Hard Road - J.B. Turner - E-Book

Hard Road E-Book

J. B. Turner

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Beschreibung

Ein Auftrag. Ein Fehler. Ein Mann auf der Flucht. Jon Reznick ist ein »Geist« – ein Spezialist für verdeckte Operationen, der seine Befehle von zwielichtigen Vorgesetzten und sein Gehalt von der US-Regierung erhält. Sein neuester Auftrag: ein Anschlag auf höchster Ebene. Reznick weiß nur, dass es wie ein Selbstmord aussehen muss. Doch etwas läuft schief. Das Ziel ist nicht der Mann, den er erwartet hat. Reznick selbst wird zum Gejagten. Er ist mit dem Mann, den er töten sollte, auf der Flucht. Vor der stellvertretenden FBI-Direktorin Martha Meyerstein, die ihn um jeden Preis stoppen will, und vor einer skrupellosen Terrororganisation, die die Vereinigten Staaten ins Chaos stürzen will. Als seine kleine Tochter, die er nach dem Tod seiner zu früh verstorbenen Frau allein erzieht, verschwindet, steht für Reznick mehr auf dem Spiel als je zuvor. Jetzt zählt nur noch eins: Überleben. Und zurückschlagen. Denn er ist der Einzige, der das wahre Ausmaß der Bedrohung der nationalen Sicherheit kennt – und er hat die perfekte Tarnung und Entschlossenheit, sie zu stoppen. Er ist sein eigenes Gesetz! Ein explosiver, rasanter und actiongeladener Jon Reznick-Thriller

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Danksagungen

Über den Autor

Weitere spannende Titel: Gregg Hurwitz

Die Orphan X-Reihe

Die Tim Rackley-Reihe

Die Tesseract-Reihe von Tom Wood

Impressum

Cover

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Inhaltsbeginn

Impressum

Hard Road – Reznick 1

J. B. Turner

Aus dem Englischen von Helga Parmiter

Für meinen verstorbenen Vater

Kapitel 1

Der Anruf kam von einem Mann, den er nur als Maddox kannte.

Jon Reznick saß auf seiner gefrorenen Veranda, während die Dunkelheit über Maine hereinbrach, nippte an einer Flasche Bier und starrte aufs Meer hinaus. Er ließ sein Handy ein paar Mal klingeln, da er wusste, was kam.

Zehn lange Wochen waren vergangen. Er zog seine Jacke eng um sich und beobachtete, wie sein Atem zu Dampf wurde. Er seufzte lang und schwer, bevor er ans Telefon ging.

»Wir haben ein Lieferproblem in Washington«, sagte Maddox.

Unten in der Bucht brachen sich die Wellen des Atlantiks mit ohrenbetäubendem Donnern, und salzige Gischt spritzte hoch in die Winterluft. Die Umrisse der hohen Eichen und Ahornbäume, die ihr Laub verloren hatten – Bäume, die sein verstorbener Vater im Garten gepflanzt hatte, als Reznick noch ein kleiner Junge war –, bogen sich im Wind und knarrten. Irgendwo in der Ferne, draußen in der Penobscot Bay, konnte Reznick die Lichter der Hummerboote erkennen, die mit dem Fang des Tages auf dem Rückweg nach Rockland waren.

Schließlich brach Maddox das Schweigen. »Sie wollen wissen, ob Sie die sichere Übergabe einer Lieferung gewährleisten können.«

»Wann?«

»Sie müssen heute Abend los.«

Reznick sagte nichts.

»Kommt Ihnen das ungelegen?«

»Ziemlich kurzfristig.«

»Stehen Sie zur Verfügung?«

»Sagen Sie, wie ist das Wetter bei Ihnen?«

Eine lange Pause. »Es ist nass.«

Das Codewort »nass« sagte alles.

»Jemand will diese Lieferung wohl unbedingt haben.«

»Werden Sie’s tun?«

Reznick schwieg wieder.

»Das muss erledigt werden. Es handelt sich um einen wichtigen Kunden.«

Er stieß einen langen Seufzer aus. »Sagen Sie ihm, ich bin dabei.«

»Gute Entscheidung, Reznick. Holen Sie Ihre Tickets am Flughafen ab.«

»Wo geht’s hin?«

»Das werden Sie dann sehen.«

Dann war die Leitung tot.

Reznicks Flugzeug landete kurz vor Mitternacht am Dulles-International. Er trug eine schwarze Lederjacke, ein graues T-Shirt, dunkelblaue Levi’s Jeans und abgewetzte Cowboystiefel. Er warf sich seine Reisetasche über die Schulter und machte sich auf den Weg zum Avis-Parkplatz. Dort holte er einen schwarzen Chevy Camaro ab. Im Kofferraum lag ein Umschlag mit einer gefälschten Kreditkarte und zweitausend Dollar in bar sowie einer Reservierungsbestätigung für drei Nächte im Omni Shoreham Hotel im Nordwesten Washingtons.

Reznick kannte die Stadt gut. Er steuerte hinaus auf die Mautstraße des Flughafens, fuhr auf der Interstate 66 nach Osten über die Roosevelt Bridge und nahm dann die Ausfahrt auf die Constitutional Avenue. Trotz der späten Stunde herrschte immer noch dichter Verkehr. Seine Gedanken schweiften zurück zum ersten Mal, als er mit seinem Vater in die Stadt gekommen war. Es war im Winter 1982 gewesen, der erste von vielen Besuchen am Denkmal der Vietnam-Veteranen. Er erinnerte sich daran, wie sein Vater im Mietwagen saß und den stockenden Verkehr verfluchte. Vor allem aber erinnerte er sich daran, was sein Vater getragen hatte: einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte des Marine Corps und schwarze auf Hochglanz polierte Schuhe. Bei jedem Besuch hatte sein Vater direkt nach seiner Ankunft die Namen der jungen Männer berührt, die in die schwarze Granitwand eingraviert waren. Reznick stand schweigend mit angelegten Armen daneben, während sein Vater mit den Tränen kämpfte.

Die in der Ferne heulende Sirene eines Feuerwehrautos riss ihn aus seinen Tagträumen, während er über die historische Taft Bridge fuhr, vorbei an den imposanten Betonlöwen, die beide Seiten bewachten. Er bog links auf die Calvert Street ab; das Hotel lag vor ihm. Vor dem altehrwürdigen achtstöckigen Gebäude hielt er an und gab dem Parkwächter zehn Dollar Trinkgeld.

Reznick ging durch die eindrucksvolle, weitläufige Lobby. Marmorboden, Ziersäulen, Kronleuchter. Ein junger Mann an der Rezeption nahm seine Daten auf, während er sich unter falschem Namen anmeldete: Ron Dixon.

»Drei Nächte. Willkommen bei uns, Mr Dixon. Darf ich fragen, ob Sie geschäftlich oder privat in der Stadt sind, Sir?«

Reznick brachte ein Lächeln zustande. »Ein wenig von beidem.«

»Ausgezeichnet. Dürfen wir Ihnen mit Ihrem Gepäck behilflich sein?«

»Nein, ich komme zurecht, danke.«

Er zog seine gefälschte Kreditkarte durch und fuhr mit dem Aufzug zur sechsten Etage.

Reznick öffnete seine Zimmertür mit der Schlüsselkarte und schaltete das Licht ein. Er hängte ein Bitte nicht stören-Schild nach draußen, bevor er das Zimmer abschloss.

Es war zu warm, aber geräumig. Ein riesiger Fernseher hing an einer Wand, auf dessen Bildschirm ein Willkommensgruß stand. Die Einrichtung war im »klassischen« Stil: grüner Teppich mit Blumenmuster, ein Kingsize-Bett und ein paar Kommoden aus Rosenholz. Die Vorhänge passten zum Teppich.

Reznick blickte aus dem Fenster auf das gehobene Viertel Woodley Park: ein guter Ausgangspunkt, weit weg vom Stadtzentrum. Er stellte die Klimaanlage auf »kühl«, duschte und wickelte sich in einen weißen Frotteebademantel. Dann legte er sich aufs Bett, starrte an die Decke und wartete darauf, dass das Telefon klingelte.

Am nächsten Morgen bestellte Reznick beim Zimmerservice einen frisch gepressten Orangensaft und einen schwarzen Kaffee, bevor er sich seine Joggingklamotten anzog – ein marineblaues T-Shirt, eine Jogginghose und abgetragene Nike-Laufschuhe. Unter dem makellosen Winterhimmel ging er für seine tägliche Laufrunde zum Rock Creek Park. Als er an der mit Wasserkraft betriebenen Peirce Mill in der Nähe des Eingangs ankam, machte er einige Dehn- und Aufwärmübungen, denn die Temperatur lag um die 0 °C. Eine Handvoll Läufer war bereits auf den verschneiten Pfaden unterwegs.

Er schaltete seinen iPod ein, um die Außenwelt auszublenden und sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Die donnernden Riffs und Beats eines Led Zeppelin-Songs brachten sein Blut in Wallung. Reznick sah auf seine Uhr: Genau 8:48 Uhr. Er lief auf dem Western Ridge Trail nach Norden, der Geruch von Kiefern lag in der Dezemberluft.

Nach etwa einer Meile kam er an einer jungen Frau vorbei, die auf dem Bordstein eines Parkplatzes in der Nähe der Broad Branch Road saß. Sie verzog das Gesicht und rieb sich das Knie.

Reznick lief weiter. Kein Grund, sich auf eine unnötige Konversation mit einer fremden Person einzulassen. Anonym zu bleiben war das Beste. Er kannte die Regeln – die Liste war endlos. Tragen Sie keine auffällige Kleidung, reden Sie nicht zu viel, wirken Sie nicht abgelenkt oder verloren; vermeiden Sie einfach alles, was dazu führen könnte, dass Sie ins Auge stechen. Das äußere Erscheinungsbild ist entscheidend: Grautöne, marineblaue Trainingsanzüge und Geschäftsanzüge sind gut; schwarze Schuhe ebenfalls. Aber Sie müssen sich in die Umgebung einfügen.

Die Art und Weise, wie Sie sprechen, wie Sie sich bewegen, Ihr Akzent, Ihr Dialekt – all das sendet Signale aus. In dem Moment, in dem ein Portier meint, Ihr Gepäck sehe zu protzig oder zu abgenutzt aus, zeichnet das alles ein Bild. Wenn Sie in einem erstklassigen Hotel wohnen, sollten Sie erstklassige Kleidung tragen und einen Smart Case dabeihaben.

Die Kleinigkeiten sind entscheidend. Seien Sie aufmerksam. An Logos kann man sich gut erinnern – verzichten Sie lieber darauf. Der Trick ist, anonym zu bleiben. Aber übertreiben Sie es nicht. Weichen Sie Blickkontakt nicht aus. Das allein wird Aufmerksamkeit erregen. Was hat er zu verbergen?

Ihre Sinne müssen Überstunden machen. Und Strategien müssen an die Umstände angepasst werden. Wenn Sie in ein anderes Hotel umziehen, ändern Sie Ihre Kleidung, lassen Sie das Auto stehen und besorgen Sie sich ein anderes Modell.

Er lief durch den Park am Beach Drive entlang. Sein Puls war gleichmäßig. Tiefer und tiefer in dieses grüne innerstädtische Refugium in Amerikas Hauptstadt.

Reznick bekam nach und nach einen klaren Kopf. Er spürte, wie seine Sinne sich allmählich schärften, während die Sonne durch die Zweige der blattlosen Bäume blinzelte. Er rannte immer weiter.

Einen Hügel hinauf, einen Abhang hinunter und zurück auf den Hauptweg, vorbei an einer kleinen steinernen Polizeiwache in der Mitte des Parks, wo zwei Beamte an einem Streifenwagen lehnten und Kaffee tranken. Er nickte höflich, und sie nickten zurück.

Sein Herz pumpte kräftiger, als sein Kopf klar wurde. Dies gehörte zu seiner Routine vor jedem Auftrag und vertrieb ihm die Zeit. Es half ihm, konzentriert zu bleiben.

Im nördlichen Bereich des Parks kam er an der Rolling Meadow Bridge vorbei und trat den Rückweg über einen Pfad neben dem öffentlichen Golfplatz an. Weiter am Amphitheater vorbei und über die Bluff Bridge zu seinem Ausgangspunkt.

Er prüfte seinen Puls. Nur leicht erhöht.

Zehn Minuten später absolvierte Reznick zum Abkühlen ein paar Dehnübungen an einer Parkbank, da vibrierte sein Handy in seiner Tasche. Er schaltete seinen iPod aus und sah die vertraute Anrufer-ID.

»Wie fühlen Sie sich heute?« Es war Maddox.

»Mir geht’s gut.«

»Und, irgendwelche Fragen?«

Reznick wischte sich mit dem Handrücken etwas Schweiß von der Stirn. »Haben Sie einen Namen?«

Ein Herzschlag verging. »Ich weiß nur, dass er Amerikaner ist. Okay?«

»Auf heimischem Boden? Wie kommt’s?«

Eine lange Pause. »Hören Sie, sie wollten es intern halten. Mehr kann ich nicht sagen. Die Sache ist heikel.«

»Und wo ist das Ziel jetzt?«

»Macht mit seinem Sohn einen Spaziergang über die National Mall.«

»Welche Art der Überwachung?«

»Elektronisch. Das ist viel sicherer.«

Reznick schwieg, weil er wusste, dass Maddox recht hatte.

»Wie wäre es, wenn wir nachher weiterreden?«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht. Aber bleiben Sie in der Nähe Ihres Hotels.«

Reznick schirmte seine Augen gegen die Sonne ab. »Wieso?«

»Wieso was?«

»Wieso soll ich in der Nähe meines Hotels bleiben?«

Maddox seufzte. »Es ist so, ich habe noch keine Bestätigung, aber ich habe von jemandem weiter oben in der Befehlskette gehört, dass wir bei dieser speziellen Lieferung möglicherweise sehr schnell handeln müssen.«

»Zeitrahmen?«

»Eher früher als später. Behalten Sie das im Hinterkopf.«

Der Rest des Vormittags zog sich hin, während Reznick auf den Anruf von Maddox wartete.

Es konnte noch Stunden dauern. Er wählte die »12« und bestellte einen Brunch aus Rührei, schwarzem Kaffee, gebuttertem Toast und noch einem frisch gepressten Orangensaft. Nach einer warmen Dusche zappte er durch die Kanäle von CNN, Fox News und dem Wetterkanal. Es gab eine Reihe koordinierter Bombenanschläge von den Taliban in Kabul und der Provinz Helmand, um die afghanische Regierung zu destabilisieren und die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Er erkannte, aus welcher Richtung der Wind dort wehte, und das bedeutete nichts Gutes.

Am frühen Abend bestellte er beim Zimmerservice ein Club Sandwich und eine Cola. Danach machte er einen Spaziergang, entfernte sich aber nicht weiter als sechs Blocks vom Hotel. Er kehrte in sein Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Als er aufwachte, sah er nach der Uhrzeit. Es war 20:09 Uhr und Maddox hatte immer noch nicht angerufen. Hatte es eine Verzögerung gegeben? Vielleicht eine Planänderung in letzter Minute?

Der Gedanke an Verzögerungen deprimierte ihn. Man hatte ihm einen Auftrag gegeben, und er wollte es hinter sich bringen. Sich dann etwas Neuem zuwenden. Langwierige Verzögerungen konnte er nicht ertragen.

Reznick fühlte sich angeschlagen, ging hinunter zur Rezeption, kaufte eine Badehose und schwamm vierzig Bahnen im menschenleeren Pool. Sein Handy ließ er auf seinem Handtuch auf einem der Liegestühle.

Er ging wieder nach oben, zog sich ein sauberes T-Shirt und eine Jeans an. Er ging im Zimmer auf und ab, unterbrochen von gelegentlichen Liegestützen und Sit-ups, mit denen er versuchte, sich fit zu halten. Immerhin wusste er nicht, wann der Anruf erfolgen würde – oder ob es jeden Moment so weit sein konnte.

Schließlich ließ er sich in den Lehnsessel des Zimmers fallen und machte sich ohne Ton einen alten Schwarz-Weiß-Film mit Jimmy Cagney an.

Sein Handy vibrierte in der Brusttasche seines T-Shirts.

»Sie müssen los.« Die Stimme von Maddox.

»Wohin?«

»Ins Park Amerika Parkhaus, eins drei null eins K Street NW, und stellen Sie Ihr Auto auf Ebene zwei ab.«

Reznick prägte sich das ein.

»Gehen Sie zur Ebene fünf, dort finden Sie ein schwarzes BMW-Cabrio. ihr Schlüsselanhänger kann es elektronisch aufschließen. Fahren Sie zum St. Regis Hotel und checken Sie dort unter dem Namen Lionel Fairchild ein. Ein neuer Ausweis und Papiere sind im Handschuhfach; im Kofferraum ist eine braune Louis-Vuitton-Reisetasche mit dem Notwendigsten für die Nacht.«

»Was ist in der Tasche?«

»Das Übliche. Laptop, Lieferausrüstung – alles drin. Nachdem Sie eingecheckt haben, gehen Sie direkt auf Ihr Zimmer, das Ihnen bereits zugewiesen wurde, und warten auf die letzten Anweisungen.«

Reznick befolgte die Instruktionen akribisch.

Als Erstes checkte er beim Omni aus, wobei er sich die Zeit nahm, sich für den ausgesprochen angenehmen Aufenthalt zu bedanken und zu versichern, es täte ihm leid, dass er seinen Besuch aus familiären Gründen abbrechen müsse. Er ließ sich seinen Wagen vom Parkwächter bringen und fuhr, wie angewiesen, zu dem Parkhaus in der Nähe. Er stellte das Fahrzeug auf der zweiten Ebene ab und stieg die Treppe hinauf. Ein ziemlich schicker BMW mit getönten Scheiben parkte am anderen Ende der fünften Ebene. Er öffnete den Kofferraum – darin befand sich eine Herrenreisetasche mit Monogramm. Er nahm sie heraus, stieg ins Auto und verriegelte mit einem Druck auf seinen Schlüsselanhänger die Zentralverriegelung, bevor er den Reißverschluss der Tasche öffnete.

Darin befand sich ein 13-Zoll-MacBook Pro aus Metall, ein speziell modifiziertes Handy, ein Nachtsichtfernglas, eine 9 mm-Beretta-Pistole und genug Munition, um die Bewohner einer Kleinstadt auszulöschen, ein Hightech- Schlüsselanhänger, der alle Fahrzeugtypen öffnen und jegliche Überwachungsfrequenzen stören konnte, ein Schlafmittel in Form eines Nasensprays, die Militärausgabe eines Tasers, ein hochwirksames Muskelrelaxans in einer als Kugelschreiber getarnten Spritze und fünftausend Dollar in bar.

Reznick schloss den Reißverschluss der Tasche und schob sie unter den Beifahrersitz. Dann fuhr er direkt zu dem Luxushotel in der Innenstadt von Washington, um auf letzte Anweisungen zu warten.

Kapitel 2

Das St. Regis auf der 16th Street war als eins der elegantesten Hotels Washingtons bekannt. Die Weihnachtsbeleuchtung, mit der die beeindruckende Kalksteinfassade zwei Blöcke nördlich vom Weißen Haus dekoriert war, ließ die Pracht im Inneren nur erahnen.

Reznick fuhr kurz nach zweiundzwanzig Uhr vor, übergab seine Schlüssel dem Parkwächter und achtete darauf, die Louis-Vuitton-Tasche mitzunehmen.

Ein Portier öffnete die Tür, und Reznick schritt in die Lobby. Diese wirkte wie ein Traum der italienischen Renaissance – Kronleuchter hingen von Kassettendecken, Gemälde in Goldrahmen, orientalische Teppiche auf dem Marmorboden, Möbel aus dunklem Holz.

Reznick händigte der jungen Angestellten am Empfang den neuen gefälschten Führerschein und die Kreditkarte aus. »Guten Abend«, sagte sie. »Wir freuen uns, Sie im St. Regis begrüßen zu dürfen, Sir.« Sie rief seine Daten am Computer auf. »Sind Sie das erste Mal bei uns?«

»Ja.«

»Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Sie gab ihm eine Magnetstreifenkarte, und ein lächelnder Page in Uniform kam näher. »Das ist Andy. Wenn Sie irgendetwas benötigen, zögern Sie nicht, darum zu bitten.«

Reznick lächelte und wurde von Andy zur sechsten Etage begleitet, wo Reznick ihm zwanzig Dollar Trinkgeld gab. »Ab jetzt komme ich zurecht.«

»Sind Sie sicher, Sir?«

»Ganz sicher.«

Der Hotelpage nickte ihm höflich zu und ging zurück zum Aufzug. Reznick wartete, bis der Bursche außer Sichtweite war, bevor er sorgfältig die Schlüsselkarte durchzog. Das Zimmer war ausgesprochen nobel. Ein Kingsize-Bett, ein großer Flachbildfernseher, ein Schreibtisch, ein Sessel und ein Sofa im antiken Stil sowie eine Minibar, die mit Krug- und Rolling Rock-Bier gut befüllt war. Originalkunstwerke an den Wänden und Kronleuchter setzten das Zimmer in Szene. Das Badezimmer war mit Messingarmaturen und Mosaikfliesen in Erdtönen ausgestattet, einem großen Spiegel, der gleichzeitig als 15-Zoll-Smart-TV diente, zwei Marmorwaschbecken und einem flauschigen weißen St. Regis-Bademantel, der hinter der Tür hing.

Nachdem er sich umgesehen hatte, hängte er zunächst ein Bitte nicht stören-Schild vors Zimmer und schloss die Tür ab. Nachdem er dafür gesorgt hatte, dass er nicht gestört werden würde, öffnete er die Louis-Vuitton-Tasche und legte das vorkonfiguriert MacBook auf den Schreibtisch. Er öffnete es und innerhalb weniger Sekunden war es hochgefahren und betriebsbereit.

Reznick setzte sich, gab das ihm zugewiesene Passwort ein – coldbracelet1 – und rief seinen Posteingang auf. Ein leiser Piepton zeigte den Eingang einer verschlüsselten Nachricht mit einem Anhang an.

Er klickte auf »Nachricht entschlüsseln«, um sich die Datei anzusehen, und wurde aufgefordert, zwei einzigartige Passwörter einzugeben. Er tippte OfwaihhbTn – die Anfangsbuchstaben der ersten Zeile der traditionellen englischen Version des Vaterunsers, gefolgt von DNalKcOr – seine Heimatstadt rückwärts buchstabiert. Dann musste er drei persönliche Fragen beantworten: der Geburtsname seiner Großmutter väterlicherseits – Levitz; der Geburtsort seines Vaters – Bangor; seine Blutgruppe – Rhesus negativ.

Er tippte die Antworten ein und die E-Mail erschien auf dem Bildschirm. Er klickte auf die Schaltfläche »Antworten«, und der Anhang wurde sicher heruntergeladen.

Ein zweiseitiges Dossier und sechs Schwarz-Weiß-Fotos erschienen. Der Mann, den er töten sollte.

Reznicks Magen krampfte sich zusammen, während er auf den Bildschirm starrte. Tom Powell, neunundfünfzig Jahre alt, bezeichnet als »ein unmittelbares Sicherheitsrisiko.« Powell lebte mit seiner zweiten Frau und ihren beiden schulpflichtigen Kindern in einer ruhigen Sackgasse in Frederick, Maryland; sein ältester Sohn war auf der Universität. Der Akte zufolge hatte er am Abend zuvor im St. Regis eingecheckt – Zimmer 674, drei Türen weiter. Weshalb genau er neutralisiert werden sollte, stand nicht dort.

Reznick grübelte darüber nach. Wenn er einen Anschlag verübte, war der Grund dafür normalerweise ziemlich klar. Es konnte sich um Spionage, Terrorismus oder eine ganze Reihe von Bedrohungen für die Sicherheit des Landes drehen. Sie hatten immer eine Erklärung, ohne Ausnahme.

Also warum jetzt nicht?

Reznick las weiter. In der Akte stand, bei Powell müsse es sich um einen »Selbstmord« handeln. Es gab keine anderen Optionen.

Dies war das erste Mal, dass man von Reznick verlangte, einen amerikanischen Bürger auf amerikanischem Boden zu töten. Er wusste, dass dies aufgrund des Posse Comitatus Acts unmöglich gewesen wäre, wenn er immer noch der Delta Force angehörte, denn dieses Bundesgesetz untersagte den Einsatz des Militärs bei Operationen innerhalb der Vereinigten Staaten. Aber daran war er nicht länger gebunden.

In der Vergangenheit hatte er einen saudischen Militär-Attaché in New York ausgeschaltet, einen milliardenschweren Bankier in London, der die Hisbollah finanzierte, einen russischen Spion in Wien, eine ganze Reihe Dschihadisten überall im Nahen Osten und vereinzelte islamische Fundamentalisten, die in Amerika lebten und arbeiteten.

Es ging ums Geschäft. Realpolitik. Die eiskalte Realität der Politik, die auf Fakten und materiellen Bedürfnissen beruhte.

Er sah sich die Bilder des Mannes genau an – darunter auch eines, das ihn beim Footballspiel in einem Park in Frederick mit seinem ältesten Sohn John zeigte, einem Jurastudenten der George Washington University. Der Sohn war ein gutaussehender Bursche: gepflegt, kurze Haare, schicke Klamotten.

Er betrachtete die Fotos von Powell so lange, bis er sich auch die kleinsten Einzelheiten eingeprägt hatte. Das münzgroße Muttermal auf seiner linken Wange, die grau melierten Koteletten, die buschigen Augenbrauen und die kleine Narbe über seiner rechten Augenbraue, die laut Akte von einer Prügelei auf dem Schulhof herrührte.

Während Reznicks Ausbildung in »The Farm« in Virginia vor vielen Jahren war immer wieder betont worden, wie wichtig es sei, das Ziel in- und auswendig zu kennen. Nur so konnte man einen geeigneten Plan entwerfen und ausführen.

Maddox und sein Team hatten Powells Lebensstil und Gewohnheiten bestimmt gründlich unter die Lupe genommen. In der Akte stand, dass er leidenschaftlicher Golfer war, keine verschreibungspflichtigen Medikamente nahm und ein sauberes Leben führte – ein oder zwei Gläser teuren französischen Rotweins zum Abendessen am Freitag oder Samstag waren sein einziges Laster.

Reznick beendete die Lektüre des Dossiers, fuhr den Computer herunter und wartete auf den Anruf von Maddox. Die Warterei war immer das Schlimmste am Job. Endlose Stunden, die er in Motels herumhing, in Hotels, Safehouses, Pensionen, Absteigen, Wohnungen – an einer Unzahl von Orten –, bevor die letzte Phase begann.

Das Endspiel.

Reznick war nicht der Richter. Auch nicht die Jury. Er war der Vollstrecker. Nur war er nicht bei der Verhandlung dabei, denn es gab keine Verhandlung. Hier handelte es sich um Schnellverfahren, wie sie von jeder Regierung der Welt praktiziert wurden. Manchmal wurde die schmutzige Arbeit an einen ausländischen Geheimdienst oder deren Verbündete abgetreten. Dies war jedoch eine interne Angelegenheit.

Kurz nach Mitternacht vibrierte Reznicks Handy in seiner Tasche. Er schaltete den Fernseher ein, der die Highlights eines Spiels der Redskins zeigte, um seine Stimme zu übertönen.

»Sind Sie vor Ort?«, fragte Maddox.

»Ja.«

»Es handelt sich um eine Liquidierung. Verstehen Sie?«

»Voll und ganz.«

»Okay, gehen wir’s durch. Unser Mann ist ein Gewohnheitsstier. Er ist in seinem Zimmer und schläft tief und fest.«

»Woher wissen Sie das?«

»GPS auf seinem BlackBerry und eine Wanze im Rauchmelder seines Zimmers. Warten Sie bis fünf Minuten nach zwei Uhr morgens, dann wird per Fernsteuerung die Überwachungskamera im Flur bis exakt drei Uhr ausgeschaltet und das Licht gedämpft. Sie haben eine Kopie seiner Magnetstreifenkarte. Gehen Sie davon aus, dass Sie fünfundfünfzig Minuten Zeit haben, um zu liefern.«

Das war ausreichend Zeit.

»Machen Sie gute Arbeit«, sagte Maddox.

»Verlassen Sie sich drauf.«

»Ihr Zimmer wird gesäubert, sobald diese Lieferung erfolgt ist. Eine Wartungsuniform hängt in ihrem Kleiderschrank.« Eine lange Pause verstrich. »Sie müssen nur warten. Dann gibt es nur noch Sie und ihn.«

Es war nur noch knapp eine Stunde, und Reznick saß in seinem dunklen Hotelzimmer, bereit, die Lieferung auszuführen. Er hatte sich umgezogen und trug ein hellblaues kurzärmeliges Arbeitshemd und eine schwarze Hose, eine Brille mit goldenem Drahtgestell und glänzend schwarze Schuhe. Auf einem Metallnamensschild an seinem Revers stand Alex Goddard, Techniker und zu seinen Füßen eine Tasche. Er schob sich ein winziges Audiogerät zu Kommunikationszwecken ins rechte Ohr; das Namensschild verbarg ein Mikrofon.

Alles an seinem Platz. Keine Zerstreuungen. Kein Fernseher, kein Radio, keine Musik, keine Zeitschriften oder Zeitungen, die ihn ablenken konnten. So arbeitete er immer in der alles entscheidenden letzten Stunde.

Die LCD-Anzeige seiner Digitaluhr zeigte 1:21 Uhr. Nicht mehr lange.

Reznicks Knopf im Ohr summte, und er spannte sich an.

»Reznick, hören Sie mich?« Maddox’ Stimme war nur ein Flüstern. »Reznick?«

»Was?«

Ein leises Seufzen. »Okay, da sind zwei vom Zimmerservice – ein Kerl und eine Frau –, die Zeitungen vor die Türen legen und einen Wagen mit Essen und Getränken schieben. Sie sind im Aufzug und in Ihre Richtung unterwegs.«

Reznick hörte, wie sein Herz schlug.

»Okay«, flüsterte Maddox, »sie sind jetzt im sechsten Stock.«

Wie aufs Stichwort öffneten sich die Aufzugtüren mit einem Klingeln, und gedämpfte Schritte waren in dem mit Teppich ausgelegten Flur zu vernehmen. Leises Klirren von Metall gegen Glas wurde begleitet von einer tiefen Männerstimme. Das dumpfe Aufschlagen der Zeitungen, die vor die Zimmer gelegt wurden. Eine Tür öffnete sich.

Drei lange Minuten später waren sie verschwunden.

»Okay, Kumpel, tut mir leid. Sind Sie bereit?«

»Was macht unser Mann?«

»Schläft wie ein Baby. Treffer versenkt, Reznick. Sie haben freie Bahn.«

Um 1:23 Uhr wurde die Verbindung unterbrochen.

Um genau 2:05 Uhr spähte er durch den Türspion. Keine Bewegungen oder Geräusche. Er legte sich flach auf den Boden und drückte sein linkes Ohr – das ohne Ohrstöpsel – auf den Teppich und lauschte nach Vibrationen vom Aufzug, Schritten, plötzlichen Geräuschen ... irgendetwas.

Er hörte das leise Gluckern von Wasserrohren. Vielleicht auch die entfernteste Andeutung von Gelächter irgendwo unten.

Abgesehen davon war alles ruhig.

Reznick stand auf und nahm die Tasche. Er atmete ein halbes Dutzend Mal langsam und tief durch.

Atme einfach.

Seine Atmung war gleichmäßig, er war bereit.

Langsam bewegte er die Klinke, steckte den Kopf aus dem Türspalt und spähte in den schwach beleuchteten Flur.

Keine Menschenseele.

Langsam ist geschmeidig, geschmeidig ist schnell.

Das geflügelte Wort der Marines zeigte Wirkung. Es bedeutete, dass es leichtsinnig war, sich schnell zu bewegen oder voranzustürmen, und dass man dabei getötet werden konnte. Wenn man sich langsam bewegte, war die Wahrscheinlichkeit geringer, in Gefahr zu geraten.

Er schlich hinaus und schloss die Tür so leise wie möglich. Das metallische Schließsystem klang in seinen Ohren wie das Nachladen eines Gewehrs.

Reznick sah sich um und ging den kurzen Weg zu Powells Tür. Vorsichtig zog er die Karte durch, das metallische Klicken war merklich leiser. Er öffnete die Tür einen Spalt weit. Das Geräusch von lautem Schnarchen.

Er ließ die Tür für einige Augenblicke angelehnt, während sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Der Raum roch nach abgestandenem Schweiß und alten Schuhen. Unter dem Fenster lag die gekrümmte Silhouette eines Mannes im Bett unter der Bettdecke mit dem Gesicht zur Wand. Reznick schloss leise die Tür, die kaum ein Geräusch machte, als das Schloss einschnappte.

Er schlich sich an den schlafenden Mann heran. Näher und näher, wobei er darauf achtete, nicht über irgendwelche herumliegenden Gegenstände zu stolpern.

Als er sich über ihn beugte, sah Reznick das zehn Zentimeter große Muttermal auf seiner linken Wange. Plötzlich stöhnte der Mann und drehte sich auf den Rücken. Die Bettfedern knarrten.

Reznick erstarrte und wagte nicht zu atmen. Einige Augenblicke lang herrschte völlige Stille, und er fragte sich, ob der Mann wirklich wach war. Er rührte sich nicht und wartete.

Ein Herzschlag. Zwei Schläge. Drei Schläge.

Schließlich, beim vierten Schlag, ging das Schnarchen weiter wie zuvor, rhythmisch und tief. Reznick atmete langsam aus. Dann griff er in seine Hosentasche und zog einen lippenstiftgroßen Taser heraus. Er beugte sich vor und drückte das Metallgerät fest gegen die Schläfe des Mannes. Elektrische Ströme lösten für drei lange Sekunden Zuckungen aus. Powells Augen verdrehten sich nach hinten. Gurgelnde Geräusche und Stöhnen. Dann nichts mehr.

Bewusstlos.

Das übliche Vorgehen beim ersten Schritt. Acht Minuten, vielleicht zehn, bevor der Mann wieder zu sich kam.

Reznick kramte in der Tasche und holte die als Kugelschreiber getarnte Spritze hervor, die Succinylcholinchlorid enthielt, das er als »Sux« kannte. Das Medikament war ein Muskelrelaxans, das in der chirurgischen Anästhesie verwendet wurde und als Lähmungsmittel bei Hinrichtungen durch tödliche Injektion eingesetzt worden war. Eine Drehung am Stift und ein kurzer Stich in die Haut des Mannes würden sieben Milligramm des Medikaments freisetzen. Für den Tod waren jedoch nur fünf Milligramm erforderlich.

Das Opfer wäre innerhalb von dreißig Sekunden gelähmt. Die Muskeln, einschließlich des Zwerchfells, würden ihren Dienst einstellen, mit Ausnahme des Herzens. Er könnte weder sprechen noch sich bewegen, obwohl sein Gehirn noch funktionieren würde. Dann würde es noch drei Minuten dauern, bis die Atmung aussetzen würde und er nicht mehr um Hilfe schreien könnte.

Das Schöne an dieser Droge bei Auftragsmorden war, dass die körpereigenen Enzyme sie fast sofort abbauten, so dass sie praktisch nicht nachweisbar war.

Powell sollte die Injektion in das Gesäß verabreicht werden, da die meisten Gerichtsmediziner einen Herzinfarkt als natürliche Todesursache annehmen würden, wenn es keine Beweise für ein Verbrechen gab.

Reznick schlug die Bettdecke zurück, schaltete seine Taschenlampe ein und betrachtete den korpulenten, bewusstlosen Mann, der vor ihm lag. Er hatte einen hellblauen Pyjama an und darunter ein weißes Tank-Top. Er trug eine billige Uhr mit einem ausgefransten braunen Lederarmband. Die letzten Momente in seinem Leben, und der arme Kerl wusste nichts davon. Normalerweise fühlte Reznick nie etwas, wenn er einen ausländischen Terroristen oder einen der Milliardäre, die diese finanzierten, töten musste. Aber in diesem Fall fühlte es sich seltsam an, zu wissen, dass es sich um einen Amerikaner handelte.

Im Schein der Taschenlampe war etwas um den Hals des Mannes zu erkennen, das unter dem Tank-Top steckte. Reznick betrachtete es genauer und fand, dass es wie eine Hundemarke aus Aluminium aussah. Er hielt sie in der Hand, drehte sie um und sah eine Inschrift auf Hebräisch – den Namen Benjamin Luntz – und eine siebenstellige Identifikationsnummer.

Israelische Verteidigungsstreitkräfte.

Er starrte einige Augenblicke lang auf die Hundemarke.

Warum zum Teufel hatte Tom Powell die Erkennungsmarke eines israelischen Soldaten um seinen Hals? Das ergab keinen Sinn.

Ihm kamen erste Zweifel. Er brauchte Gewissheit.

Er musste mehr als acht Minuten warten, bevor Powell mit einem leisen Stöhnen zu sich kam. Reznick drückte dem Mann die Beretta an die Stirn. Powell sah verwirrt und verängstigt hoch.

»Halten Sie die Klappe und hören Sie zu«, knurrte Reznick und presste ihm die Hand auf den Mund.

Der Mann nickte.

»Einen Ton, und Sie sterben. Kapiert?«

Er nickte erneut.

Reznick nahm seine Hand weg. »In Ordnung«, sagte er mit leiser Stimme. »Nennen Sie mir Ihren Namen, Ihr Geburtsdatum und Ihren Geburtsort. Und zwar sofort.«

Der Mann schluckte schwer. »Bitte, nehmen Sie, was Sie wollen.«

Reznick drückte die Pistole fester auf seine Haut und hinterließ eine kleine Einkerbung, als der Mann zu zittern begann. »Ich frage jetzt zum zweiten Mal. Ein drittes Mal frage ich nicht. Nennen Sie mir jetzt Ihren Namen, Ihr Geburtsdatum und Ihren Geburtsort. Wenn Sie das nicht tun, werden die Zimmermädchen in sechs Stunden Ihr Gehirn von dieser Wand kratzen. Haben Sie das verstanden?«

»Mein Name ist Frank Luntz, geboren am zwölften Oktober 1953 in New York City.«

Für den Bruchteil einer Sekunde befand sich Reznicks Verstand im freien Fall. Der Name der Zielperson war Powell. Irgendetwas stimmte nicht.

»Erzählen Sie mir von der Hundemarke um Ihren Hals.«

»Die ist von meinem Sohn.«

»Wie heißt er?«

»Benjamin Luntz.«

Reznick überlegte, ob er dem Mann glauben sollte oder nicht. Irgendetwas passte nicht zusammen. Wurde er reingelegt?

»Sind Sie Israeli?«

»Nein. Mein Sohn ist ausgewandert. Er hatte die doppelte Staatsbürgerschaft.«

»Was meinen Sie mit hatte?«

»Er wurde vor drei Jahren von einem Selbstmordattentäter an einem Kontrollpunkt im Westjordanland in die Luft gesprengt.«

Der Mann machte eine plötzliche Bewegung, und Reznick drückte ihn zurück in das Kissen. »Denken Sie nicht mal dran.«

»Ich will es Ihnen beweisen.«

Er griff unter sein Kopfkissen und zog einen silbernen Fotoanhänger hervor. Ein verblasstes Farbfoto eines jungen Mannes in Kampfmontur, das Gewehr über die Schulter gelegt, der auf einem Merkava-Panzer saß.

Der Mann zeigte auf den Nachttisch. »Oberste Schublade. Sehen Sie in meiner Brieftasche nach, wenn Sie mir nicht glauben.«

Reznick streckte die Hand aus und öffnete die oberste Schublade. Sie war leer. Kein Führerschein und keine Kreditkarten, um die wahre Identität des Mannes festzustellen. »Da ist nichts drin, Sie verlogener Bastard.«

»Das ist unmöglich. Vielleicht hat Connelly sie nebenan.«

Reznick war versucht, das Arschloch auf der Stelle umzubringen. »Wer ist Connelly?«

Der Mann begann zu weinen.

»Antworten Sie. Wer ist Connelly?«

»Er ist ein Fed. Er ist im Zimmer nebenan. Er passt auf mich auf.«

Reznick wurde flau im Magen. »Wovon zur Hölle reden Sie da?«

»Er hat das Zimmer, das an dieses hier angrenzt.« Der Mann deutete mit einem zitternden Finger auf eine Tür neben der Kommode.

»Lügen Sie mich an? Wenn ja, dann sterben Sie, hier und jetzt.«

Der Mann begann zu schluchzen. Reznick legte ihm eine große Hand auf den Mund, um das Geräusch zu dämpfen.

»Noch ein Mucks von Ihnen und ich reiße Ihnen die Drähte raus. Verstanden?«

Der Mann nickte, Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Hände auf den Kopf.«

Er gehorchte. Reznick zog eine Socke aus der Kommode und stopfte sie ihm in den Mund, bevor er das Bettlaken in Streifen riss und ihm diese um den Kopf band, um die Socke zu sichern. Dann fesselte er die Hand- und Fußgelenke des Mannes an die vier Ecken des Holzbetts, wie bei einer Kreuzigung.

Reznick leuchtete ihm mit seiner Stablampe direkt in die Augen. »Denken Sie nicht einmal dran, sich zu bewegen, verdammt.«

Er nickte hastig. Reznick ging zur Tür hinüber, drückte sein Ohr an das Türblatt und lauschte einige Sekunden lang auf irgendwelche Geräusche. Knarren. Stöhnen. Aber er hörte nichts.

Langsam drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür. Sein Blick suchte das Zimmer ab. Das Bett war gemacht, die Holzjalousien und die Vorhänge waren geschlossen, als warteten sie auf den nächsten Hotelgast. Perfekte Ordnung. Leer.

Zumindest schien es so. Der Hauch von Sandelholz in der Luft erzählte eine andere Geschichte. Das Zimmer war bewohnt gewesen.

Reznick spürte, dass etwas nicht stimmte. Er leuchtete mit der Taschenlampe in das Badezimmer und öffnete die Tür. Opulente weiße Waschbecken, eine Badewanne und ein Fußboden aus Marmor. Weiße Handtücher stapelten sich fein säuberlich auf einem Metallgestell über der Badewanne. Ein leichter Geruch von Feuchtigkeit hing in der Luft, als hätte jemand gerade geduscht.

Auch das sprach nicht für ein ungenutztes Zimmer.

Reznick ging zurück ins Schlafzimmer und schwenkte das Licht der Stablampe über den hochwertigen Teppich neben dem großen Kleiderschrank. Sein Blick wanderte durch den Raum, vorbei an einem kleinen flachsfarbenen Sofa, bis er an einer weißen Lamellentür hängen blieb. Er sah, dass sie nicht richtig geschlossen war. Sie stand etwa einen halben Zentimeter offen.

Er ging näher heran. Er kniete sich hin und leuchtete durch die Lattenöffnungen. Drinnen sah er etwas, das wie zerzaustes blondes Haar aussah. Er hielt den Atem an. Dann streckte er die Hand nach dem Holzgriff aus und riss die Tür auf. Reznicks Herz machte einen Satz, als er im Licht der Stablampe den zusammengekrümmten, halbnackten Körper eines blonden Mannes sah. Verräterische violette Blutergüsse um Hals und Kehle, Einblutungen um die toten Augen herum. Reznick hatte so etwas schon öfter gesehen. Viele Male. Der Mann war mit bloßen Händen erwürgt worden. Das war so beschissen, dass es nicht real war.

Seine Gedanken rasten, als er in das erste Zimmer zurückkehrte. Er beugte sich zu dem Mann hinunter, der gefesselt und geknebelt auf dem Bett lag. Der Mann starrte zu Reznick hoch wie ein verängstigtes Kind, das sich vor seinem Schicksal fürchtete.

Reznick löste den Streifen des Bettlakens um den Mund des Mannes und zog die Socke heraus. Dann brachte er sein Gesicht direkt vor das des anderen Mannes, roch den Schweiß und die Angst. »Wer zum Teufel sind Sie?«

»Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Warum will man Sie töten? Für wen arbeiten Sie?«

»Ich arbeite für die Regierung. Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind. Was haben Sie mit Connelly gemacht?«

»Vergessen Sie ihn. Vergessen Sie mich. Was ist mit Ihnen? Was genau machen Sie?«

»Ich sagte doch, ich arbeite für die Regierung.«

»Und was genau?«

Der Mann schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Antworten Sie mir.«

»Ich bin ein Wissenschaftler der Regierung.«

Reznick stopfte dem Mann die Socke wieder in den Mund. Er ging zum Fenster hinüber und funkte Maddox über sein Ansteckmikrofon an, um ihn ins Bild zu setzen. Die Entdeckung der Leiche des Ermordeten – womöglich ein Bundesagent – und die Möglichkeit, dass sie den Falschen hatten.

Maddox hörte schweigend zu, bevor er sagte: »Geben Sie mir zwei Minuten und ich melde mich bei Ihnen.«

Nach weniger als einer Minute ertönte das Summen des Ohrhörers.

»Die Zielperson ist zu schützen und herzubringen. Kommen Sie mit der Zielperson zu einem Motel, dem Clarence Suites, sechs Blocks entfernt an der N Street Northwest, Richtung Nordosten, und warten Sie dort. Zimmer sieben acht sieben. Es wurde auf den Namen Ronald D. Withers für Sie gebucht. Er ist Ihr Bruder, Simon Withers. Verstanden?«

»Was dann?«

»Wir schicken zwei von unseren Leuten, Bowman und Price. Sie werden Ihnen den Mann abnehmen.«

Kapitel 3

»Ziehen Sie sich an«, schnauzte Reznick und band Luntz los.

Er musste sie beide aus dem Hotel bringen. Und zwar schnell. Aber er konnte so, wie er angezogen war – wie ein verdammter Wartungsarbeiter –, nicht einfach aus der Lobby marschieren.

Er wühlte in der Kommode und fand einen marineblauen Kaschmirpullover. Er zog ihn an, aber die Ärmel waren zu lang, also krempelte er sie ein paar Zentimeter hoch.

»Ein falsches Wort, und Sie und Ihre Familie werden sterben«, sagte er und hob seine Tasche auf. »Drücke ich mich klar aus?«

Luntz nickte und leckte sich über die Unterlippe.

Reznick schob die Waffe hinten in seinen Hosenbund. Das kalte Metall fühlte sich beruhigend auf seiner warmen Haut an. Er öffnete die Tür einen Spalt weit, sah, dass die Luft rein war, packte den Mann am Arm und führte ihn den Flur entlang zur Treppe. Sie kamen an einem Feuermelder vorbei. Er schlug das Glas mit den Fingerknöcheln ein und drückte den roten Knopf.

Ohrenbetäubender Lärm durchbrach die Stille.

Wir müssen weiter.

Er drängte Luntz durch die Feuerschutztür und das Treppenhaus hinunter. Luntz wirkte verwirrt und groggy, die Augenlider schwer. Hinter ihnen ertönten Rufe und die Anweisung: »Beeilung.«

Luntz fragte: »Bitte, wo bringen Sie mich hin?«

»Halten Sie die Klappe und tun Sie, was ich sage.«

Reznick schob sich durch die Türen am Ende des Treppenhauses und betrat die riesige Lobby. Dutzende verängstigter Gäste in Nachthemden und Schlafanzügen strömten aus den Haupttüren. Problemlos mischte er sich unter sie und verließ das Hotel.

Sie traten in die kalte Nachtluft hinaus, wo Portiers und Pagen Decken verteilten. In der Ferne hörte man die Sirenen der Feuerwehrautos.

Um sich zu orientieren, ging er im Geiste noch einmal das Straßennetz durch, durch das er in der Nacht zuvor gegangen war. Sie machten sich die immer noch belebte K Street entlang auf den Weg – die Hauptverkehrsader durch das Geschäftsviertel von Washington in Ost-West-Richtung –, vorbei an anonymen Bürogebäuden aus rotem Backstein und Beton. Diese Gebäude beherbergten mächtige Lobbyfirmen, Denkfabriken und zahlreiche Interessengruppen, die alle nahe an den Hebeln der Macht sitzen wollten. Doch zu dieser unchristlichen Stunde war die Straße voller junger Nachtschwärmer und Berufstätiger, die auf dem Weg zu den angesagten Lounges und Clubs in der Nähe waren.

Reznick war froh, endlich die Straße zu überqueren und die 17th Street NW hinaufzugehen, weg von der Hauptstraße. Vorbei an dem Pot Belly Sandwich Shop und dem YMCA.

Er nahm seinen Ohrhörer, sein Ansteckmikrofon und sein Namensschild ab und warf sie in einen Gully. Er eilte den Bürgersteig entlang und über die Straße, wobei er sich zwischen zwei nebeneinander geparkten großen Geländewagen hindurchzwängte.

»Schneller!«, sagte er.

Luntz nickte heftig.

Reznick schob ihn nach links in die N Street NW in westlicher Richtung – eine breite, von Bäumen gesäumte Straße mit eleganten Reihenhäusern –, vorbei am Hotel Tabard Inn, bis sie zu den Clarence Suites aus rotem Backstein kamen. Er nahm sich einige Augenblicke Zeit, um seine Gedanken zu sammeln.

Seine Überlegungen schweiften zu der Hundemarke. War sie echt? War sie eine List?

Er wandte sich an den Mann. »Kein einziges Wort.« Luntz nickte, die Augen voller Angst.

Reznick hielt seinen Arm fest, während sie die Steinstufen hinaufstiegen und durch die Moteltür gingen. Der Mann am Nachtschalter sah sehr jung aus, war aber glattrasiert und trug eine kastanienbraune Weste mit passender Krawatte.

»Guten Abend«, sagte der Junge. »Haben Sie ein Zimmer gebucht?«

Reznick zwang sich zu einem Lächeln. »Tut mir leid, dass wir so spät dran sind. Wir hatten eine Verspätung wegen eines Anschlussfluges. Mein Name ist Withers und das ist mein Bruder. Wir haben ein Zimmer reserviert.«

Der Junge lächelte zurück. »Kein Problem.« Er überprüfte den Computer vor sich und ging mit einem Bleistift eine Liste von Namen durch. »Okay – Zimmer sieben acht sieben.« Er reichte ihm die Magnetkarte. »Sind Sie wegen einer Tagung oder so in der Stadt?«

»Ja, so etwas in der Art«, sagte Reznick.

»Haben Sie Gepäck?«

»Ich fürchte, das ist am Flughafen verloren gegangen.«

»Oh, das tut mir leid. Soll ich versuchen, Ihre Fluggesellschaft zu kontaktieren?«

»Keine Sorge, wir haben bereits mit denen gesprochen. Alles sollte im Laufe des Tages eintreffen. Aber trotzdem vielen Dank. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«

Der Mann vom Nachtdienst lächelte. »Jederzeit.«

Reznick sah sich den Ausweis des Jungen an, auf dem Steve Murphy, Nachtportier stand. Er war gepflegt, höflich und machte einen undankbaren Job, für den er wahrscheinlich nur den Mindestlohn erhielt. Er sah aus wie höchstens sechzehn. Der Junge erinnerte Reznick an sich selbst in diesem Alter. Er musste an den Wochenenden und in den Ferien beschissene Jobs machen, um seinem Vater über die Runden zu helfen. »Hey, Steve, sagen Sie, haben Sie nebenan noch ein freies Zimmer?«

Der Junge zuckte mit den Schultern und prüfte das Gästebuch. »Zimmer sieben acht acht ist frei. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Wollen Sie das Zimmer wechseln?«

»Nein, ich würde Zimmer sieben acht acht gerne dazunehmen, wenn das okay ist. Ich habe einen leichten Schlaf und mein Bruder ist das genaue Gegenteil. Nur so werde ich wohl etwas Schlaf bekommen.«

Der Mann grinste. »Kein Problem, Mr Withers. Wir haben bereits Ihre Kartendaten, also ist das alles erledigt. Benötigen Sie einen Weckruf?«

»Nein, ich denke, ich werde ausschlafen. Langer Flug.«

»Angenehmen Aufenthalt«, sagte der Junge und gab ihm die andere Magnetkarte. »Kaffeemaschine und Kabelfernsehen auf Abruf ist in beiden Zimmern vorhanden. Wir haben Sie für eine Nacht gebucht.«

Reznick lächelte und nickte. Er nahm Luntz am Arm und sie fuhren schweigend mit dem Aufzug in den siebten Stock. Es war ein langer Weg durch den mit Teppich ausgelegten Flur. Er zog die Karte für Zimmer 788 durch und ging hinein. Er setzte Luntz auf das Bett.

»Warum der Zimmerwechsel?«, fragte Luntz.

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf.«

Die Wahrheit war, dass ihm die Situation nicht gefiel. Kein bisschen.

Die Fragen häuften sich, während er in dem warmen Zimmer auf und ab ging, und der Mann, den er hätte töten sollen, den Kopf in die Hände stützte. Reznick musste die Sache durchdenken, ohne auf diesen Kerl aufpassen zu müssen.

Er griff in seine Tasche und holte etwas heraus, das wie ein Nasenspray aussah, dann sprühte er dem Mann in aller Ruhe das hochkonzentrierte Schlafmittel in das linke Ohr.

Reznick musste verhindern, dass sein Schützling auf dem Boden aufschlug. Er hob Luntz auf und legte ihn aufs Bett. Das Medikament würde ihn für mindestens vier Stunden außer Gefecht setzen, so dass Reznick sich vor der Übergabe um ihn keine Sorgen mehr machen musste.

Die Minuten zogen sich in die Länge.

Reznick sah immer wieder auf die Uhr, während er im Zimmer umherging. Er machte sich einen schwarzen Kaffee. Dann noch einen. Je mehr er über die Abfolge der Ereignisse nachdachte, desto weniger ergab alles einen Sinn.

Scheiße.

Er ging die Geschehnisse in seinem Kopf noch einmal durch. Die verschlüsselte Nachricht und die Begleitdokumente waren auf die übliche Weise vor einem Auftragsmord in seine Hände gelangt. Das Ziel war Tom Powell. Er war im richtigen Zimmer gewesen. Er hatte die Anweisungen befolgt.

Die beste Lösung war, wie Maddox gesagt hatte, dass man ihm Luntz abnahm, damit Reznick wieder in der Versenkung verschwinden konnte. Maddox traf immer die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit. Er wusste nicht, wie oft Maddox Reznick oder einem der Auftragnehmer aus der Patsche geholfen hatte, nachdem eine Operation problematisch geworden war. Aber im Moment steckte Reznick mitten in einer verfahrenen Situation und musste aus Washington herauskommen.

Er schaltete das Licht aus und setzte sich in die Dunkelheit. Er überprüfte die leuchtende Anzeige seiner Uhr. Sie zeigte 03:33.

Warum brauchte das Übergabe-Team so lange? Es war mehr als eine Stunde vergangen, seit er Maddox angerufen hatte, und es gab immer noch kein Zeichen von ihnen. Er fragte sich, ob Maddox versucht hatte, mit ihm Kontakt wegen eines Updates der Pläne aufzunehmen.

Er schluckte etwas von dem billigen Kaffee hinunter und sah aus dem Fenster auf eine Wohnung, in der das Licht brannte und die Vorhänge zugezogen waren. Schatten bewegten sich darin. Er versuchte, das Fenster zu öffnen, um etwas Luft hereinzulassen, aber es rührte sich nicht.

Verdammt!

Oben war das Geräusch eines Fernsehers zu hören, dessen Vibrationen durch die Decke drangen. Unten die angestrengte Stimme einer Frau. Draußen das Dröhnen einer Klimaanlage.

Das Warten ging weiter.

Er kochte seinen dritten Kaffee.

Das tiefe Atmen des betäubten Mannes erinnerte Reznick an seinen Vater, der vor vielen Jahren im Vollrausch in einem schäbigen Hotelzimmer in Washington gelegen hatte. Vor seinem geistigen Auge tauchte das Bild seines Vaters auf, wie er am Ende des Tages mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett lag, erschöpft und betrunken, immer noch in seinem besten Anzug, das Zimmer stank nach Alkohol. Reznicks Vater hatte seinen Job in der Sardinenfabrik in Rockland gehasst, er hatte sein Leben gehasst, und er wurde von den Erinnerungen an den Krieg heimgesucht. Das war für alle deutlich zu sehen. Jedes Mal, wenn sein Vater, den er verehrte, vor dem Vietnam-Veteranen-Denkmal strammstand und vor den Namen seiner gefallenen oder vermissten Kameraden salutierte, lag ein schrecklicher Schmerz in seinen Augen. Es war, als würde er die Schrecken noch einmal durchleben.

Sein Vater hatte nie darüber gesprochen, was er gesehen oder getan hatte. Das musste er auch nicht. Der Krieg hatte ihn ausgehöhlt. Narben waren in sein zerklüftetes Gesicht und in seinen zerrütteten Geist eingebrannt. Ein Teil seines Vaters war in Vietnam gestorben, zurückgelassen wie die jungen Kameraden, die in den Dschungeln eines fremden Landes ihr Leben gelassen hatten.

Ein leises Stöhnen des schlafenden, auf dem Bett ausgestreckten Mannes riss Reznick aus seinen Gedanken. Das Warten zog sich immer weiter in die Länge.

Schließlich, kurz nach fünf Uhr morgens, waren Schritte im Flur zu hören.

Endlich, sie sind da.

Er spähte durch den Türspion. Ein gut gekleidetes weißes Paar, das wie Mormonen aussah, ging den Flur entlang. Sie blieben vor Zimmer 787 stehen, dem Zimmer, das ihm ursprünglich zugewiesen worden war.

Merkwürdig. Maddox hatte gesagt, es sei ein interner Auftrag. Wer zum Teufel waren sie dann?

Reznick brachte sein linkes Auge noch näher an das Glas, die Wimpern streiften die Metallumrandung. Er hielt den Atem an und blieb regungslos stehen. Ein zweiter Mann kam ins Blickfeld. Er war stämmig und trug einen dunklen Anzug und forensische Handschuhe.

Das ist keine Übernahme.

Die drei sagten nichts, sahen sich nicht einmal an. Die Frau trat vor und klopfte viermal an die Tür von 787, während die beiden Männer mit jetzt gezogenen Waffen auf beiden Seiten versteckt standen.

Poch poch poch poch.

Sie wartete eine Sekunde, bevor sie erneut klopfte. Ein paar Augenblicke verstrichen. Dann zog der stämmige Mann eine Schlüsselkarte durch das Schließsystem, die drei gingen hinein und schlossen leise die Tür.

Reznick trat vom Türspion zurück und atmete lange und gleichmäßig aus. Er fühlte sich gefangen in dem stickigen Zimmer. Seine Gedanken rasten. Wer waren sie?

Mehr als fünf Minuten später kamen sie alle mit versteinerter Miene wieder heraus. Der stämmige Mann blieb vor Zimmer 787, während das Paar zum Aufzug ging.

Scheiße.

Reznick wusste, dass das Paar unterwegs war, um mit dem Jungen an der Rezeption zu sprechen. Er schätzte, dass er vier, höchstens fünf Minuten Zeit hatte, bis sie zurückkamen.

Der stämmige Mann starrte einige Augenblicke lang direkt auf den Türspion von Zimmer 788. Das Zimmer, in dem Reznick mit Luntz war. Er fragte sich, ob der Mann ihn gesehen hatte.

Unmöglich.

Dann wandte der Mann sich ab und stellte sich mit dem Gesicht zur Tür von 787 hin.

Scheißdreck.

Reznick trat von der Tür weg, zog langsam seine 9 mm-Beretta aus dem Hosenbund, huschte wie ein Kater durch den Raum und holte seinen Trident-9-Schalldämpfer aus seiner »Liefertasche«. Langsam schraubte er den Schalldämpfer vor die Waffe und legte den federgelagerten Sicherungshebel mit dem Daumen vorsichtig um. Er war froh, dass er seine Waffe bereits durchgeladen hatte, denn er wusste, dass das Geräusch den Mann alarmieren würde.

Reznick ging geräuschlos zurück zur Tür und starrte erneut durch den Türspion. Der stämmige Mann war fünf Meter den Flur hinuntergelaufen. Dann drehte er sich langsam um und ging zurück, bis er vor Reznicks Tür stand.

Er hielt den Atem an, als der Mann näher kam, bis sein Gesicht wie durch eine Fischaugenlinse verzerrt war. Er schien der Tür, hinter der Reznick stand, viel zu viel Aufmerksamkeit zu widmen.

Plötzlich gab Luntz im Schlaf ein lautes Stöhnen von sich.

Reznick zuckte bei dem Geräusch zusammen. Der Mann draußen hörte auf, seinen Kaugummi zu kauen.

Reznick rührte sich nicht.

Der Mann begann wieder, auf seinem Kaugummi zu kauen, ohne mit den Augen zu blinzeln. Dann beugte er sich vor und hielt sein linkes Auge vor das Glas.

Reznick hielt den Schalldämpfer an das Guckloch, drehte sein Gesicht weg und drückte ab. Es gab einen dumpfen Knall. Ein kleines, gezacktes Loch – weniger als einen Zentimeter im Durchmesser – war aus der Spanplattentür gesprengt worden.

Adrenalin durchströmte ihn.

Er öffnete die Tür weit genug, um die Leiche in den Raum zu ziehen. Die Kugel hatte sich in das linke Auge des Mannes gebohrt. Aus der klaffenden Wunde sickerte Blut über seine Wange.

Reznick bückte sich und zog den Mann an den Füßen hinein, bevor er auf dem Teppich im Korridor verbluten konnte. Er schaute vor der Tür nach und hob schnell die Holz- und Glassplitter auf, die auf dem Boden lagen, bevor er sie schloss. Dann zog er Luntz vom Bett und legte an seiner Stelle den großen Fremden hinein.

Reznick spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Er durchwühlte die Taschen des Toten und fand ein iPhone, aber keinen Ausweis und keine Brieftasche. Er ging ins Badezimmer, nahm die Hotelzahnpasta und drehte den Deckel der Tube ab. Dann ging er zurück und zwängte ihn in das kleine Loch, so dass die Tür auf den ersten Blick von außen unversehrt aussah.

Reznick griff nach seiner Tasche, hob Luntz hoch und warf ihn sich über die Schulter. Er wog etwa siebzig Kilo. Leicht im Vergleich zu dem stämmigen Kerl. Dann öffnete er die Tür und sah hinaus. Alles sauber.

Er schlich in den Flur, schloss leise die Tür, ging den Flur nach links entlang zu einer Feuerschutztür und stieg die Treppe hinunter zum Keller. Er griff in seine Jackentasche und schaltete den Störsender ein, der den Türalarm des Hotels außer Kraft setzte, dann verließ er das Hotel durch einen Notausgang.

Reznick kam mit Luntz an der Rückseite des Gebäudes heraus. Er ging fast einen halben Block weiter, bis er an eine schmale Seitenstraße kam, in der ein Mercedes parkte. Er betätigte den Hightech-Schlüsselanhänger, der die Zentralverriegelung, die Wegfahrsperre und die Alarmanlage des Autos deaktivierte.

Reznick öffnete die hintere Tür, setzte den schlafenden Luntz auf die Rückbank und schnallte ihn an. Er stieg auf der Fahrerseite ein und sah im Handschuhfach nach. Nichts. Er drückte auf den Schalter am Schlüsselanhänger und der Wagen erwachte schnurrend zum Leben.

Reznick fuhr langsam los, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und tippte die sichere Nummer von Maddox auf dem Handy des Toten ein. »Ich bin unterwegs«, sagte er. »Die Übergabe ist aufgeflogen. Jemand oder etwas hat uns verpfiffen. Ich wiederhole, wir sind aufgeflogen.«

Maddox blieb einige Augenblicke lang still. »Ist die Zielperson in Sicherheit?«

»Ja, er ist in Sicherheit. Ich hatte Sichtkontakt zu einer dreiköpfigen Crew. Zwei Männer und eine Frau. Einer der Männer ist tot. Ich rufe von seinem Handy aus an.«

»Jesus.«

»Wollen Sie die Daten vom Telefon herunterladen?«

»Wir sind schon dabei.«

Reznick zückte wieder den Anhänger und legte einen kleinen Schalter an der Seite um, damit niemand das Fahrzeug über das GPS des Telefons verfolgen konnte. »Also, was ist mit den beiden Typen passiert, die Sie geschickt haben?«

Ein langer Seufzer. »Sie wurden ausgeschaltet. Die ganze Sache ist im Eimer. Fahren Sie zum üblichen Safehouse.«

Dann war die Leitung tot.

Kapitel 4

Der Gulfstream-Jet flog in einer Höhe von vierzigtausend Fuß, als er über der Ostküste den amerikanischen Luftraum erreichte. Die stellvertretende FBI-Direktorin Martha Meyerstein – Leiterin der Abteilung zur Abwehr von Kriminalität und Cyberverbrechen (CCRSB) – war als einziges Mitglied ihres Teams wach. Sie schaute sich in der Kabine um. Die anderen schliefen auf dem langen Flug von Dubai nach Hause ein wenig.

Auf ihrem BlackBerry überflog Meyerstein die erste E-Mail des Morgens – von der Direktorin, die einen Fortschrittsbericht zu einer laufenden Untersuchung über öffentliche Korruption im Zusammenhang mit einem kalifornischen Senator, Lionel Timpson, anforderte. Sie musste bis zum Ende des Tages antworten. Noch etwas für ihre Ablage.

Sie legte ihr Handy auf einen Stapel von Geheimdienstunterlagen auf den leeren Sitz neben ihr. Dann lehnte sie sich zurück und starrte aus dem Fenster auf das weiße Stroboskoplicht an der Flügelspitze.

Nach der Cybersicherheitskonferenz hatte ihr Geist noch nicht abgeschaltet.