Happy Rolliday - Hans-Ullrich Lüdemann - E-Book

Happy Rolliday E-Book

Hans-Ullrich Lüdemann

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Beschreibung

Es ist nach wie vor ein gewagtes Unternehmen, als Rollstuhlfahrer mit dem Flugzeug unterwegs zu sein. Und das nicht nur von Berlin nach München, sondern gleich über den Großen Teich. Aber es ist wirklich eine Frage der Organisation, sich auf so einen Trip einlassen zu können. In diesem konkreten Falle traf manch Positives zusammen: Das Wichtigste war wohl, dass unser Gastgeber in San Fran (sage niemals Frisco, dann gibt es Zanke mit Einheimischen!) ein alter Schulfreund war. Dieser war Anfang der Neunziger von seiner Reederei als Repräsentant mit Familie, Haus und Auto in die wohl schönste Stadt Kaliforniens geschickt worden. Durch diese private Anbindung haben wir in vierzehn Tagen ein Maximum sehen und erleben können, was seinen Niederschlag im vorliegenden Reise-Essay fand. Der Zusatz and so on bedeutet, dass es nicht nur um diese Reise geht – und so weiter meint, dass auch mein Leben als DDR-Schriftsteller vor und nach dem Unfall 1977 eine Rolle spielen wird. Verknüpft mit eigenen Beobachtungen und Erlebnissen im US-amerikanischen Alltag, wie er sich nicht nur bei meinem Schulkameraden und seiner Familie zeigte. Sehenswürdigkeiten zu beschreiben halte ich für weniger sinnvoll; das können Reisehandbücher wie beispielsweise der Baedeker viel besser und umfangreicher. Ein besonderes Erlebnis war allerdings der Besuch auf Jack Londons Farm bei Glen Ellen. Nicht zu vergessen der J.-L.-Bookstore – ein Buchladen mit einem Sammelsurium, was nur mit dem weltbekannten Autor irgendwie zu tun haben könnte. Ich hatte Jahre zuvor kraft Fantasie den Abenteuerroman Tödliche Jagd (Co-Autor Hans Bräunlich) geschrieben, dessen Hintergrund unter anderen Jack London und S. F. waren. Im Nachhinein bin ich zufrieden mit meiner professionellen Vorstellungskraft. Oder unser Besuch in Bodega Bay. Hier drehte Alfred Hitchcock seinen Horror-Film Die Vögel. Die Schule, in der sich die Katastrophe mit Möwen, Krähen etc. abspielte, stand noch als heruntergekommene Pension. Das wichtigste Anliegen meines Reise-Essays war jedoch am praktischen Beispiel vorzuführen, dass es auch einem hochgradig Querschnittgelähmten nicht versagt bleibt, im Rollstuhl fremde Länder auf entfernten Kontinenten zu besuchen. Aktionen wie Happy Rolliday I-IV, selbstredend mit helfenden Händen, erweitern nicht nur den Gesichtskreis, sie stärken das Selbstbewusstsein und somit auch die Gesundheit eines Behinderten.

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Seitenzahl: 1151

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

Hans-Ulrich Luedemann

Happy Rolliday

ISBN 978-3-96521-083-7 (E-Book)

Die Druckausgabe „San Francisco and so on“ erschien erstmals 2003, „Kapstadt und so weiter“ 2004  im Verlag Ulmer Manuskripte, Albeck bei Ulm.

Die Druckausgaben „Florida and so on“ und „Dubay – Sydney – Singapur und so weiter“ erschienen erstmals 2005 im BS-Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

FÖR CAPTAIN HARALD UN SIEN FRU RENATE

IN MEMORIAM GÜNTHER

Mein Dank gilt sowohl Vera und Horst van Biljon als auch Dörte und Jens. Ohne sie wäre meine Südafrikareise nicht möglich gewesen.

Vorwort

Man sagt ja, Genie und Wahnsinn würden oft dicht nebeneinander liegen - vielleicht so ähnlich wie Mut und Leichtsinn. Kann sich jeder aussuchen, was ihm lieber und was vor allem leichter zu ertragen wäre. Apropos Mut und Leichtsinn: Alle, mit denen wir vorher sprechen, reden uns zu, es doch um Himmels willen zu tun! Eine günstige Gelegenheit wie diese käme in unserem Leben kein zweites Mal!

Do it! Dieses beschwörende Zureden kennt wohl jeder Fan amerikanischer Filme. Wenn irgendwo irgendetwas passieren soll, aber die Sache kommt nicht auf die Reihe: Steht da einer auf dem Dach eines Hochhauses und springt nicht. Springt einfach nicht, obwohl etliche Meter unter ihm ameisengroß die Leute bereits geschlagene fünfzehn Minuten darauf warten! Sie haben natürlich Angst um den Erlebniswert ihrer Arbeitspause und schreien deswegen auch wie bekifft: O Man - do it! Do it!

Schluss! Dreimal Do it! - das reicht selbst einem Amerikanophilen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Jenes Do it! bezieht sich bei uns nicht auf einen möglichen Familiennachwuchs. Meine Frau und ich - wir sind aus dem Alter ‘raus, wie man so sagt. Auf unserer Lebenslatte sind 50 mehr oder weniger tiefe Kerben geschnitten. Aber nichtsdestoweniger werden wir es also tun und alle Freunde und Bekannten werden unseren Pioniergeist mit kräftigem Schulterklopfen würdigen. Kann sein, dass ich mich irre, wenn ich sage, dass ihnen bei aller Anerkennung vielleicht auch ein bisschen Neid wegen der fehlenden eigenen Courage in den Augen steht. Denn eines wissen Dörte und ich ebenso hundertprozentig: Geht irgendetwas schief - kein Wunder! würde es unisono heißen! Wer macht denn auch so was! In eurer Situation?!

Und so ein ganz Neunmalschlauer - ich spüre das direkt bis in die Schulterspitzen - einer von diesen ewigen Besserwissern wird aufmunternd unsere Niederlage mit einem Tritt gegen die Bereifung meines Rollstuhls quittieren.

Nun ist also heraus, was mit mir los ist: Ein waschechter Tetraplegiker bin ich. Und bei Gelegenheit rede ich auch darüber, wann und warum es zwischen meinem sechsten und siebenten Halswirbel einen Knacks gab, der gleichzeitig das Rückenmark in diesem Bereich durchschnitt. Von einem Augenblick zum anderen degradierte das Schicksal unter anderen in mir den werktätigen Schriftsteller, den Sportsmann - ja, auch den Liebhaber - zu einer - wie es im Amtsdeutsch heißt - Hilflosen Person. In meinem Behinderten-Ausweis mit einem großen -H- ausgewiesen. Die sozialistische Behinderten-Bürokratie stellte mich einem Blinden gleich ...

Man mag es mir nachsehen, dass ich keinen abgelegten Kalender bemühe, um genau Tag und Stunde in Berlin-Altglienicke zu nennen, als Captain Harald und Ehefrau Renate sich für die nächsten Jahre von uns wegen ihrer wohl bemerkenswerten Ortsveränderung verabschieden. Mein Klassenkamerad Harald hatte 1960 gegen den Willen unseres Genossen Direktors die Erweiterte Oberschule Greifswald, heute das Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium, in der Zehnten verlassen, weil es seiner Meinung nach für ein Kapitänspatent keines Abiturs bedurfte. Für sein Berufsziel diente Harald dienstgradmäßig vom Matrosen aufwärts. Und jedes Mal, wenn er Landgang hatte, da hielten wir Provinzler Maulaffen feil, weil Harald - in seinem seemannsblauen Tuch besonders den Mädchen imponierend - kenntnisreich und schwärmend von Havanna, Suez oder Mombasa erzählte. Das also zu Captain Harald aus dem verschlafen-vorpommerschen Städtchen Gützkow, der nach dem Umbruch 89 endlich selbst seine und die Zukunft seiner Familie bestimmen wollte. Wohnort seit 1991: San Francisco, Kalifornien ...

San Francisco and so on

Jedermann sollte in zwei Städte verliebt sein - in seine Heimatstadt und in San Francisco

Ein Statement von Gene Fowler. Aber um noch einmal auf jenen Abschiedskaffee zurückzukommen - zu der Zeit wusste ich über San Francisco und Umgebung wohl sehr viel mehr als der ansonsten weit gereiste Captain: Ich konnte Harald sogar einen Reiseführer schenken für San Fran oder The City - ganz nach Belieben. Aber sage keiner Frisco - diese deutsche Namensgebung mögen die meisten hier nicht. Obwohl niemand leugnen will, dass in ihrer Stadt ähnlich wie in jenem Musical In Frisco ist der Teufel los selbiger auch los sein kann. San Francisco nebst Castro-Viertel gilt auch als Synonym für die Schwulenhauptstadt der Welt. Zentrum der sogenannten Flower-Power war diese Stadt ja auch.

Woher ein ehemals mauergeschützter DDR-Bürger das alles kennt? Apropos Mauer: Ich muss oft daran denken, dass ich mich bei der Grenzkontrolle in die Rückenlehne vom Beifahrersitz gepresst habe, damit keiner der griesgrämigen Zöllner auf die Idee kam, meine Hosenträger unter dem Pullover seien eher eine Art Gummi-Spinne für geschmuggeltes Gut: Zeitschriften, Bücher oder Kataloge. Alles Quellen, die ich zum Schreiben benötigte. Und jedes Mal stellte meine Frau in ihrer Angst lauthals den letzten Teil jener typischen Grenzer-Frage empört in Abrede: nein, nein - mein Mann und ich - wir führen doch keine Waffen mit! Wer nie westwärts fahren durfte, weil Genossen in Uniform seine Reise-Anträge in volkspolizeilichen Amtsstuben mehr oder weniger rüde abschmetterten, wird im Nachhinein schon gar nicht über solche Situationen lachen können ...

Aber wieder nach San Francisco zurück: Ende der achtziger Jahre war ein mit meinem Freund und Kollegen Hans Bräunlich unter dem Pseudonym John U. Brownman geschriebener Krimi für etwa vierzehnjährige Leser im Kinderbuchverlag Berlin erschienen; der hieß Tödliche Jagd - und Handlungsort ist jene Stadt mit der weltberühmten Golden Gate Bridge. Ich übertreibe nicht - es gab damals Monate, da hatte ich - wohl besser als ein Handelsreisender von der amerikanischen Ostküste - den Plan der Stadt San Francisco in meinem Kopf gespeichert. Nicht zu vergessen nahegelegene Orte wie Sausalito oder Napa oder Sonoma. Und das Valley of the Moon mit Glen Ellen und einem mehr als bescheidenen Grab des Selbstmörders Jack London auf seiner Ranch. Also - Tödliche Jagd war bereits gut verkauft und ein Krimi mit Big Apple New York als lokaler Hintergrund erschienen - Schnee für Miami als drittes von zehn konzipierten Bänden kam aus der Druckerei zurück. Nichts mehr über Big Orange Miami. Licht aus und Feierabend - der Staat DDR nebst seinen kulturpolitischen Institutionen ging oder wurde in den Konkurs gegangen ...

Captain Harald schickt uns nun aus San Francisco per Fax Verhaltensmaßregeln und das von Governor Pete Wilson gesiegelte und gebührenpflichtige Formular wegen der Sonderrechte für eine Disabled Person. Jetzt wissen Dörte und ich - das Unternehmen HAPPY ROLLIDAY ist angeschoben. In der Folgezeit kommen ungewohnt schnelle und gute Telefonverbindungen zwischen San Francisco und Berlin zustande, in denen es bereits um einen Termin für unsere Reise geht. Mittlerweile außerordentlich landeskundig, schlägt Harald die zweite Hälfte April vor. Des Wetters wegen und weil er dann für vierzehn Tage seinem kräftezehrenden Job als Manager Marine Operations für ein deutsch-asiatisches Schifffahrtskonsortium im drittgrößten Container-Hafen Oakland Adschüs sagen könne.

Dörte und ich - wir besprechen auf unserer täglich einstündigen Altglienicker Frischluft-Tour diesen Amerikatrip mit Für und Wider! Wenn meiner Frau unterwegs etwas zustößt - nicht auszudenken! Ohne Dörte kann ich mich in einen Sack stecken und ihn zubinden lassen! Oder - nur mal angenommen - meine Galle spielt unterwegs plötzlich verrückt. In den U.S.A. - ich hatte es schaudernd gelesen - da laufen Krankenhauskosten von zigtausend Dollar schnell auf. Die U.S.A. sehen und sterben?! Oder bankrottgehen? Also wenigstens muss eine Versicherung abgeschlossen werden. Eine Master Card Gold soll das übrige tun. Aber in den kleingedruckten Geltenden Geschäftsbedingungen sind Versicherungsleistungen für Leute mit hochgradiger Querschnittslähmung ausgeklammert.

Nichtsdestoweniger - Freunde und Bekannten haben recht - eine solche Chance dürfen wir nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Also Augen zu und durch! Und fortan muss ich Angelegenheiten klären, die für einen gleichaltrigen westdeutschen Bürger selbstverständlich sind: Neue Pässe und etwas Handgeld brauchen wir. Aus Sicherheitsgründen nach Möglichkeit nur grüne Scheine á la Alexander Hamilton. Dieser Mann gehört einfach auf die Vorderseite einer Geldnote: Adjutant bei George Washington und Gründer der U.S. Nationalbank, die sinnigerweise auf der Rückseite zu besichtigen ist. Dass Hamilton 1804 nach einem Duell gestorben ist - ein Schelm, wer deswegen die Lauterkeit von Männern wie Hamilton, die ihr Leben allein wegen einer Streitigkeit aufs Spiel setzen, in Zweifel zieht. Zu ihnen zählt zweifellos Streithammel Andrew Jackson, 1828 und 1832 U.S. Präsident und Liquidator jener U.S. Nationalbank. Old Hickory starb nach einer Vielzahl Duelle friedlich im Alter von 78 Jahren.

Zum Glück für uns reagieren Meldestelle mit Pass und Sparkasse mit Kreditkarte gleichermaßen angenehm prompt und zuverlässig. Ausgerechnet ein Reisebüro, das sich für Reisen Behinderter empfiehlt, lässt uns hängen. Es schaltet nach einem ersten Telefonat kurzerhand auf Funkstille. Also nehme ich unsere Reiseformalitäten in eigene Regie und fahnde im Berliner Gelben nach den Telefonnummern einschlägig bekannter Luftfahrtgesellschaften. Und letztendlich finde ich mithilfe einer freundlichen Reisebüro-Dame heraus, dass British Airways mit Abstand kostengünstig ist. Unsere Ersparnis zur teuersten Airline - dreimal darf man richtig raten, wie der Kranich mit bürgerlichem Firmennamen heißt - in Höhe von 500 Mark pro Person und Flug sollen zur Nachahmung anregen. Was bei allen Anbietern lobenswert ist - einen Hilfe-Service für behinderte Reisende, Anmeldung schon bei Ticket-Bestellung - bietet jeder renommierte Flughafen.

Einen Gedankenfehler mangels Erfahrung will ich nicht verschweigen. Zu DDR-Zeiten zahlten die Verlage für meine Reisen nach Prag, Sofia, Moskau, Jerewan oder Baku. Ich musste mich höchstens um eine OK-Buchung für den Rückflug kümmern. Daher also mein Irrtum, der uns kurzzeitig doch etwas ratlos macht trotz eines großzügig bereitgestellten Reise-Budgets unserer wohlmeinenden Tante Gertrud: Anfangs habe ich tatsächlich nicht kapiert, dass ein Flugticket in der Regel für Hin- und Rückflug ausgepreist ist! Die so irrtümlich angesetzten 5.200 Mark hätten mächtig die Beine unserer Geldbörse anziehen lassen. Das mit der Geldbörse und den Beinen anziehen stammt nicht von mir - woher auch? Seit ich am 22. Januar 1977 als Dreiunddreißigjähriger jenen Unfall hatte, ist letzteres ohnehin für mich ein Ding der Unmöglichkeit ...

Zwischenzeitlich versuchen Dörte und ich - nach dem Motto: Vereint reisen, aber getrennt lernen - unsere Sprachkenntnisse aufzufrischen. Und wozu gibt es Öffentliche Bibliotheken? Ich kopiere - ausschließlich für den Hausgebrauch! - allseits bekannte Sprachkassetten. Die Lernphase frühmorgens hält bei mir mehrere Wochen an. Dann siegt mein Selbstbewusstsein - nein - mein innerer Schweinehund ist es, der mir einredet: Für das Nötigste hätte schon die Lehrerin auf der Penne gesorgt. Dörte bezieht durch ihre Lernmethode zumindest jeden trinkfreudigen Besucher unseres Hauses mit ein: In Toilette und Bad sind alle Wände beziehungsweise die Fliesen mit Spickzetteln beklebt. An diesem Ort einer allgemeinen Befreiung wurden, wohl oder übel zwanghaft, Vokabeln gepaukt.

Nach all diesen Vorgeplänkeln sieht es am zweiten Sonnabend im April gar nicht so aus, als würde etwas Besonderes stattfinden. Dass am gleichen April-Tag im Jahre 1906 das bislang stärkste Erdbeben San Francisco verheerend getroffen hatte - nach fast neunzig Jahren - was soll's! Und Big One - das vorausgesagte größtmögliche Erdbeben - würde Kalifornien hoffentlich nicht gerade in den nächsten vierzehn Tagen heimsuchen. Eher schon bedrückt uns der Gedanke, dass wir unserer über 70 Jahre alten Mutter die ganze Verantwortung, sowohl für Haus und Hof als auch für Hund und Katze aufhalsen. Überpünktlich - er will am frühen Morgen wegen Unfall oder Stau auf der Stadtautobahn nichts riskieren - chauffiert Günther, ein hilfsbereiter Nachbar, uns nach Tegel. Hier heißt es nun: Film ab! Ja, es wird ernst für Dörte - sie setzt nämlich zum ersten Mal einen eigens für die Reise geliehenen Camcorder in Gang. Apropos: farbige Bilder - keiner wird es glauben, dass British Airways allein durch ihr auffallend harmonisch abgestimmtes Farben-Logo Blau-Rot bei mir sofort einen Vertrauensvorschuss erhält. Augen-Menschen reagieren nun einmal so. Dörte amüsiert sich jedes Mal, wenn ich beispielsweise ein Gebäude und seinen Architekten danach beurteile, ob die Fenster in einer Hausfront gewisse gemeinsame Fluchtlinien aufweisen oder nicht ...

Als wir mitbekommen, dass Rollstuhlfahrer stets zuerst an Bord und als letzte von Bord gehen - sorry - rollen, da ist schon alles gelaufen. Wohl im irren Glauben, ihr Ziel früher erreichen zu können, sprinten einige ganz Eilige den Finger entlang in die angedockte Maschine. Mit Dörte und mir warten gelassen zwei stämmige Burschen vom Roten Kreuz auf ihren Einsatz. Endlich ist es soweit: Nach einem Wink des Stewards packen kräftige Hände zu und verfrachten mich auf ein superschmales Gestühl, das nur aus Sitzfläche und vier Rädern zu bestehen scheint. Einer hievt unsere riesige Reisetasche auf meine Kniee - und ab geht die Lucie! Als wir vom Flugsteig ins Flugzeug wechseln, presse ich hartgesottener Atheist alle meine fantasievollen Befürchtungen in ein unhörbar gesprochenes Gebet: Gott befohlen! Diese zwei Worte an ein unwägbares Schicksal halte ich bei unserem gewaltigen Luftsprung durchaus für angemessen.

Da ich der einzige Rolli an Bord bin, werde ich dementsprechend ausgiebig während meiner Schiebetour auf dem Mittelgang beäugt. Auch für den Alltag muss ein Querschnittsgelähmter lernen, mit dieser oft schamlos wirkenden Aufmerksamkeit zu leben. Der britische Steward - gekleidet wie ein Dressman in jenem bereits hervorgehobenen Blau-Rot - will uns etwas Gutes tun: Er besteht darauf, dass ich den freien Platz am Mittelgang besetze. Wegen der in meiner Nähe befindlichen Toilette. Sicher hat er für mich nur das Beste im Sinn. Ebenso sicher will mir scheinen, dass er nicht weiß, was das ist. Logischerweise entfällt für mich der Besuch einer Bordtoilette. Aber nicht deswegen will ich mich an die Fensterseite verdrücken: Im Falle eines Falles möchte ich außerhalb jedweden neugierigen Sichtkontaktes für die anderen Passagiere sein. Solch ein Bedürfnis tritt normalerweise in den zwei Stunden Flugzeit nach London-Heathrow nicht ein - aber was ist für mich als Rolli schon normal während einer solchen Reise? Sei es, wie es sei - würde sich wider Erwarten meine Blase melden, dann heißt es: soweit wie möglich zurücklehnen, Reißverschlüsse rechts und links öffnen und Hosenlatz nach vorn aufklappen ...

Zugegeben - es gibt Passagiere, die schauen tunlichst beiseite. Und - zugegeben - vielleicht tue ich den anderen Unrecht und sie warten nur darauf, um Hilfe gebeten zu werden. Nur deshalb verfolgen sie mit starren Augen jeden Handgriff meiner Frau. Stellen sie ihre Lauscher hoch auf totalen Empfang, weil Dörtes Handkante durch rhythmisch klatschende Schläge auf der Bauchdecke meine Blase manipuliert. Wenn ich endlich erleichtert aufatmen kann, dann sind diese überaus interessierten Mitreisenden noch immer auf der Hut. Halten sie weiterhin Augen und Ohren offen. Ich kann mir eine Menge vorstellen - aber dass meine Frau diese Leute bitten könnte, eine halb mit Urin gefüllte Kunststoff-Ente - aus Gründen der Tarnung von uns Alma genannt - in der Bordtoilette auszuschütten? Womöglich begleitet von Dörtes vorwurfsvoll strengem Hinweis: Aber Ausspülen nicht vergessen!

Die Ankunft in San Francisco ist ein Augenblick fürs ganze Leben

Des Dramatikers William Saroyan Ausspruch aus eigener Anschauung überprüfen zu können - es wird noch etwas dauern. Ist das Wetter in Berlin-Tegel noch leidlich, so bleiben uns leider dank einer regenschwangeren Wolkendecke sowohl Amsterdam als auch der Kanal beim Überfliegen verborgen. Fast pünktlich 9.30 a.m. Ortszeit schwebt die Maschine über London-Heathrow ein. Statt Gott befohlen! sagt meine innere Stimme nun: Gott sei Dank! Landung und Service sind okay. Aber irgendwie muss jemand die Zeitpläne durcheinandergebracht haben. Ein Kleintransporter, der mich über eine am Heck gelegene Hebebühne aufnimmt, saust verdammich waghalsig kreuz und quer über den International Airport. Und es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich korrekt ständig auf einer linken Fahrspur unterwegs bin.

Wohl um unserem Begleiter, einem alten Herrn mit paramilitärischem Auftreten, zu zeigen, dass der Deutsche an sich zumindest im Ausland freundlich gegenüber jedermann ist, bestätige ich überflüssigerweise mit meinem eher dürftigen englischen Wortschatz die Jahrhunderte alte Legende vom regennassen Londoner Wetter. Seine Bluse strafft sich, als er auf eine gerade erst überstandene sehr viel schlechtere Witterung verweist. Nicht nur hier in Great-Britain - auf der Welt scheint alles relativ zu sein ...

Da schnarrt es plötzlich aus Opas Walkie-Talkie und der Transporter beschleunigt sofort merklich. Die nächsten fünf Minuten beweisen Dörte und mir, dass der langweilige und beherrscht dröge Engländer auch anders kann: Trotz plötzlicher Hektik singt der Alte sich eins. Und kaum haben wir jenes Fahrzeug verlassen, da saust unser Betreuer mit mir durch die Gänge, dass Dörte Mühe hat zu folgen. Seine Warnrufe scheuchen die vor uns Gehenden rechts oder links zur Seite. Die große Reisetasche auf den Knien haltend, verliere ich jede Orientierung. Bewusst ist mir nur, dass der Mann immer einer bestimmten, farbig ausgelegten Linie folgt. Die unübersichtlichen Wege von beziehungsweise zu den vier Terminals und ihren Abfertigungshallen sind auf diese Weise kaum zu verfehlen. Wegen unserer Eile fällt die Zollkontrolle gewissermaßen aus. Der Gedanke an Terroristen oder Luftpiraten samt ihren viel raffinierteren Methoden einer Tarnung macht mir kurzzeitig zu schaffen.

Dann heißt es wieder: Gott befohlen! Dieses Mal für BA-Flight Number 289. Ich werde erneut durch den ausgebuchten Flieger gekarrt und der Streit um den mir genehmen Sitzplatz flammt ein zweites Mal auf. Dem Chef-Steward fällt es schwer nachzuvollziehen, dass ein Passagier allein nur mit der Schulter voran in den Restroom gelangen kann - ganz zu schweigen zwei auf einmal - meine Frau mit mir. Kurzum - in der Boeing 747 bekommen wir schneller unseren Willen. Absoluter Nutznießer ist ein junger Mann, der auf dem von mir geforderten Sitzplatz an der fensterlosen Außenwand sitzt: Er darf unbesehen in die First Class wechseln. Auch ein Vorteil für uns - der erste Platz am Mittelgang bleibt somit unbesetzt. Wir haben es also geschafft und wir sind auch geschafft. Die pantomimischen Notfall-Übungen einer engagierten Stewardess registriere ich nur noch mit gelassener Höflichkeit. Als Fischkopp halte ich es mehr mit der Lebensphilosophie alter Skipper, nach der beispielsweise bei einer Havarie die Schwimmkunst nur geeignet sei, alle Qualen vor dem Ertrinken zu verlängern.

Etwa einen halben Tag würden wir uns also in zigtausend Metern Höhe ausruhen können. Mir macht Stillsitzen nichts aus: Von zehn Uhr vormittags bis zehn Uhr abends halte ich mich in einem bequemen Ledersessel auf. In der Nähe ein Computer mit Monitor und Drucker; Bücher und Zeitungen. Nicht zu vergessen etliche Infrarot-Fernbedienungen für die verschiedensten Hi-Fi-Geräte. Ein Unterschied wird in der Boeing allerdings offenbar - bei einem Meter und vierundachtzig Zentimetern Körpergröße steht es hier nicht gut um meine Kniefreiheit.

Angenehme Unterbrechungen gibt es mehrmals durch gutes Essen und Trinken. Letzteres muss aber, wie schon beschrieben, möglichst unauffällig wieder entsorgt werden. Ansonsten schauen wir in die gut aufgemachte Highlife, Hausillustrierte von British-Airways. Weiß der Teufel, wie der Tommy das wieder hingekriegt hat - obwohl es erst Mitte April ist, dürfen wir bereits in der Mai-Nummer blättern! Informationen aus dem Cockpit kommen spärlich, und wie es sich für einen Engländer gehört - ausschließlich in seiner Muttersprache. Aber da gibt unerwartet eine Frauenstimme mit überaus korrekter deutscher Zunge ihr Flugwissen preis. Allerdings in einer Lautstärke, dass mir fast die Ohren vom Stamm fallen. Und - wieder nach einer unverständlich gemurmelten Äußerung des Flugkapitäns - das ohrenbetäubende deutsche Echo. Als jemand im Cockpit aus Mitleid mit den Passagieren abrupt die Phonzahl während der deutschen Ansage reduziert, wird mir klar: Die Stewardess spricht per Tonbandkassette zu uns!

Alles was recht ist - die Majorität an den Aktien der British Airways scheinen Leute aus Schottland zu halten. Oder sind es die den Karo-Trägern seelenverwandten Bürger der einschlägig gerühmten Stadt Sparta? Anders ist dieser rustikal anmutende Sparwille trotz einer mehrsprachigen Flugzeug-Crew wohl nicht zu erklären.

Während Dörte und ich die Zeit nutzen, um mittels Sprach-Computer und dem Spiel Hangman (analog zum Buchstaben-Rate-Spiel Aufhängen aus meiner Kindheit) englische Vokabeln zu erraten, informiert der Chefpilot mit rücksichtslos gelangweilter Kaugummi-Stimme, dass wir über Glasgow Richtung Grönland fliegen, um schließlich südwestlich nach Edmonton, Kanada abzudrehen. Nicht nur ich habe gedacht, dass eine gerade Fluglinie über den Atlantik der kürzeste Weg wäre und unsere Route über Grönland sei nur der Flugsicherheit geschuldet. Wegen des Festlands unterwegs für Notlandungen. Weit gefehlt - diese kürzeste Verbindung ergibt sich durch die Oberflächenkrümmung der Erde. Oder verhält es sich ganz anders? Ehrlich - als Captain Harald uns irgendwann bei Tische den Sachverhalt erklärt, klingt alles sehr einleuchtend. Aber wie ich jetzt beim Schreiben merke - das Wissen hat nicht lange vorgehalten.

Mitunter rumpelt es dann und wann in der Luft wie im Landrover auf einer vorpommerschen Dorfstraße. Dass einige Kunststoffplatten der Fensterwand-Verkleidung während unseres Fluges auffällig locker sitzen und demzufolge beängstigend stark vibrieren, kann nur ich sehen. Um der allgemeinen Vorfreude Willen auf Kalifornien schweige ich. Aber ehe ich es vergesse - für die, die immer alles genau wissen wollen - hier die vorgegebenen Flugdaten: London-Heathrow 10.45 a.m. mit geplanter Ankunft am selbigen Tag in San Francisco 1.35 p.m. Ortszeit. Wir fliegen also der Sonne hinterdrein. Das ist schon ein irres Gefühl: Diese riesige Entfernung und wir heben vormittags ab, um noch am gleichen Tag nachmittags anzukommen! Vorausgesetzt - meine heimlichen Stoßgebete werden erhört.

San Francisco ist so etwas wie eine Märchenfee

Elizabeth Bowen soll das gesagt haben. Ist es unhöflich, wenn ich gestehe, Miss oder Misses Bowen nicht zu kennen? Als beschämend empfinde ich allerdings die außerordentliche Zurückhaltung der Jungs unserer Crew. Nach der Landung im International Airport S.F.O. mischen sich die uniformierten Herren partout nicht ein, als zwei Stewardessen mit Dörte mich von meinem Außenwandplatz in die Mitte zerren und in jenen Flugzeug-Mini-Rolli bugsieren. Die Damen in blauroten Kostümen schleppen auch mit nimmermüder Freundlichkeit unsere riesige Reisetasche hinterher. Vorbei an ihren auffallend müßig herumstehenden männlichen Kollegen. Vorbei an übervollen Containern mit Fressalien jeglicher Art - dafür gibt es in den U.S.A. ein striktes Einfuhrverbot!

Als ein schmächtiger Filipino das Kommando übernimmt, ist unser Abschied von den Stewardessen schon beinahe herzlich. Der kleinwüchsige U.S.Uniformierte will uns gerade zum Einreise-Schalter dirigieren, als mein überwaches Hirn signalisiert: Gib Obacht, mein Junge - irgendetwas scheint anders und demzufolge nicht in Ordnung zu sein. Und tatsächlich: An meinem Rolli fehlt der Knopf für die rechte Handbremse. Unser Mann in San Francisco versteht mich nicht oder will mich nicht verstehen. Da geht mir ein Licht auf: Auch andere Kappen sind abgezogen worden. Hat die Einreise-Behörde irgendein Schmuggelgut im Hohlrahmen meines Rollstuhls vermutet? Kurz gesagt: Ich palaver so lange, bis das verloren geglaubte Teil sich wieder anfindet. Dass mein ungleich wichtiger blauer Stützgurt für die Fußknöchel ebenfalls abhanden gekommen ist - wir merken es erst am Abend in Concord, Watson Court West. Aber da sind wir schon - wie auch immer - heil angekommen in God's Own Country mit The American Way Of Life und einem dazu passenden American Dream ...

Natürlich gibt es bereits auf dem Airport ein herzliches Hallo zur Begrüßung und natürlich geht uns wegen der vielen Autodecks samt Ausfahrten zum Highway sämtliche Orientierung verloren. Gedanken an eine andere Auto-Fahrt drängen sich mir auf. Ich schaue gewissermaßen nach innen. Und wie so oft rekonstruiert meine Seele in schneller Schnittfolge Bilder von einer samstäglichen Dienstverpflichtung des Genossen Wehrdienst-Reservisten Lüdemann, die darin bestanden hatte, mit sieben anderen Genossen Pionier-Soldaten an einer Wehrbezirk-Fünf-Schachmeisterschaft teilzunehmen. Wir schlugen uns wacker. Dann gab es an jenem 22. Januar 1977 noch einen Eisregen, der alle Straßen Norddeutschlands in lebensgefährliche Rutschbahnen verwandelte. Polizisten an Dorfeinfahrten und -ausfahrten hatten über die strikte Einhaltung eines Allgemeinen Fahrverbots gewacht. Was zeitweilig sogar für Rettungsfahrzeuge galt.

Unser Hauptmann Klaus allerdings nahm dieses Verbot nicht ernst. Derweil hockte ich bewegungslos - wie ein Indianer in eine Decke gerollt - mit den anderen Schach-Soldaten auf der Ladefläche und hatte von alldem keine Ahnung. Unseren Dreher gegen einen Chaussee-Baum bekam ich noch mit. Irgendwann später zog mich jemand aus einem Straßengraben und meine Beine mit den armee-eigenen lackschwarzen Ausgehschuhen schurrten willenlos über den spiegelglatten Asphalt hinterher. Für alles Weitere befahl die Nationale Volksarmee sofort Geheimhaltung. Demzufolge ließ sich die NVA, anerkanntermaßen ein Staat im Staate DDR, auch mit der Benachrichtigung meiner Familie viel Zeit. Zweite Station nach der Erstversorgung im Krankenhaus Pasewalk war die Universitätsklinik Greifswald. Meine Geburtsstadt zugleich meine Sterbestadt? Aber einer machte dem bereits angetretenen Sensenmann wohl einen Strich durch seine letzte Rechnung: Ein seltsamer Vogel, den ich als Wahlberliner nicht mehr so wichtig nahm, ließ mir trotz meiner zeitweiligen geistigen Umnachtung keine Ruhe zum Ewigen Schlaf. Quasi eine Rückbesinnung auf die Wurzeln - umschrieben etwa mit folgendem Satz: Denn vorpommerschen Vagel Grip sien Piss pladdert Schinnerhannes up sien' mallen Bliss ...

Das Drama auf Leben und Tod war also ein Heimspiel - kannten mich doch einige Ärzte aus unserer gemeinsamen Zeit auf der Penne. Der Familien-Clan stand auch sofort bei Fuß. Nur meiner Mutter wurde verschwiegen, dass ich etwa dreißig Minuten Fußweg entfernt von ihrer Wohnung drauf und dran war, für immer den Löffel aus der Hand zu legen. Manch einer mag diese Art zu reden, unpassend finden - für uns Tetras oder Paras gehörten solche Sprüche zu den Finessen eines Überlebenstrainings. Wenn beispielsweise später in der Ersten Leitklinik für Rehabilitation, Waldhaus (ich habe in meinem Roman Der weiße Stuhl stets Leidklinik geschrieben und Waldhaus hieß aus bestimmten Gründen nur Wundhaus), ein Neuzugang über sein Los allzu sehr jammerte, dann bekam er von uns alten Hasen zu hören: Mann - du bist nicht krank - du kannst bloß nicht laufen! Eingetrichtert haben wir ihm, dass er fortan nur an das denken soll, was ihm trotz Querschnittslähmung noch möglich war zu tun.

Diese Autosuggestion hat so manchen vor dem schlimmsten Fall bewahren können: selbst Hand an sich zu legen. Im Übrigen machten wir jenem Zimmergenossen mit, zugegeben - drastischen Worten - klar, dass fast jeder Patient aus einer etwa tausend Meter Luftlinie entfernten Krebsklinik liebend gern mit ihm tauschen würde. Dort wurde eine Überlebenszeit in Monaten berechnet - für Querschnittsgelähmte gibt es Mut machende Statistiken, die besagen, dass ein Mensch wegen dieser Schädigung in der Regel nur sieben Jahre vor seiner normalen Lebenserwartung stirbt. Raucher und Trinker aus ihrer Mitte möglicherweise etwas früher.

In den Unikliniken Greifswalds sorgten sich damals Chirurgen, Orthopäden, Dermatalogen, Urologen, Stomatologen und die Damen von der Physiotherapie um meine Gesundheit. Als dritte Instanz mühten sich alle möglichen medizinischen Fachkräfte im Zentralen Armeelazarett Bad Saarow zehn Monate mit mir ab. Nicht zu vergessen die zu meiner Pflege rund um die Uhr abkommandierten Soldaten. Eigentlich waren die Männer schon wieder dienstfähig, aber zwei Vergünstigungen bewogen sie, wochenlang meine desolaten Ausfälle zu ertragen: Aufschub ihrer Rückkehr in den Kasernen-Drill und jene zwei Flaschen Bier, die ich wegen meiner gefährdeten Nieren täglich erhielt, aber nicht trank. Hielt der oberste Medizinmann ausnahmsweise Visite, so bekam mein Leibpfleger einen dezenten Wink vom Genossen Hauptmann Stationsarzt, er möge sich für diese Zeit auf die Toilette verpfeifen.

Erinnerlich ist mir, dass nur einer der Befragten jenen Hilfsdienst abgelehnt hatte. Sein Beweggrund wurde akzeptiert: Der ältere Bruder war gerade durch einen Badeunfall zu einem Halswirbel oder Tetra geworden und ich würde ihn ständig an dessen trauriges Schicksal erinnern. Ja - ich machte es allen meinen Helfern wahrlich nicht leicht: Bis auf die Sitzbeine durchgelegene Po-Backen; Erstickungsanfälle, schizophrene Schübe und als Höhepunkt im Oktober 77 eine Hirnembolie. Wie ich 1983 erfuhr, hatten Ärzte und Physiotherapie mir zwei Jahre Überlebenschance diagnostiziert - auf diesen ihren medizinischen Kunstfehler dürften beispielsweise Doktor Schossee oder Sigrid Koch heute - sechzehn Jahre später - frohgemut mit mir ein Gläschen in Ehren trinken.

Bleibt abschließend noch die Frage zu beantworten, ob jener Pionier-Hauptmann Klaus sich in den zehn Monaten im Zentrallazarett bei mir sehen ließ - aber ja doch: Einmal. Außerordentlich hilfreich waren mir damals beispielsweise die Besuche von Hans Bräunlich - ein herzensguter und zuverlässiger Freund. In den existenziell gefährdeten Jahren nach jenem Umbruch 89 ist - wie es viele Menschen ähnlich erleben - aus privaten oder beruflichen Gründen die Nähe von einst verloren gegangen. Dieser oder jener mag so etwas beklagen oder es für den Lauf der Dinge im Leben nach der DDR halten - aber das hat sich einfach so ergeben ...

Aus meiner eher tristen Nabelschau langsam wieder im sechstausend Kilometer entfernten San Francisco auftauchend, sehe ich als Erstes an der Frontscheibe vom Honda Accord ein blaues Pappschild mit dem Rollstuhl-Piktogramm. Durch einen hervorragenden Service allzeit gegen Pannen gefeit - wird Haralds Auto mit uns in vierzehn Tagen etwa 3.500 Kilometer kreuz und quer durch Kalifornien fahren. Wer unsere Touren in Meilen umrechnen möchte - Dreisatz-Freunde aufgepasst: Das Verhältnis von Meilen zu Kilometern entspricht - über den Daumen gepeilt - einem Verhältnis von acht zu fünf. Also 3.500 Kilometer mal fünf Achtel sind nach Adam Ries runde 2.188 Meilen.

Nicht nur Haralds Dienstauto ist ein Japaner - Tochter Rita fährt einen kleinen Honda Civic. Die Mutter schwört auf ihr offenes Hardtop-Cabrio 300 ZX von Nissan. Wem das noch nichts sagt: Ich könnte mir den Wagen mit Turbolader wegen seiner annähernd 260 Pferdestärken und über 232 Tachokilometern Höchstgeschwindigkeit in Old-Germany durchaus als Zuhälter-Schlitten vorstellen. Unter Deutschlands Auto-Händler-Gilde verlangen die schamlosen allerdings für diese U.S. Cars einen fast doppelten Preis. Das zu den Autos unserer Gastgeber - wichtigstes Gebrauchsgut in Nord-Amerika. Und wegen der fehlenden oder unzureichenden und auch unsicheren öffentlichen Verkehrsmittel ein Stück Sicherheit. Wenn das achtzehnjährige Highschool-Girl Rita sich ein paar Dollars durch Babysitten dazuverdienen kann - dann eigentlich nur, weil Vater und Mutter wissen - im Auto kommt ihre Tochter allemal unbehelligt und heil nach Hause.

Wer ständig in der San Francisco Area lebt, dem mag es nicht mehr auffallen - uns mutet es noch seltsam an, wenn beispielsweise in gewissen Stadtvierteln von Oakland an Kreuzungen bei Rot eine Zentralverriegelung den Honda für jeden übelwollenden Außenstehenden dichtmacht. Offene Schiebedächer gibt es kaum. Zehn Minuten praller Sonne ohne Aircondition - und nur ein Hitzschlag würde Autoinsassen vor einer Knallpanne ihrer grauen Zellen bewahren können. Nichtsdestoweniger sind in Kalifornien mehr Cabrios zugelassen als in irgendeinem anderen Land.

Watson Court West - die Adresse werde ich mir wegen Dr. Watson und Sherlock Holmes merken. Ansonsten hat sich hier in Concord, einem Wohnviertel für die Mittelklasse, in den letzten Monaten nichts Kriminelles ereignet. Zwielichtige Typen würden hier sofort auffallen und dem Sheriff gemeldet werden. Ansonsten hält angeblich ein Amerikaner von echtem Schrot und Korn für gewisse Fälle seine Hausartillerie in verschiedenen Kalibern bereit. Selbst ein friedliebender Captain Harald, der nicht einmal Shorty dem Sprayer ein Leid antun könnte - er bekennt sich zu den selbsthelfenden Waffenträgern einer Rifle Association und sagt: Ehe ich tatenlos zusehen muss, wie ein Verbrecher meine Familie überfällt - da schieße ich. Er oder meine Frau oder meine Tochter - eine solche Frage bleibt hypothetisch und erledigt sich in White Eagle Country von selbst.

So betritt ein Fremder nicht ungefragt irgendein Haus oder irgendeinen Hof - es sei denn - er riskiert als potenter Selbstmörder ungenießbare und meistens auch todsichere blaue Bohnen. So ist wohl zu verstehen, dass die Messinstrumente für sämtliche Energieanschlüsse am Haus im Watson Court West nur von der Straße aus einzusehen sind. Kürzlich glaubte sich ein asiatischstämmiger Ableser wohl günstig in der Zeit - Captain Harald wäre beinahe das Herz vor Schreck im Swimmingpool stehen geblieben, als Schlitzaugen ihn unversehens über die Pforte anstarrten. Glück für einen Unbefugten, wenn er sich sofort zurückzieht. Merke: Aus vielerlei Gründen kann übermäßige Neugierde in diesen Breiten durchaus eine ungewollt letzte Lebensregung sein.

Alle Häuser in der asphaltierten Sackgasse Watson Court West gleichen sich und denen, die jedermann aus U.S.-Serien zur Genüge kennt. Trotz massiven Aussehens sind alle nur aus urwüchsigem roten Redwood-Holz gebaut. Auch Dachschindeln werden aus diesem Material gefertigt. Eine geräumige Garage fehlt nirgendwo. Selbst wenn sie bei offenem Tor manchmal nur die Funktion einer grandiosen Rumpelkammer offenbart. Was niemanden, am allerwenigsten den Besitzer, zu stören scheint. In regelmäßigen Abständen werden sogenannte Garage-Sales veranstaltet - da wird der noch brauchbare Plunder für wenige Dollars verhökert. Mehr Sport und Spiel als Geschäft.

Obligatorisch scheint überall ein Basketball-Korb mit Anspielplatte zu sein. U.S.-amerikanische Sport-Idole wie Magic Johnson bringen es beim Jahreseinkommen auf mehrstellige Millionensummen - welche Eltern wünschen nicht, dass die eigenen Sprösslinge sich dermaleinst vom Dollar-Kuchen ein möglichst großes Stück abschneiden können? Ebenso auf die finanzielle Zukunft seiner Kinder, vornehmlich der Jungen, ist bedacht, wer ihnen rechtzeitig eine Baseball-Ausrüstung schenkt.

Ob als Pitcher oder Catcher - kein amerikanischer Präsident wird jemals so reich und angesehen sein wie Baseball-Stars. Und ich erlebe am Fernsehapparat die San Francisco Giants und einen Teil ihrer Millionen Fans mit allem Drumherum einer Show - als studierter Sportlehrer bin ich trotz mangelnder Regelkenntnis fasziniert. Dagegen vermag ich einem mehr als beinharten American Football der erfolgreichen San Francisco 49ers nicht viel Sympathie abzugewinnen.

Weil von Geld die Rede war: Quarterback Steve Young kassierte bei den Fourtyniners für einen Fünf-Jahresvertrag 26,5 Millionen Dollar. 1991 trat er in Berlin mit seiner Truppe zu einem viel beachteten Schaukampf im American Super Bowl gegen die Chicago Bears an. Und abschließend noch eine Bemerkung zum American Football aus meiner Sicht als Tetraplegiker: Joe Montana - Steve Youngs Vorgänger bei den 49ers, saß mit 30 Jahren wegen seiner lädierten Wirbelsäule auch mal kurzzeitig im Rollstuhl ...

An unserem ersten Abend ist der Sport natürlich nicht das Thema. Captain Harald wäre in den U.S.A. kein Manager, würde er nicht auch für unsere vierzehn Tage Kalifornien einen Plan aufstellen. Soviel ist abzusehen - weite Strecken mit dem Auto gibt es auch. Naheliegender ist da für heute erst einmal - der kurze Weg in unser Bett. Der Erfahrung unserer Gastgeber verdanken wir die Einsicht, dass man nach der Ankunft aus Europa trotz Müdigkeit durchhalten soll, bis es auch für die Einheimischen an der Zeit ist, schlafen zu gehen. Auf diese Art findet einer schnell in den neuen Tagesrhythmus hinein. Andersherum besagt die Regel, dass eine Umstellung von Amerika auf Europa viel schwieriger vonstattengeht. Wir können beides bezeugen.

Unsere erste Nacht in Concord, Kalifornien: Renate und Harald haben ihr Schlafgemach geräumt. Und Dörte ist trotz Reisemüdigkeit schier aus dem Häuschen wegen der U.S.-architektonischen Lösungen: Tür an Tür ein Extra-Bad, das mag ja noch als normal angehen - aber hinter einer verschiebbaren Spiegelfassade verbergen sich gewaltige Kleiderschränke, die wegen ihrer Begehbarkeit eher den Namen Ankleidezimmer verdienen ...

Ausgeruht und guter Dinge sitzen wir am anderen Morgen im Garten am Frühstückstisch. Wie auch zu Hause gewohnt, ist es zehn Uhr. Über uns steht die Sonne am wolkenlosen Himmel. Seine Farbe für unseren ersten Tag und die zwei folgenden Wochen taufe ich auf Computer-Blau. Genau dieses ein-eintel Blau zeigt nämlich der Monitor bei mir in Old-Germany, wenn ich meinen Rechner eingeschaltet habe. Ach ja - zu Hause - unsere Mutter sitzt jetzt wegen der ersten abendlichen Nachrichtensendung am Fernsehgerät. Jedes Mal schwer vorstellbar: 10 Uhr ante meridiem Pacific-Time entsprechen 19 Uhr Mitteleuropäischer Zeit. Vielleicht unnötig zu sagen, dass fast alle Telefonate zwischen San Francisco und Berlin störungsfreier ablaufen als innerhalb der deutschen Hauptstadt.

Shorty der Sprayer möge mir verzeihen, wenn ich ihn nach einer ersten Erwähnung erst jetzt als Mitglied der Familie vorstelle. Shorty wurde als Zwergkaninchen gekauft - er wird wohl zu einem respektablen Karnickelbock auswachsen. Mehrmals am Tag sucht Shorty sich gegenüber Männlein wie Weiblein Respekt zu verschaffen. Aus diesem Grunde gebe ich dem während unseres Aufenthalts imponierend potenten Bock den Beinamen Sprayer. An ihn erinnern die hartnäckigen gelben Flecken auf meinen preiswert erworbenen Reebook-Basketballstiefeln.

Aber nicht nur deswegen haben alle ein Auge auf diesen hoppelnden vierbeinigen Sexisten. Der Mietvertrag untersagt neben Rauchen in den eigenen vier Wänden auch das Halten von Tieren. Zumindest ist vom Vermieter - für deutsche Zunge hochtrabend klingend Landlord genannt - jedweder Tier-Aufenthalt im Hause verboten. Nicht-Rauchen senkt zumindest die Brandschutz-Police. Shorty der Sprayer scheint nicht gerade der Liebling meines ehemaligen Schulkameraden zu sein; Captain Haralds Wohlgefallen finden eher der Blaumann, eine Spechtart, oder Kolibris, denen er eine Nektar-Tränke an die Dachrinne gehängt hat. Nicht nur Renate und der Tochter Rita fällt auf, dass allzu oft Garten- oder Garagentor offenstehen. Fakt ist, dass ebenso oft freundliche Nachbarskinder Shorty zurückbringen. Und gleichermaßen beobachte ich, dass der Captain diesen damned Shorty wieder in den Kreis seiner Lieben aufnimmt. Bis irgendwann für Shorty den Sprayer wiederum verlockend Tür und Tor offenstehen werden ...

Mit unserem Auto-Einsteige-Trick sind Renate und Harald schnell vertraut: Über die mittels Reißverschluss geöffnete Rückenlehne des Rollstuhls ziehe ich mich an einem Tapeziergurt bis zur Fahrertür. Ein kräftiger Handgriff - und Dörte richtet mich aus der Rückenlage hoch.. Dabei drehe ich mich auf dem Allerwertesten, sodass ich letztlich korrekt auf meinem Beifahrersitz lande. Die wahre Erfindung bei allem ist aber der Tennisball im Mini-Einkaufsnetz: Während die Netzgriffe im Wagen mit dem Tapeziergurt verknotet sind, hält der Gummiball, wegen der zugeschlagenen Fahrertür außenbords, meinem kräftigen Armzug stand.

Ich gebe zu, das hört sich komplizierter an, als es ist. Für Dörte und mich bedeutet diese Methode, dass sie nur für mein Aussteigen einen kräftigen Helfer herbeibitten muss. Um das Thema abzuschließen, sei gesagt, dass es in den vielen Jahren nur eine Verweigerung gegeben hat. Und ich will auch nicht verschweigen - die nach Aussehen und Benehmen als rüde eingeschätzten jugendliche Typen sind oft die willigsten Helfer.

Völlig neu sind für mich die zwei kombinierten amerikanischen Sicherheitsgurte: Der eine ist als Beckengurt angelegt, der zweite wird vorn oberhalb am Türrahmen eingeklickt und fährt beim Türenschließen auf einer Schiene nach hinten, um im Ernstfall den Oberkörper gegen einen Aufprall zu stabilisieren. Der Vorteil: Bei Bedarf gewährt der vorrollende aber eingehakt bleibende Gurt dem Mitfahrer völlige Bewegungsfreiheit.

Jeder muss auf seinem Weg von Concord nach San Francisco über eine Brücke. Laut Statistik sind das im Berufsverkehr täglich etwa 350.000 Fahrzeuge. Diese müssen in einer Richtung Brückenzoll, genannt Maut oder Toll, berappen. Aus Richtung Sausalito, Marin County über die Golden Gate Bridge kostet ein Auto drei Dollar. Harald legt also auf dem Heimweg von der Arbeit über die Bay Bridge San Francisco-Oakland an einer der sechzehn Mautstellen einen Dollar in die offen-öffentliche Hand. Es können am Tage eine Million Dollar - in der San Francisco Bay Area leben etwa acht Millionen Menschen - zusammenkommen. Aber der Unterhalt dieser mitunter zweistöckigen Verbindungen über die San Francisco-Bay - alle Brücken sind übrigens für die Passage ozeantüchtiger Schiffe ausgelegt - verschlingt auch enorme Summen. Umweltbewusste Bürger werden belohnt: Werktags fahren Autos ab drei Insassen von 6.00-10.00 und 16.00-18.00 auf der Car-Pool-Lane kostenfrei und was manch einem vielleicht noch viel wichtiger ist - ohne Stop and Go.

Als wir über den Brückenkopf Treasure Island rollen - übrigens hat John Louis Stevenson, Autor der gleichnamigen Schatzinsel auch in San Francisco gelebt - da zeigt sich rechter Hand jene berühmt-berüchtigte Gefängnisinsel Alcatraz. Bis Mitte der Sechziger Jahre gab es in diesem Hochsicherheitstrakt einen Wachknecht auf drei Gefangene. Aber schon allein wegen der kalten Wasserströme in der Bay war an eine Flucht durch Schwimmen nicht zu denken. Und es gibt tatsächlich Beknackte, die sich mit einer der vielen Fähren auf das wie ein Klops in der Bay liegende kleine Leuchtturm-Eiland übersetzen lassen und etliche Dollars zahlen für eine Übernachtung im historischen Zellentrakt.

Kurz vor der Brückenabfahrt ragt seit 1989 ein gespenstischer Zeigefinger himmelwärts. Freeway-Rudimente in Hochhaushöhe aus Beton und Stahl - Folgen des letzten Erdbebens. Von jedem Punkte aus ist das allgewaltige Financial Distrikt zu sehen. Captain Harald umschreibt mit einer weit ausholenden Geste dieses Areal für Moneymakers. Dazu gibt es ein Statement aus dem San Francisco Examiner: Money lives in New York. Power sits in Washington. Freedom seeps capuccino at a sidewalk in San Francisco: the ambitios folk of this country; those who have seen God and think they can do better, have come to San Francisco ...

Den Hintersinn dieser Worte von äußerst selbstbewussten Franciscians habe ich aus dem Englischen kapiert - im Einzelnen aber muss ich passen. Renate tröstet mich mit der Story einer Anwältin aus der High Society, die sich sehr für die deutsche Sprache interessiert und gute Fortschritte macht. Um während eines Besuches in Deutschland die Probe aufs Exempel zu machen, wird die Frau Anwältin also in eine Kaufhalle gehen und mit der Kassiererin anfangen zu parlieren. Auf Deutsch und peinlich korrekt in amerikanisch-deutscher Übersetzung und Lebensart. Die Angestellte hatte schnell begriffen, dass ihre Kundin eine Ausländerin war.

Aber dann sah sie sich etwas pikiert und Hilfe suchend nach dem Geschäftsführer um: Die Fremde hatte sie mehr als freundlich angelächelt, ihre Hand geschüttelt und Hallo gesagt. Und wie selbstverständlich hinzugefügt: Hallo. Wie geht es Ihnen, liebe Frau ...

Im Financial Distrikt hat Captain Harald also sein Büro und einen gemieteten Parkplatz. Um die Mittagszeit macht er sonst einen Gang zur Waterfront. Essen aus der Faust - time for lunch. Normal ist das in San Franciscos einzigem Wolkenkratzer-Viertel nicht. Die meisten hier joggen, was das Zeug hält: Frauen und Männer. Junge und Alte. Doch nur selten sehe ich eine Figur, die ich sportlich nennen würde. Das Laufen scheint hier ein Fetisch für die Ewige Jugend zu sein.

Ob einer der schwitzenden und jappenden Plattfüße weiß, dass der vierundfünfzigjährige Verfasser ihrer Jogging-Fibel - mit dem begeisternden Titel Lauf dem Herzinfarkt davon - auf seiner Lauf-Strecke im U.S.-Staat Vermont am Herzinfarkt gestorben ist? Aber - wenn man diesen James Fixx noch fragen könnte - vielleicht würde er - auch das ist typisch amerikanisch - sagen, dass sein Tod auf der Jogging-Piste ein schöner Tod war. Ausschließen will ich das bei einem Hobby-Fanatiker nicht. Und sicherlich ganz im Widerspruch zum Fixx-Syndrom - mein Motto war und ist: Treibe Sport - aber bleibe gesund!

Ab und an taucht schemenhaft am Ende vom Embarcadero Boulevard die Golden Gate Bridge auf. Nur mit viel Fantasie kann einer sich vorstellen, dass Segelhafen und Speicheranlagen einstmals eine gewaltige Bedeutung für die nordamerikanische Westküste besaßen. Mal abgesehen von den Flugzeugträgern der Navy und Captain Haralds schwimmenden Container-Bergen, beherrschen Fähren und schnittige Sportboote die Szene. Und noch etwas fällt Dörte und mir auf: Trotz sonntäglichen Gewimmels sind die Behinderten-Parkplätze nur mit berechtigten Fahrzeugen belegt oder frei. Im anderen Fall alarmiert der Parkwächter die Polizei - alles Weitere wird sündhaft teuer. Und zeitaufwendig! Zeit ist etwas, was hier niemand ausreichend zu haben scheint. Bei uns können Sie Zeit kaufen! Dieser Slogan einer Dienstleistungsfirma gilt in The City vielleicht noch mehr als anderswo in den Staaten.

Und vor allem habe ich immer die Restaurants gemocht

Viele tun es Spencer Tracy nach - alle Welt trifft sich in Fisherman's Wharf! Teile der abgewrackten Piers sind mit modernen Geschäften und vielen Restaurants bebaut worden. Und jeder Tourist, der etwas auf sich hält, scheint seinen Lieben daheim aus San Francisco wenigstens ein T-Shirt mitbringen zu wollen! Eingeweihte erledigen das werktags, wenn alle anderen mit ihrem Job in Firmen und Fabriken voll ausgelastet sind. Also Shopping ist heute für uns nicht angesagt. Wir halten uns nach links in die Stadt. Die Automatik im Honda bewältigt alle Steigungen spielend. Bay Street, Hyde Street und die weltberühmten Cable Cars. Mitunter sehe ich nichts als blauen Himmel voraus, weil ich bei Halt an einer supersteilen Straßenkreuzung fast in Rückenlage in den Beifahrersitz gepresst werde. Die Straßen von San Francisco mit Knollennase Karl Malden als Lieutenant Stone und Frauenschwarm Michael Douglas als Inspektor Heller waren einst Straßenfeger in Deutschland. Die letzten Folgen habe ich in Bauchlage gehört. Ohnehin war 1983 für einen normalen DDR-Bürger im Krankenzimmer noch kein TV-Gerät vorgesehen. Also stellte meine Frau zu Hause den Radiorekorder neben unseren Fernsehapparat und zeichnete den Ton auf. Etwa zu dieser Zeit gab es in Ostdeutschland die ersten Walkmen zu kaufen. So konnte ich zumindest Filme aus der Serie Die Straßen von San Francisco mithören. Durch bereits gesehene Folgen war ich kraft meiner Fantasie durchaus in der Lage, die passenden Bilder vor meinem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Wenn ich den schmissigen Trailer wegen der Kopfhörer allzu laut und falsch in das Krankenzimmer summte, wussten alle anderen, dass Lüdemann wieder einmal Fernsehen hörte.

Ansonsten gab es in den etwa sieben Monaten Weißen Knast mehr als genug Ablenkung. Dafür sorgte schon der Chaote, ein im Physikum abgebrochener Medizinstudent. Wenn ich um Mitternacht gedreht werden musste - beispielsweise von der Seitenlage links in die Seitenlage rechts - und ich durchsegelte eine Rotwein-billig-Flagge - dann hatte Roland Nachtdienst. Es war nicht nur seiner desolaten Lebensführung geschuldet, dass er winters barfuß in Römersandalen und mit einem dünnen Trenchcoat bekleidet herumlief. Dieser charakterlose Kerl verstand es, aus seiner Armseligkeit einen Kult zu machen. Ein Phänomen: Das jugendliche Pflegepersonal, dazu gehörten auch Studienanwärter und -anwärterinnen, lieferten sich diesem Studium-Versager aus wie die Fliegen einem gesüßten Leimstreifen.

Im Suff kungelten der Chaote und die trunksüchtige Stationsschwester aus, wer für welche Dienste eingeteilt und bezahlt werden würde.

Schräg links von mir am Fenster lag Norbert. Der schrie einmal nachts vor Angst, weil ihm träumte, dass Roland ihn in eine Rolle Stacheldrahts gewickelt hätte. Und Nobbi bat uns - natürlich nicht ganz bei sich - unter Tränen flehentlich, ihn mit einem Bolzenschneider zu befreien.

Die Chefärztin hatte ein Herz für ihre Patienten. Demzufolge ließ sie den Kühlschrank für diejenigen mit allerlei Leckereien füllen, die über Weihnachten in der Ersten Leidklinik bleiben mussten. Nach den Festtagen hielt sie anfangs die so Beschenkten wegen ihres Schweigens für undankbar - aber Roland und Konsorten hatten alles weggefressen und ausgesoffen, was an Gutem bereitgestellt worden war! Dennoch konnte diesem Strolch im weißen Kittel zu DDR-Zeiten niemand kündigen, weil es zu wenig Pfleger gab. Später hörte ich, dass er zum Studium der Medizinpädagogik weggelobt worden war - eine gängige Methode von Vorgesetzten, missliebige Mitarbeiter loszuwerden.

Dörte hätte den Chaoten nicht einmal in den Wald schicken mögen - das Holz und die Tiere würden ihr leidtun. Schließlich ist Wald etwas Lebendiges. Bliebe nur noch der Steinbruch. Einem elfjährigen Rollstuhlfahrer beschied Roland so ganz nebenbei, dass er sich für ihn nicht abmühen werde. Es lohne kaum der Mühe, weil er (der Kleine) ohnehin nicht mehr lange zu leben habe ...

Verbrecher sollen sich nach ihrem üblen Handwerk abends beim Geigenspiel erholt haben - der Chaote R.W. schrieb heimlich Gedichte. Zeigen wollte er sie mir nicht. Also über gewisse Empfindungen verfügte dieser Ungeist. Weil ich ihn mehrmals wegen Faulheit und Schikane vor allen anderen im Zimmer laut angezählt hatte, verlieh er mir - ganz übelst verleumdeter Arbeitsmann - das Ami-Kürzel J.R. als Spitzname. Leider konnte ich seine Finesse nicht würdigen - wie gesagt: Mich interessierten statt des betuchten Fieslings J.R. Ewing in Dallas viel stärker Lieutenant Stone und Inspektor Heller in den Straßen von San Francisco ...

Womit ich wieder vor Ort angelangt bin. Genauer gesagt: in der Lombard Street. Der Blick von hier oben reicht weit über die Bay nach Alcatraz. Auf den Grünflächen an der Waterfront machen Familien Picknick. Und über ihnen schweben von steifer Brise getragen die seltsamsten Drachen, die ich mein Lebtag gesehen habe: farbigen Riesenwürmern gleich drehen sie sich fortwährend um ihre Achse; einer lässt partout die U.S. Stars and Stripes in Form eines unübersehbaren Kastendrachens am blauen Himmel stehen. Auf rot markierten Wegen rollen Mountainbikes vorbei, deren Fahrer schmucke signalfarbige Sturzhelme aus Kunststoff tragen. Die Sohlen meilenmüder Sonntagsläufer klatschen auf Tartan-Belag. Aber - by the way - über die lebensgefährlichen Auswüchse des U.S.-amerikanischen Joggings und über sein Idol Mr.Fixx ist ja bereits gefachsimpelt worden.

Während die Automatik den Honda ungefährdet abwärts bringt und Dörte sich der Magen hebt, erzählt Harald heiter von seinem Freund John, bei dessen Auto hierein Bremszylinder versagt hatte. Da kann einer nur die mit Steinen eingefassten Blumenrabatten rammen, um eine Katastrophe zu verhindern. Mit acht Kurven ist Lombard Street die krummste Straße der Welt - das behauptet die Reklame. Aber es gibt weitaus kurvenreichere und auch steilere Straßen in San Francisco. Die übernächste Filbert Street hat ein Gefälle von über 30 Prozent!

Aber wir wollen es aus gesundheitlichen Gründen mit dem Auf und Ab nicht übertreiben und fahren an Chinatown vorbei zum Highway 101. Noch gilt, dass ungerade Zahlen für Nord-Süd-Richtung stehen, gerade Straßennummern kennzeichnen Ost-West-Verbindungen. Die Golden Gate Bridge ist Teil der Nord-Süd-Trasse durch Kalifornien. Während die 13,5 Kilometer lange Bay Bridge hinüber nach Oakland nur für Autos zugelassen ist, gibt es auf der 2,7 Kilometer messenden Brücke über das Goldene Tor auch eine Trasse für Fahrräder und einen Fußgängerweg. Als Harald sagt, dass hier oben, etwa 70 Meter über dem Wasserspiegel, ständig eine kalte Brise weht, da verkneife ich mir den Wunsch, im Rollstuhl diese weltbekannte Brücke zu überqueren.

San Francisco ignoriert alle meteorologischen Gesetzmäßigkeiten wie sie für den Rest der Welt gelten

Entgegen den Worten von Mr.Fritz Hugh Ludlow haben wir mit dem Wetter großes Glück. Es gibt viele Tage, an denen die rotfarbene Brücke vollends im nasskalten Dunst verschwunden ist. Da muss einer schon hinüber und hoch zum Vista Point, um wenigstens die 220 Meter hohen Träger wie aus Wattewolken hervorlugen zu sehen. Der nahe Pazifik sorgt zwar sommers wie winters für eine relativ gleichbleibende milde Witterung; aber wenn Captain Harald von seinem Bürohochhaus heimwärts in Richtung Concord fahrend den großen Highway-Tunnel durchquert hat, zeigt das Thermometer manchmal 20 Grad Fahrenheit mehr als in The City.

Natürlich - in diesem Teil der Welt wird Temperatur in Fahrenheit gemessen - die nur angelesene und in meinen Augen komplizierte Umrechnungstabelle wiederzugeben, verkneife ich mir. Ein Anhaltspunkt mag sein, dass 100 Grad Fahrenheit etwa leichtes Fieber bedeutet. Wenn Autoverkäufer in der San Francisco Bay Area mit ihrem Preis heruntergehen müssen, so hat einer ganz gewiss keine Schuld daran - der Rost. Aufgrund des Klimas gibt es den hier nicht. Dass allwöchentlich 25 Anstreicher mit 2 Tonnen Bleimennige der Golden Gate Bridge ihren typisch roten Anstrich verpassen - welche Stadtväter würden eine solche Sehenswürdigkeit nicht auf Hochglanz halten?

Die Brücke fungiert tatsächlich als Arbeitgeber: da sind jene Frauen und Männer in ihren Mautstellen-Kabinen; im Fall der Fälle gibt es einen brückeneigenen Abschleppdienst; irgendwo werden immer Nieten in der Stahlkonstruktion ausgewechselt; ein anderer Trupp ordnet zweimal am Tag mittels gelber Steckmarkierungen die Durchlassfähigkeit der sechs Fahrbahnen neu. Logisch - morgens kommen Hunderttausende in die Stadt und nur wenige fahren nordwärts nach Marin County: Umgekehrt rollt es bei Rush Hour in den späten Nachmittagsstunden. Und wie immer bei sagenhaften Bauwerken - nach einer Legende soll es hier einen mittellosen Anstreicher geben, der sein Lebtag ohne Unterlass Tag und Nacht zugange ist. Ein Sisyphos der Golden Gate Bridge gewissermaßen ...

Selbstverständlich klicken allenorts auf dem Vista Point die Kameraverschlüsse. Mal richtet sich das Objektiv nach rechts zum Stillen Ozean, mal geradeaus zur Stadt hinüber oder nach links über die Bay mit der Pelikan-Insel, weltweit bekannter unter dem Namen Alcatraz. Auch Dörte lässt den Camcorder arbeiten. Hinter uns weiß ich Sausalito, das sich aus einem Fischer-Kaff zur Heimstatt der Boheme entwickelt hat. Bei meinem Rundblick vergesse ich zu atmen.

Eine schöne View, wie Harald bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen pflegt - aber das erfasst nicht die Einmaligkeit der Szenerie. Gänzlich nicht von dieser Welt scheint eine Gruppe Halbwüchsiger zu sein, die, einige Meter höher am Hang stehend, nach Art von Alpen-Chor-Knaben durch einen A-cappella-Gesang die Luft in Schwingungen versetzt.

Da meine Beifahrerseite akkurat parallel zum Abgrund steht, verhalte ich mich notgedrungen typisch amerikanisch: Essen und Trinken in bequemer Reichweite - am liebsten lernt ein U.S.Ami in seinem Auto sitzend die Sehenswürdigkeiten unserer Welt kennen. Übrigens - zwei Männer mit den Namen Strauss haben San Francisco weltberühmt gemacht: ein Ingenieur J. W. Strauss setzte sich 1937 noch zu Lebzeiten mit diesem Brückenschlag über das Goldene Tor ein Denkmal - ein anderer Strauss, einst aus Süddeutschland eingewandert, ist wohl der bekanntere von beiden: Levi Strauss schneiderte hier für Goldsucher und Cowboys die erste blaue Niethose aus Denin: That's a Levi's, Man ...

In den schönsten Augenblicken eines zweiten Lebens quält mich oft der unsinnige Gedanke, dass ich aufgrund meines Unfalls dieses alles nicht mehr hätte erleben können. Dann tauchen vor meinem geistigen Auge die verschiedensten Stationen auf: Das Lazarett gab mir eine Chance zum Überleben. Nach der Scheidung meiner ersten Ehe retteten die Ärzte in Greifswald mir das Leben an sich. Umgesiedelt nach Berlin, hätte das Wundhaus im Klinikum Buch für mich beinahe das endgültige Aus bedeutet. Da setzten zwei Nachtschwestern um eines kleinen Nickerchens willen die Patientenklingel außer Betrieb - so habe ich einmal nach dem Drücken meiner Alarmglocke über eine Stunde auf Hilfe warten müssen. Die beste Gelegenheit, ganz nebenbei abzunippeln.Wie heißt es doch oft in den Zeitungen: völlig unerwartet und leider viel zu früh ...

Als ob es nicht immer leider viel zu früh ist. Abgesehen vom Chaoten Roland - im Wundhaus lief monatelang jeden Donnerstagabend exclusiv für mich das gleiche Prozedere ab: Die Chefin oder ein diensthabender Arzt erschien, um hinter mir an der Wand Aufstellung zu nehmen für die Mitteilung, dass es am folgenden Tag wieder einmal nichts werden kann mit der Resektion eines Sitzbeins. Die zwei Sitzbeine sind das, was einer mitunter schmerzhaft spürt, wenn er auf den Hintern plumpst. Meine sollten, laienhaft gesprochen - abgehobelt werden. Weil durch den Decubitus ihre Knochenhaut angegriffen war.

Der Grund für die Monate währende Wartezeit waren Handwerker, denen das Kinderlied von den Fleißigen Handwerkern fremd gewesen sein muss. Sie hielten den OP-Trakt besetzt, um ihn ausstattungsmäßig auf Vordermann zu bringen. So hieß es jedenfalls. Vielleicht lag es aber auch am DDR-typischen Materialmangel oder an der mangelhaften Arbeitsorganisation? Was soll's - die Zeit vom Februar bis August hatte ich im besagten Weißen Knast abzuliegen!

Die Leidklinik für Rehabilitation war sozusagen Untermieter der Orthopädie, was ihre OP-Termine betraf. Hatten die Knochenheiler keinen Eingriff am Freitag - dann durften die aus der Leidklinik mal ran! Und die Krone aller unglaublichen Zustände war, dass der anerkannte Top-Operateur Dr. Piotraschke mich nur heimlich in den frühen Morgenstunden oder spät am Abend aufsuchen konnte. Aus einem für mich unerfindlichen Grund hatte der mit goldenen Händen begnadete Orthopädie-Doktor quasi Hausverbot für unsere Station!

Nach seinem ersten Eingriff war die Pflege derart miserabel und unachtsam, dass die Wunde wieder aufplatzte. Staubige Zimmer, emsig laufende Kakerlaken (wenn ein Kammerjäger aktiv gewesen war, ließ er aus Bequemlichkeit das zur Strecke gebrachte Ungeziefer im Revier bzw. Krankenzimmer liegen) und der Urin-Gestank aus einem verkeimten Spülzimmer waren auch für unsere Besucher eine Zumutung. Objektiv gesehen scheint mir im Nachhinein unsere Unterbringung einem Straftatbestand nahe gewesen zu sein: Die Betten für zwei Dutzend Querschnittsgelähmte standen unter dem Dach dieses Wundhauses - ein mehr defekter als funktionierender Fahrstuhl für maximal zwei Betten hätte uns im Falle eines Brandes den Flammen ausgeliefert. Die Realität im offiziellen Waldhaus der Jahre 1983 und 1984 umschreibt wohl am genauesten eine Schwester aus der im Parterre gelegenen Kinderorthopädie: Da oben haben Sie Ihren Mann liegen? Da würde ich nicht einmal meinen ärgsten Feind einweisen lassen, Frau Lüdemann!

Vier Jahre später zeigt mir Chefarzt Dr. Feidel stolz die Etagen und Möglichkeiten einer neuer Reha-Klinik. Wie das Schicksal so spielt - der Doktor hatte mich 1977 im Zenralen Lazarett aufgenommen und ärztlich betreut. Ihm ist es auch zu verdanken, dass Chaote Roland aus der Klinik für Querschnittsgelähmte verschwand. Aber Undank ist der Welten Lohn: Irgendwelche Abwickler östlicher oder westlicher Herkunft proben später gegen diesen hoch qualifizierten DDR-ex-Militär-Orthopäden analog zu Warten auf Godot ihre Inszenierung Das unwürdige Warten auf einen Arbeitsvertrag. Kaputtgespielt haben jene vorgeblichen Sachwalter medizinischer Versorgung den bis heute nur kommissarisch besetzten Chefarztposten - nicht aber einen in sich ruhenden Axel Feidel. Eine neue Reha-Klinik in Norddeutschland hat den Herrn Facharzt mit Kusshand genommen. Nicht ohne Neid gratuliere ich allen Patienten in Bad Wilsnack.

San Francisco ist eine der größten Kulturstätten der Welt

Wer bin ich, dass ich Duke Ellington widersprechen möchte! Aber ich tu’ ihm nicht den Gefallen, die vielen Theater, Galerien oder Museen aufzuzählen. Mir ist dagegen entschieden wichtiger, dass San Francisco sich etwas darauf einbildet, die behindertenfreundlichste Stadt in den U.S.A. zu sein. Wow - Ehre, wem Ehre gebührt! Und ich bin jetzt mit Dörte hier - was soll's! Alles Roger, Leute! Keine Gefahr - ich bin ja bei euch! würde Otto Waalkes in gewohnter Weise lärmen.

Solange es mir nicht schlechter geht, geht es mir gut! Eine meiner Redensarten, die mich suggestiv beeinflussen sollen. Keine sinnlosen Grübeleien über das, was ich nicht mehr kann - stattdessen sich freuen über das, was ich noch kann! Alles andere wäre auch ungerecht gegenüber Dörte und unseren rührend besorgten Gastgebern Renate und Harald, wenn ich ausgerechnet hier in Kalifornien meine Flügel hängen ließe und Trübsal blasen würde.

San Francisco - vornehmlich in der Vergangenheit beliebter Lebensraum für Schriftsteller und bevorzugter Drehort für Filmemacher. Ich bin zwar kein Kino-Fan, aber Titel wie Der Malteser Falke, Vertigo, Bullitt, Love Story oder Basic Instinkt sind in der angegebenen Reihenfolge mit San Francisco als Background gedreht worden. Bislang etwa sechzig Filme. Sollte jetzt - für mich natürlich unsichtbar - hier und da ein Zeigefinger übereifrig in die Höhe schnellen: Gemach, Leute! Alfred Hitchcocks Die Vögel nahm nur seinen Anfang in San Francisco. Gedreht hat Hitchi den späteren Kultfilm an der Bodega Bay.

Was Wunder - den gleichnamigen verschwiegenen Ort am Pazifik lässt Captain Harald nicht aus. Doch davon später mehr. Übrigens - das letzte Film-Opus aus San Francisco ist der humorvolle Streifen über einen bemitleidenswerten Mrs. Doubtfire. Jawohl - einen Mrs. Doubtfire! Weitere Einzelheiten zu diesem ganz speziellen Kampf der Geschlechter sollen hier nicht verraten werden. Den deutschen Kinobesitzern geht es ohnehin schon schlecht genug - so heißt es jedenfalls.

Wie oft wohl San Quentin - der Staatsknast von Kalifornien - im Filmgeschäft vermarktet worden ist? Diesen gewaltigen Klotz in der Landschaft haben wir - selbstredend in gebührendem Abstand - während unseres Rückweges über die Richardsonbay Bridge sehen können. Am Abend werde ich wieder daran erinnert. Als das Fernsehen fast ausschließlich hektisch aufgemachte Berichte über Mord, Vergewaltigung, Brandlegung und Geiselnahme zeigt. Nicht zu vergessen einen Amokschützen - genauer gesagt, das endgültige Aus für ihn - in Großaufnahme! Mit viel Blut und das ganze Getötet-Werden auch noch in Zeitlupe. Letzteres wohl für den Fall der Fälle, dass dieser oder jener - begeistert oder betroffen - im Nachhinein seinen mörderisch ausgerasteten Nachbarn identifizieren kann.

Für die große politische Wetterlage findet sich relativ wenig Zeit auf dem Bildschirm. Als weiteres, aber zu verkraftendes Ungemach stellt sich heraus, dass unser Mitbringsel - eine VHS-Kassette mit Aufnahmen von Captain Haralds ehemaligen Klassenkameraden während des 30jährigen Abitur-Jubiläums - über das amerikanische Video-System nicht abspielbar ist. Bullshit - erstaunlich die treffsichere Übereinstimmung eines Ausdrucks in zwei Sprachen! Zum Glück für uns - ein Hauch von Heimat kommt da schon eher rüber durch ein signiertes Gützkow-Aquarell des Greifswalder Malers Helmut Maletzke. Die Gützkower Renate und Harald lassen es sich nicht nehmen, diesem Bild sofort einen Ehrenplatz im Wohnzimmer einzuräumen.

Montag. Abfahrt 11.30 Ortszeit. Wir rollen gemütlich im Honda über den Asphalt. Captain Harald zeigt auf die Fensterauslagen eines Waffengeschäftes. Da gehen wir auch mal hin, sagt er. Ich denke an jenen schlitzäugige Energie-Ableser, der neugierig über die Gartenpforte gelinst und einem zu Tode erschrockenen Captain kurzzeitig seinen Spaß am Swimmingpool verdorben hat. Wenn ich mich nicht irre - in DDR-Zeiten hatte ein Kapitän der Deutschen Seereederei auf seinen Reisen ganz offiziell eine Waffe an Bord. Zwar war ihm nahegelegt, die Pistole nur im allerhöchsten Notfall zu gebrauchen - aber immerhin. Da nimmt es vielleicht nicht Wunder, wenn Captain Harald über die Möglichkeiten zum Erwerb eines Schießeisens in Kalifornien gut Bescheid weiß.

Erwähnen muss ich wohl auch, dass der Captain eine flotte blaue Baseball-Mütze mit goldfarben bedrucktem Schirm besitzt: Member of Rifle Association. Ein deutliches Bekenntnis zur waffenmäßigen Selbstverteidigung oder was? Aber - wer im Glashaus sitzt, der soll bekanntlich nicht mit Steinen werfen: In Deutschland boomt zurzeit der Schießprügel-Verkauf in einschlägigen Geschäften. Wenn es auch keine scharfen Waffen sind - ein Anfang ist gemacht.

Kauft, Leute! Kauft! sang Bill Ramsay einst frohgemut. Ihm ging es um harmlose Souvenirs der Großen dieser Welt - jener bewusste Laden in San Francisco führt Heim-Artillerie jeglichen Kalibers. Wer glaubt, so etwas besitzen zu müssen, spaziert hinein und kauft sich eine von diesen Bleispritzen. Hinterlegt seinen Daumenabdruck und kriegt nach zwei oder drei Tagen Bescheid, ob er sich die Knarre abholen kann. Pech hat allerdings derjenige, dessen Kartei beim FBI, CIA oder NSA - oder in welcher Ermittlungsbehörde auch immer - nicht sauber erscheint. Aber die Regel ist, dass der Käufer seine Waffe abholen kann. Wer Dreck am Stecken oder einen notorisch schlechten Leumund hat - der kauft seine Finger-Flak ohnehin auf dem Schwarzen Markt. Wer sich besonders schlau dünkt - Pech gehabt - auch der Versandhandel muss eine Prüfung veranlassen, bevor der Ballermann in die wehrhafte Faust seines glücklichen Besitzers gelangt.

Um kein falsches Bild aufkommen zu lassen - die Amazonen unter den U.S.-Ami-Woman sind am tödlichen Deal gleichermaßen beteiligt. Sonst würden für dieses Jahr nicht 270 Millionen Schusswaffen in privater Hand zusammenkommen, die es innerhalb von zwölf Monaten zuwege bringen, etwa einer Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern das Lebenslicht auszupusten. Saturday-Nigth-Special - das ist sowohl eine verflucht willkürliche, aber zugleich auch magische Worthülse für Waffe und Mord.

Der Weg nach Sacramento führt uns an der Highschool vorbei, die die achtzehnjährige Tochter Rita besucht. Originalton ihres treu sorgenden Dads über das School-Baby: Kaum in Kalifornien angekommen, wurde das arme Kind schon nach vierzehn Tagen hier reingeworfen!

Obwohl das Schul-Territorium mit seinen flachen Unterrichtshäusern, einem Sportplatz und dem Parkplatz recht ansehnlich wirkt - ich kann Ritas Ängste vor ihrem ersten Highschool-Unterricht verstehen. Weil ich weiß, wie dürftig DDR-Schulen in der Regel auf das Erlernen der englischen Sprache ausgerichtet waren. Getreu ihrem Motto: Russian for ever!

Aber das ist ja längst Geschichte - selbst oder gerade in Mecklenburg-Vorpommern. Und wie üblich fällt der Mensch von einem Extrem ins andere - Russian never! Auch Quatsch, weil der Osten für den deutschen Markt eines Tages überlebensnotwendig sein könnte. Und dafür brauchen Handel und Wandel allemal Leute mit Russisch-Sprachkenntnissen.

Weil gerade Unterrichtspause ist, schlendern einige Kids essend und trinkend am Honda vorbei. Mir fällt ein Schullied der DDR-ABC-Schützen - heute Erstklässler genannt - ein, in dem es hieß, dass die Farbe ihrer Lieblingskleider genau wie die Haut ihres Freundes mal gelb und mal schwarz und mal rot ist. Mochte damals wohl bedeuten: Bleichgesichter, Schlitzaugen, Krausköpfe und Rothäute sitzen einträchtig auf der Schulbank und lassen ihren Lehrer da vorn scheinbar einen guten Mann sein.

Um wieder auf Rita aus Rostock zurückzukommen - Hektik ist bei den Highschool-Kids hier in Concord nicht angesagt. Abgesehen vielleicht von einigen Sportler-Typen, deren Trainings-Dresse die etwas einfallslosen Schulfarben Schwarz-Weiß zeigen. Wer sich also innerhalb und außerhalb der Senior Highschool müht, verdient von vornherein schon unseren Respekt - Schulpflicht in deutschem Sinne gibt es nämlich nicht. Andererseits wollen selbst desinteressierte Eltern ihre Nervensägen auch mal für ein paar Stunden los sein - schließlich kostet diese Schule keinen Cent. Noch nicht.

Von der Highschool ist es nur ein Katzensprung zur Shopping Mall. Aber heute sind Besuche bei Sear's oder Macy's oder Nordstrom nicht angesagt. Die Mall ist ein Kapitel amerikanischer Lebensart für sich und soll an anderer Stelle auch dementsprechend gewürdigt werden. Also fahren wir weiter zur Interstate 80 - die Richtungsautobahn nach Sacramento. Aber vorher müssen wir durch ein Wuhling von Freeways und kreuzungsfreien Autospinnen. Dazu gibt Renate ihrem Mann ordentlich Bescheid. Sie hat ja viel Zeit zum Erkunden, sagt Captain Harald. Seine Sache sei es, riesige Pötte aus Stahl ohne Havarien über die Weltmeere zu dirigieren.

Uns aufmerksamen Beobachtern entgehen nicht die viereckigen nummerierten Gebilde an Masten, wie sie auch für Telegrafenleitungen gesetzt sind. Hier handelt es sich um kabellose Notruf-Telefone. Und was mich bei Amerikanern nicht allzu sehr verblüfft, das ist ihre einfache, nichtsdestoweniger genial zu nennende Lösung für die Überland-Stromversorgung: Auf der Mastspitze befindet sich eine schwarze, etwa tellergroße Platte, die eine Vielzahl Selenzellen aufweist. Drehbar und mit einer kleinen Antenne versehen, wandert dieses Mini-Stromaggregat immer der Sonne nach.

Gesetzt den Fall: Irgendwo in diesen Weiten gibt tatsächlich ein Fahrzeug seinen Geist auf - reichen da Kartenwerk und Himmelsrichtung als Orientierung für die Rettenden Engel der Landstraße aus? Aber ehe einer grübelt, ob der Berg linkerhand und der Wald gegenüber als Ortsbestimmung für einen Pannen-Notruf genügt, da gibt er besser die aufgemalte und somit registrierte Nummer am Funktelefon durch und aus einem Mayday! Mayday! wird Okay! Roger! Aus Sicherheitsgründen wartet der Pannengeplagte stets im abgeschlossenen Wagen. Einen Zettel an der Autoradio-Antenne versteht jeder als Hilferuf.

Vor fast zwanzig Jahren habe ich mich für ein Fernsehspiel mit dem Mann beschäftigt, der die Antenne als wichtigen Bestandteil seiner drahtlosen Telegrafie erfunden hat. Im Mittelpunkt stand ein gewisser Alexander Stepanowitsch Popow. Russe und Physik-Lehrer an der Kronstädter Marineschule. Über die Erfindung eines Gewittermelders gelang Popow damals im berühmten 109.Experiment drahtlos das Senden und der Empfang von Morsezeichen für den Namen Genrich Gertz. Wer die DDR-Schule absolviert hat, weiß, dass im Russischen für das -H- wie Heinrich Hertz ein -G- steht.

Der Russe Popow wollte trotz aller befohlenen militärischen Geheimniskrämerei auf diese Weise jenen deutschen Entdecker der elektromagnetischen Wellen ehren. Professor Popow starb Anfang 1906 an einem Herzinfarkt, nachdem er sich geweigert hatte, bolschewistisch angehauchte Studenten an seinem Institut zu denunzieren. Alles in allem war Popows Vita ideologisch also hervorragend geeignet für den medienpolitischen Auftrag des DDR-Fernsehens.

Mein Szenarium hatte anfangs nur einen Haken: vom Wahrheitsgehalt des zur Verfügung stehenden Materials überzeugt, hatte ich den italienischen Adelsspross Marconi zum Plagiator in Sachen drahtlose Telegrafie erklärt. Marconi nutzte die wenigen erlaubten Veröffentlichungen jenes Kronstädter Marine-Lehrers über die Erfindung eines Gewittermelders, um Popows Entdeckung nachzuerfinden und weiterzuentwickeln. Zudem agierte der blaublütige Bologneser Physiker und Ingenieur als ein äußerst cleverer Geschäftsmann ...

Was war nun das Problem für die Fernsehspiel-Macher in Adlershof? Ich wäre von allein nie drauf gekommen. Also klärte mich Chefdramaturg Hans-Jürgen Stock auf: Im Fahrzeugpark des DDR-Fernsehens an der Rudower Chaussee standen brandneue Farbfernseh-Übertragungswagen einer englischen Firma; der Nachfolgerin jener von Marchese Guglielmo Marconi um die Jahrhundertwende gegründeten Marconis Wireless Telegraph Co. Ltd. Verständlich, dass keiner der TV-Verantwortlichen den Schneid aufbrachte, einen Nobelpreisträger als Ideen-Dieb bloßzustellen. Und wenn dieses auch nur in einem Fernsehspiel für Kinder geschehen würde.