Hard Girls - J. Robert Lennon - E-Book

Hard Girls E-Book

J. Robert Lennon

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Beschreibung

Auch in der Familie gilt – Traue niemandem

Den zweieiigen Zwillingen Jane and Lila Pool bleibt gar nichts anderes übrig, als »hard girls« zu werden. Ihr Vater ist ein verpeilter Professor an einer Kleinstadtuni. Ihre Mutter, Anabel, scheint sich kein bisschen für ihre Kinder zu interessieren. Sie ist oft mit unbekanntem Ziel unterwegs, ist ansonsten von eisiger Gleichgültigkeit und eines Tages ganz verschwunden. Die Mädchen flüchten in ihre eigene Welt, spielen Spionin und sind in einer Theatergruppe aktiv. Als es dort zu einer Gewalttat kommt, laufen sie von zu Hause weg und treiben sich herum. Jane landet schließlich für einige Zeit im Gefängnis, und Lila verschwindet spurlos wie ihre Mutter. Doch dann taucht plötzlich ein Hinweis auf, dass Anabel in den USA gesehen wurde. Lila meldet sich nach Jahren bei Jane – die beiden machen sich auf, ihre Mutter zu suchen. Und erleben eine gefährliche Überraschung nach der anderen. Denn auch in der Familie gilt: Traue niemandem.

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Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Cover

Titel

J. Robert Lennon

Hard Girls

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2024 bei Mulholland Books / Little, Brown and Company. Hachette Book Group, New York, NY.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5509.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025Copyright © 2024 by J. Robert LennonDiese Ausgabe erscheint nach Vereinbarung mit Sterling Lord Literistic und Paul & Peter Fritz AG.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Originalumschlags von Gregg Kulick für Hachette Book Group, Inc. Umschlagfoto: CoffeeAndMilk/Getty Images

eISBN 978-3-518-78324-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Hard Girls

1. Nestor, NY:

Heute

2. Nestor, NY:

Damals

3. Nestor, NY:

Heute

4. Nestor, NY:

Damals

5. Nestor, NY:

Heute und damals

6. Nestor, NY:

Heute und damals

7. St. Louis, MO:

Heute

und

Nestor, NY:

Damals

8. Highfill, AR,

und

Timber Fell, MO:

Heute

9. Nestor, NY:

Damals

10. Timber Fell, MO:

Heute

11. Nestor, NY:

Damals

12. Lakehurst, MO:

Heute

13. Nestor, NY:

Damals

14. Nestor, NY:

Heute und Damals

15. Nestor, NY:

Damals

16. Sioux Falls, SD:

Heute

17. Nestor, NY:

Damals

18. Bridger Range, MT:

Heute

19. Nestor, NY:

Damals

20.

Von

Bridger Range, MT,

nach

Coeur d’Alene, ID:

Heute

21. Nestor, NY:

Damals

22. Bei Seattle, WA:

Heute

23. Nestor, NY:

Damals

24. Nestor, NY:

Damals und heute

25. Chicago, IL:

Damals

26. Bei Seattle, WA:

Heute

27. Chicago, IL:

Damals

28. Nacimiento, Panama:

Heute

29.

Von

Illinois

nach

Kalifornien:

Damals

30. Town of Ghorum, NY:

Heute

31.

Von

Kalifornien

nach

Nestor, NY:

Damals

32. Provinz Bocas del Toro, Panama:

Heute

33. Geneva, NY,

und

Nestor, NY:

Heute

Danksagungen

Textnachweis

Informationen zum Buch

Hard Girls

Hard Girls

1

Nestor, NY: Heute

Neunzehn Jahre nachdem sie von zu Hause weggelaufen war, dreizehn Jahre nach ihrer Heirat mit einem Steinmetz, zwölf Jahre nach der Geburt ihrer Tochter und elf Jahre nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war und so tat, als ließe sie die Vergangenheit hinter sich, saß Jane Pool an ihrem Schreibtisch im historischen Fachbereich. Um sie herum lagen Reisekostenabrechnungen, Anträge für die Genehmigung von Anschaffungen und Erstattungsformulare. Der Frühlingsregen schlug gegen das Fenster in ihrem Rücken. Schockiert starrte Jane auf eine E-Mail in ihrem Posteingang.

Auf jemanden, der ihr über die Schulter schaute, hätte die Mail nicht ungewöhnlich gewirkt, sondern wie Spam ausgesehen. Dort hatte Jane sie auch entdeckt, im Spam-Ordner. Aber es war keine Spam-Mail. Sie stammte von ihr, wie Jane trotz der anonymen, eindeutig temporären E-Mail-Adresse ([email protected]) und der unverfänglichen Betreffzeile sofort klar war. Verschreibungspflichtige Medikamente über UK Rail, Tiefstpreise, kein Warten auf Genehmigung! Hätte sie über UK Rail hinweggelesen, dann hätte sie die Mail nicht geöffnet. Es war das Zeichen, dass sie tatsächlich für Jane bestimmt war.

Der Inhalt bestand aus einer Textzeile und einem Foto. Der Text lautete: »Kein Termin nötig, keine Wartezeit, rufen Sie heute an!« Das Foto hatte der E-Mail-Client verborgen und nur ein kleines Icon unter dem Text belassen.

Sie bewegte den Cursor über das Icon, die Worte BILD LADEN tauchten auf. Ihr Finger kreiste über der Maustaste. Wenn sie jetzt klickte, würde sie das versteckte Bild sehen.

Stattdessen nahm sie die Hand von der Maus und drückte die Löschtaste. Die E-Mail verschwand.

Unwillkürlich schnappte Jane nach Luft. Im Gesicht und unter den Armen schwitzte sie. Sie stand auf, ihr Stuhl rollte rückwärts und krachte gegen die Mauer aus Aktenschränken. Auf der anderen Seite des Raums blickten Lydia und Carmen von ihren Computern auf.

»Gehst du in die Cafeteria?«, wollte Carmen wissen. »Bringst du mir ein Scone mit?«

»Eigentlich nicht … Doch, ich gehe. Ja. Ich besorge dir ein Scone.«

»Johannisbeere, bitte, zur Not auch Cranberry. Und auf keinen Fall Feige.«

»Verstanden.«

»Ich hab nur einen Zwanziger. Kann ich dir das Geld nach dem Mittagessen geben?«

»Wann immer du willst.«

Jane atmete tief durch, strich ihren Pullover glatt und hängte sich die Tasche über die Schulter. Dann ging sie zur Tür, öffnete sie und trat hinaus in den Flur.

Auf beiden Seiten eilten Studierende an ihr vorbei, die zu spät zu ihren Kursen kamen. Ihre Schuhe quietschten auf dem Linoleum, das vom in den Rillen stehenden Wasser feucht war. Das Gebäude, Selberg Hall, war hundertfünfzig Jahre alt. Im Winter war es zugig, im Sommer brütend heiß, an regnerischen Tagen klamm wie ein großes Zelt aus Leinwand. Die Historiker waren im ersten Stock untergebracht, darüber die Philosophen und unten der Dekan. Noch weiter unten, im Keller, lag die Cafeteria.

Sie nahm die Treppe. Auf den Stufen saßen Studierende und starrten auf ihre Handys. Mit ihren sechsunddreißig Jahren war Jane kaum alt genug, um sich über die Gewohnheiten junger Leute zu beklagen, trotzdem hatte sie kein Verständnis für die Selbstvergessenheit, mit der die Studierenden sich breitmachten. Sie saßen mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden vor den Büros der Professoren und wirkten geschockt, wenn man sagte, sie sollten sich einen anderen Platz suchen. Mit ihren riesigen Rucksäcken blockierten sie Türen und breiteten ihre Habseligkeiten über so viele Stühle und Tische wie irgend möglich aus. Und dann diese beiden da, die Stufensitzerinnen. Als warteten sie bloß auf einen Tritt.

»Entschuldigung bitte«, sagte sie zu den beiden jungen Frauen, die ihr im Weg saßen. Jane konnte keinen Bogen um sie machen, weil der Hausmeister die Treppe wischte. Auch er war eindeutig genervt, hatte aber vielleicht gehofft, sie würden aus freien Stücken Platz machen.

Die beiden sahen nicht auf. »Mädels«, sagte Jane jetzt lauter. »Ihr blockiert die Treppe.«

Eine von ihnen drehte den Kopf und blickte hoch. Sie blies sich eine Haarsträhne aus den Augen und sagte: »Sie können doch vorbeigehen.«

»Jetzt verpisst euch!«, sagte Jane. »Auf der Stelle.«

Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr in diesem Ton reden hören. Nicht, seit Chance darauf bestanden hatte, dass sie zusammen in Therapie gingen, um über Janes Wut und die Auswirkungen auf ihre Ehe zu sprechen. Es war der Ton, der ihre Tochter geängstigt hatte. Der Ton, in dem Jane reagiert hatte, wenn sie sich den nackten Fuß an einem herumliegenden Spielzeug gestoßen hatte. Oder wenn sie zu lange mit dem Wunsch nach einer Zwischenmahlzeit gepiesackt worden war. Den größten Teil ihres Erwachsenenlebens war diese Stimme ein unverzichtbares Werkzeug zu ihrer Verteidigung gewesen, Warnung und Drohung zugleich.

Aber jetzt – genau wie zu Hause – war ihre Reaktion übertrieben. In Sekundenschnelle waren die Mädchen auf den Beinen und hasteten davon. »Mein Gott«, murmelte die junge Frau vor sich hin, die ihr vorgeschlagen hatte, einen Bogen um sie zu machen. Selbst der Hausmeister wirkte schockiert. Sie entschuldigte sich, als sie mit gesenktem Kopf an ihm vorbeiging. Dabei hatte sie ihr Büro verlassen, um sich abzukühlen! Stattdessen war jeder einzelne Muskel ihres Körpers in Anspannung, sie spürte den Pulsschlag in den Schläfen.

Das Gedränge der Studierenden in der Kantine machte es noch schlimmer. Sie fühlte sich bloßgestellt und in die Ecke getrieben. Normalerweise mied sie die öffentlichen Bereiche des Gebäudes zu den Zeiten, wenn die Kurse zu Ende gingen. Nur dann, wenn der Campus den Atem anzuhalten schien, verließ sie ihren Schreibtisch mit einem guten Gefühl. Sie stellte sich in die Schlange, riss sich zusammen, schloss die Augen und ließ ihren Puls herunterkommen. Sie kaufte Carmens Scone und für sich selbst einen Kaffee und – eine spontane Idee – einen Hafermehl-Rosinen-Cookie. »Getrennt verpackt, bitte.«

Im ersten Stock hielt sie sich nicht Richtung Süden zu den Büros der Historiker, sondern in die entgegengesetzte Richtung, bis sie in der kleinen Sackgasse landete, die auch die Räume 261 und 259 beherbergte: einen Vorratsraum und die Abstellkammer der IT-Abteilung. Wie die anderen Türen an diesem Gang bestand auch die zu Raum 263 aus fleckigem Hartholz mit einer großen Mattglasscheibe.

Konnte man hinter anderen Mattglasscheiben die gebeugten Silhouetten von Professoren ausmachen, die zwischen ihren Büchern hantierten, so sah man durch die Tür von Raum 263 nichts. Das Fenster war von innen von einer alten, vergilbten Karte der Sowjetunion verdeckt. Diese Karte war das Letzte, was sie bei jedem Besuch von Raum 263 zu sehen bekam. Sie besuchte ihn oft, denn hier arbeitete ihr Vater, Professor Harry Pool.

Etwas ungeschickt wechselte sie die Gebäcktüten in ihre Kaffee-Hand, um anklopfen zu können. Von drinnen antwortete eine gebrechliche Stimme: »Sprechstunde ist morgen!«

»Ich bin’s.«

Poltern und Schlurfen näherten sich, dann hörte Jane, wie ein Schlüssel gedreht wurde. Die Tür ging auf. »Hi, Liebes.«

»Hi, Dad. Ich bringe dein Cookie.«

Mit zitternder Hand nahm er die Tüte entgegen. »Danke. Ich bin wirklich gerührt. Danke.«

Harry Pool war dreiundsiebzig, seine Gestalt schwach und gebeugt. Das Gesicht war fleckig, die Nase seit einem drei Jahre zurückliegenden Sturz auf der Vortreppe zu Selberg Hall krumm. Von Büchern umgeben – wie es hier, in seinem kleinen, vollgestopften Büro der Fall war – hätte er wie das platonische Ideal des ältlichen Professors wirken können. Stattdessen dachte man eher an einen Hexenmeister oder Guru, der seine besten Tage hinter sich hatte. An einen Magier, dessen Tricks überholt waren. Er deutete auf den einzigen anderen Stuhl im Zimmer, einen industriell anmutenden Lehnstuhl mit rissigem Vinyl-Bezug. Jane nahm einen Stapel Bücher von der Sitzfläche und stellte ihn auf den Boden.

»Ah. Oh. Die Bücher. Ja«, sagte ihr Vater.

»Wie geht’s dir, Dad?«

»Ich fürchte, mir sind die Hemden ausgegangen.«

»Gut«, sagte sie. »Sind sie im Beutel? Ich nehme sie für dich mit.« Die Reinigung war an Janes Eilaufträge gewöhnt. Ihr Vater neigte dazu, sich bei der Arbeit zu bekleckern. Wahrscheinlich hatten die Jacketts eine Reinigung noch nötiger als die Hemden, aber auf dem braunen Tweedstoff waren die Flecke schwerer zu erkennen – zumal im schwachen Licht, das durch die Fenster drang und von Bücherstapeln gedämpft wurde. Die Jacketts konnten warten.

»Ja, ja. Ein Student hat mich erschreckt.« Er nahm das Cookie aus der Tüte und begann es langsam und mit Hingabe zu verzehren.

»Dad. Ich muss dir etwas sagen. Sie hat mir eine E-Mail geschickt.«

Er starrte sie mit offenem Mund an. Jane sah das teilweise zerkaute Cookie.

Er nickte und schluckte. »Doch nicht …«

»Nein, sie nicht. Lila.«

»Oh, was hat sie gesagt?«

»Nichts. Es ist ein Code. Ich meine, ich weiß es nicht. Ich hab die E-Mail nicht geöffnet. Glaubst du, ich sollte es tun?«

»Ja«, sagte er, schüttelte dabei aber den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber ich wüsste gern, ob es ihr gut geht.«

»Wann hast du zuletzt von ihr gehört?«

Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Das ist lange her, Jane. Mehr als zehn Jahre. Es war … bevor das alles passiert ist.«

Er sah zu ihr auf. »Hat sie vorher schon mal Kontakt zu dir aufgenommen?«

»Kein einziges Mal, seit ich zurückgekommen bin.«

»Hmm.«

Schweigend saßen sie da, er aß, sie trank. Nach einer Weile stand sie auf und nahm den Wäschebeutel vom Kleiderständer in der Ecke. Zum Abschied hob sie die Hand, in der sie Kaffee und Scone hielt.

»Gib mir Bescheid«, sagte er. »Falls du ihr antwortest.«

»Mache ich. Wenn du das wirklich willst.«

Er biss in sein Cookie und nickte. Dabei starrte er auf einen Fleck an der Wand. Jane hatte er vergessen und dachte zweifellos an ihre Schwester. Wortlos grüßte sie von der früheren Sowjetunion her und schlich zur Tür hinaus.

Sie stand den Tag durch. Der Nachmittag bot Ablenkung in Gestalt eines Stapels Quittungen von Dr. Lutherson, die ihre Forschungsreise überwiegend als Urlaub für sich selbst und ihre Ehefrau interpretierte. Dabei machte sie sich nie die Mühe, zwischen den Ausgaben für sich selbst und denen für Fiona zu differenzieren. Die Folge war jedes Mal ein längeres Telefongespräch oder ein Besuch in ihrem Büro, bei denen die Professorin so tat, als wären ihr die zusätzlichen Ausgaben nicht aufgefallen, während Jane vorgab, nicht begriffen zu haben, dass sie die Quittungen bewusst zusammen mit den anderen eingereicht hatte. Diesmal war die Reise nach Italien gegangen. Wie viel risotto dove la foresta incontra il mare scampi e funghi ist nötig, um einer Monografie auf die Sprünge zu helfen, die der Inhaberin eines Stiftungslehrstuhls würdig ist? Professor Lutherson schien entschlossen gewesen zu sein, es herauszufinden.

Als die Uhr fünf Minuten vor vier zeigte, öffnete Jane den Papierkorb ihres Mailprogramms, wählte die UK-Rail-Nachricht aus und verschob sie zurück in den Posteingang. Diesmal klickte sie auf das Icon und öffnete den Bildanhang. Das jpeg zeigte eine Buchseite mit einer in der letzten Zeile notierten Telefonnummer.

und warf sie äußerst grob zur Seite; hätten sie gespielt, dann hätte diese Grobheit Bobbie Tränen des Zorns und des Schmerzes weinen lassen. Jetzt aber stieß er sie gegen den Rand der Luke, sodass sie sich Knie und Ellbogen aufschürfte

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Während die Worte einsickerten, spürte sie wachsende Angst und Wut. Sie hätte sich für irgendeine Stelle aus dem Buch entscheiden können, hatte aber diese gewählt: Geschwister, die auf einem Boot miteinander kämpften. Wollte sie tatsächlich mit Jane sprechen? Oder wollte ihre Schwester sie bloß weiter von sich stoßen?

Jane schloss die Augen, holte tief Luft und beruhigte sich. Sie druckte die E-Mail aus und eilte dann zum Gemeinschafts-Laserdrucker, damit niemand anders die Mail zu Gesicht bekam.

Lydia stand neben dem Gerät und schlüpfte in ihren Regenmantel. »Bis morgen?«, fragte sie. Lydia war eine ruhige Single-Frau um die fünfzig und für die Ausarbeitung des Kursplans zuständig. Jane gefiel ihre kunstvolle Arbeitsplatzgestaltung, die vor allem darin bestand, alles mit einer wechselnden Auswahl verschiedenfarbiger Klebenotizen zu verzieren. Ihr Schreibtisch erinnerte an einen mit Flechten überzogenen und mit den Hinterlassenschaften von Möwen gesprenkelten Findling. Die bedruckte Seite landete mit der Schrift nach unten in der Ablage, Lydia sah zu, wie Jane sich das Blatt schnappte und diskret in der Mitte faltete.

»In aller Frühe!«, bestätigte Jane.

Lydia warf noch einen Blick auf das gefaltete Papier und zwinkerte. »Bis dann.«

Jane kehrte an ihren Computer zurück und löschte die Mail endgültig, nachdem sie zur Sicherheit einen Blick auf den Ausdruck geworfen hatte. Sie verabschiedete sich von Carmen, die immer ein bisschen länger blieb, weil sie auf ihren in einem anderen Gebäude arbeitenden Freund wartete. Dann ging sie zu ihrem Wagen.

Nach Hause zurückgekehrt, fand sie ihre Schwiegermutter beim Monopoly mit Chloe vor. Jane vermutete, dass Susans triumphierende Miene weniger mit dem Spiel zu tun hatte als damit, dass sie Chloe für etwas »Gesundes«, Analoges gewonnen hatte statt der Videospiele und Filme, die sie unter Janes Aufsicht wahrscheinlich konsumiert hätte.

»Traurigerweise werden wir ein anderes Mal weiterspielen müssen, Liebes«, sagte Susan seufzend. »Deine Mutter ist da.«

»Komm schon, ich bin am Gewinnen!«, sagte Chloe. Aber Susans Martyrium duldete keinen Aufschub. Sie stand auf und hängte sich die Tasche über die Schulter.

Jane bedankte sich bei Susan, dass sie Chloe von der Privatschule abgeholt hatte, für die Susan auch zahlte und die eine halbe Autostunde von ihrem Zuhause entfernt lag. »Morgen?«, fragte Susan.

»Morgen ist nach der Schule noch Theater-AG. Da kann ich sie selbst abholen.«

»Gut, gut«, sagte Susan in skeptischem Ton. Sie war eine missgünstige, berechnende Person, die je nach Situation zwischen fröhlicher Herablassung und strategischer Sanftmut wechseln konnte. Sie gehörte zu den Menschen, die mit großem Tamtam auf einer Party auftauchten und später verschwanden, ohne sich zu verabschieden. Jane vermutete, dass sie ihre Flexibilität im Umgang mit ihrem inzwischen gebrechlicher werdenden Arschloch von Ehemann erworben hatte. Es war kein Geheimnis, dass sie glaubte, Chance hätte sich unter Wert verkauft. Wahrscheinlich hatte sie recht. Die beiden Frauen starrten sich grimmig an.

»Bis dann also?«, sagte Jane.

»Sieht so aus. Auf Wiedersehen, Chloe! Bis Sonntag!« Ein fragender Blick zu Jane, als könne die das wöchentliche Essen im erweiterten Familienkreis entweder vergessen oder auf irgendeine Art sabotieren. Für Jane stellte dieses Essen qualvolle Zeitverschwendung dar, was genau der Grund war, warum Susan so hartnäckig darauf bestand.

»Tschüss, Grandma«, sagte das Mädchen und packte ihr buntes Papiergeld zurück in die Schachtel.

Susan trippelte über den Fußweg zur Straße, stieg in ihren Prius und fuhr los, den Rücken kerzengerade wie eine Reiterin.

»Mom«, sagte Chloe. »Spring ein, dann kann ich gewinnen.«

»Ich bin gerade nach Hause gekommen«, erwiderte Jane. »Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.«

»Du musst ja nicht mit mir reden. Es reicht, wenn du verlierst.«

Mit ihren dünnen blonden Haaren und dem langen Gesicht sah Chloe ihrer Schwiegermutter deutlich ähnlicher als Janes Mutter – obwohl es Jane trotz der alten Fotos schwerfiel, sich das Gesicht ihrer Mutter in Erinnerung zu rufen. Anabel Pool, ohnehin oftmals weg und nie richtig anwesend, war vor zwanzig Jahren ein für alle Mal verschwunden. Janes vorherrschende Erinnerung war die an eine Frau, die versuchte, ihre Emotionen zu verbergen – meist Gereiztheit. Ihre herausragende Eigenschaft war bewusste Gefühllosigkeit. In den ersten Jahren nach ihrem Verschwinden entdeckte Jane an ihrer Schwester gelegentlich Züge, die sie an ihre Mutter erinnerten: die Art, wie sie von einem Stuhl aufstand oder leise durch eine Tür ins Dunkle huschte. Aber inzwischen hatte sie auch ihre Schwester seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen, und die Erinnerungen an beide Frauen verblassten.

Jane setzte sich an den Tisch und ließ sich von ihrer Tochter besiegen. Sie registrierte Chloes wachsenden Ärger, als ihr Pyrrhussieg näher rückte und dessen Sinnlosigkeit immer deutlicher wurde. Irgendwann würfelte Jane und zog mit ihrer Figur versehentlich in die falsche Richtung. Seufzend erklärte Chloe: »Okay, Mom. Ich gebe auf.«

»Prima«, sagte Jane und erhob sich. »Ich muss noch etwas außer Haus erledigen.«

»Ich komme mit.«

»Ich muss mich allein darum kümmern, Chloe.«

»Wieso? Kaufst du Drogen?«

»Chloe!«

»Grandma glaubt, dass du das tust.«

»Hat sie das gesagt?«

Chloe verschränkte die Arme. »Sie sagt, du hättest einen wilden Blick, als wärst du wieder nach etwas süchtig.«

»Mein Gott.«

»Warst du mal süchtig?«

»Nein«, antwortete Jane halb aufrichtig. »Den wilden Blick hab ich ihretwegen.«

»Ha!«

Die beiden duellierten sich mit Blicken, wobei das Mädchen den Kopf leicht zur Seite neigte wie ein Rehkitz, das in der Entfernung ein verdächtiges Geräusch gehört hat. Jetzt ähnelte Chloe ihrem Vater, der sein Missfallen selten verbal äußerte. Sein Repertoire an Gesten brachte mit meisterhafter Präzision zum Ausdruck, welcher von Janes Makeln ihn gerade störte.

Es lag nicht an ihnen, sagte sie sich. Sie hatte tatsächlich eine Menge Fehler.

»Es wird langweilig«, sagte Jane. »Nimm dir was zu lesen mit.«

Chloe sprang von ihrem Stuhl auf und eilte an Jane vorbei in den Hausflur, wo sie mit einer routinierten Drehung des Handgelenks ihre Jacke vom Haken löste. »Wo fahren wir hin?«

»Zur Mall.«

»In welchen Laden?«

»Auf den Parkplatz.«

»Das klingt wirklich langweilig. Wozu?«

»Ich muss einen Anruf erledigen.«

»Nimm dein Handy!«, sagte sie und schlüpfte in ihre Jacke. Kurz kämpfte sie mit dem Reißverschluss. Jane beobachtete ihre Miene, als sie für einen Moment überlegte, um Hilfe zu bitten, sich dann aber anders entschied, tief einatmete, das Endteil in den Schieber hakte und ihn bis zum Kinn hochzog.

»Ich muss ein Münztelefon benutzen. Vielleicht können wir nachher drinnen ein Eis essen? Gibt’s da einen Frozen-Yogurt-Laden?«

»Ein Münztelefon? Du kaufst doch Drogen!«

»Nein.«

»Ich glaub dir nicht.«

Es wurde nicht deutlich, ob und, wenn ja, in welchem Umfang Chloe es scherzhaft meinte. Jetzt erinnerte sie Jane an Lila – die unverblümte Direktheit, hinter der Feindseligkeit oder Ironie stecken konnten. Vor Jahren hatten sie Chloe zu einem Kinderpsychologen gebracht. Besser gesagt: Auf Susans Drängen hin hatten Chance und Susan sie dorthin gebracht, um herauszufinden, ob das Mädchen eine Autismus-Spektrum-Störung hatte. Dabei war lediglich Sarkasmus diagnostiziert worden.

»Egal jetzt«, sagte Jane. »Ich brauche noch eine Minute. Warte im Auto auf mich.«

Sie ging nach oben ins Schlafzimmer, öffnete die Schranktüren und kniete sich auf den Boden. Aus einem hinter den Schuhen verstauten Pappkarton nahm sie ein verschlissenes Taschenbuch: Die Eisenbahnkinder, ein britisches Kinderbuch von Edith Nesbit. Es ging um drei Kinder, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in London lebten und deren beim britischen Außenministerium arbeitender Vater zu Unrecht der Spionage bezichtigt und verhaftet wird.

An die Szene, die Lila benutzt hatte, konnte sie sich noch erinnern: Die Kinder versuchen, aus einem in Brand geratenen Lastkahn ein Baby zu retten. Der gern herumkommandierende Bruder Peter stößt Bobbie, die älteste Schwester, bei seinem Rettungsversuch zur Seite. Jane saß mit dem Buch auf ihrem Schoß im Bett und hatte den Abschnitt in Sekundenschnelle gefunden. Sie nahm einen Bleistift aus der Nachttischschublade, entzifferte den Code und kritzelte das Ergebnis auf den Ausdruck, den sie im Büro gemacht hatte. Kapitel acht, Seite hundertachtundvierzig, Zeilen zweiundzwanzig bis sechsundzwanzig.

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Sie stellte das Buch weg, wickelte das Papier um den Bleistift und steckte beides in die Tasche ihres Kleids.

Während der Autofahrt sprachen sie kein Wort. Ihr ruhiges Viertel lag auf halber Strecke zwischen Janes Arbeitsstelle in Nestor und Chloes Schule in Rochester. Der Weg zur Mall führte mitten durch den Golfplatz, an mehreren Farmen, dem Kraftwerk und schließlich dem Naturpark vorbei. Seit einer Stunde regnete es nicht mehr, zwischen den schnell ziehenden Wolken tauchte immer wieder die Sonne auf.

Mit der Mall ging es bereits seit einem Jahrzehnt bergab. Die meisten Leute hier fuhren zum Einkaufen in die Mega-Mall in Syracuse. Zuerst hatte Old Navy geschlossen, dann American Eagle und schließlich Best Buy. Nur Target und das Kino hielten die Stellung. Als Jane auf den riesigen, praktisch leeren Parkplatz bog, hoffte sie, dass die einzige ihr bekannte Münztelefonzelle im Umkreis noch existierte.

Das tat sie. Jane entdeckte sie vor dem Kino, inmitten der Ungepflegte-Büsche-in-weißem-Kies-Bepflanzung, gleich neben dem Hydranten und dem Rollstuhlzugang. Ein Teil von ihr hatte einfach das Handy benutzen wollen. Aber Jane war klar gewesen, dass ihre Schwester sie dafür kritisieren oder den Anruf erst gar nicht annehmen würde. Eigentlich hätte sie Lilas grotesker, theatralischer Geheimnistuerei trotzen sollen, aber ihre inneren guten Engel hielten sie davon ab. Außerdem war sie neugierig.

Sie nahm den nächstgelegenen Stellplatz, etwa zehn Meter vom Telefon entfernt, und sagte: »Fünf Minuten.«

»Hmm.« Chloes Gesicht war hinter einem Vorhang aus Haaren verborgen. Jane sah sie lange an und stieg aus dem Wagen.

Das Telefon funktionierte noch. Sie wählte die von Lila geschickte Nummer. Beim Warten entdeckte sie in fünfzehn Metern Entfernung eine Mitarbeiterin von Target, die rauchend an einer roten Wand lehnte. Auf ein Klicken im Hörer folgte eine Roboterstimme, die sie zur Eingabe des Codes aufforderte.

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»Danke, bitte warten Sie.« Die Stimme verschwand, der Rufton kehrte zurück.

Was zum Teufel war hier los? Sie hängte den Hörer wieder ein. Aufkleber in der Telefonzelle machten Werbung für einen Strip-Club – Korrektur: für einen Gentlemen’s Club – und Chicken Wings zum Mitnehmen. Für eine lokale Band und einen Hundefriseur. War es die bescheidene Mühe wert gewesen, die Werbung hier aufzukleben? Jane drehte sich um und sah in die Wolken. Die Target-Mitarbeiterin warf ihre Zigarette auf den Boden und kehrte zu ihrer Arbeit zurück. Ihre Erschöpfung und Niedergeschlagenheit waren sogar von hier aus zu erkennen. Gefühle, die ansteckend waren. Sollte Jane es noch einmal versuchen oder in den Wagen steigen und sich davonmachen?

Weder noch – in diesem Moment klingelte das Telefon.

»Danke, dass du ein Münztelefon gesucht hast«, sagte die Stimme am anderen Ende. Ihre Stimme. Die ihrer Schwester. Lila. »Ich weiß, dass es dir gegen den Strich geht.«

»Was willst du, Lila?«

»Du musst kommen«, sagte ihre Schwester. »Ich glaube, ich hab sie gefunden.«

2

Nestor, NY: Damals

Es gab keinen Abschied, nicht mal einen Moment des Begreifens, dass die Abwesenheit ihrer Mutter auf Dauer angelegt war. Sie war nicht einfach nur irgendwo unterwegs, wie es oft der Fall gewesen war. Statt irgendwann zurückzukommen, blieb sie einfach weg. Ihr Vater erzählte den Mädchen nie, dass sie für immer verschwunden war; vielleicht wusste er es selbst nicht. Ihre Mutter war, wie die Mutter einer Freundin es vor Jahren unhöflich ausgedrückt hatte, eine Herumtreiberin. Die Ehe ihrer Eltern war ein Schwindel. Wünschen, Warten und Verstehen wollen hatte keinen Sinn.

Bei ihrem ersten Verschwinden waren die Mädchen sechs gewesen. Die beiden Erstklässlerinnen waren nach der Schule noch geblieben, um ihrer Lehrerin beim Aufhängen der Herbstdekoration zu helfen. Ein Privileg, weil sie besonderes künstlerisches Geschick bewiesen hatten. Jane war ein wenig in Miss Conover, die fröhliche, kommunikative und junge Lehrerin, verliebt. In der mittäglichen Pause durften die Schwestern immer im Klassenraum sitzen bleiben und still für sich lesen, während sie sich die Nägel lackierte. Einmal lackierte sie auch die der Zwillinge. Sie trugen den ganzen Tag über lila Nagellack, bis Miss Conover ihn im letzten Moment, bevor der Bus kam, hektisch abrubbelte.

Am fraglichen Tag waren sie zu dritt damit beschäftigt, aus Tonpapier rote und orange Blätter auszuschneiden und eine Liste von Wörtern aufzustellen, die an den Herbst erinnerten: kühl, trocken, Wind, Äste, Kürbis.

Nach einer Weile bemerkte Jane, dass Miss Conover immer wieder auf ihre Uhr schaute, dann auf die Wanduhr über der Tafel und wieder zu den Mädchen. Sie spähte aus dem Fenster zum Schulparkplatz und hinaus in den Flur.

»Mädchen«, sagte sie. »Könnt ihr euch einen Moment benehmen, während ich mit Mrs Vainberg spreche?« Sie lauschten den Absätzen, die sich zum Büro der Direktorin entfernten und nach ein paar Minuten wieder näherten.

»Was glaubt ihr, wo wir eure Mutter erreichen können?«, fragte sie.

Lila sah erschrocken zu Jane hinüber. Sie legte die Schere weg. Jane wandte sich an Miss Conover.

»Bei uns zu Hause?«

»Da geht niemand ran. Auch im Büro eures Vaters nicht. Sie hätte euch schon vor einer ganzen Weile hier abholen sollen.«

»Es tut mir leid, Miss«, sagte Lila.

»Ihr könnt nichts dafür, Lila. Vielleicht hat sie vergessen, dass ihr heute länger bleibt?«

Jane konnte sich erinnern, dass ihre Mutter sie noch am Morgen daran erinnert hatte. »Ich glaube nicht.«

»Meint ihr, von euren Großeltern könnte euch jemand abholen?«, fragte Miss Conover.

»Wir haben keine Großeltern«, erklärte Jane.

»Doch, haben wir«, sagte Lila. »Sie sind in Europa.« Das hatte ihre Mutter zu ihnen gesagt, als sie gefragt hatte, warum sie nie deren Mama und Daddy kennengelernt hatten. Dabei hatte sie die Frage mit einer Handbewegung abgetan, als gäbe es kein uninteressanteres Thema. Die Eltern ihres Vaters, so hatte man den Mädchen erklärt, seien tot.

»Was ist mit einem Nachbarn? Wohnt nebenan jemand, der euch holen könnte?«

»Wir wohnen im Wald«, erklärte Jane.

»Nun«, sagte Miss Conover. »Dann warten wir noch ein bisschen. Wenn niemand kommt, fahre ich euch nach Hause. Vielleicht ist das Telefon kaputt.«

Miss Conovers Auto war ausgesprochen sauber. An einem Knopf des Radios baumelte ein süßlich riechender Kiefernbaum. Als sie nach Hause kamen, murmelte Miss Conover: »Der Wald ist das hier nicht.« Plötzlich wurde Jane bewusst, dass die Lehrerin recht hatte – ihr Haus war niedrig, langgezogen, und es lag im Schutz von Bäumen. Aber es befand sich in einem Viertel, dessen übrige Häuser dichter beieinanderstanden. Vom Garten aus konnte man diese anderen Häuser sogar sehen. Allerdings wusste Jane nicht, wer dort wohnte. Sie und Lila blieben im Garten und spielten für sich allein.

Niemand war da, aber die Haustür war nicht verschlossen. Die Mädchen folgten Miss Conover hinein. Lila machte Sandwiches mit Erdnussbutter. Miss Conover lehnte höflich ab, als ihr eins angeboten wurde. Sie blieben in der Küche sitzen, bis es fast dunkel war. Dann spazierte ihr Vater herein, er trug seine fleckige, von Büchern und Papieren ausgebeulte Ledertasche.

»Oh!«

»Mr Pool? Ich bin Fern Conover, die Lehrerin der Mädchen.«

Fern! Jane war nie in den Sinn gekommen, dass ihre Lehrerin einen Vornamen haben könnte.

Die Erwachsenen redeten miteinander und baten sich gegenseitig um Entschuldigung. Schließlich einigten sie sich darauf, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Ihr Vater rieb sich die Hände, als wäre es kalt im Haus, und ließ den Kopf hängen. Miss Conover dankte den Mädchen für ihre Unterstützung und ging hinaus, wobei sie die Tür vorsichtig hinter sich zuzog.

Als sie weg war, ging ihr Vater zum Telefonieren in sein Arbeitszimmer. Die Mädchen blieben in der Küche und schauten sich verängstigt an. Sie hörten seine Stimme, verstanden aber kein Wort. Nach einer Weile kam er heraus und wirkte unendlich müde. »Eure Mutter ist weg«, sagte er. »Was wollt ihr … das heißt … es ist Freitag. Habt ihr Hunger?«

»Bekommen wir Fischstäbchen?«, fragte Lila.

»Ja! Aber … ich weiß nicht …«

»Sie sind im Gefrierschrank«, sagte Jane. »Du legst sie in eine Pfanne.«

»Auf ein Backblech. Im Herd.«

»Im Backofen«, präzisierte Jane.

»Im Backofen.«

Die Mädchen badeten, zogen sich um, erklärten ihrem Vater, welche Bücher er ihnen vorlesen solle, und gingen ins Bett. Ihr Vater wirkte abgelenkt und durcheinander. Am Morgen kam er nicht aus seinem Zimmer, also aßen sie Toast und Müsli und lasen und spielten mit ihrem Puppenhaus. Als es nach einer Weile draußen warm wurde, gingen sie in den Garten. Sie machten sich die Kleider schmutzig, aber ihr Vater schien es nicht zu bemerken.

Ihre Mutter kehrte vor dem Abendessen heim. Sie wirkte müde und hatte rote Augen. Sie küsste die Mädchen auf den Kopf, ging in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür. Eine Zeit lang versuchte ihr Vater, durch die Tür mit ihr zu sprechen, dann ging er hinein, sie stritten. Schließlich kam ihr Vater heraus und bestellte eine Pizza, die sie zu dritt aßen. Diesmal war es besser. Er passte beim Baden auf, suchte selbst die Bücher zum Vorlesen aus und erinnerte sie ans Zähneputzen. Am nächsten Morgen war alles wieder normal. Die Abwesenheit ihrer Mutter wurde nicht erklärt, sie fragten auch nicht.

In ihrem Zuhause war der Normalzustand eine lernbegierige Stille – der Klang von Menschen, die ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Von den Mädchen wurde erwartet, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ihre Anwesenheit schien ihren Vater im besten Fall milde zu amüsieren, aber meistens begegneten sie ihm, wenn er sich heimlich in sein Arbeitszimmer zurückzog, um an dem Buch zu arbeiten, das zu jedem erdenklichen Zeitpunkt wenige Monate vor dem Abschluss stand. Ihre Mutter war aufmerksamer, zumindest noch während der ersten Jahre ihrer »Zeiten außer Haus«, wie ihr Vater die unerklärten Abwesenheiten bezeichnete. Vorher hatte sie die lästigen Pflichten der Mutterschaft mit ironischer, augenverdrehender Effizienz erledigt und den Mädchen immer wieder erklärt, dass sie ihr Umstände machten. Nur um deren Schuldgefühle dann lächelnd und zwinkernd abzutun.

Ihre Mutter zwinkerte häufig. Anfangs nahm sie sämtliche Termine an der Schule pflichtbewusst wahr – die Kuchenbasare, Chorkonzerte, die Naturwissenschaftsausstellung – und zwinkerte den Vätern zu. Die anderen Mütter zwinkerten nicht und schienen sie nicht zu mögen. Die Väter schon. Vor diesen Anlässen hatte Jane nie mitbekommen, wie andere Menschen ihre Mutter ansahen und auf sie reagierten. Blicke blieben an ihr hängen, Mienen veränderten sich. Ihre Mutter kleidete sich anders als die anderen, deren Garderobe die typische Lässigkeit einer Studentenstadt zum Ausdruck brachte – Jeans, Sneakers, Uni-Sweatshirts, Flanell mit Karomuster. Jane hätte den Kleidungsstil ihrer Mutter damals nicht benennen können, entnahm aber den wenigen verbliebenen Fotos, dass sie wie Jean Seberg in einem Film der Sechziger auszusehen versuchte – ärmellose Kleider, Röhrenhosen mit Blumenmuster, ein an der Taille geknotetes Männerhemd. Kopftücher und Sonnenhüte im Sommer, lange Wollmäntel und pelzgefütterte Hüte im Winter. Nach einer Weile hörte sie auf, die Veranstaltungen der Schule zu besuchen. Sie hatte ihre Liebe zur Gärtnerei entdeckt und verbrachte die wenige Zeit daheim zwischen ihren Pflanzen. Dabei trug sie lange Khakiröcke oder -hosen, Chambrayblusen, belüftete Lederclogs.

Aber zunächst, als die Mädchen klein waren, reagierte sie auf deren Aufmerksamkeit mit Widerwillen bis hin zu offenem Ärger. Irgendwann kapitulierte sie und belohnte deren Hartnäckigkeit mit Geschichten ihrer eigenen Kindheitsabenteuer in Russland oder Spanien. Sie war von Dienstboten aufgezogen worden, deren Obhut sie sich leicht entziehen konnte, war über schmale gepflasterte Straßen gegangen, hatte sich mit herrenlosen Katzen und freundlichen Ladenbesitzern angefreundet, aus den Handtaschen von Touristinnen Lippenstifte und von ihren Tellern Gebäck gestohlen. Erst später begriff Jane, dass diese Geschichten erfunden oder zumindest krass übertrieben waren. Ihre Mutter hatte als Kind in den Vereinigten Staaten gelebt und war nur selten nach Europa gereist. Wenn überhaupt.

Die Mädchen liebten es, vorgelesen zu bekommen, aber was sie noch mehr liebten, war, wenn ihre Mutter von den skurrilen Kindergeschichten gelangweilt war und sie stattdessen mit ihren zweifelhaften Erzählungen erfreute. Wenn sie das Buch weglegte, konnte sie Jane und Lila in die Arme schließen, den Kopf zurücklegen, ihren Sitzsack-Aschenbecher auf die Rückenlehne des Sofas stellen, Zigarettenqualm ausstoßen und nach Herzenslust Lügengeschichten erzählen. Über die Konfrontation mit einem bösartigen Wachhund, über den sie dank eines Sacks vergifteter Fleischreste triumphierte. Über eine im Rinnstein gefundene Halskette, von der sich herausstellte, dass sie einer verschwenderischen Erbin gehörte, die ihr zum Dank für die Rückgabe des verlorenen Schmuckstücks das Rauchen beibrachte. Über ein grüblerisches russisches Paar, von dem sie entführt wurde und dem sie durch einen Sprung aus dem fahrenden Auto in einen Fluss entkam. Über einen Teenager mit einem Motorrad, der sie zu vergewaltigen versuchte, als sie zehn war, »aber ich hab ihm die Kronjuwelen zerquetscht, Mädchen, wie meine Mutter es mir beigebracht hatte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sie ihm auch gestohlen.«

Jahre später, als die Mädchen selbst zehn waren, fragte Lila sich laut nach der Bedeutung der Geschichte.

»Weißt du nicht, was ein Vergewaltiger ist?«, erwiderte Jane. »Das ist ein Mann, der versucht, es mit dir zu machen, obwohl du es nicht willst.«

»Ich weiß«, sagte Lila. »Die Kronjuwelen meine ich. Wie kann man zum Beispiel Diamanten zerquetschen? Und wenn man das kann, warum kann man sie dann nicht stehlen?«

Sie saßen vor dem Fernseher. Eigentlich hätten sie um diese Zeit nicht mehr auf sein dürfen, aber ihre Mutter war wieder einmal ohne Erklärung abwesend, ihr Vater hatte sich im Arbeitszimmer eingeschlossen. Jane schaute mit einem Auge einen James-Bond-Film, Lila hatte ein aufgeschlagenes Mathebuch auf dem Schoß – nicht das von der Schule zur Verfügung gestellte für die fünfte Klasse, sondern eins für die siebte Klasse, das sie gestohlen hatte. Sie hatte gesagt, sie wolle einen Vorsprung vor den anderen haben.

»O mein Gott. Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Wieso?«

»Das sind Eier«, sagte Jane. »Wie sie die Jungs unter dem Penis haben. Das sind die Kronjuwelen. Sie hat ihm in die Eier getreten, deshalb ist sie entkommen.«

Lila starrte sie an. »Echt?«

»Ja! Sie müssen dann kotzen. Erinnerst du dich noch an Kevin Guong?«

Kevin Guong war ein Klassenkamerad, der beim Klettern über einen Zaun abgerutscht war und früher nach Hause durfte – in einem von Kotzflecken übersäten T-Shirt, beide Hände im Schritt. Die anderen Jungen sorgten dafür, dass der Vorfall nie in Vergessenheit geriet.

»Oh.«

»Oh«, äffte Jane sie nach.

Ihre Schwester boxte sie kräftig auf den Arm.

»Hey!«

»Mach dich nicht über mich lustig. Dass ich nicht so von Jungs besessen bin wie du, heißt noch lange nicht, dass ich die Namen ihrer Teile nicht kenne.«

»Halt jetzt einfach den Mund.«

»Guck deinen Film, Eierfan.«

Sie starrten sich gegenseitig an. »Eierfan?«, brüllte Jane. Sie schafften es, ein oder zwei Sekunden lang ernst zu bleiben, bevor sie in Gelächter ausbrachen.

»Aber«, fragte Lila zehn Minuten später, »glaubst du, dass es stimmt? Glaubst du, sie hat das wirklich gemacht?«

»Warum sollte sie lügen?«

Lila schlug das Buch zu und strich mit den Fingern über den Umschlag. »Ich weiß nicht.«

3

Nestor, NY: Heute

»Ich vermute, du sprichst von Mom«, sagte Jane.

»Natürlich spreche ich von Mom.«

»Was meinst du damit, dass du glaubst, sie gefunden zu haben?«

»Ich habe eine zuverlässige Quelle.«

»Und weshalb genau rufst du mich an?«

»Damit wir zusammen hinfahren können.«

»Du meinst also … dass ich alles stehen und liegen lassen soll, um zusammen mit dir unsere Mutter zu finden?«

»Das ist der Plan.«

»Hi übrigens. Schön, von dir zu hören. Freut mich, dass wir mal wieder zum Plaudern kommen.«

»Kein Grund, sarkastisch zu werden.«

»Lila, verdammt! Es ist zehn Jahre her!«

Eine Weile schwiegen sie beide. Aber darauf zu warten, dass Lila als Erste etwas sagen würde, war sinnlos. Jane horchte konzentriert auf irgendwelche Hinweise darauf, wo ihre Schwester sich aufhielt – Geräusche von einem Arbeitsplatz, einem Partner, einem Kind? Aber am anderen Ende herrschte völlige Stille.

»Okay, hör zu«, sagte Jane. »Sie hat uns nicht gewollt, sie hat Dad nicht gewollt, also ist sie gegangen. Reicht das als Information nicht aus? Sie will nicht gefunden werden, warum sollte ich sie suchen?«

»Jane«, sagte ihre Schwester. Jane kannte den Tonfall nur zu gut: geduldig, unerschütterlich, absolut darauf vertrauend, ihren Standpunkt am Ende durchzusetzen. Was normalerweise auch geschah. So impulsiv Lila agieren mochte, hielt sie mit dem sechsten Sinn einer Mathematikerin immer gute Argumente für ihren Standpunkt bereit. »Mir ist klar, dass du alles hinter dir lassen willst. Dass du alles hinter dir gelassen hast. Ich habe … es im Auge behalten. Aber unsere ganzen Spekulationen waren nicht einfach Blödsinn. Irgendwas ist mit Mom passiert.«

»Deine Spekulationen. Wir wussten doch, was los war. Sie hat vor Dads Augen mit anderen rumgevögelt.«

»Du weißt doch, dass das nicht die ganze Geschichte ist.«

»Das wissen wir eben nicht«, sagte Jane. »Sie hat ihn kaputt gemacht. Du hast dich nicht die letzten zehn Jahre um ihn gekümmert. Der Mann ist ein Wrack. Du hast ihm nicht die verdammten Hemden gewaschen.« Oh, Scheiße, sie hatte vergessen, die Hemden abzugeben. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 17.42. Die Reinigung schloss um 18 Uhr.

»Ich sag ja nicht, dass sie eine Heilige war. Aber sie ist nicht einfach nur … von uns weggegangen. Es gab etwas, auf das sie zugegangen ist. Willst du nicht wissen, was das war?«

»Dann hast du also die ganze Zeit die Detektivin gespielt?«

»Hmm, sagen wir … bestimmte Informationen haben ihren Weg zu mir gefunden. Sie haben mein Interesse geweckt, ich hab ein bisschen rumgefragt. Dann hab ich von einem Kerl etwas erfahren, das er von einem anderen Kerl gehört hat.«

»Was für eine Art Leben führst du, dass du mit Kerlen sprichst, die andere Kerle kennen? Über Mom? Und dass du einen Geheimcode benutzt, wenn du mit deiner Schwester telefonieren willst?«

»Komm und find es raus.«

»Was hast du denn erfahren? Von dem Kerl, der es von einem Kerl gehört hat?«

Lila zögerte. »Er wollte am Telefon nicht darüber sprechen. Er ist … ziemlich paranoid, und das aus guten Gründen. Er hat nur gesagt, dass eine Frau, die wahrscheinlich Mom ist, sich im Land aufhält. Im Nordwesten, sagt er. Und sein Kontaktmann behauptet, dass sie dort höchstens zwei Wochen bleiben wird. Also besuchen wir ihn und finden die Einzelheiten raus. Wenn es sich als Blödsinn herausstellt, drehen wir einfach um und kommen zurück. Aber wenn es uns verlässlich erscheint, suchen wir sie.«

»Wo ist der Kerl?«

Ein vorsichtiges Lachen. »In Montana.«

»O mein Gott, Lila.«

»Betrachte es als Urlaub. Oder … als familiären Notfall.«

»Du willst mir also sagen, dass sie deiner Meinung nach im Ausland lebt?«, sagte Jane und erschrak über den neugierigen Unterton in ihrer Stimme.

»Das widerspricht zwar den Informationen, die ich ursprünglich erhalten hatte, aber ja, ich glaube schon.«

»Und sie verbringt ihre Zeit mit Playboys aus aller Herren Länder?«

»Jane«, sagte Lila. »Es ging nicht nur um die Männer. Mom und Dad waren … kein gewöhnliches Paar.«

Sie klang, wie sie mit zwölf geklungen hatte, erfüllt von wilden paranoiden Theorien und unerschöpflichem Enthusiasmus. Es war ansteckend, aber … Himmel, sie waren erwachsen!

»Sobald wir Bescheid wissen«, fuhr Lila fort, »kannst du zurück in dein hübsches ruhiges Leben.«

Unglaublich. Die Frau schaffte es nicht, ihre Geringschätzung zu verbergen. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass mein Leben hübsch und ruhig ist.« Fast schien es, als hätte ihre Schwester vergessen – oder kein Interesse daran –, was geschehen war, wie sie auseinandergegangen waren, was Jane durchgemacht hatte. »Willst du dich nicht bei mir bedanken?«, fragte sie. »Wo wir nach all den Jahren wieder miteinander sprechen?«

»Wofür?«

»Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?«

Jane hörte das Schaben von Stuhlbeinen auf einem Holzboden, das entfernte Hupen eines Autos. Also gut, da, wo sie ist, gibt es jedenfalls Autos. Schließlich sagte Lila: »Ich hab dich nicht gebeten zu tun, was du getan hast. Du solltest dich bei mir bedanken.«

»Ich hab dich auch nicht gebeten zu tun, was du getan hast.«

»Ich hab dich gerettet.«

»Und dann hast du immer weitergemacht. Niemals aufgehört. Du hast mich fast zu Tode gerettet.«

Das nun folgende Schweigen war vertraut: Es war der Klang von Lila, die energisch gegen ihre Wut ankämpfte, sie einebnete, sie dämpfte. Mit monotoner Stimme sagte sie: »Es ist einmal um dich gegangen. Nur ein einziges Mal. Seitdem hat es nichts mehr mit dir zu tun.«

»Okay.«

»Okay.«

Plötzlich schien die Spannung zwischen ihnen zu wachsen. Jane warf einen Blick zum Parkplatz, durch das offene Fenster des Wagens. Chloe beachtete sie nicht. Oder tat so, als würde sie nicht auf sie achten.

»Du hast geheiratet«, sagte Lila.

»Klar doch. Chance, von der Highschool.«

»An den erinnere ich mich. Und du hast eine Tochter.«

»Ja. Sie ist mit mir hier. Sie wartet im Auto.«

»Bist du an einer Mall?«

»Das weißt du doch. Weißt du auch, wie meine Tochter heißt?«

»Ja«, sagte Lila.

»Aha. Weißt du, wer ihr den Namen gegeben hat?«

Keine Antwort.

»Meine Schwiegermutter«, erklärte Jane. »Ihre Söhne heißen Chance, Charles Junior und Christopher. Und die Namen von deren Kindern müssen auch alle mit Ch anfangen.«

»Nein!«, sagte Lila.

»Chelsea, Chuck – das ist Charles der Dritte –, Charlotte …«

»Die Vettern und Cousinen?«

»Das weißt du doch.«

»Ja.« Lila schnaubte und brach gleich darauf in Gelächter aus. Jane ließ sich anstecken, bis sie sich vor Lachen krümmte und weinte. Es fühlte sich an wie eine Attacke, die sie in zwei Teile zu brechen drohte. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr so gelacht. Oder geweint. Wahrscheinlich seit ihrer Hochzeit nicht mehr.

»Mom!«, rief Chloe, die sich zum Fenster auf der Fahrerseite herübergebeugt hatte. »Alles in Ordnung?«

»Ja, ja«, sagte sie abwinkend. Dann wandte sie sich an Lila. »O Gott. Dad sind die Hemden ausgegangen, weil er sich bei der Arbeit ständig bekleckert. Ich soll sie zur Reinigung bringen und bin spät dran. Der Scheißladen schließt gleich.«

»Jane.«

»Lila.«

»Jane, komm zu mir. Gib mir zwei Wochen. Oder wenigstens zehn Tage. Steh es mit mir zusammen durch. Dad kann sich schon helfen. Er kann sein Bett machen und soll sich selbst um seine verdammten Hemden kümmern. Das bringt ihn nicht um.«

»O Gott«, sagte Jane. »Da bin ich nicht so sicher.«

»Irgendwas wird ihn umbringen. Jeder von uns könnte morgen sterben. Komm, hilf mir, sie zu suchen.«

Natürlich verspürte Jane Reue. Sie vermisste ihre Schwester. Nicht die, die sie damals verlassen hatte, sondern die, mit der sie aufgewachsen war, dank der ihr die Welt so kompliziert und interessant erschienen war. Und in gewisser Weise begreifbar. »Es geht nicht um Dad«, sagte sie. »Ich muss für Chloe da sein.«

Lila schien ihre Worte einen Moment sacken zu lassen. Dann sagte sie: »Klar, aber.«

»Aber was?«

»Lass es mich so ausdrücken. Bist du eine tolle Mutter?«

»Was?«

»Bist du es? Hältst du dich für eine großartige Mutter?«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Interessanterweise beantwortest du die Frage nicht«, sagte Lila. »Es klingt, als hättest du Angst, keine gute Mutter zu sein. Vielleicht fragst du dich nach dem Grund dafür. Hab ich recht?«

»Du hast keine Ahnung, wovon du redest.« Wieder gab Jane keine Antwort auf die Frage.

»Ich weiß nicht …«

»Nein, du weißt nichts.«

»… aber es kommt mir vor, als seist du nicht im Reinen mit deiner Mutterrolle, und ich frage mich, weshalb.«

»Das geht dich nichts an«, sagte Jane und starrte auf den zum Wagenfenster gebeugten Kopf ihrer Tochter. Durch das ausgiebige Lachen innerlich gelöster, begann sie zu zittern. Wieder brach sie in Tränen aus.

»Ich bin sicher, dass es zum Teil daran liegt, dass unsere Mom tatsächlich eine schreckliche Mutter war. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Dazu gehörte auch, dass es sie scheinbar nicht interessierte, wie schlimm sie war. Du bist anders, Jane. Du machst dir Gedanken. Genau deshalb weinst du jetzt.«

»Du blödes Arschloch«, sagte Jane und schnappte nach Luft.

»Du glaubst, dass du vielleicht so bist wie sie. Dass in dir etwas zerbrochen ist, tot ist. Dass du deinen Mann und auch deine Tochter nicht richtig lieben kannst. Das weiß ich, weil ich es von mir selbst kenne. Was du tun kannst, ist, sie zu finden und zur Rede zu stellen. Du kannst dir beweisen, dass du ganz anders bist als sie. Du kannst ihr in die Augen schauen und eine Erklärung verlangen. Dann weißt du es ein für alle Mal.«

»Warum hab ich diese Nummer angerufen?«, fragte Jane sich leise. »Warum tue ich mir das an?«

»Hast du einen Stift? Ich gebe dir eine Adresse. Tipp sie in keinen Computer und kein Handy. Niemals, verstanden?«

»Machst du Witze?«

»Überhaupt nicht. Du bist meine Schwester, ich mache keine Witze. Du musst nicht kommen, Jane.«

»Ach was?«

»Du musst nicht, aber ich glaube, du solltest. Tu es nicht für mich, sondern für dich selbst. Bist du bereit? Ich gebe dir jetzt die Adresse.«

Mit rasendem Puls notierte Jane: 21 2nd Street, Timber Fell, Missouri.

»Timber Fell, Missouri?«

»Wenn du fliegen musst, dann zu einem Flughafen, der mindestens hundertfünfzig Meilen entfernt liegt. Miet keinen Wagen und benutz kein Auto, das man mit dir in Verbindung bringen kann.«

»Lila.«

»Lass dein Handy zu Hause. Kauf dir unterwegs eins an einem Rastplatz.«

»Lila, um Himmels willen. Wie soll ich ohne Auto hinkommen? Und ohne Handy? Per Anhalter?«

»Dir fällt schon irgendwas ein. Ernsthaft. Von meinen Kunden weiß niemand, wo ich bin. Jedenfalls im Moment nicht. Hier ist es friedlich. Es gefällt mir. Die Einheimischen glauben, ich bin ein paar Countys entfernt aufgewachsen und mache Websites. Ein paar Leuten hab ich zur Tarnung sogar ihre Seiten gestaltet.«

»Kunden.«

»Ja, aber lass uns reden, wenn du hier bist.«

»Ich hab nicht gesagt, dass ich komme«, erinnerte sie Jane.

»Ich weiß. Ich werde dich auch nicht hassen, wenn du es nicht tust.«

»Ist diese ganze Geheimnistuerei wirklich nötig?«

»Ja.«

»Warum können wir uns nicht einfach in Montana treffen? Bei diesem Typen?«

Wieder folgte ein Schweigen, diesmal weniger angespannt. Jane war schon klar, dass sie sich auf den Weg machen würde. Lila wusste es auch.

»Ich will einen Autotrip mit dir machen. Wie in alten Zeiten. Unterwegs können wir uns auf den neuesten Stand bringen.«

»Die Zeiten damals waren nicht unbedingt spaßig.«

»Aber irgendwie schon, oder?«

Jane antwortete nicht. Stattdessen hängte sie den Hörer vorsichtig wieder auf den Haken. Auf dem Parkplatz der Mall war es so still. Jenseits des gekiesten Parketts und der Reihe in gleichmäßigen Abständen gepflanzter Kiefern leuchteten Autoscheinwerfer unter Wolkenmassen. Sie war nicht sicher, ob es die Wolken waren, die den Regen gebracht hatten, oder ob sie neuen Regen ankündigten.

Ihre Schwester hatte recht. Sie wollte Bescheid wissen. Und jetzt war der richtige Zeitpunkt, nicht wahr? Chloe war endlich alt genug, um ein oder zwei Wochen ohne sie zurechtzukommen. Bald würde sie anfangen, die unvermeidlichen Fragen zu Janes Vergangenheit zu stellen, zu ihrer Kindheit. Eigentlich hatte sie schon damit angefangen: kleine passiv-aggressive Bemerkungen über Janes Verschwiegenheit und ihre Launen. Jane tat sich mit dem Ausweichen immer schwerer, es machte zusehends Mühe, sich an die mit Chance und Susan getroffene Vereinbarung zu halten. Bald würde Chloe alles wissen. Sie würde von der Existenz ihrer Tante Lila erfahren. Von dem, was geschehen war, und von den Gründen.

Wenn die Zeit kam, es ihr zu erzählen, wollte Jane die Wahrheit im Gepäck haben. Deshalb würde sie nach dieser Wahrheit suchen. Bei ihrer Rückkehr würde das Leben, das sie sich erschaffen hatte, endlich Sinn ergeben. Jedenfalls genug Sinn, um ihrer Tochter begreiflich zu machen, warum sie keine normale Mutter und die Familie keine normale Familie war.

Eine Woche oder zwei, länger würde es nicht dauern. Dann konnte sie tun, was für Chloe das Beste war.

Als Jane in den Wagen gestiegen war, sagte Chloe, ohne von ihrem Buch aufzublicken: »Worum ging’s?«

»Das war ein alter Freund«, sagte Jane und wischte sich die Augen.

»Jemand …, mit dem du mal zusammen warst?«

»Nein.«

Sie fuhren zum Haupteingang der Mall, stellten den Wagen ab und gingen hinein. Aber der Joghurtladen existierte nicht mehr. Stattdessen fuhren sie zum Naturpark. Wegen des Regens war der Parkplatz praktisch leer. Noch trugen die Bäume keine Blätter, aber die Äste ächzten und zitterten im Wind. Der Pfad führte sie um einen kleinen See – eigentlich eher ein besserer Teich – mit einer winzigen verlassenen Insel in der Mitte.

»Hat auf der Insel mal jemand gewohnt?«, fragte Chloe.

»Vielleicht.«

»Kauf sie! Wir könnten eine Hütte darauf bauen.«

»Traust du mir das zu?«

»Es ist nicht schwer. Man stapelt einfach einen Baumstamm auf den andern.«

Jane lachte, aber was wusste sie schon? Vielleicht stapelte man ja tatsächlich einen Stamm auf den anderen. Zu Chloes fünftem Geburtstag hatte Susan ihr einen riesigen Lincoln-Logs-Baukasten geschenkt. Ein mutmaßlich unpassendes Geschenk für ein kleines Mädchen, das trotz aller zugegebenermaßen halbherzigen Bemühungen von Seiten Janes ganz wild auf Disney-Prinzessinnen war. Trotzdem war der Baukasten für fast ein Jahr zu Chloes Lieblingsspielzeug geworden. Sie hatte komplizierte, den Gesetzen der Physik – oder zumindest jeglichen Bauvorschriften – trotzende Schlösser gebaut.

Chloe hatte es verdient, auf der kleinen namenlosen Insel eine Hütte zu bauen. Sie hatte eine Mutter verdient, mit der zusammen sie die Hütte bauen konnte.

Andererseits hatte sie einen Vater, der es konnte.

Die Temperatur war um drei Grad gefallen, jetzt setzte auch der Regen wieder ein. Durch den Schlamm liefen sie zum Auto zurück. Gerade als sie einstiegen, rief Chance an.

»Wo seid ihr?«

Sie sagte es ihm. »Wir sind in zehn Minuten zu Hause.«

»Hast du vergessen, dass Doug und Nancy und Astrid zum Abendessen kommen? Sie sind schon hier.«

»O Gott.«

»Ich hab im Imperial Garden bestellt. Hol es unterwegs bitte ab.«

Er legte auf. »Warum hast du ›O Gott‹ gesagt?«, fragte Chloe. Als Jane es ihr erklärte, fing das Mädchen an zu hyperventilieren. »Astrid ist jetzt bei uns? Sie darf nicht in mein Zimmer!«

»Warum nicht?«

»Sie bringt alles durcheinander!«

»Der Preis der Freundschaft.«

»Mom, ich bin zu alt, um gezwungen zu werden, mit den Kindern eurer Freunde zu spielen.«

Jane ließ den Wagen an und fuhr Richtung Restaurant. »Manchmal sind uns die Leute, mit denen wir Zeit verbringen müssen, nicht die sympathischsten. Dann muss man so tun als ob.«

Zu Hause angekommen, begrüßte sie Chances Arbeitskollegen und seine Frau, die mit unbehaglicher Miene auf dem Sofa saß und ihr angestrengt zulächelte. Chloe lief in ihr Zimmer, um den Schaden zu begutachten. Jane packte das Essen aus, das Chance auf den Tisch stellte. Dann brachte sie den Kleidersack ihres Vaters in den Wäscheraum und schob die Hemden in die Waschmaschine. Nur chemische Reinigung stand auf den Etiketten, aber sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Vater den Unterschied bemerkte.

Sie ertrug einen Abend voll unerquicklicher Gespräche mit den langweiligen Gästen, während im ersten Stock immer wieder kleinere Streits aufflammten. Als es vorbei war, nahm Chloe ein Bad, während Jane das Geschirr spülte. Chance saß hinter ihr am Tisch. Sie hörte ihn eine Flasche Bier öffnen und seufzen.

»Komm schon, Jane. Du hättest dir ein bisschen Mühe geben können.«

»Ich dachte, das hätte ich getan.«

Er antwortete nicht.

»Ich muss etwas mir dir besprechen«, sagte sie. Durchs Küchenfenster sah sie, wie ein Nachbar auf der anderen Straßenseite eine schwere Mülltonne durch den Kies zerrte. Es war fast dunkel. Sie konnte ihr eigenes Spiegelbild sehen, ihre ausdruckslose Miene, und Chance, wie er in sich zusammengesackt am Küchentisch saß. »Ich muss für eine Weile verreisen.«

»Aha.« Es klang fast, aber nicht ganz nach einer Frage. Damit deutete er an, dass er einerseits eine Erklärung erwartete, die andererseits aber keine Rolle spielte, weil sie sich sowieso schon ins Unrecht gesetzt hatte.

»Reg dich nicht auf.«

»Was ist los?«

»Es geht um … Lila. Sie glaubt zu wissen, wo unsere Mutter ist, und will nach ihr suchen.«

Chance stieß laut und theatralisch die Luft aus. »Wo genau?«

»Genau weiß ich es nicht. Im Westen?«

In der Fensterscheibe sah sie, wie er das Bier austrank, es vorsichtig auf den Tisch stellte und von sich wegschob. Er ließ den Kopf in die Hände sinken. »Soso. Aber du kannst nicht.«

Sie versteifte sich. Genau deswegen waren sie in Therapie gegangen, wegen seiner bevormundenden, sexistischen Angst, dass ihre weit zurückliegende Vergangenheit sich erheben und sie fertigmachen würde. Dass sie betrunken und zugedröhnt in irgendeiner Gasse landen und wieder ins Gefängnis kommen würde. Die Therapie hatte nicht funktioniert, weil Chance nicht hatte glauben wollen, dass sie vertrauenswürdig war. Er war buchstäblich mitten in der Sitzung hinausmarschiert. »Welchen Teil kann ich nicht, Chance?«, erwiderte sie. »Und warum?« Sie war fast mit dem Abwasch fertig. Nicht mehr lange, und sie würde sich ihm gegenübersetzen müssen.

»Du darfst nicht wieder in das alles hineingezogen werden«, sagte er. »Dein Leben ist jetzt hier.«

»Ich lasse mich nirgendwo reinziehen. Ich mache eine Reise. Allein, zum ersten Mal seit … was? … zehn Jahren? Du fliegst jeden Winter mit deinem Bruder nach Daytona. Du fährst zum Angeln mit deinen Kumpeln.«

»Du hast keine Kumpel«, sagte er.

Sie wandte sich ab, spülte die Biergläser ab und zwang sich, sie nicht quer durchs Zimmer zu werfen.

»Wie lange denn?«, fragte er leicht zerknirscht.

»Eine Woche? Vielleicht zwei.«

»Vielleicht zwei«, wiederholte er.

»Mein Leben ist hier, Chance«, sagte sie. »Aber es ist auch dort. Ich muss mit Dingen abschließen. Ich muss Bescheid wissen.«

Sie stellte das letzte Teil aufs Abtropfgitter, trocknete sich die Hände ab und nahm am Tisch Platz. Oben plantschte Chloe in der Wanne und sang einen Song von Moana, wie sie es als kleines Kind getan hatte. Jane war klar, dass sie aufhören würde, wenn ihr klar wäre, dass ihre Eltern sie hören konnten. Eine Welle der Traurigkeit schwappte über sie hinweg.

»Das ist mal wieder typisch«, sagte Chance, der immer noch mit der Tischplatte zu reden schien. »Du kannst eine Reise nicht einfach planen. Für den Sommer zum Beispiel. Wie jeder normale Mensch. Du musst sofort los. Du hast für deine Schwester so viel geopfert, und sie hat wie lange nicht mit dir gesprochen?«

»So war es nicht«, sagte Jane. Aber natürlich hätte sie noch am Tag zuvor genauso argumentiert, aus genau denselben Gründen.

Er rieb sich übers Gesicht und sah sie endlich an. »Und? Wann?«

»Ich muss die Flüge checken. Zur Arbeit gehen und versuchen, mir freizunehmen. Morgen Abend vielleicht.«

»Gut.« Er reckte die Hände hoch. »Natürlich.«

»Deine Mutter kann bei Chloe helfen. Ich bin sicher, sie genießt die Möglichkeit …«

»Hey, stopp. Tu’s nicht«, sagte er und stand auf. »Tu’s einfach nicht.« Er ging hinaus und ließ die leere Flasche stehen. Wie ein kleines Nest aus Papier lagen ringsum kleine Papierschnipsel, die er vom Etikett abgerissen hatte. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, hörte ihn innehalten. Atem holen. Zurückkommen.

Er griff nach dem Türknauf. Seine Augen waren vor Erschöpfung und vom Feuer der Empörung gerötet. »Dir ist klar, dass es niemals aufhört, stimmt’s? Du wirst dich nie dazu durchringen, dass du nicht so beschissen bist wie sie.«

»Das ist nicht fair.«

»Du hast einen schei… einen schweren Komplex oder wie man das nennt. Mal bist du durch sie zu traumatisiert, um irgendetwas wert zu sein, mal im Vergleich zu ihnen zu langweilig, um cool zu sein. Hauptsache, du fühlst dich beschissen. Darum geht es dir letztlich.«

»Ich glaube kaum, dass …«

»Was lebst du Chloe eigentlich vor, hm? Ich versuche ihr beizubringen, selbstsicher zu sein, Dinge anzupacken, Dinge hinzukriegen.« Er wedelte mit den Armen herum, deutete auf ihr großes und gepflegtes Haus, dessen Teilzahlungen nicht von seinem Einkommen, sondern von seinen Eltern bestritten worden waren. »Auch wenn die beiden dämlichen Schlampen tot wären, würdest du sie immer noch benutzen, um zu beweisen, was für eine aufopferungsvolle Verliererin du bist. Welche Botschaft schickst du deiner Tochter damit?«

»Sie kann dich hören.«

Chloe hatte aufgehört zu singen und zu plantschen. »Scheiße, kann sie nicht.«

Er packte den Türknauf fest. Sie hörte das Knacken in seinen Knöcheln und zuckte zusammen.

»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Chance«, sagte sie. »Um positiv Einfluss zu nehmen. Sie ist inzwischen eine komplette, vollständige Person. Und ich weiß immer noch nicht, wie ich mich ihr erklären soll. Irgendwann muss ich ihr die Wahrheit sagen, aber ich kenne die Wahrheit nicht. Kapierst du das nicht?« Sie sprach jetzt in ruhigerem Ton. »Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.«

Er öffnete den Mund, als wollte er etwas erwidern, brachte aber nichts heraus. Stattdessen ging er hinaus zur Garage. Kurz darauf hörte sie ein Scheppern. Werkzeug wurde auf den Betonboden gefegt.

Das Plantschen ging wieder los, diesmal zu laut.

Am nächsten Morgen stand Jane früh auf und bügelte die Hemden ihres Vaters. Sie brachte Chloe zur Schule und schaffte es, sich nicht von Chance verabschieden zu müssen. Im Büro erklärte sie dem Abteilungsleiter ihr Problem. Familiärer Notfall. Eine Woche oder zwei. Sie hatte ihre Sonderurlaubstage aufgespart. In der nächsten Woche standen die Frühjahrsferien an, dann würden die Wünsche der Professoren sich in Grenzen halten. Carmen und Lydia würden mit der Arbeit zurechtkommen.

Natürlich, natürlich. Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.

Die Tür zum Büro ihres Vaters war verschlossen. Draußen warteten mehrere Studenten und schauten auf ihre Handys. »Er ist nicht da«, sagte einer.

Sie öffnete die Tür mit ihrem eigenen Schlüssel, trat ein und schloss sie hinter sich. Natürlich war ihr Vater da, er schaute wie ein ängstliches Tier zu ihr hoch. »Draußen warten mehrere Besucher«, sagte sie und hängte die Hemden wieder auf den Ständer.

»Ich weiß. Ich hab nicht … ich war nicht … ja.«

Sie setzte sich auf den Stuhl, auf dem ausnahmsweise kein Abfall vom Tag zuvor lag. »Dad, da ist was, worüber ich mit dir reden muss. Ich muss eine Weile verreisen.«

»Oh, nein«, sagte er.

»Sie sagt, sie habe Mom gefunden.«

In seine ängstliche Miene mischte sich jetzt eine schreckliche Traurigkeit. Seine Augen schienen noch ein Stück weiter im Schädel zu versinken, er ließ sich tiefer in seinen Stuhl sacken.

»Nein«, sagte er.

»Sie hat von irgendjemandem etwas gehört. Was genau, wollte sie mir nicht sagen. Nur, dass ich kommen soll.«

»Ich habe angenommen, deine Mutter wäre tot«, sagte ihr Vater mehr oder weniger flüsternd.

»Ja, ich weiß. Aber du sagst nie, warum du das glaubst.« Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Dad, willst du mir vor meiner Abreise vielleicht noch etwas sagen? Irgendetwas, das ich wissen sollte? Ich verstehe ja, dass dich das Thema aufregt. Aber bitte hilf mir, wenn du kannst.«

Eine lange unbehagliche Minute saß er in stiller Fassungslosigkeit da. Die Uhr hinter ihm tickte und summte. Sein Atem ging laut und flach, seine knochigen Finger krallten sich an den Armlehnen fest. Er befeuchtete seine Lippen, als wollte er etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus.

Schließlich sagte er: »Ich kann mir … einfach nicht vorstellen, dass sie noch lebt.«

»Weil du denkst, dass sie Kontakt mit dir aufgenommen hätte? Oder weil sie in irgendwelcher Gefahr schwebte?«

Er antwortete nicht.

»Lila glaubt, dass zwischen dir und Mom irgendetwas passiert ist. Außer … den anderen Männern. Willst du darüber sprechen?«

Er hob die Hände und strich sich die Krawatte glatt. »Nein«, sagte er.

Eine Zeit lang schwiegen sie sich an, dann stand Jane auf.

»Nächste Woche sind Frühjahrsferien«, sagte sie. »Wesentlich länger bleibe ich wahrscheinlich nicht weg. So lange kommst du schon allein zurecht. Ruf Carmen an, wenn du irgendetwas brauchst.« Sie hob die Tasche vom Boden. »Vielleicht wäre es ein guter Zeitpunkt, um etwas Schönes mit Chloe zu unternehmen.«