Happy Hour - Silke Franzen - E-Book

Happy Hour E-Book

Silke Franzen

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Beschreibung

Auf einmal ist nichts mehr wie vorher. Ob Trennung, Jobverlust oder Krankheit: In einer Krise wissen wir oft nicht, wie es weitergehen soll. Silke Franzen kennt diese Reaktion gut. Sie betreut seit Jahrzehnten Betroffene traumatischer Ereignisse weltweit, war bei 9/11 und nach dem German Wings-Absturz 2015 im Einsatz. Mit ihrem Buch begleitet sie die Lesenden auf den drei Etappen einer Krise: Sie hilft ihnen zunächst, die eigene Reaktion zu verstehen und unterstützt sie dann, zehn Fähigkeiten zu lernen, die eine aktive Bewältigung ermöglichen. Wie gelingt es etwa, das Grübeln abzustellen und sich auch in der Krise glückliche Stunden zu schaffen? In der letzten Etappe gibt sie Impulse dafür, zielgerichtet ein neues Leben aufzubauen – und stabil aus der Krise hervorzugehen.

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Silke Franzen

Happy Hour

Wie wir gesund und gestärkt persönliche Krisen durchstehen

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Auf einmal ist nichts mehr wie vorher. Ob Trennung, Jobverlust oder Krankheit: In einer Krise wissen wir oft nicht, wie es weitergehen soll. Silke Franzen kennt diese Reaktion gut. Sie betreut seit Jahrzehnten Betroffene traumatischer Ereignisse weltweit, war bei 9/11 und nach dem German Wings-Absturz 2015 im Einsatz. Mit ihrem Buch begleitet sie die Lesenden auf den drei Etappen einer Krise: Sie hilft ihnen zunächst, die eigene Reaktion zu verstehen und unterstützt sie dann, zehn Fähigkeiten zu lernen, die eine aktive Bewältigung ermöglichen. Wie gelingt es etwa, das Grübeln abzustellen und sich auch in der Krise glückliche Stunden zu schaffen? In der letzten Etappe gibt sie Impulse dafür, zielgerichtet ein neues Leben aufzubauen – und stabil aus der Krise hervorzugehen.

Inhalt

Einleitung

Happy Hour?

Die drei Etappen der Krise

ERSTE ETAPPE: BREAKDOWN

Aus dem Nest gefallen

ZWEITE ETAPPE: STABILITY

Die erste Fähigkeit | Unabänderliche Reaktionen annehmen

Die zweite Fähigkeit | Aus dem Teufelskreis der hinderlichen Gedanken kommen

Die dritte Fähigkeit | Dem Grübelkabinett entkommen

Die vierte Fähigkeit | Umgang mit Emotionen in der Krise

Die fünfte Fähigkeit | Mit Humor Distanz bekommen

Die sechste Fähigkeit | Den Blick auf die eigenen Stärken richten

Die siebte Fähigkeit | Wege zur Achtsamkeit finden

Die achte Fähigkeit | In der Krise Glücksmomente suchen

Die neunte Fähigkeit | Helfen und sich helfen lassen

Die zehnte Fähigkeit | Zuversicht finden

DRITTE ETAPPE: RESET

Klar Schiff machen

Danksagung

ANHANG

Anmerkungen

Die Autorin

Einleitung

Happy Hour?

Die »glückliche Stunde«: Wie passt sie zur Krise? Ist das nicht ein etwas merkwürdiger Titel für dieses Buch? Ganz und gar nicht. Um dies zu verstehen, werden wir uns kurz näher mit dem Glück beschäftigen. Was ist Glück überhaupt? Es gibt verschiedene Formen des Glücks, denn Glück ist nicht gleich Glück.

»Da hast du aber noch mal Glück gehabt«, sagen wir, wenn jemand mit dem Schrecken davongekommen ist. Beim »Glück haben« und der »Glückssträhne« geht es um den Zufall. Den können wir meist nicht aktiv herbeiführen. Im Englischen heißt es »lucky«. Bei einer Glückssträhne ist jemand länger mit diesen Zufällen gesegnet. Über dieses Glück reden wir hier nicht.

Beim »Glücklichsein« und den »Glücksmomenten« geht es mehr um das Befinden, darum, sich wohlzufühlen im Leben. Und dafür können wir aktiv etwas tun. Glücksmomente können wir herbeiführen, sie haben etwas mit unserer Aufmerksamkeit und unserer Haltung zu tun. Statt unser Glück an den Lottogewinn zu koppeln, freuen wir uns über kleine Dinge: über die Sonnenstrahlen, die bei einem Waldspaziergang durch die Baumkronen fallen, den Freund, der uns ein Lächeln schenkt, den schön gedeckten Tisch. Im Englischen spricht man von »happy«. Dieses Glück ist mit »Happy Hour« gemeint. Denn gerade solche Glücksmomente braucht es in Krisen, wie wir noch sehen werden. Ein glücklicher Mensch muss nicht immer Glück haben, er kann auch ohne Zufall glücklich sein.

Viele sind auf der Suche nach dem dauerhaften Glück. Sie sind ganz unglücklich, weil sie nicht ständig glücklich sind. Doch gelingt das überhaupt? Unser Gehirn ist gar nicht dafür gemacht, ununterbrochen Glück zu produzieren. Glück ist ein flüchtiger Zeitgenosse. Seine erwachsene Schwester heißt Zufriedenheit. Zufriedenheit dauert länger an als nur einen kurzen Moment, sie ist langfristiger angelegt. Und dabei meine ich Zufriedenheit im positiven Sinne: mit dem »eigenen Sein und der eigenen Situation im Frieden«, im Einklang mit sich selbst. Erreichbar wird diese Zufriedenheit unter anderem durch die Wahrnehmung vieler kleiner Glücksmomente. Auch oder gerade während einer Krise.

Nur zwei Buchstaben brauchen wir, um rasch aus dem Glück ein Un-Glück zu machen. Doch auch andersherum kann es schnell gehen: Vermeintliches Unglück kann zum Glück werden. So wie bei Mrs M.: Am »11. September« war ich am Flughafen Frankfurt, um Fluggäste zu unterstützen, die nicht wie geplant fliegen konnten, da der Luftraum nach dem Angriff auf das World Trade Center komplett geschlossen war. Mrs M. war besonders verzweifelt. Sie erzählte mir, dass ihr Freund im »World Trade Center« arbeite. Wir versuchten ihn anzurufen, doch wir erreichten ihn nicht. Wir probierten es wieder und wieder. Sie berichtete mir, dass sie in drei Wochen heiraten wollten. Endlich, nach Stunden des Wartens, ging er ans Telefon: Er hatte an diesem Morgen einen Autounfall auf dem Weg zur Arbeit. Nur ein paar Schrammen und ein Blechschaden. Doch genug, um ihn so aufzuhalten, dass er an diesem Morgen nicht rechtzeitig zur Arbeit kam. Das Unglück wurde hier zum Glück für die beiden, ihre Familien und Freunde.

Wie ist das aber mit dem Glück, wenn die Krise tatsächlich richtig zuschlägt? Viele sind ganz erschrocken über sich selbst, wenn sie während einer persönlichen Krise auch hin und wieder Glücksmomente verspüren. Besonders dann, wenn eine Person in ihrem Umfeld verstorben ist. So saß Herr B., dessen Frau sieben Wochen vorher gestorben war, ganz betrübt vor mir und berichtete, dass er den Tag zuvor »ganz kurz mal glücklich« gewesen sei. Er habe sich so gefreut, dass die Schneeglöckchen in seinem Garten aufgegangen seien. Und nun frage er sich, was er für ein Mensch sei, wenn er in einer so schweren Zeit Glück empfinde. Er war ganz unglücklich über sein kurzes Glück.

Doch genau darum geht es auch in Krisen: um Glücksmomente. Die darf, ja sollte man sich erlauben, gerade, wenn es einem schlecht geht. Kleine Momente des Glücks bedeuten kurze Pausen, Augenblicke der Entspannung, um durchzuatmen, Kraft zu tanken von dem Leid. Man kann nicht die ganze Zeit traurig und verzweifelt sein. Glücksmomente gilt es, aktiv zu erzeugen. Suchen Sie bewusst nach solchen Augenblicken – egal wie es Ihnen gerade geht.

Mit diesem Wissen können wir uns nun der Krise zuwenden. Wenn ich in diesem Buch über Krisen rede, ziehe ich manchmal zur besseren Verdeutlichung Katastrophen wie Flugzeugabstürze, Tsunami oder Erdbeben als Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrung bei verschiedenen Kriseneinsätzen heran. Solche Ereignisse sind aber verhältnismäßig selten. Deswegen meine ich mit Krisen hier vor allem diejenigen Erlebnisse, die häufiger vorkommen: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, schwere Krankheiten, Erziehungsprobleme, Trennungen, Verkehrsunfälle, ungewollte Kinderlosigkeit. Im Buch finden Sie Arbeitsblätter und Übungen, die auf all diese Situationen anwendbar sind und die Sie mit Blick auf Ihre persönliche Krise bearbeiten können. Die Unterlagen sind in größerem Format mit mehr Platz auch als kostenlos downloadbares Workbook verfügbar.

Schauen wir uns die »Krise« noch einmal genauer an: Ursprünglich kommt das Wort aus dem Griechischen (krisis). Es bedeutet übersetzt »Scheidung, Entscheidung«. Zunächst wurde das Wort als Fachwort in der Medizin verwendet und bezeichnete den Wendepunkt einer Krankheit: Hier entschied sich, ob es weiter bergab oder endlich wieder bergauf ging. Im Laufe der Jahre wurde das Wort dann allgemeiner gebraucht.

In unserem Zusammenhang bedeutet dies, dass unser Leben mit dem Eintreten einer Krise eine Wendung erfährt. Doch oft geht es auch um eine »Entscheidung«: Wir können darauf Einfluss nehmen, wie diese Wendung unser Leben verändert. Mit diesem Buch möchte ich Sie bei guten Entscheidungen, einer guten Wendung in Krisen unterstützen. Sie haben mehr in der Hand, als Sie denken.

Die drei Etappen der Krise

Auf dem Weg durch die persönliche Krise stehen uns drei Etappen bevor. Als erste Etappe kommt der Zusammenbruch (Breakdown). Der Boden wird uns unter den Füßen weggerissen, wir straucheln, unsere Welt gerät ins Wanken: Wir fallen aus unserem warmen, kuscheligen Nest. Damit soll sich das erste Kapitel dieses Buches beschäftigen. Was passiert? Welche Reaktionen sind normal? Wie können wir erkennen, dass wir nicht nur gestrauchelt, sondern sogar gefallen sind?

In der zweiten Etappe ist es wichtig, wieder stabil zu werden, um psychisch gesund aus der Krise herauszukommen. Diese Fähigkeit der Stabilisierung haben wir in uns, wie das englische Wort »stability« schön zeigt. Die Fähigkeit (ability) ist schon in der Stabilität (stability) enthalten. Wie wir wieder ins Gleichgewicht kommen können, damit beschäftigt sich der zweite Teil des Buches. Alle darin beschriebenen Methoden sind wissenschaftlich fundiert und kommen zum größten Teil aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Sie werden zehn zentrale Fähigkeiten kennenlernen, die Ihnen auf dem Weg durch die Krise helfen. Mit deren Hilfe können wir wichtige Fragen im Umgang mit der Krise beantworten, unter anderem: Was machen wir, um das Geschehene zu akzeptieren? Wie geht man mit den eigenen Gedanken um? Was machen wir, wenn wir vor lauter Grübeln gar nicht mehr klar denken können? Gibt es in der Krise auch etwas zu lachen? Haben wir überhaupt Ressourcen?

Danach kommt der Neuanfang (Reset), die dritte Etappe. Wir müssen uns neu auf unser Leben, auf ein etwas verändertes, vielleicht auch auf ein ganz anderes Leben einstellen. Was möchte, was muss ich dabei über Bord werfen? Welche Prioritäten möchte ich zukünftig in meinem Leben setzen? Was ist mir wichtig? In Krisen können bekanntlich auch Chancen liegen. Damit beschäftigt sich der dritte Teil. Ihnen den Weg durch die drei Etappen Ihrer Krise einfacher zu machen: Das ist das Ziel dieses Buches.

ERSTE ETAPPE: BREAKDOWN

Aus dem Nest gefallen

Einschneidende lebensverändernde Ereignisse

Nur ein Wimpernschlag und alles ist mit einem Mal anders. Noch eben schien unsere Welt sicher und vertraut. Auch wenn wir vielleicht hier und da mal gehadert haben, war es doch irgendwie angenehm und beruhigend. Plötzlich fühlen wir uns hilflos, wir sind verunsichert, erleben uns als verletzt und fremd in der Welt. Wir sind herausgefallen aus unserem Nest, erkennen uns selbst, die anderen, die Welt nicht mehr wieder. Wir möchten zurück. Noch nie haben wir unser altes Leben so geliebt.

Wir denken zumeist, dass wir immun sind gegen Schicksalsschläge und in einer sicheren vorhersagbaren Welt leben. Unglücke und Krisen finden woanders statt. Das ist auch gut so und gesund, denn sonst würden wir in ständiger Angst leben. Doch niemand von uns ist vor einschneidenden lebensverändernden Ereignissen geschützt. Persönliche Krisen gehören zum Leben dazu. Die Situationen können so vielfältig sein wie das Leben selbst: die Diagnose, die uns von einem Arzt bei einer Routineuntersuchung mitgeteilt wird; die Kündigung unseres Arbeitsvertrages, die plötzlich und unerwartet auf unserem Schreibtisch liegt; der eigene Partner, der uns ohne Vorwarnung verlässt; die Nachricht, dass unsere Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind; der Einbruch in unserem eigenen Haus oder ein Virus namens Covid-19, von dem wir noch nie gehört haben und das unser eigenes Leben stark einschränkt.

Doch was immer wir auch erleben, unser Kopf schützt uns zunächst vor der Wucht des ganzen Aufpralls. Die Gewissheit des Ereignisses dringt erst allmählich in unser volles Bewusstsein. Tröpfchenweise gibt es den Schrecken für uns frei. Vor der vollständigen Erkenntnis drängen sich Gedanken auf, die der eigenen Beruhigung dienen sollen: »Der Arzt hat die Unterlagen verwechselt«; »Der Chef meint es mit der Kündigung gewiss nicht ernst«; »Bei dem Verkehrsunfall muss es sich um eine Verwechslung handeln, gibt es nicht viele Autos der gleichen Marke und Farbe?«; »Das ist sicherlich ein Missverständnis, das sich ganz schnell aufklären wird«; »Ein so kleines Virus kann doch nicht wirklich so viel Schaden anrichten«; »Mich wird das Ganze sowieso nicht betreffen«; »Es wird schon nicht so schlimm sein«. Wir wissen, dass es schlimme Krankheiten, Kündigungen, Scheidungen, Unfälle, Pandemien und andere Katastrophen gibt. Aber normalerweise gehen wir immer davon aus, dass der Schrecken anderen passiert.

Die erste Selbstberuhigung dauert meist nur einige Sekunden, manchmal hält sie auch länger an. Unser Kopf fungiert als Airbag vor der Realität. Danach kommt der Schock, wir realisieren, dass die katastrophale Nachricht wirklich wahr ist. Wir spüren zunächst eine innere Leere, fühlen nichts, wirken nach außen hin fast emotionslos. Doch die Gefühle lassen nicht allzu lange auf sich warten: Je nachdem was passiert ist und in welchem Ausmaß oder wie wir betroffen sind, spüren wir früher oder später beispielsweise Angst, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit, Schuld. Alles gleichzeitig oder auch nacheinander. Nach einiger Zeit werden auch körperliche Reaktionen spürbar wie beispielsweise Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Schlafstörungen oder auch Interessenverlust und Rückzug.

Bin ich noch normal?

Normale Reaktionen auf unnormale Ereignisse

Ist das normal? Viele sind aufgrund ihrer Reaktionen völlig verunsichert. Sie haben das Gefühl, doppelt gestraft zu sein. Ihnen ist nicht nur das Unfassbare widerfahren, sie erkennen auch sich selbst und ihre eigenen Empfindungen nicht mehr wieder. Sie kennen beispielsweise Konzentrationsschwierigkeiten und Schreckhaftigkeit nicht von sich. Alles fühlt sich irgendwie »falsch« an. Besonders auch dann, wenn sie Wut verspüren (etwa auf einen Angehörigen: »Warum ist er gestorben und lässt mich allein?«), sich schuldig fühlen (»Warum habe ich mich nicht mehr angestrengt und noch mehr Überstunden gemacht?«) oder sich selbst anklagen (»Hätte ich gesünder gelebt, hätte ich die Krankheit nicht bekommen«). So erschüttert uns nicht nur das Geschehen selbst, sondern auch unsere eigene Reaktion darauf – letztere manchmal noch mehr als das Ereignis selbst. Wir haben ein zusätzliches Problem: Zu der Katastrophe kommt noch die Verunsicherung über die eigene Reaktion hinzu, wir trauen uns selbst nicht mehr über den Weg, fordern von uns, dass wir doch eigentlich stärker sein müssten. Somit verlieren wir den Glauben daran, dass wir in schwierigen Situationen selbst etwas bewirken können und fühlen uns zunehmend hilflos. In der Psychologie spricht man davon, dass die Erwartung an unsere Selbstwirksamkeit beeinträchtigt wird.

Diese Reaktionen sind völlig normal, die meisten Menschen empfinden nach einem solchen Ereignis so. Allerdings fühlt es sich für uns selbst nicht normal an, da die Situation und ihr Erleben neu sind. Wären sie alltäglich, könnten wir auch besser damit umgehen. Diese Information ist schon ein erster wichtiger Schritt, um das Erlebte besser einordnen zu können. So haben wir eine Sorge weniger: Die Situation ist unnormal, unsere Reaktion darauf schon – wir sind normal!

Die psychischen Grundbedürfnisse

Sicher ist, dass wir durch eine Krise in unseren Grundfesten erschüttert werden. Der Psychologe Klaus Grawe hat vier neurobiologisch fundierte und wissenschaftlich anerkannte psychische Grundbedürfnisse aufgestellt.1 Das sind das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, nach Bindung und Zugehörigkeit sowie nach Selbstwerterhöhung. Alle unsere Grundbedürfnisse dienen evolutionär dem Überleben jedes Einzelnen und unserer Art. Dies ist auch heute noch unser übergeordnetes Ziel. Unser Organismus befindet sich noch immer auf Steinzeitniveau, in den vergangenen 2,6 Millionen Jahren hat er sich kaum verändert. Für unser Gehirn laufen wir noch immer im Lendenschurz und mit einer Keule durch die Gegend. Auch unser Körper hat nichts davon mitbekommen, dass wir in einer »zivilisierten« Gesellschaft leben und antwortet auf manche unserer Verfehlungen mit dem, was wir Zivilisationskrankheiten nennen. Unter Übergewicht litten unsere Vorfahren zumindest nicht.

Unsere körperlichen, biologischen Grundbedürfnisse sind uns meist präsent, und wir merken schnell, wenn diese nicht befriedigt sind. Wenn wir Hunger haben, essen wir; wenn wir Durst haben, trinken wir etwas; wenn wir nicht atmen können, ringen wir nach Luft; wenn uns kalt ist, ziehen wir etwas an; haben wir eine Nacht durchgemacht, versuchen wir in der nächsten, etwas mehr Schlaf zu bekommen. Die psychischen Grundbedürfnisse sind ähnlich präsent, werden nur oft nicht so bewusst wahrgenommen. Es gilt als oberstes Prinzip, dass diese psychischen Grundbedürfnisse in einer möglichst guten Balance zueinander stehen. Grawe nennt dies das Konsistenzprinzip. Verspüren wir ein Ungleichgewicht zwischen den Bedürfnissen oder ist auch nur eines von ihnen bedroht, wird unser psychisches Wohlbefinden beeinträchtigt, und es kann sogar zur Entwicklung von psychischen Störungen kommen.

Was sind nun die vier psychischen Grundbedürfnisse?

Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Zusammenhänge zu verstehen, Ursache und Wirkung der eigenen Handlungen nachvollziehen zu können, war besonders in der Steinzeit wichtig. Dies hat uns vorangebracht, so wurden Werkzeuge entwickelt, das Feuer nutzbar gemacht und vieles mehr, was unser Überleben zunehmend sicherte. Dieses Bedürfnis, die Welt zu verstehen, ist in uns allen angelegt. Denken Sie nur an die endlosen »Warum«-Frageketten von kleinen Kindern, die sich nicht mit einem »Darum« als Antwort abspeisen lassen, sondern sofort weiterfragen: »Warum darum?« Ereignisse möchten wir vorhersagen und auch beeinflussen können. Es ist wichtig für uns zu wissen, dass wir mit unserem eigenen Verhalten und unseren Entscheidungen für uns bedeutende Ziele erreichen können. Das führt zu einer hohen Erwartung an unsere Selbstwirksamkeit: Wir können selbst etwas tun, haben unser Schicksal in der eigenen Hand. Dies gibt uns auch Orientierung, wir wissen, wo es langgeht. Wir mögen es nicht, wenn wir das Steuerrad aus der Hand geben müssen. Das ruft große Unsicherheit und zuweilen auch ein Gefühl der Ohnmacht hervor. Ist etwas nicht so, wie wir es kennen, suchen wir nach einer Erklärung. Unser Ziel bei Unstimmigkeit ist, unsere Kontrolle wiederherzustellen.

Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Wir streben danach, Freude zu empfinden, das Leben zu genießen. Wir möchten angenehme Emotionen haben und vermeiden tendenziell Dinge, die uns unangenehm sind. So ist es auch wichtig für uns, Aufgaben zu haben, in denen wir aufgehen, in denen wir uns nicht über- oder unterfordert fühlen. Wenn wir nicht (mehr) wissen, was uns Spaß macht, nur noch (ungeliebte) Pflichten haben, nur noch Unangenehmes erleben, fühlen wir uns unausgeglichen und können dadurch auch krank werden. Aber können wir immer nur Spaß haben? An einem schön gemähten Rasen können wir uns nur erfreuen, wenn wir uns aus unserem bequemen Liegestuhl erheben und den Rasenmäher hervorholen. Hier ist es besonders wichtig, eine gesunde Balance zwischen Lust und Unlust zu finden und aufrechtzuerhalten.

Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit

Dies ist eines der bedeutendsten Bedürfnisse. Als Steinzeitmensch war es überlebenswichtig, andere Menschen um sich herum zu haben. Aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, auf sich allein gestellt zu sein, war ein Todesurteil. Auch heute noch brauchen wir andere Menschen, um uns wohlzufühlen, um überleben zu können. Wir wollen zu einer Familie, zu einer Gruppe gehören, wir benötigen mindestens einen guten Freund, von dem wir Unterstützung und Geborgenheit bekommen. Jemanden, den wir um Rat fragen, dem wir uns anvertrauen können. Werden wir von anderen ausgegrenzt, hat das einen äußerst negativen Einfluss auf unsere Gesundheit.

Ein drastisches Beispiel dafür, wie wichtig unser Bindungsbedürfnis ist, zeigt der sogenannte »Waisenkindversuch« von Friedrich II., dem Staufer – ein Experiment, welches heute zum Glück so nicht mehr möglich wäre. Er wollte herausfinden, welche Sprache uns angeboren ist. So ließ er Säuglinge von Hebammen mit ausreichend Nahrung und Flüssigkeit versorgen, die biologischen Grundbedürfnisse wurden somit befriedigt. Den Hebammen war es jedoch verboten, mit den Säuglingen zu sprechen und mit ihnen zu kuscheln. Das Bedürfnis nach Bindung wurde somit nicht erfüllt. Alle Kinder starben. Das Experiment zeigte, wenn auch unbeabsichtigt, dass die Erfüllung der biologischen Grundbedürfnisse nicht zum Überleben ausreicht. Das gilt für Erwachsene übrigens ebenso wie für Kinder.

Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung

Uns allen geht es so: Wir wollen von anderen anerkannt und respektiert sein, möchten in dem, was wir tun, bestätigt werden. Wir freuen uns über Wertschätzung von anderen. Es ist wichtig für uns, dass wir unseren eigenen Wert spüren, uns selbst etwas zutrauen und uns als kompetent erleben. Klaus Grawe sagt, dass es sich hierbei um ein »spezifisch menschliches Bedürfnis« handelt:2 Bei Tieren findet es sich nicht. Um ein Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung zu verspüren, muss man in der Lage sein, über sich selbst nachzudenken. Bewegen wir uns dauerhaft in einem Umfeld, das uns nichts zutraut und uns vermittelt, dass wir nicht gut sind, ist unser Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung bedroht. Das kann im schlimmsten Fall so weit führen, dass wir uns selbst nichts mehr zutrauen und unseren eigenen Wert infrage stellen.

Alle unsere psychischen Bedürfnisse lassen sich einem dieser vier psychischen Grundbedürfnisse zuordnen. Wir fühlen uns nur wohl, wenn diese im Gleichgewicht sind. Durch eine Krise können gleich mehrere unserer Grundbedürfnisse bedroht werden. Durch das Geschehen haben wir scheinbar unsere Kontrolle verloren. Es geschieht etwas, das wir nicht geplant, noch nicht einmal vorausgesehen haben. Wir haben das Gefühl, etwas wird mit uns gemacht, uns wurde das Steuerrad entrissen und wir sind nur noch als Beifahrer unterwegs. Wir werden gegen unseren Willen herausgeschubst aus unserem Nest. Das kann dazu führen, dass wir befürchten, auch keine Kontrolle mehr über das zu haben, was künftig noch geschieht.

Eine Krise betrifft ebenso unsere Unlustvermeidung. Wir möchten das Geschehen nicht erleben und erleben es doch. Das allein schon erzeugt Unbehagen. Aber je nachdem was passiert ist, haben wir auch noch länger mit den Folgen zu tun. Haben wir unsere Stelle verloren und sind arbeitslos, können wir vielleicht gesellschaftlich nicht mehr mithalten, nicht mehr in den Urlaub fahren, unseren Kredit für das Auto und unser Haus nicht bezahlen, nicht feiern: All das, was uns bislang Freude bereitet hat, fällt weg. Nach einem Autounfall haben wir unter Umständen körperliche Schmerzen oder Beeinträchtigungen, die uns die Freude nehmen. Bei einer Krebserkrankung müssen wir uns vielleicht durch eine lange Phase von Operationen und Chemotherapien quälen.

Und eine Krise kann auch unser Bedürfnis nach Bindung beeinträchtigen. Womöglich sind wir ganz allein aus dem Nest gefallen. Wenn unser Partner uns verlassen hat, fühlen wir uns einsam. Möglicherweise werden wir zu dem wöchentlichen Pärchenabend bei unseren Nachbarn erst gar nicht mehr eingeladen. Viele erleben aber auch, dass sich nahe Freunde plötzlich zurückziehen, wenn sie selbst eine Krise erleben. Manche igeln sich auch von selbst ein, weil sie sich von anderen, und zuweilen auch von sich selbst, nicht mehr verstanden fühlen. Haben wir unseren Job verloren, fehlen uns auch viele unserer täglichen sozialen Kontakte. Wir gehören nicht mehr dazu, können nicht mehr teilnehmen an der Mittagspause mit unserer Lieblingskollegin, werden zu keiner Firmenfeier mehr eingeladen.

Abhängig davon, was passiert, ist auch unser Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung bedroht. Wer sind wir denn noch, wenn uns plötzlich gekündigt wird? Der Beruf ist für viele Menschen sinnstiftend und macht einen großen Teil unserer Identität aus. Noch dazu hat er einen hohen sozialen Stellenwert – bei der ersten Begegnung mit anderen Menschen werden wir oft nach unserem Beruf gefragt. Können wir noch etwas, sind wir noch etwas wert, wenn wir unsere Stelle nicht mehr haben? Ähnlich ist es mit anderen Dingen, die zu unserem Selbstwert beitragen: Wer sind wir, wenn unser Partner uns verlässt und wir uns bei unseren Freunden nur noch als fünftes Rad am Wagen fühlen? Was ist, wenn wir durch eine Krankheit Dinge nicht mehr tun können, die uns bislang ausgemacht haben? Solche Beispiele könnte man noch seitenlang weiter ausführen. Sie sind so vielfältig wie die Krisen selbst.

Entscheidend ist jedoch, wie wir mit einer Krise umgehen. Manche kommen fast unbeschadet aus solchen Situationen, schütteln die Ereignisse ab wie eine lästige Fliege und steigen schnell wieder in ihr warmes Nest. Anderen wiederum steht eine schwierige Zeit bevor, bis sie den Weg zurück in ihr Nest, vielleicht ein neues Nest finden. Was hilft im Umgang mit einer Krise? Dies soll das Thema in den nächsten Kapiteln sein. Doch bevor es losgeht, möchte ich Sie im folgenden Abschnitt noch dafür sensibilisieren, wann es sinnvoll ist, sich professionelle Hilfe zu suchen.

Wo hört die Normalität auf?

Bei welchen Reaktionen Sie über professionelle Hilfe nachdenken sollten

Was sind denn nun Ereignisse, die uns aus dem Nest werfen? Gibt es das eine Ereignis, das für alle gleichermaßen bedrohlich ist? Viele Forscher haben sich damit beschäftigt, was lebensverändernde oder traumatische Ereignisse überhaupt sind, und haben versucht, solche Ereignisse aufzuzählen und zu kategorisieren. So haben Holmes und Rahe als eine der Ersten mit der nach ihnen benannten »Holmes und Rahe«-Stressskala eine Liste mit einschneidenden lebensverändernden Ereignissen erstellt und diese in eine Rangfolge von »weniger belastend« bis »sehr belastend« gebracht. Doch ist die Erstellung einer Rangfolge der Schwere von belastenden Ereignissen, die für alle gleichermaßen gilt, meiner Meinung nach nicht wirklich möglich.

Ein Umzug liegt auf dieser Skala relativ weit unten und wird damit als nicht so belastend eingestuft. Doch es gibt auch Menschen, für die ein Umzug in eine andere Stadt eine große Belastung darstellt, weil sie Angst davor haben, ihre Freunde zu verlieren oder weil ihnen das Neue suspekt ist. Für andere wiederum ist ein Umzug verbunden mit großer Vorfreude und Neugier auf die Veränderung. Ganz oben auf der Skala (mit »für 100 Prozent eine Belastung«) steht der Tod des eigenen Lebenspartners. Doch auch das kann für manche weniger belastend sein. Gerade, wenn man den Partner jahrelang gepflegt hat und dieser lange oder schwer leiden musste, kann dessen Tod trotz allem eine Erleichterung sein.

Verschiedene andere Forscher unterscheiden zwischen von Menschen gemachten Katastrophen und Naturkatastrophen (letztere sind leichter zu ertragen), zwischen vorhersagbaren und unvorhersagbaren Ereignissen, zwischen den Kategorien »kritische Lebensereignisse, Alltagsbelastungen« und »traumatische Ereignisse«. Ich möchte diese Unterscheidung hier gar nicht machen, denn meiner Erfahrung nach ist das für die Betroffenen meist unerheblich. Welches Ereignis eine persönliche Krise hervorruft und als wie belastend diese empfunden wird, lässt sich nicht so einfach sagen und hängt immer von den Umständen und den Betroffenen ab: Eine Trennung, ein Autounfall, eine Kündigung, eine Krankheit, ein Einbruch sind nicht für alle gleich belastend. Ähnlich wie bei einer körperlichen Erkrankung reagieren nicht alle gleich – bei einer Grippe gibt es beispielsweise auch ganz unterschiedliche Verläufe.

Interessanter ist nicht so sehr das Ereignis selbst, sondern wie sich eine persönliche Krise auswirken kann. Wenn das Erlebte zu bedrohlich ist, kann es auch der Auslöser für eine Reihe von Problemen sein. So können beispielsweise eine sogenannte akute Belastungsreaktion, eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Anpassungsstörung auftreten. Es ist gut, wenn Sie die Unterschiede kennen, um somit einzuordnen, wann Sie gegebenenfalls besonders gegensteuern oder Hilfe holen sollten. Die nachfolgende Beschreibung erhebt allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll Ihnen erste Hinweise darauf geben, ob professionelle Unterstützung sinnvoll ist. Die aufgeführten Reaktionen orientieren sich an der Klassifikation und den Empfehlungen der WHO. Suchen Sie sich lieber einmal zu viel Hilfe als einmal zu wenig.

Die akute Belastungsreaktion

Sie kann bei allen Menschen nach einer außergewöhnlichen Belastung auftreten. Sie beginnt Minuten, manchmal auch Stunden nach dem Ereignis. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein und auch wechseln. So kann man zunächst den Eindruck haben, neben sich zu stehen, man hat das Gefühl der Unwirklichkeit und fühlt sich emotionslos. Es können Symptome wie beispielsweise Niedergeschlagenheit, Angst, Ärger, Verzweiflung und Reizbarkeit folgen. Meistens steht keines der Symptome dabei allein länger im Vordergrund, sie wechseln sich eher ab. Diese »Stimmungsschwankungen« können für Außenstehende und auch für einen selbst irritierend und zusätzlich belastend sein. Die Symptome schwächen sich im Laufe der Zeit üblicherweise immer mehr ab. Sollten sie sich allerdings nicht abschwächen und länger anhalten oder sogar verstärken, sollte man sich nach etwa drei bis vier Wochen psychologische Hilfe suchen. Es besteht sonst die ernstzunehmende Gefahr, dass sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt.

Die posttraumatische Belastungsstörung

Diese kann auch noch bis zu sechs Monate (im Einzelfall auch länger) nach dem Ereignis auftreten, ohne dass vorher eine akute Belastungsreaktion vorlag. Im Vordergrund der Reaktionen können sogenannte unfreiwillige Wiedererinnerungen stehen. Sie werden häufig auch Intrusionen oder Flashbacks genannt. Dies sind Bilder, Gerüche oder Geräusche, die man während des Traumas wahrgenommen hat, die längere Zeit nach dem Ereignis plötzlich und unerwartet immer mal wieder auftauchen können. Sie besitzen eine sogenannte »Hier-und-jetzt-Qualität«, das heißt, die Betroffenen haben das Gefühl, dass alles noch einmal, jetzt in diesem Moment passiert. Diese Intrusionen werden als besonders belastend und bedrohlich erlebt.

So können Menschen nach einem Erdbeben immer mal wieder das Geräusch im Ohr haben, das typischerweise einem Erdbeben vorausgeht. Andere hören das Martinshorn, das sich bei ihrem Unfall näherte oder sehen nach einem Autounfall immer wieder den Aufprall des Autos vor sich. Dies ist so realistisch, dass viele kaum unterscheiden können, ob sie wirklich das Gleiche noch einmal erleben oder ob das »nur« in ihrem Kopf geschieht. Die Betroffenen wirken nach außen so wie nach dem belastenden Erlebnis selbst: Je nach Situation zittern sie beispielsweise, werden ganz starr oder laufen weg. Diese Wiedererinnerungen können auch in Alpträumen auftreten.

Betroffene vermeiden häufig Menschen oder Situationen, die an das Erlebte erinnern könnten. So wurde Frau M., die am Flughafen arbeitet, in ihrer Mittagspause die Handtasche gewaltsam entrissen. Der Täter lief weg und wurde nicht mehr gefunden. Frau M. konnte von da an nicht mehr zur Arbeit gehen, da sie heftige Reaktionen wie plötzliches starkes Zittern beim Betreten des Flughafens zeigte. Andere nehmen lieber einen Umweg in Kauf, als an der Stelle vorbeizufahren, an der ihnen ein Autounfall passiert ist. Viele ziehen sich dann zurück, haben ein Gefühl der inneren Leere, der Gleichgültigkeit und der Teilnahmslosigkeit.

Weitere Reaktionen sind die sogenannte Übererregtheit: Die Betroffenen werden besonders schreckhaft, haben eine ständige innere Unruhe, fühlen sich ängstlich und angespannt, sind leicht reizbar, können sich schlecht konzentrieren oder leiden unter Schlaflosigkeit. Oft sind sie erschrocken über ihre eigenen Reaktionen. Sie entwickeln eine anhaltende Sorge, dass sie langsam verrückt werden. Als Konsequenz reden die betroffenen Personen mit niemandem darüber und ziehen sich immer mehr zurück.

Ich kann deswegen nicht oft genug betonen, dass diese Reaktionen keineswegs krankhaft, sondern durchaus zu erwarten sind. Sie sind demnach völlig normal! Sie sollen unserem Schutz dienen, uns davor bewahren, eine ähnliche Situation noch einmal aufzusuchen, um nicht erneut Vergleichbares durchmachen zu müssen. Sie erinnern sich: Unser Gehirn arbeitet noch wie beim Steinzeitmenschen und möchte unser Überleben sichern. Wichtig ist deshalb, sich vor Augen zu führen: Meine Reaktionen sind normal! Das, was ich erlebt habe, ist nicht normal.

Meist verschwinden die Reaktionen mit der Zeit von selbst. Dennoch kann es sinnvoll sein, einen Psychologischen Psychotherapeuten aufzusuchen, damit sich die Symptome nicht intensivieren. Manchmal macht man intuitiv Dinge, um Symptome loszuwerden, die diese jedoch unbeabsichtigt eher verstärken. Fehlende soziale Unterstützung kann ebenfalls dazu beitragen, dass sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Damit werden wir uns in einem späteren Kapitel beschäftigen.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass man nicht »nur« als Betroffener, sondern auch als Zeuge erschüttert sein kann. Häufig sind unfreiwillige Zeugen eines Ereignisses besonders irritiert oder gar beschämt von ihren Reaktionen und gestehen sich diese nicht zu, da ihnen doch »nicht wirklich« etwas passiert sei. Auch diejenigen, die eigentlich glimpflicher als andere davongekommen sind, können die oben beschriebenen Reaktionen entwickeln. So begegnete ich, als ich nach einem Erdbeben als Krisenhelferin in der Türkei war, einer Frau, der es besonders schlecht ging. Sie erzählte mir, dass ihr Haus – im Gegensatz zu denen ihrer Kolleginnen und Freunde – völlig unbeschadet aus dem Erdbeben hervorgegangen sei. Sie habe auch niemanden in ihrer Familie, der nur einen klitzekleinen Kratzer abbekommen habe. Sie fühle sich schuldig, dass es ihr »eigentlich so gut« ginge.

Man spricht hier von der Schuld der Überlebenden. Diese können dieselben Reaktionen entwickeln wie die Personen, die scheinbar stärker betroffen sind. Vermutlich war hier zusätzlich das Grundbedürfnis nach Bindung beeinträchtigt. Sie fühlte sich von der Gruppe ausgeschlossen, in der alle Schlimmes erlebt hatten. Gemeinsames Leid kann auch zusammenschweißen.

Die Anpassungsstörung

Diese beginnt meist innerhalb eines Monats nach einem belastenden oder lebensverändernden Ereignis. Sie tritt auf, wenn Menschen sich diesem Ereignis nicht anpassen können. Sie wirkt sich auf Veränderungen der Gefühle, aber auch auf das Sozialverhalten aus, und die Leistungsfähigkeit kann eingeschränkt sein. Die Symptome fallen sehr unterschiedlich aus. Es können Angst, depressive Verstimmung oder Besorgnis auftreten sowie Grübeln und Verzweiflung. Auch Reaktionen wie sozialer Rückzug oder Aggressivität sind möglich. Die Anpassungsstörung kann auch einer Angststörung oder Depression ähneln. Die Betroffenen haben das Gefühl, mit ihrem Alltag nicht mehr zurechtkommen und so nicht mehr weitermachen zu können. Viele haben häufig das Gefühl, »kurz vor dem Explodieren« zu stehen. Das subjektive Leidensempfinden hängt dabei nicht von der objektiven Intensität des auslösenden Ereignisses ab, sondern davon, wie stark sich der Betroffene selbst belastet fühlt.

Die Symptome der Anpassungsstörung werden meistens im Laufe der Zeit geringer und verschwinden allmählich nach etwa einem halben Jahr. Wenn die Symptome sich nicht langsam abschwächen oder länger andauern, sollte man sich auch hier psychotherapeutische Unterstützung suchen. Dies auch aus dem Grund, dass sich keine schwere depressive Störung entwickelt, die möglicherweise deutlich länger andauert.

Es ist wichtig festzuhalten, dass alle der oben genannten Beeinträchtigungen nicht ohne das belastende Ereignis aufgetreten wären. Vielleicht haben Sie sich bei einigen der oben beschriebenen Symptomen wiedererkannt. Falls Sie sich noch etwas strukturierter mit Ihren Reaktionen nach einem schwierigen Erlebnis beschäftigen möchten, kann Ihnen das untenstehende Arbeitsblatt helfen. Dies ist kein Fragebogen zur Diagnostik, sondern lediglich eine Hilfe zur eigenen Reflexion. Überlegen Sie, wie belastend Ihre Reaktionen für Sie sind. Wenn Sie Sorge haben, dass Sie unter einer psychischen Erkrankung leiden könnten oder noch mehr Informationen über Ihre Reaktionen haben möchten, suchen Sie sich professionelle Hilfe. Sie können zu Ihrem Hausarzt gehen oder zu einem ärztlichen oder Psychologischen Psychotherapeuten. Für alle benötigen Sie keine Überweisung. Letztere sind Fachleute für Krisen. Sie haben ein Studium mit einer mehrjährigen Weiterbildung und Erfahrungen in einem psychiatrischen Krankenhaus hinter sich.

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Reflexion: Reaktion auf Ihre Krise

Notieren Sie auf dem Arbeitsblatt. Drucken Sie sich am besten Ihr eigenes Workbook aus, darin haben Sie viel Platz für Ihre Notizen und Gedanken.

Fragen Sie sich

Meine Gedanken und Beobachtungen

Was habe ich erlebt? Was war das Belastende daran?

Welche körperlichen Reaktionen nehme ich seit diesem Erlebnis bei mir wahr?

Welche Emotionen nehme ich wahr? Gibt es eine vorherrschende Emotion oder ein Wechselbad der Gefühle?

Habe ich ein anderes Verhalten, als ich es von mir kenne? Was genau macht die Veränderung aus?

Erlebe ich Intrusionen? Wenn ja, wie äußern sie sich?

Haben andere mir gesagt, dass ich mich nach dem Erlebnis verändert habe?

Wie lange dauern diese Reaktionen seit dem Erlebnis an?

Haben sich die Reaktionen im Laufe der Zeit verändert?

Wie belastet fühle ich mich (0 % bis 100 %) ?

Sollte ich professionelle Hilfe aufsuchen?

Mit zehn Fähigkeiten durch die Krise

In den nächsten Kapiteln führt Sie ein Navigationssystem durch zehn Fähigkeiten, mit denen Sie Ihre persönliche Krisensituation besser verstehen und bewältigen können. Diese Fähigkeiten sind bereits in uns angelegt. Die Methoden zur Wiederherstellung der Fähigkeiten kommen zum großen Teil aus der kognitiven Verhaltenstherapie, einer Form der Psychotherapie, die wissenschaftlich am besten untersucht wurde. Sich diese Prinzipien zu eigen zu machen, kann nicht nur, aber besonders in Krisen helfen. Schauen Sie, was Sie davon ausprobieren und anwenden möchten. Wenn wir aus dem Nest gefallen sind, sollten wir nicht warten, bis uns jemand aufhebt. Wir sollten selbst aktiv werden.

ZWEITE ETAPPE: STABILITY

Die erste Fähigkeit | Unabänderliche Reaktionen annehmen

Wir können die Dinge nicht immer ändern, aber wir können unsere Haltung gegenüber den Dingen ändern.

Epiktet

Es ist, wie es ist

Jeder von uns erlebt immer wieder kleine oder große Krisen in seinem Leben. Zum Einstieg in das Thema möchte ich mit einem eher kleinen Erlebnis anfangen, damit Sie ein Verständnis dafür bekommen, was uns alles unglücklich machen kann. Manchmal sind es auch die alltäglichen, scheinbar kleinen Ärgernisse, die zur Belastung und somit auch zu einer persönlichen Krise werden können.

In fast jedem meiner Seminare gibt es einen Teilnehmenden, der gleich zu Beginn sagt, dass er sich erst einmal »beruhigen« müsse, da er »wie immer im Stau gestanden« habe und »völlig fertig« sei. Meist fangen dann viele der anderen an, mit zu schimpfen, weil sie Ähnliches erlebt haben. Auch sie kommen gerade aus dem Berufsverkehr auf der Autobahn oder – scheinbar noch schlimmer – aus dem Zug, der »wie jeden Morgen« nicht pünktlich war oder gar mitten auf der Strecke stehen blieb. Während sie davon berichten, ist ihr Ärger hautnah zu spüren, und plötzlich ist die Luft voller Aggressionen. Sie übertreffen sich gegenseitig mit dem Erzählen ihrer Belastungen und manche sprechen gar von einer »Katastrophe«, die immer wieder geschehe.

Ich frage dann die Teilnehmenden, warum sie sich denn so sehr ärgern. Sie antworten, dass man das doch müsse, das mache einen fertig und würde einem den ganzen Tag vermiesen, bevor er noch so richtig angefangen habe. Auf meine Frage, ob sich denn durch den Ärger etwas verändere, die Bahn pünktlicher komme, sich der Stau auflöse, die Wahrscheinlichkeit steige, dass sie rechtzeitig zur Arbeit kämen, bekomme ich häufig ein sehr erstauntes »Nein, natürlich nicht!« als Antwort. Auf meine erneute Frage, warum sie sich denn dann ärgern, wird mit Schweigen geantwortet, und ich ernte ungläubige Blicke.

So viel Energie für so wenig Ergebnis! Stellen Sie sich eine andere, gravierendere Situation vor: Sie kommen von einem kurzen Ausflug nach Hause. Sie waren nur etwa eine Stunde unterwegs. Als Sie die Haustür aufschließen, merken Sie, dass etwas nicht stimmt. Eine Schublade des Wohnzimmerschranks liegt mitten im Flur. Als sie ins Wohnzimmer kommen, bemerken Sie die offenstehende Terrassentür: Es wurde bei Ihnen eingebrochen. Sie lassen sich auf den Boden sinken. Wie konnte das passieren? Warum haben die Einbrecher ausgerechnet Ihr Haus ausgesucht? Haben Sie die Terrassentür aufgelassen? Warum haben die Nachbarn, die doch sonst alles sehen, nichts unternommen?

Wie sich, nachdem die Polizei da war, herausstellt, ist eine Kassette mit Schmuck und wichtigen Unterlagen gestohlen worden. Vieles kann man wieder besorgen, anderes jedoch nicht. Besonders schmerzt Sie der Verlust der Armbanduhr, die Sie von Ihrem Vater geerbt haben. Sie hat keinen hohen materiellen Wert, für Sie ist sie jedoch unersetzbar. Warum haben die Einbrecher ausgerechnet diese Uhr mitgenommen? Sie machen sich Vorwürfe, dass Sie aus dem Haus gegangen sind. Können Sie sich in dem Haus je wieder sicher fühlen und glücklich sein? Von da an regen Sie sich jeden Tag von Neuem über den Einbruch auf. Sie finden das so ungerecht und unglaublich. Noch Wochen später überlegen Sie wieder und wieder, warum das passieren konnte.