seinem gebieterischen Wesen. Fast mahnend strich er um die beiden Körper, die wie angewurzelt auf dem frostigen Waldboden ausharrten und sich im Abstand von etwa 50 Meter stoisch belauerten. Das war also ihr Anführer, der Hanzu nun gegenüberstand. Man muss sagen, dass er Hanzu an Größe, Stärke und Stolz kaum nachstand, und ebenso ist es nicht auszumachen, wer von diesen beiden imposanten Erscheinungen den ersten Schritt auf den anderen zuging. Die Atmosphäre war vom Geist der Neugierde durchdrungen, aber auch Vorsicht und Kampfgeist lagen in der aufgeladenen Luft. Langsam, Schritt für Schritt näherten sich die Kontrahenten, die pure Entschlossenheit blitzte in ihren Augen, ringsherum sammelten sich die Zuschauer, die ihre Unruhe durch kreisende Bewegungen oder warnende Laute zum Ausdruck brachten. Dennoch würde keiner in dieses Geschehen eingreifen. Ein jeder von dieser Gruppe schien es zu wissen. Dies war eine Sache ihres Anführers.

Als weißen Geist konnte man ihn betrachten. Schneeweiß war sein Haarkleid, leise und schnell war er, wie ein Geist. Er führte die größte Gruppe im Norden an. Sein Gebiet war dementsprechend groß und grenzte auch an Hanzus neues Reich. Er genoss ein unglaubliches Maß an Respekt und Vertrauen in seiner Gruppe. Trotz seines hohen Alters schien er nichts an körperlicher Stärke eingebüßt zu haben. Aber weder seine physische Imposanz noch seine unzähligen Kampfspuren konnten den ersten Eindruck für sich gewinnen, wenn man erkennen konnte, welch ungemeines Ausmaß an Würde, Weisheit und Erfahrung sein Innerstes erfüllte. Alleine sein Gang in diesem Moment, da er auf Hanzu zuschritt, war fast, als würde er wie ein Geist über den Boden gleiten. Hanzu ahnte es: diese Konfrontation würde ihn und sein Leben verändern.

Sie gingen weiter aufeinander zu, mit jedem Schritt steigerte sich die Spannung bis zur Unerträglichkeit, die Gruppenmitglieder wurden still, als das unmittelbare Aufeinandertreffen drohte. Der Ostwind blies scharf und warnend zwischen die beiden Gegner. Die aufgehetzte Stimmung lies eigentlich keinen Zweifel mehr an einem blitzschnellen, gleichzeitigen Angriff. Die Vorzeichen schrien einmal mehr nach einem ansatzlosen Kampf auf Leben und Tod.

Genauso wenig wie man sagen kann, wer den ersten Schritt wagte, so wenig kann man sagen, wer den letzten tat, bevor sich die Gegner direkt ansahen. In diesem Moment des ersten Augenmerk konnte jede noch so geringe Bewegung, jeder Ausdruck in den Augen, jegliche Veränderung der Mimik und der Haltung, den Kampf auslösen. Ein Bruchteil einer Sekunde konnte alles ändern und eine Bedeutung haben, die jedem noch so erfahrenen und aufmerksamen Gruppenmitglied entgehen würde. Für alle anderen mag es ein unscheinbarer, flüchtiger Blick gewesen sein, für Hanzu und den weißen Geist war dieses Treffen der Augen von einer unbeschreiblichen Intensität und Tiefe und schien fast wie eine kleine Ewigkeit. Wie ein Stillstehen der Zeit, in der man auf Teile des anderen Wesens trifft, die einem gleich zu sein scheinen und die einen doch durch einen unerklärlichen Austausch an Erfahrung bereichern. Hanzu und der weiße Geist waren einander verwandt. Sie waren durch ein Band miteinander verknüpft, das man nicht erklären kann und zumindest für die beiden Betreffenden von einer reinen Natürlichkeit ist, sodass es für diese beiden auch keine Erklärung braucht. Nur ein Blick. Mehr braucht es nicht.

Es war im selben Moment, da das Wesen des Windes sich änderte. Er verlor seine Schärfe und auf einmal wehte er fast sanft und milde. Er wehte mit einer gleichbleibenden, unaufdringlichen Kraft.

Man kann es kaum als dessen Niederlage betrachten, dass der weiße Geist den ersten Schritt zur Seite trat. Noch während er dies tat, blieb sein Blick auf Hanzu haften. Seine Augen zeigten den Geist der Verbrüderung und gleichsam den ewig brennenden Kampfgeist eines alten Jägers.

Hanzu würdigte die Geste des weißen Geistes, indem er seinen Blick noch vor ihm abwendete. Demnach wendete auch der weiße Geist seinen Blick ab und ging mit seiner Gruppe seines Weges. Damit war alles gesagt. Für große Kämpfer braucht es keinen Kampf.

Hanzu hatte den Respekt vom weißen Geist erlangt. Dies war ein entscheidender Vorteil. Jetzt war allen klar, wem dieses Gebiet gehörte. Die Wintermonate verliefen dementsprechend ruhig. Niemand störte ihn. Hanzu war angekommen. So dachte er es jedenfalls.

Als der Winter sich dem Ende nahte, begab er sich in ein angrenzendes, fremdes Waldstück, da er eine ganze Zeit keine Nahrung im heimischen Gebiet ausgemacht hatte. Er wusste natürlich, dass es riskant war, aber die Fährte, die er gefunden hatte, versprach dort ein sterbendes Reh. Zunächst war er vollkommen auf die Spur konzentriert, dann wanderte sein Blick plötzlich an eine andere Stelle. Er hielt an und blieb eine ganze Weile vollkommen still und konzentriert stehen. Jemand war in der Nähe.

Er entschied, weiter den Spuren zu folgen. Mit einem einzigen Konkurrenten um die Beute konnte er leicht fertig werden. Das Gebiet flachte sich langsam ab und die Bäume wurden rarer. Das Reh befand sich in einer Senke und lag auf der Seite. Aus der Distanz war nicht zu erkennen, ob es noch am Leben war. Er eilte darauf zu, weil er unbedingt vor seinem Konkurrenten da sein wollte. Gerade als er sich dem Reh zuwenden wollte, tauchte eine dunkle Gestalt auf und kam in schnellen und äußerst entschlossenen Schritten näher. Hanzu blickte gespannt auf. Die Gestalt war deutlich kleiner als er. Sie strahlte eine mysteriöse Selbstsicherheit aber auch eine jugendliche Naivität aus. Sie näherte sich trotz deutlicher Drohgebärden von Hanzu bis auf zwanzig Meter an. Schließlich reichte es ihm. Die dunkle Jägerin hatte kein Recht, sich ihm auf diese Art anzunähern. Es war sein Reh. Er beschloss, sie zu verjagen. Aufgrund seiner Haltung schien sie nun augenblicklich verstanden zu haben, mit wem sie es zu tun hatte und trat den Rückzug an. Hanzu war über ihre respektlose Annäherung so erzürnt, dass er nicht von ihr abließ. Er wollte ihr eine Lektion erteilen, aber sie war äußerst schnell und wendig, und so trieb er sie aus dem Wald auf eine lichte Ebene. Hier hatte sie wenig Möglichkeiten, ihm zu entkommen. Vor einer Kuppe blieb sie abrupt stehen. Hanzu hätte sie nun unmittelbar angreifen können, aber er hielt ebenfalls an, denn eine gewisse Nervosität überfiel ihn. Diese Unruhe kam einfach aus dem Nichts, und er wusste sofort, was sie zu bedeuten hatte. Er hatte schon zu viele brenzlige Situationen erlebt.

Statt die Jägerin anzugreifen, bewegte er sich seitlich zu ihr in einigen Metern Abstand. Ein Ausdruck von purer Aggression verschattete seine Augen. Seine Haltung schien natürlich und ruhig, aber es schien eine zu allem fähige Kampfbereitschaft durch, die in jeder Sekunde ausbrechen konnte. Er wusste, was ihn erwartete.

Die Jägerin schien nun sehr unruhig zu werden. Sie beschloss, zu fliehen und rannte wieder in Richtung des Waldes.

Hanzu zögerte. Er blickte auf die Gruppe, die sich den Hang hinaufbewegte. Einst wollten sie ihn nicht ziehen lassen, und auch jetzt bewegten sie sich auf äußerst feindliche Weise. Der Unterschied war, dass die Gruppe deutlich größer geworden war. Während Hanzu sie mit seinen schwarzen Augen kaltblütig ansah, kam die Gruppe unaufhaltsam näher, und dabei schien ihn deren Anführer fast ein bisschen anzulächeln.

---ENDE DER LESEPROBE---