Harriet Wolfs siebtes Buch der Wunder - Julianna Baggott - E-Book

Harriet Wolfs siebtes Buch der Wunder E-Book

Julianna Baggott

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Beschreibung

Harriet Wolf, eine gefeierte Bestsellerautorin, veröffentlichte einst sechs Bücher, die die Welt verschlang. Nach ihrem Tod wird gemunkelt, dass ein geheimes siebtes Manuskript existiert, das die in den sechs Romanen erzählte Liebesgeschichte zu einem romantischen Ende bringe. Erzählt von Enkelin Tilton, ihrer ungleichen Schwester Ruth sowie Eleanor, der Mutter der Mädchen, eröffnet sich dem Leser eine außergewöhnliche Familiengeschichte dreier Generationen von Frauen. Das Herz ist die Lebensgeschichte der Großmutter Harriet, die in den Romanen ihre eigene große tragische Liebe verarbeitete. Wird Tilton das Manuskript des verschollenen letzten Romans aufzuspüren und damit das Geheimnis um ihren unbekannten Großvater lösen?

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Seitenzahl: 470

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Zum Buch

In der Nähe von Baltimore, an der Ostküste der USA: Harriet Wolf, eine gefeierte Bestsellerautorin, veröffentlichte einst sechs Bücher, die die Welt feierte. Nach ihrem Tod wird gemunkelt, dass ein geheimes siebtes Manuskript existiert, das die in den sechs Romanen erzählte Liebesgeschichte zu einem romantischen Ende bringe. Erzählt von Enkelin Tilton, ihrer ungleichen Schwester Ruth sowie Eleanor, der Mutter der Mädchen, eröffnet sich dem Leser eine außergewöhnliche Familiengeschichte dreier Generationen von Frauen. Das Herz ist die Lebensgeschichte der Großmutter Harriet, die in den Romanen ihre eigene große, tragische Liebe verarbeitete. Wird Tilton das Manuskript des verschollenen letzten Romans aufspüren und damit das Geheimnis um ihren unbekannten Großvater lösen?

Zur Autorin

JULIANNA BAGGOTT ist Autorin verschiedener Romane, viele davon »New York Times«-Bestseller. Ihre Essays wurden unter anderem in der »New York Times«, der »Washington Post« und dem »Boston Globe« veröffentlicht. Sie unterrichtet an der Filmhochschule in Florida.

Julianna Baggott

Harriet Wolfs siebtes Buch der Wunder

Roman

Aus dem Englischen von Astrid Mania

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Harriet Wolf’s seventh book of wonders« bei Little Brown, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2018,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Julianna Baggott

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Shutterstock/Eric Isselee; Ola-la; Pakhnyushchy

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-18096-6V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

»Was ist dann mit deiner Mutter geschehen?«, wollte Daisy von ihm wissen.

»Sie hat ihrem Herzen Luft gemacht«, erwiderte Weldon. »Sein Wandel hat sie aufgezehrt.«

»Und am Ende war sie glücklich«, sagte Daisy.

Aus: Erbarmungslose EngelVon Harriet Wolf

Harriet Wolf mit dem Mann, der vermutlich Epitt Clapp ist (Datum unbekannt). Fotografie im Besitz des Isley Wesler Antiquitäten-Museums.

1

Das Baby, das zweimal geboren wurde

Harriet

Die Geschichte geht wie folgt: Ich war eine Totgeburt – zumindest hat man meiner Mutter das erzählt.

Laut unserem Arzt, dem guten alten Dr. Brumus, kam von mir kein Schrei. Nicht einmal zu diesem anfänglichen Reflex war ich imstande. Ich war stumm und bleich und Bluterin schon damals, in jedem Nasenloch ein roter Tropfen. Stellt euch meine vollkommen erschöpfte Mutter vor – eine Heilige, irischstämmig und katholisch –, die gespreizten Beine schlaff unter dem blutverschmierten Laken, zwei fahlen Knochenflügeln gleich.

Man schrieb das Jahr 1900. Die Welt veränderte ihr Antlitz: Auf der Pariser Weltausstellung bewegte sich der Bürgersteig, Freuds Traumdeutung erschien, und in Borough Hall, Manhattan, grub man einen Tunnel für die U-Bahn. In unserem Haus jedoch, nahe der Chesapeake Bay, nicht fern von Baltimores Betriebsamkeit – mit seinen Fischfabriken und den Stahlwerken, dem Hafen voller ächzender Dampfschiffe, den Wohnkasernen, in denen es vor Typhus nur so wimmelte –, gab es wenig, was die Medizin für meine Mutter oder mich hätte tun können. Der Wissenschaft waren Grenzen gesetzt.

Trotzdem schien es, zumindest für den Augenblick und angesichts der Tatsache, dass der – atemlose und stetig überlastete – Doktor meine Mutter bereits von drei stillen Babys entbunden hatte, als ob er endlich einen kleinen Sieg errungen hätte. Und dennoch war er auf der Hut und blinzelte, als würde ihn die Sonne blenden, sogar in der dämmerigen Stunde meiner Geburt, während Mücken an seinem Ohr vorübersirrten. Brumus wusste aufgrund meiner blutenden Nase und meiner fahlen, zart behaarten Haut, dass etwas nicht in Ordnung war. Er wickelte mich in eine Decke – obwohl der Sommer draußen dampfte. Dann stürmte er wie ein alternder Football-Captain mit mir die Treppe zur Veranda hinunter, wo mein Vater, der Banker, auf und ab schritt. Dr. Brumus präsentierte mich und überbrachte ihm die Botschaft: »Es ist nicht gesund.« Ich war noch kein Mädchen. Noch hing ich vor meinem Vater in der Luft, ein verlorenes Pronomen, und es sollte Jahre dauern, bis mein Vater ein reales Kind in mir sah.

»Nein, es ist nicht gesund«, stimmte ihm mein Vater zu, der so etwas angesichts der drei vor mir Verlorenen mit einiger Wahrscheinlichkeit erwartet hatte.

»Es lebt womöglich gerade lange genug, dass sie sich daran bindet«, sagte Dr. Brumus, nun den Tränen nahe.

»Die Mutter selbst ist nicht gesund«, sagte mein Vater. »Mary mit ihren dunklen Stimmungen. Du kennst sie. Solch eine Bindung und dann der Verlust, das würde sie nicht überstehen.«

Dr. Brumus versuchte, mich meinem Vater in den Arm zu legen. Sein Gesicht schob sich über mich, die Nase breit und scharf, ein kantiger Kotflügel, auch wenn er mit seiner straffen, rosigen Haut und dem glänzenden Haar insgesamt jung und attraktiv war. Was er sah, gefiel ihm nicht. »Nimm es mit.«

Dr. Brumus leitete die Maryland-Schule für Schwachsinnige Kinder, die in einem Owing Mills lag, in das sich Baltimore noch nicht ergossen hatte. Mein Vater setzte darauf, dass ich nicht durchkam – aber was, wenn doch? Bat er Dr. Brumus, mir Vater zu sein, oder wenigstens mein Vormund? Die beiden kannten sich seit Kindertagen.

»Jackie«, sagte Dr. Brumus. Dieser Kosename kam eigentlich nur dann zum Einsatz, wenn Dr. Brumus einen Scotch mit Soda getrunken hatte und er und seine Lider schlaff wurden. Doch in der Verfassung war er nicht. Seine Augen irrten wild umher. »Ich kann das Baby nicht mitnehmen …«

»Du hast gesagt, dass es nicht überlebt. Du hast es gesagt!« Plötzlich war mein Vater ein kleiner Junge, mit feistem, schwitzigem Gesicht.

»Wo ist das Baby?«, kam die Stimme meiner Mutter aus dem offenen Schlafzimmerfenster über der Veranda, mit schwerem irischen Akzent. Sie war zu erschöpft, dagegen anzukämpfen. Es klang wie ein Ruf aus dem Schilf, einem Moor, in dem der Nebel schwelt.

Mein Vater schüttelte den Kopf und flüsterte dem Doktor scharf ein »Nein« zu.

Dann schritt mein Vater die Treppe hinauf und an der stockfleckigen Tapete vorbei in ihr Schlafzimmer. »Nein«, sagte er zu seiner Frau in der ihm eigenen Sprachmelodie. Wollte er ihr vorsingen? »Liebling, nein.«

Und so war ich, für meine Mutter, tot.

Und doch war da ein Baby. Und dieses andere Baby mit dem schwachen Puls wurde eingepackt und weggebracht, damit es sein anderes Leben in der Maryland-Schule für Schwachsinnige Kinder beginnen konnte.

Im Verlaufe von wenig mehr als einem Jahrzehnt würde aus diesem Kind ein vermeintliches Wunderkind werden, und, wichtiger noch, es würde Eppitt in der Wäscherei entdecken und ihn zu sehr lieben. (Noch habt ihr Eppitt nicht kennengelernt, meine Lieben, doch das werdet ihr.) Und dann würde ebenjenes Kind seinen Weg hierher zurückfinden – zu dieser Veranda, zum Bett seiner Mutter.

Manche unter uns werden tot geboren, manche werden nie geboren und andere einen jeden Tag aufs Neue – als würde man ihnen über Nacht neue Augen schenken –, was die beste Art zu leben ist.

Ich hoffe, ihr werdet am Ende verstehen, warum ich all das über all die Jahre verleugnet habe. Liest du das, meine Eleanor? Meine Ruthie? Meine liebe Tilton? Erfassen eure Augen diese Worte, verbindet ihr sie miteinander, seht ihr, dass mein Leben sich auf dieser Seite sammelt? Seid ihr bei mir?

Ich wünsche mir noch immer den Schleier der Fiktion herbei, die Werkzeuge, um an den Einzelheiten zu schrauben und zu spielen, um mir vorzumachen, dass ich über ein anderes Baby, eine andere Mutter, ein anderes Leben schreibe. Zumindest wünschte ich, es wäre insgesamt erbaulicher. Doch was habe ich aus der Niederschrift des Lebens von Weldon und Daisy gelernt, meiner beiden Charaktere? Es gibt keine Liebe ohne Kummer und keine Wunder ohne die Verzweiflung.

Nun denn. Hier meine Verzweiflung.

2

Es war einmal ein Flugzeugabsturz

Eleanor

Mein Krankenzimmer, das so schwach beleuchtet wird, als läge ich bei Nacht in einem Kinderzimmer, ist nur halb privat. Ich teile es mit einer gewissen Opal Harper, die wohl an irgendeiner Form von Demenz leidet, aber doch begriffen hat, dass meine Mutter Harriet Wolf war, Trägerin dieses Literaturpreises und jener Auszeichnung – des Guggenpulitzheimers, wie ich es nenne. Eines dürfen Sie mir glauben: Dem Kind eines literarischen Genies ist »literarisches Genie« egal. Und doch verfolgt es mich. Der Gefäßarzt hat mir gleich erzählt, dass seine Mutter eine signierte Erstausgabe hat. Und auch zwei Krankenschwestern meinten, es sei sicher interessant gewesen, bei einer berühmten Autorin aufzuwachsen, die noch dazu in Abgeschiedenheit lebt.

Und jetzt will Opal Harper schon wieder, zum fünften oder sechsten Mal, über die Bücher meiner Mutter sprechen, ungeachtet der Tatsache, dass ihr Gesicht halbseitig gelähmt ist. Sie platzt mitten in das sanfte Piepen der Maschinen und das Geplauder der Krankenschwestern auf dem Flur hinein: »Habe ich Ihnen schon gesagt, wie viel mir Daisy Brooks und Weldon Fells bedeuten?« Die Konsonanten leiden unter dem sonderbaren Mahlen ihres halbseitig gelähmten Kiefers.

»Ja«, sage ich. »Viele Male.«

»Aber habe ich Ihnen auch schon erzählt, wie einsam ich als Kind war?«, fragt sie mich. »Ich bin bei einer alten Tante aufgewachsen, deren Herz an Katzen und Büchern hing. Die Bücher haben mich gerettet. An Katzen liegt mir nichts.« Und dann schildert sie mir ihre Kindheit, die, das gestehe ich ihr zu, wirklich trostlos war. Sie ist in Oklahoma, außerhalb von Tulsa aufgewachsen. Als Teenager hatte sie sich den Büstenhalter ausstopfen müssen. Und ihre Tante hatte ihr nicht einmal die Nissen ausgekämmt, sodass Opal ein ganzes Jahr lang von Läusen geplagt worden war.

Dennoch setze ich mich während ihres Redeschwalls auf und wiederhole im Geiste meine kurze, über Jahre erprobte Ansprache an die tollwütigen Fans von Harriet Wolf – die eingefleischten Leser, die Journalisten, Studenten, Professoren und seltsam elegischen Damen der Harriet-Wolf-Gesellschaft – mit ihrem Brodem der Verzweiflung.

Sie lautet in etwa so: »Haben Sie kein Leben? Haben Sie kein Problem mit Ihrer Mutter, das Sie lösen müssen? Können Sie nicht wenigstens aus einer fürchterlichen Ehe ausbrechen? Gibt es denn nichts, gar nichts, was Sie für die Gesellschaft tun könnten? Machen Sie sich nützlich!«

Das Ganze wird entsprechend angepasst, wenn die Kinder aus der Nachbarschaft frech an unsere Haustür klopfen, weil sie einen Aufsatz schreiben müssen.

Opal Harper jedoch ist nicht stabil. Würde ich mir je verzeihen, wenn sie nach einer solchen Ansprache stürbe?

Sie sagt: »Daisy und Weldon waren meine Rettung! Daisy war so einsam. So ungeliebt, und dafür habe ich sie geliebt. Ich wollte sie sein.«

Unglücklicherweise weiß ich, was sie meint. Daisy Brooks, die Heldin aus den sechs Büchern meiner Mutter, hätte niemals zugelassen, dass ein Mann wie George, mein Exmann, sie verlässt. Nein, sie hätte sich darauf verlassen, dass George sie rettet, und in einen See gestürzt. Und George hätte seine Daisy Brooks gerettet, die selbstverständlich betrunken gewesen wäre, und der Wind hätte über ihr durchnässtes, zerfetztes Kleid hinweggespielt. Danach hätten sie die Blumen gegessen, die in ihrem Garten stehen – natürlich nur die ungiftigen –, sich dabei erneut verliebt, wie so oft, und mit ihren hölzernen Schlägern Tennisbälle himmelwärts geschlagen, um die Fledermäuse hervorzulocken. Daisy hätte George überredet, die Wohnzimmermöbel hinaus in den Garten zu tragen, und dort hätten sie gelebt, selbst bei Regen oder Schnee.

Aber so etwas funktioniert nur in den Büchern meiner Mutter. Ich mag erdichtete Geschichten nicht. Meine Mutter hat die Wirklichkeit benutzt. Sie hat sie ausgeschlachtet und aus den Einzelteilen unwahre Erzählungen geschweißt, was in meinen Augen so fahrlässig wie selbstsüchtig ist.

Opal zieht den Vorhang beiseite, die Haken kreischen über die Metallstange, und ich fühle mich schlagartig bloßgestellt, was mir seit meinem Herzinfarkt, der bedauerlicherweise in der Quasi-Öffentlichkeit stattgefunden hat, häufiger passiert. Ich hatte, um genau zu sein, die halbe Nachbarschaft als Zeugen. Alle haben in der heißen Sommersonne zugesehen, als hätten sie nichts Besseres zu tun. Und meine Lage war kompromittierend. Selbst meine arme, liebe Tilton musste es mit ansehen. Sie ist zwar dreiundzwanzig, doch in vieler Hinsicht noch ein Kind, mit all ihren Leiden, und ich fürchte, das Ganze hat ihr Schaden zugefügt! Als Resultat dieses Vorfalls sehne ich mich nach Privatsphäre.

Doch ich reiche nicht bis an den Vorhang, und Opals Gesicht fasziniert mich wirklich – die eine steife Wange mit ihrem roten Glanz des Bluthochdrucks und der Aufgedunsenheit der Diabetes. Gut möglich, dass sie als Kind sehr hässlich war. Es lässt sich schwer beurteilen.

»Ich habe die Bücher mit zwölf zum ersten Mal gelesen, das war viel zu früh«, erklärt sie mir. »Doch mir war klar, dass sie mich nie mehr loslassen würden. Mit vierzig habe ich sie zum zweiten Mal gelesen, und du liebe Güte!«

Ich selbst habe sämtliche Bücher meiner Mutter innerhalb eines einzigen Sommers gelesen, mit vierzehn: Zarte Pflänzchen, Lass ziehen den Tag, Erbarmungslose Engel, Das geschröpfte Herz, Ein Heim für die Ermatteten und Der Verwalter unserer irdischen Bedürfnisse. Ein Teil davon war damals schon erschienen, die anderen waren erst Manuskripte, die sich in Kartons in ihrem Schlafzimmerschrank stapelten. Ich habe sie ohne ihr Wissen gelesen. Meine Mutter hatte ihr erstes Buch 1947 an einen Verleger geschickt. Zu dem Zeitpunkt waren alle sechs bereits vollendet. Die Handlung, die sich durch die gesamten Romane zieht, ist simpel: Die beiden Hauptfiguren, Daisy und Weldon, sind abenteuerhungrige junge Menschen, die sich als Kinder ineinander verlieben. Krieg und Katastrophen, höhere Mächte und Irrungen des Herzens trennen sie. Als sie endlich wieder zueinanderfinden, ist dies voller Leid. In Buch sieben hätte sich entscheiden sollen, ob die Reihe als Tragödie oder Liebesgeschichte angelegt war, ob die Menschheit letzten Endes gut oder dem Untergang geweiht ist.

Die Serie ist unkonventionell, um nicht zu sagen einzigartig, weil meine Mutter die Bücher so geschrieben hat, dass die Leser mit den Charakteren altern können, so als ob Daisy und Weldon selbst die idealtypischen Leser wären, und dies jeweils in dem Alter, in dem sie geschildert werden. Auch das Genre ändert sich von Buch zu Buch. Der erste Roman ist ein Kinderbuch, voller Märchen und sprechender Tiere, doch inmitten des zweiten Buchs, als Daisy und Weldon heranwachsen, wird die Geschichte düsterer und surrealer. In Erbarmungslose Engel treten Daisy und Weldon als Jugendliche auf, es ist ein apokalyptischer Roman, die dystopische Erzählung einer dem Untergang geweihten Gesellschaft aus korrupten Erwachsenen. Im nächsten Buch, Das geschröpfte Herz, bewegt sich der Stil in Richtung Realismus, da sind beide Anfang zwanzig, doch als sie die Dreißig hinter sich lassen, verlieren und verwischen sich die Zeitebenen, verschmelzen die Erzählperspektiven. Typisch Modernismus, habe ich mir sagen lassen. Als Daisy und Weldon in Ein Heim für die Ermatteten in mittlerem Alter sind und die Jahre in Der Verwalter unserer irdischen Bedürfnisse voranschreiten, wird die magische Kindheit wieder sehr lebendig, ist die Gegenwart voller absurder Wendungen. Nun tritt sogar eine Autorin auf, und diese Autorin heißt selbstverständlich Harriet Wolf! Harriet spricht mit Daisy und Weldon und fragt sie hier und da, was sie von ihr wollen. Niemand wusste, was man von ihrem siebten Buch erwarten sollte – hinsichtlich Inhalt und Genre. Als der Ausdruck »postmodern« erfunden wurde, waren ihre Bücher längst Klassiker. Sie wurden im Verlauf nur eines Jahrzehnts veröffentlicht, aber am besten liest man die Bücher während eines Lebens, wenn man jeweils im Alter der Hauptfiguren ist; meine Mutter wollte, glaube ich, dass sie so gelesen werden. Sie hätte das siebte und abschließende Buch der Wunder-Serie, wie die Romane bald genannt wurden, in den letzten Jahren ihres Lebens schreiben sollen.

Nachdem ich die Romane gelesen hatte, habe ich sie zurück in ihre Schachteln gelegt und niemals wieder angerührt. Ich konnte sehr wohl würdigen, dass meine Mutter eine Avantgardistin war, wenn auch unwillentlich, doch in ihren Büchern kommen für meinen Geschmack viel zu viele Charaktere vor, die für die Liebe alles getan hätten, und auch zu viel Gram und Wahn. In einem der späteren Bücher presst ein hilfloser Weldon seine Hand an ein großes gläsernes Wasserbecken, in dem Daisy mit einem weißen Pferd gefangen ist, das um sie herum schwimmt, dann löst sich ihr Rock allmählich auf und verwandelt sich in das Schillern eines Quallenleibs.

Außerdem, was wusste meine Mutter von der Liebe und dem Leben? Es hatte nie einen Ehemann gegeben. Es hatte sie auch nie sonderlich oft aus dem Haus gezogen, doch im Winter 1950 hatte sie die Lesereise für ihr zweites Buch, Lass ziehen den Tag, nach einem sonderbaren Vorfall bei einer Signierstunde in New York – sie war unter Tränen nach draußen in den Schnee gelaufen – abgebrochen und sich ganz zu Hause eingeschlossen.

»Was ist mit dem siebten Buch?«, fragt Opal in drängendem Flüsterton, ihre Augen glänzen im Licht der Geräte. »Wissen Sie in Wahrheit, wo es ist, aber verraten es nicht?«

Warum bin ich gezwungen, meine Mutter ständig mit anderen zu teilen? Bis heute kommen Menschen, die mich auf der Straße sehen, mit kleinen literarischen Verweisen auf mich zu. »Wir fahren alle nur im Kreis!«, heißt es dann. Oder: »Wenn man wirklich lebt, überwältigt Schönheit genauso wie Trauer.« Mehr als einmal habe ich ihnen einen herzlichen Stinkefinger gezeigt.

Wenn meine Mutter das siebte Buch wie vorgesehen publiziert hätte, wäre die Reihe abgeschlossen und stünde nun auf staubigen Regalen in den Büchereien, so aber bläht sich das Geheimnis immer mehr auf. So berühmt meine Mutter auch für ihre Bücher ist, noch berühmter ist sie für das Buch, das nie erschienen ist. Mich peinigt diese Ironie, denn ich traue ihr zu, dass sie sich das ausgedacht hat, als Coup, um uns alle noch ein wenig länger in den Bann zu schlagen. Selbst jetzt, Jahre nach ihrem Tod, muss ich sie mit Wildfremden teilen!

»Ich weiß nicht, wo das Buch ist«, sage ich zu Opal.

»Verstehe«, erwidert sie geschlagen. Und da ist sie wieder, die Last, die ich zu tragen habe: Ich enttäusche.

In Wahrheit hat Harriet das siebte Buch Dutzende Male geschrieben. Nachdem ich in das mütterliche Heim zurückgekehrt war – in das Haus mit dem Schlafzimmer, in dem meine Mutter einst geboren wurde –, meine beiden Töchter im Schlepptau, bezwungen von meiner gescheiterten Ehe, habe ich meine Mutter mit Papier, frischer Tinte und Streichhölzern versorgt. Wenn ich ihr die Streichhölzer verweigern würde, hatte sie gesagt, würde sie die Seiten aufessen. Sie hat jeden Tag geschrieben und jede einzelne Seite auf einen kleinen Aschehaufen reduziert, der im Papierkorb neben ihrem Schreibtisch landete.

Ein Journalist der New York Times hat einmal einen Artikel über die hundertfachen Stellvertreter-Siebtes-Buch-Bücher verfasst, die zu Ehren Harriet Wolfs geschrieben worden sind, allen voran von den Mitgliedern der Harriet-Wolf-Gesellschaft. Meiner Mutter, so seine Mutmaßung, hätte das gefallen. Wir hatten kurz telefoniert, und so schrieb er: »Wolfs Tochter, Eleanor Tarkington, unter Literaturwissenschaftlern als Gatekeeper bekannt, gilt als notorisch unzugänglich, wenn es um die Frage nach dem vermeintlich letzten Band ihrer Mutter geht. ›Wer weiß? Vielleicht taucht er eines Tages auf‹, hieß es nun in einem von Tarkingtons seltenen Interviews.«

Das bin ich auch: notorisch unzugänglich.

Nach dem Tod meiner Mutter hatte die Historische Gesellschaft angefragt, ob sie eine kleine Gedenktafel neben der Haustür anbringen dürfe. Ich hatte eingewilligt, vielleicht hatte mich der Tod meiner Mutter zermürbt – oder ich war es einfach leid, ständig zu enttäuschen. Die Tafel war aus Bronze und recht ansehnlich. Und sie verdeckte die Löcher eines früheren Schildes. Doch bevor sie Patina annehmen konnte, habe ich sie abmontiert. Als die Mitglieder der Historischen Gesellschaft Jahre später wiederkamen, um meiner Mutter zu huldigen, habe ich ihnen die Tafel in einer Schachtel überreicht. Warum sollte ich das Haus meiner Mutter – den potenziellen Friedhof ihres siebten Buches – jedem Irren preisgeben?

In diesem Jahr, dem ersten des neuen Millenniums, hatte mich die Harriet-Wolf-Gesellschaft zu einer besonderen Gala im Rahmen ihrer Jahreskonferenz gebeten, »zur Einhundertjahrfeier von Harriet Wolf«. Mir ist die Art und Weise, wie sie meine Mutter lieben, so zuwider. Fast wäre ich auf das Getue hereingefallen; ich hätte beinahe schon geglaubt, dass ich an meiner Mutter etwas unwiderstehlich Liebenswertes übersehen habe – etwas, das sich nur Fremden aus der Ferne zeigt. Liebe auf Weitsicht.

Doch ich bin weiß Gott auch dankbar. Als George uns verlassen hat, hat meine Mutter mich und die Mädchen aufgenommen, und von den Tantiemen ihrer Bücher leben wir bis heute – und selbstverständlich hamstere ich.

»Gesamt«, flüstert Opal leise. »›Gesegnet‹ und ›verdammt‹ wird zu ›gesamt‹. Wie lautet die Zeile noch?«

Sie spielt auf ein Gespräch zwischen Daisy und Weldon an, bei dem beide in einem Kanu sitzen, ein Moment, der vielen als der wichtigste in den Büchern meiner Mutter erscheint. »Ich habe die gesammelten Werke von Harriet Wolf nicht auswendig gelernt!«, fauche ich. »Ich habe gelebt.«

»Oh«, sagt Opal. »Tut mir leid. Ich hatte nicht die Absicht …«

»Niemand hat die Absicht!«, erwidere ich und knurre dann: »Und bitte schließen Sie den Vorhang!«

Wieder ist da ihr Gesicht, halb Schmachten, halb Schmollen. Dann erscheint ein dicker Arm, der heftig an dem Vorhang zerrt. Weg ist sie.

Ich schließe die Augen und spüre das Gewicht der Dunkelheit – die Schwerkraft drückt mich auf das Bett. Der Rhythmus der Maschinen klingt wie leises Ächzen. Unwillkürlich denke ich an Tilton, die so schnell außer Atem ist. Ist sie allein zu Hause? Oder hat sie es nach nebenan zu Mrs Gottleib geschafft? Ich traue Mrs Gottleib nicht, auch wenn sie mir vor vielen Jahren versprochen hat, mir in Zeiten der Not beizustehen. Doch bleibt mir eine Wahl?

Tilton war ein blasses kleines Mädchen mit feinem weißem Haar, das ihr büschelig über die Ohren hing. Bis heute ist sie fahl und keuchend, mit Asthmatikerbrust und einer Anfälligkeit für Blutergüsse, Allergien, Schwindel, Kurzsichtigkeit, Reiseübelkeit und unerklärliche Fieberschübe. Ich darf mich selbst dafür loben, dass ich ihr eine Laktoseintoleranz diagnostiziert habe, bevor ich je davon gehört hatte. Gegenüber der Sonne ist sie unglaublich empfindlich. Als Kind habe ich sie derart mit Sonnenmilch beschichtet, dass sie den ganzen Sommer lang wie frisch lackiert geglänzt hat. Ich habe sie vor ihren Nahrungsmittelallergien bewahrt – Nüsse und Erdbeeren. Außerdem neigt sie zu Ausschlägen. Wird sie von einem Insekt gestochen – und wir reden nicht einmal von Bienen – schwillt die Haut rings um den Stich herum an und wird unglaublich empfindlich. Die Mücken lieben sie. Darum musste ich neben der Sonnenmilch immer auch ein Mückenspray benutzen – am Ende war ihre Haut selbst so dünn und brüchig wie Insektenflügel. Letztlich war es einfacher, sie, wenn sie an die frische Luft musste, hinter ein Fliegengitter auf die Veranda zu setzen.

Und dann ist da ihre Denkweise, eine seltsam ferne Welt, die sich dem Verständnis eines jeden Außenstehenden entzieht. Das große Ganze interessiert sie nicht. Ihre Welt besteht aus kleinen Teilen einer größeren Maschinerie – aus Blumen, Vögeln, Grillöfen.

Trotz – oder vielmehr wegen – all ihrer kleinen Gebrechen und Bedürfnisse liebe ich sie von ganzem Herzen.

Wir alle haben doch unsere eigenen Gebrechen und Bedürfnisse und Tragödien, liebe Opal Harper, ersparen Sie mir Ihre! Auf mir lastet die Tragödie meiner Kindheit – der leere Blick der Vaterlosigkeit. Nur hieß das bei uns nicht Tragödie, weil sich meine Mutter prinzipiell geweigert hat, über meinen Vater zu sprechen, der doch in irgendeiner Form existiert haben muss. Und so konnte ich das, was meine Tragödie war, nie für mich beanspruchen.

Ich hatte mir geschworen, meinen Töchtern solch ein Schweigen nicht zuzumuten. Als unsere Tragödie eingeschlagen hat, habe ich die Gelegenheit ergriffen und daraus unsere Gutenachtgeschichte gemacht, unsere einzige. Ich habe sie im Laufe der Jahre so viele Male erzählt, dass sie mittlerweile wie in Marmor vor mir steht – als ihr eigenes Denkmal. Ich habe meinen Töchtern immer wieder gesagt: »Der Mensch wird von Tragödien geformt, und dies ist unsere.«

Und schon rattert der Projektor, leuchten in der dunklen Kammer meines Hirns die Bilder auf. Ohne die Worte, die der Geschichte ihre Gestalt verleihen, verliert sie ihren mythischen Charakter. Sie reißt sich los, sie flattert wild davon. Erinnerungen lassen sich nur schwer in Bahnen lenken. Da ist die brennende Zigarre, das dampfende Triebwerk des Flugzeugs auf der Straße, der Koffergriff zu meinen Füßen. Meine Brust taumelt unter all der Medizin, die mein Herz einlullen soll, doch mein Geist geht unbeirrt ans Werk.

Ich sehe mich als junge Mutter mit brauner Betonmähne und übergroßer Brille auf dem Rücksitz, auf den Knien einen Topf, meinen Beitrag zu einem Büfett, die Reste lasten schwer auf mir. Wir kommen aus Elkton, Maryland, der Nachbarstadt unseres damaligen Wohnorts Newark, Delaware. Die Straße zieht sich glatt und schnurgerade zwischen beiden Städten her. Neben mir ist Tilton – Baby Tilton – in den Sitz geschnallt, eine Art Kinderbett mit Stangen, das ich selbst gebaut und zweifach ausgepolstert habe. Die siebenjährige Ruthie ist zu meiner Rechten angegurtet, auf dem Kopf Georges alten Footballhelm, entsprechend für sie ausgefüttert, falls sie bei einem Unfall mit dem Kopf gegen Wagentür oder Fenster schlagen sollte.

George sitzt vorn am Steuer, ganz allein. Er hat, auf mein Drängen hin, das Fenster einen Spalt geöffnet und bläst seinen Zigarrenrauch in die kalte, regnerische Nacht. In dem Moment heult Ruthie auf, beharrlich schrill wie ein Wasserkessel.

»Das ist dieser Helm!«, ruft George. Er hasst den Helm. Er ist der Meinung, ich würde die Kinder erdrücken. Ist es Eifersucht? Habe ich ihn zu Beginn unserer Beziehung zu sehr angehimmelt? Vielleicht habe ich nach Ruthies Geburt zu knirschend in einen anderen Gang geschaltet. George hat seine Zigarre, ein Stummel nur noch, in den Mundwinkel geschoben. Aus dem anderen ruft er nun: »Ich halte das Geschrei von diesem Kind nicht aus!«

Der kühle Luftzug gefährdet Tiltons sensible Atemwege. Ich schiebe eine Hand durch die Stangen und ziehe die Decke bis zu ihrem kleinen Knubbelkinn. »Ruthie weint nicht wegen ihres Helms«, sage ich. »Sondern wegen der Zigarre! Bei kleinen Kindern lässt Rauch die Lunge verkümmern!« Es ist zweifelsohne Luftverschmutzung, jeder Raucher ein Fabrikschlot. Ich versuche, Ruthie zur Vernunft zu bringen, und rufe über ihr Geschrei, das immer greller wird, hinweg: »Was, wenn wir einen Unfall haben, Ruthie? Und du stirbst, weil du dir den Kopf am Fenster aufschlägst? Das willst du doch nicht, oder?«

Ruthie gibt Ruhe, doch dann, immerzu auf Widerspruch gebürstet, nickt sie. Der übergroße Helm rutscht hin und her. »Doch!« Sie würde lieber sterben. Sie funkelt mich – durch dicke Ponyfransen – an, rutscht tiefer in den Sitz und schreit noch lauter.

Ich bin machtlos. Sie ist so ein verdrießliches Geschöpf, der geborene Tyrann, der in mir von Anfang an sein erstes Opfer gesehen hat. Jedes Mal, wenn ich zu etwas Nein sage, muss ich sie im Auge behalten, denn sonst rennt sie ins Badezimmer und pinkelt auf die rosa Matte neben der Kommode. Sie gerät nach George. Die beiden im Verein würden mich fertigmachen – das sagt mir mein Gefühl. Doch wieso? Ich will meine Familie doch nur vor den Gefahren dieser Welt beschützen, sie dem Tod mit seinem gierigen Lauerblick entziehen.

»Ist die Zigarre endlich ausgeraucht?«, rufe ich.

George zerdrückt die Zigarre und schnippt den Stummel aus dem Fenster. »Bitte! Bist du jetzt glücklich? Ist irgendjemand hier in diesem Auto glücklich?«

Tilton. In meiner Gegenwart ist Tilton immer glücklich. Ihr Weinen ist ein leises Klagen, das sich leicht stillen lässt. Ich erinnere mich bis heute an ihre weichen Öhrchen, die im Gegenlicht geleuchtet haben, mit ihrer zarten Haut, den kleinen Äderchen, zwei rosa Wasserspeier rechts und links, und an die Verkrustungen auf ihrem Kopf, die ich so oft eingeölt und abgekratzt habe. Tilton, zahnlos, grinsend – sie hat mich geliebt, und das bedingungslos. Das war damals neu für mich. Nicht, dass meine Mutter mich nicht bedingungslos geliebt hätte. Das hat sie. Doch manchmal war es, als ob meine Mutter etwas an mir gesucht hätte – eine nie benannte Eigenschaft – die ich einfach nicht besaß. Meine Mutter hat mich trotz etwas geliebt. Was genau das war, habe ich nie herausgefunden.

Für mich war es ein vernichtender Abend gewesen. Aus dem Topf auf meinem Schoß kommt mir der strenge Geruch von saurer Sahne und Zwiebelsuppe entgegen. Warum hatten alle in meinem Essen nur höflich gestochert? Weil sie mich nicht mögen. Da war ich mir sicher. Auf diese Weise zahlen Frauen es sich heim – sie drücken ihre Geringschätzung über das Essen aus. Ich bin in geselligen Runden schon damals nicht zurechtgekommen. Ich wollte mich über Hautausschläge, gesundheitsgefährdende Putzmittel und das Gift in Apfelkernen unterhalten. Aber die anderen Frauen hatten an solchen Problemen kein Interesse, sie waren immer voll und ganz damit beschäftigt, sich an ihren Kindern zu erfreuen – als ob das alles ein harmloses Spiel wäre, das reine Entzücken, etwas für den rosa Bilderrahmen, zum Dahinschmelzen. Sie alle hatten offenbar den immer gleichen Refrain zu einer heiteren Musik im Kopf. Selbst aus ihren Klagen klang eine unbändige Freude. Es schien, als wäre die Kindererziehung ein fröhlicher Chorgesang, nur ich kannte weder Text noch Melodie. Ich hatte immer nur den Drang, die anderen Mütter wachzurütteln: »Wissen Sie denn nicht, was auf dem Spiel steht? Was soll hieran niedlich sein? Das ist eine Frage von Leben und Tod!«

Entsprechend grässlich war die Party verlaufen. Während Ruthie ihrem Vater auf Schritt und Tritt gefolgt war, hatte ich mich, Tilton im Arm, auf die Terrasse verzogen und erklärt, sie brauche frische Luft. Bestimmt war sie gegen Rauch allergisch, und fast jeder rauchte – ein Zimmer voller Dreckschleudern. Lange konnte ich nicht mit ihr im Freien bleiben. Ihre körperliche Verfassung war nicht minder heikel, als ihre geistige es werden sollte. Ich hatte sie ins Badezimmer getragen, in ihre Windel geschaut und mir die Hände mit einer bedenklich schwer parfümierten Seife in Blumenform gewaschen. Ich war mit Tilton um das Büfett herumgeschlichen und hatte sehen müssen, wie andere Gäste über die Vorspeisen husteten. Ich hatte an einigen Drinks genippt, weil Alkohol eine desinfizierende Wirkung hat. Vielleicht war er mir ein wenig zu Kopf gestiegen. Vielleicht hatte ich mich deshalb auf der Heimfahrt in einen Streit mit George verwickeln lassen, denn eigentlich hatte ich immer versucht, das zu vermeiden.

Er spielt am Autoradio und springt in seiner Ungeduld schon gleich zum nächsten Sender, noch ehe ich den Song erkennen kann. Mittlerweile regnet es so heftig, dass es Ruthies Schreie übertönt. Aber George beschleunigt weder den Rhythmus der Scheibenwischer, noch drosselt er das Tempo. Wütend schaltet er das Radio aus.

»Fahr langsamer, George! Es regnet wie verrückt! Kannst du überhaupt was sehen?« Ich will ihm schon von dem Autounfall erzählen, über den die Zeitungen berichtet haben, doch dazu komme ich nicht mehr.

Ein Blitz durchschneidet den Himmel und wird zu einer Explosion. Einen gleißend hellen Augenblick lang brennt der Himmel. Obwohl ich selbst gar nicht gesehen habe, wie es passiert ist – anders als George es später von sich behaupten wird –, hat es sich mir eingeprägt: Durch die dunklen Wolken brummt ein Flugzeug, das von einem ungeheuer grellen Blitz getroffen wird.

»Scheiße! Verdammt!«, ruft George. Er tritt auf die Bremse. Auf der nassen Straße verlieren die Reifen die Haftung, das Auto schwimmt, schwerelos. Irgendwie gelingt es mir, Ruthie am Arm zu fassen und mich über Tiltons Bettchen zu werfen. Der Topf auf meinen Knien kippt.

Ein massiver Klotz aus brennendem Metall stürzt auf uns zu. Ein gewaltiges flammendes Triebwerk, das weniger stürzt, als dass es auf uns zu geschleudert wird. Es landet mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf dem Highway, ein Krater tut sich auf.

Irgendwann greifen glücklicherweise die Reifen wieder, das Auto kommt schleudernd zum Stehen. Wie weit waren wir vom Kraterrand entfernt? Hatten wir direkt vor dem Triebwerk gehalten? In meiner Erinnerung ist es so. Da sind so viele Einzelheiten – die Hitze, das Innenleben des zerfetzten Triebwerks, der prasselnde Regen, die Rauchschwaden. Wir standen Auge in Auge mit einem Untier – es schien beinahe lebendig –, einem wutschnaubenden Stier.

Ich mühe mich, Tilton aus ihrem Sitz zu befreien. Ich schnalle Ruthie los, dränge sie aus dem Wagen und presse Tilton an meine Brust. »Raus, raus!«, schreie ich. »Bevor uns jemand rammt!«

George öffnet die Fahrertür und geht auf das Triebwerk zu. Der Regen bohrt Löcher in sein Hemd. Er wendet sich langsam um und blickt über ein Maisfeld zu einem kleinen Haus, das zwischen Bäumen steht. Eine der Tragflächen ist abgerissen und in der Garage gelandet.

Ein alter Mann stürzt aus dem Haus, in einem Regenmantel, darunter ein Schlafanzug, und stolpert unbeholfen o-beinig durch seinen Garten. Er breitet die Arme aus, als ob er jemanden umarmen müsste.

Ich gehe mit George in das matschige Maisfeld. Ich habe Tilton zwar schon in eine Decke eingewickelt, doch sicherheitshalber schiebe ich sie unter meinen Mantel, einen Wintermantel, an dem der Regen abperlt. Ruthie windet ihre Hand aus meiner, läuft zu ihrem Daddy und greift nach seinem Arm.

Nun herrscht Stille. Eine seltsame Stille. Von oben schwebt ein weißer Drachen herab, er verfängt sich im Geäst eines fernen Baums. Ein Drachen? Ein seltsamer Moment dafür.

Der alte Mann ruft uns zu: »Haben Sie das gesehen? Haben Sie das gesehen?«

Ich aber schaue auf Tiltons Gesicht hinunter – auf ihren feuchten Mund, die runden Augen, die kleinen, zarten Atemwölkchen. Langsam macht das alles Sinn. Eine Katastrophe ist geschehen. Wir aber sind am Leben. Wir sind sicher und am Leben.

Und dann hebe ich den Blick. In dem Moment sehe ich den Koffergriff – an dem kein Koffer ist. Er liegt auf dem Boden, als ob der Koffer selbst darunter eingegraben, als ob dies der Griff zu einer Falltür wäre. So etwas gehört in die Romane meiner Mutter – ein Griff an der Erde, der Weldon und Daisy die Tür zu einer völlig neuen Welt eröffnen würde. Wirklich Sinn ergibt das nicht.

Dann funkelt etwas auf, gleich neben dem Koffergriff. Ich beuge mich vor und blinzele – eine strassbesetzte Schnalle.

»Sieh mal, George«, sage ich.

Er dreht sich um. »Eleanor, nicht«, sagt er zu mir. Seine Stimme ist so sanft – solch eine Zärtlichkeit hatte ich seit langer Zeit nicht mehr gehört.

Auch Ruthie ist überrascht. Ihr »Daddy?« klingt so fragend, als würde sie plötzlich zweifeln, dass er es wirklich ist.

Die Schnalle, so erkenne ich allmählich, sitzt an einem Damenschuh. Den vornehmen, hohen Schuh, schwarz und glänzend, hatte ich zuerst übersehen, ebenso den dunkel bestrumpften Fuß, der in dem Schuh steckt, und auch das Bein, das in blutigem Fleisch und rohem Knochen abrupt oberhalb des Knies endet.

Ich fasse mit der Hand an meine Brust und drücke Tilton ganz fest an mich. Ich lasse den Blick über das Maisfeld wandern, und nun zeichnen sich weitere Körperteile ab, verstreute Überreste. Am meisten erschreckt mich eine Hand, keine anderthalb Meter von mir entfernt, die auf der Oberfläche eines dunklen Sees zu ruhen scheint. Ich reiße mich von ihrem Anblick los und schaue in den Baum – zu dem Drachen. Es ist kein Drachen. Es ist ein Herrenhemd, wahrscheinlich stammt es aus einem Koffer im Gepäckbereich. Das Hemd ist feucht und schwer von Regen.

Nach und nach kommen Krankenwagen, Feuerwehr und Polizei. Ihnen folgen die Reporter – zerzaust und mit irrem Blick. Ein junger, pausbäckiger Polizist namens Stevenson führt mich gemeinsam mit Ruthie und Tilton quer über das Feld in das Wohnzimmer des alten Mannes, das auf der anderen Seite des Gebäudes liegt und nicht von der Tragfläche zerdrückt worden ist. Ein zweiter Polizist, älter und abgehärteter, nimmt George und den alten Mann zur Befragung mit zu seinem Wagen. Mir stellt Stevenson einige Fragen, dann geht er nach draußen zu den anderen Männern. Ich setze mich auf ein kariertes Sofa. Tilton schläft an meiner Schulter ein, Ruthie legt den Kopf in meinen Schoß, zupft an den Noppen des Sofastoffs und tritt gegen die Armlehne.

Das Maisfeld versinkt in den rotierenden Lichtern der Bereitschaftswagen. Zahlreiche Männer laufen umher, gestikulieren und notieren. Soldaten kommen, mit Fackeln. Mit Fackeln! Ich fühle mich vergessen. Nun ist auch Ruthie eingeschlafen, und ich sitze da, zu keiner Regung fähig, kann mich unter der Last der Kinder nicht bequemer setzen – nicht, dass ich schlafen könnte. Der alte Mann besitzt eine Sammlung holzgeschnitzter, kunstvoll bemalter Lockenten, die auf den Regalen hocken und ins Zimmer schauen.

Irgendwann klopfte es. Eine Frau kommt ins Haus, groß und robust, mit mächtiger Brust.

»Rotes Kreuz«, sagt sie, als wäre das ihr Name, und streckt mir eine Hand entgegen.

Ich schüttele sie, so ruhig wie möglich, damit die Kinder nicht wach werden.

»Geht es?«, fragt sie. Ich sehe ihr an, dass sie ein Ja hören will, also nicke ich. »Nun, wir werden die Familien der Opfer benachrichtigen. Sie werden zur Identifizierung …« Sie beendet ihren Satz nicht. Ich verstehe es auch so. »Und wir suchen Freiwillige, die die Angehörigen in dieser Zeit bei sich aufnehmen. Sie werden traurig und erschöpft sein. Meiner Erfahrung nach wollen die, die beteiligt waren, also, gerade diese Menschen wollen gerne helfen.«

Beteiligt? Das klingt, als ob ich an dem Ganzen irgendeine Schuld trüge. Das muss ich klarstellen. »Wir waren auf dem Heimweg von einem Essen.«

Die Rote-Kreuz-Frau schaut mich, kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, an, dann fällt ihr Blick auf die Kinder, als wären sie ihr erst in dem Moment aufgefallen. »Was ich sagen will«, fährt sie fort, »ist, dass so etwas auch zu Ihrem Heilungsprozess gehören kann – das Gefühl, sich nützlich zu machen.«

Ich würde ihr gern erklären, dass vor meinem geistigen Auge ständig das Bild des Frauenfußes in dem strassbesetzten Schuh auftaucht und mein Ziel darin besteht, es so schnell wie möglich durch etwas Vertrautes auszulöschen – die gelbe Patchworkhaube über meinem Toaster, den salzigen Rauch aus Tiltons Luftbefeuchter, den Nylonstoff meines Lieblingsnachthemds. George, die Kinder und ich, wir alle sind nur insofern beteiligt, als dass uns das Triebwerk nicht erschlagen hat. Ich spüre das heftige Verlangen, uns alle einzukapseln.

»Ich würde ja wirklich gerne helfen«, sage ich der Frau. »Aber unser Haus ist nicht sehr groß, und die Familie wächst, von daher …«

Die Rote-Kreuz-Frau nickt und notiert sich Namen und Adresse. Ich gehe davon aus, dass sie beides für das weitere Verfahren benötigt – womöglich für die Betreuung der Unglücksopfer. Die Tarkingtons sind ebenfalls unter den Opfern, denke ich bei mir. Dass wir das nicht vergessen.

Doch die Rote-Kreuz-Frau fällt mir in den Rücken. »Danke«, sagt sie. »Sie werden sehen, eine solche Großherzigkeit wird man Ihnen um ein Vielfaches erwidern.« Sie legt eine Hand auf ihr Herz, eine rührende Geste, die gar nicht zu ihr passt und ihr auch nicht gelingt. Sie wirkt einstudiert.

Plötzlich ist mir danach, aufzustehen und sie zu schlagen. In Gedanken tue ich das auch, und zwar so rasch und heftig, dass die Rote-Kreuz-Frau Blut spuckt. Im Laufe der Jahre habe ich mir die Ohrfeige derart oft und deutlich vorgestellt, dass ich manchmal spüre, wie die weiche Haut unter meiner Hand nachgibt. In Wirklichkeit habe ich mich keinen Millimeter weit gerührt – aus Angst, die Kinder wachzurütteln. Ich habe nur krampfhaft gelächelt und gedacht: Du blödes Weib! Ich habe Nein gesagt! Nein, nein, nein!

Meine Töchter sind mit der Geschichte aufgewachsen. War das weise, besonders in Tiltons Fall? Sie unterbricht mich jedes Mal, aber nur, um sich zu vergewissern, dass sie das Baby in der Decke war.

»Ja«, sage ich dann immer, »das warst du.«

Ruthie hingegen hat aus ihrer Abneigung gegen die Geschichte keinen Hehl gemacht. Sie wisse immer noch, wie dieser Helm gestunken hat, sagte sie stets. Mit fünfzehn war es »dieser Scheißhelm«, und ich musste jedes Mal in der Erzählung innehalten, um sie zu ermahnen: »Was ist das für ein Wort?«, worauf Ruthie zurückgefaucht hat: »Oh, war das nicht deutlich? Wie wäre es damit? Zur Hölle, verdammt, Schwanzlutscher. Oder soll ich es auf Französisch sagen? Merde! Besser?«

In den Wochen, bevor Ruthie mit sechzehn von zu Hause weggegangen ist, war es mir unmöglich, die Geschichte zu erzählen, solange sie im Zimmer war. Selbst an simplen Stellen wie »Und dann sind sie mit Fackeln gekommen und haben nach den Leichen gesucht«, hat sie mich unterbrochen. »Warum hatten die denn keine Taschenlampen? Damals gab es doch schon Taschenlampen, oder?«

»Ich weiß es nicht. War ich beim Roten Kreuz? War ich bei der Armee?«

Zu der Zeit war mir bewusst geworden, dass ich Gefahr lief, beide Töchter zu verlieren, dass sie, wie ihr Vater, in die große weite Welt entschwinden könnten. Ich habe ihnen damals sehr deutlich gemacht, dass sie das Produkt dieser Tragödie waren und es ihre Bestimmung war, dieser Tragödie Ausdruck zu verleihen, und zwar, indem sie Dichterinnen wurden. Ich kann nicht sagen, dass ich eine besondere Wertschätzung für die Literatur empfunden hätte, allerdings wusste ich, dass Dichter mangels Perspektiven oft im elterlichen Heim blieben. »Die Welt liebt ihre Dichter nicht«, so meine Losung. »Ihre Mütter aber lieben sie.«

Ruthie hat sich aus Prinzip geweigert, Gedichte zu verfassen. »Man kann jemanden zwingen, Buchhalter zu werden«, hat sie widersprochen, »aber nicht Dichter.«

In Tilton flammte Sehnsucht auf, als Ruthie uns verlassen hat. Von dem Moment an haben sich ihre Empfindlichkeiten zu Allergien ausgewachsen, zu Krankheiten, zu chronischen. Es wurde zu riskant für sie, längere Zeit im Freien zu verbringen – sie ist nicht mehr über das Tor hinausgekommen. Ich hatte immer schon darauf geachtet, dass Tilton nur einige handverlesene Spielkameraden hatte, doch selbst die waren mit allzu vielen Keimen ins Haus gestampft. Und wie konnte ich zulassen, dass Tilton in stickige Klassenzimmer gepfercht wurde, wo die Kinderkrankheiten wie Baseballkarten hin und her wanderten? Davon abgesehen war die Schule immer schon ein Kampf gewesen. Die Lehrer wussten einfach nicht, wie sie Tilton in ihrer wundersam zersplitterten Welt erreichen sollten. Tilton musste zu Hause bleiben. Ich hatte mir eingeredet, dass ich keine andere Wahl hatte. Meine Mutter und Ruthie waren fort, und so blieben Tilton und ich daheim, gemeinsam.

Ohne Ruthie war es viel ruhiger. Zu meinem Erstaunen hatte mich eine seltsame Erleichterung befallen, obwohl diese Erleichterung Gewissensbisse mit sich brachte. Welche Mutter ist erleichtert, dass ihre Tochter fortgelaufen ist? Doch Ruthie hatte so viel Unruhe und Chaos ins Haus gebracht – laute Musik, anzügliche Bilder auf Plattencovern und Kassetten. Sie hatte darauf bestanden, jeden Abend die Nachrichten zu sehen – noch brutaler und verstörender geht es nicht! »Das ist die wahre Welt«, hatte Ruthie immer gesagt. »Das alles müssen wir doch kennen, wenn wir jemals ein normales Leben führen wollen.« Doch kaum war Ruthie fort, habe ich den Fernseher an das nächste Altenheim verschenkt, und die Tageszeitung kommt seither zu Mrs Gottleib, meiner Nachbarin, damit all die expliziten Pressebilder nicht schon beim Frühstück auf unserem Tisch landen. Mir war damals wohl bewusst, dass meine Gutenachtgeschichte allzu explizit ist. Diese Heuchelei ist mir keineswegs entgangen. Doch Tilton hat ein Recht darauf zu hören, woher sie kommt und wer ihr Vater ist.

So grässlich die Bilder des Absturzes auch waren, vor dem zweiten Teil der Geschichte, der unblutig, dafür brutaler ist, graute mir stets noch mehr – dem Zerbrechen der Familie. George, der Deserteur. Womöglich war mein Vater auch ein Deserteur. Meine Mutter hat mir nie Näheres erzählt. Und dann ist sie gestorben, und alles, war mir bis heute geblieben ist, sind ihre albernen Fabeln über Weldon und Daisy. So etwas wollte ich meinen Kindern nicht antun. In alldem verbirgt sich eine wertvolle Lektion, und nach Ruthies Fortgang habe ich mir vorgeworfen, dass ich nicht noch deutlicher geworden bin: Meine Geschichte dient der Belehrung. Harriet Wolf hat moralische Erzählungen notorisch abgetan. »Hätte ich moralisieren wollen, so hätte ich das getan«, hat sie irgendwann geschrieben. »Als Romanautorin ist es meine Aufgabe, Dinge zu erfinden. Ihre als Leser ist es, die Moral darin zu sehen.« Na, herzlichen Dank. Ich will, dass meine Geschichten einen Kern enthalten!

Und so habe ich den Chorgesang der Tragödie angestimmt: »Man weiß nie, in welcher Gestalt die Gefahr daherkommt, Tilton. Sie kann so traurig wirken, so erbarmungswürdig – wie eine Frau, deren Ehemann beim Absturz eines Flugzeugs umgekommen ist – dass man sie zu sich ins Haus holt.«

Wann hat Tilton erfasst, dass ihr Vater eine Affäre mit jener Witwe hatte, die uns das Rote Kreuz geschickt hatte? Wann das Wort »Affäre«? Ich weiß es nicht. Diesen Teil der Geschichte hat sie nie hinterfragt – Marie Cultry und ihre Aura der verlorenen Liebe, diese erregbare, trauernde Gestalt, wie sie in jenem kalten Dezember in unserem Haus ihren Gefühlen freien Lauf gelassen und ihre Hitze überall verbreitet hat, Marie Cultrys feuchtes, übersteigertes Verkümmern, ihre glühenden, fiebrigen Wangen, ihre aufgerissenen Augen, ihre bebenden Lippen; Marie Cultry, die Diebin.

Nachdem sie dem grässlichen Verfahren der Identifizierung beigewohnt hatte und emotional stabil genug war, um zu reisen, hatte ich von einem der oberen Fenster aus gesehen, wie George eine Hand an Marie Cultrys Ellbogen legte, damit sie auf der vereisten Auffahrt nicht ausrutschte. Er führte sie sachte zum Beifahrersitz, machte den Kofferraum auf und wuchtete, mit Macht, den Koffer dort hinein. Er knallte den Kofferraum zu und sah zu mir hinauf. Ich weiß noch genau, wie ich am Fenster gestanden habe: eine Hand auf der Hüfte, die andere am Vorhang. Es ist später Vormittag. Tilton schlummert. Ruthie baut aus ihren Bauklötzen Häuser und tritt sie gleich wieder ein.

George winkt, ich winke zurück.

Wusste er, dass er nicht zurückkommen würde? War er sich lediglich zu 55 Prozent sicher, oder hatte mir dort ein Mann gewunken, der keinen Zweifel hegte? Erst später, als ich seine Sachen einer Bestandsaufnahme unterzogen habe, habe ich bemerkt, dass er manches – ein paar Kleidungsstücke, seine Zahnbürste – in Marie Cultrys Koffer versteckt hatte. Das Ganze war geplant.

Damals hatte ich voller Ungeduld darauf gewartet, dass sie endlich fuhren. In Gedanken hatte ich George regelrecht dazu gedrängt, ins Auto zu steigen und diese Frau an irgendeinem Ort, weit von uns entfernt abzusetzen. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dass er nicht zurückkehren würde – nicht an jenem Tag und nicht am nächsten; dass er zu einem Scheck werden würde, der jeden Monat mit der Post kam.

Und nun liege ich im Krankenhaus, neben Opal Harper, Ruthie ist eine erwachsene Frau irgendwo da draußen in der Welt, und Tilton wird wohl nie erwachsen werden. Die Jahre sind im Eiltempo vorbeigerast.

Es kann sein, dass irgendjemand Ruthie informiert hat, dass ich im Krankenhaus liege. Seit ein paar Monaten ruft Ruthie beinahe täglich Tilton an – als hätte sie gespürt, dass etwas passieren würde –, und zwar zu Zeiten, in denen ich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu Hause bin. Während all der Jahre hat Ruthie sonst nur Postkarten geschickt, und zwei Mal eine Einladung zu einer Hochzeit, die ich jeweils abgelehnt habe. Einmal war auch eine Geburtsanzeige in der Post. Hailey Ray. Wie alt mag das Mädchen sein? Bei ihren Anrufen hat Ruthie Tilton gegenüber eingestanden, dass sie den Wunsch verspürt, sich selbst zu ergründen – eine frühe Midlife-Crisis? Weil ihre zweite Ehe auch den Bach runtergeht?

Tilton hat mir außerdem berichtet, dass Ruthie beinahe einen Doktor in was auch immer gemacht hätte, ihr Mann Professor ist und sie sich zwei gleich aussehende Hunde angeschafft haben.

»Wie schön für sie«, war meine Reaktion. »Für sie!« Ich habe natürlich gehofft, dass Tilton im Umkehrschluss begreifen würde: Schön für uns! Das hatte ich gemeint. Lass sie ziehen und ihren Spaß und ihre Hunde haben. Wer braucht sie schon? Dann habe ich Tilton eingetrichtert, dass sie, wenn ich fort bin, nicht ans Telefon gehen darf.

Ich hasse den Gedanken, dass Ruthie das mit meiner Herzschwäche erfährt.

Ich sehe Ruthie und George noch immer am Abend des Flugzeugunglücks vor mir. Wie sich Ruthie auf diesem Feld voller Toter, das dampfende Triebwerk auf der Straße hinter uns, an ihren Vater klammert. Meine Erinnerungen sind mit den Jahren immer deutlicher geworden. Die Dinge aus der Ferne sind ganz klar, nur der Vordergrund wird unscharf.

Meine Gutenachtgeschichte hat immer denselben Ausgang. »Die Familie wurde auseinandergerissen, und sie wurde nie mehr heil. Ende.«

Doch seit Ruthie mit diesen Anrufen begonnen hat, kommt es mir vor, als würde mein Ende aufweichen, wie ein Siegel, das heißer Dampf von einem Umschlag löst. Was, wenn uns irgendeine Kraft wieder zueinander zieht? Ich bin mir sicher, dass dieser Gedanke schwer auf meinem Herz gelastet hat.

Im Schwesternzimmer schrillt ein Notsignal, Schuhe quietschen über Bohnerwachs. Ich öffne die Augen und schaue zur Tür. Die weißen Uniformen, die – aufgeregt und unruhig – vorüberhuschen, sind mit einem Mal der weiße Drachen, der kein Drachen war, sind Daisys und Weldons wogende Hemden in ihrem schwankenden Kanu, in der Mitte eines großen Sees.

Ich will nicht an die Charaktere meiner Mutter denken, an die Bilder ihrer Bücher, doch sie kommen ungefragt zu mir. Die berühmten Zeilen, nach denen Opal Harper eben noch gesucht hatte – sie gehen mir durch den Kopf.

Daisy sagte: »Liebe – durch sie sind wir gesamt.«

Und Weldon sah sie an. »Gesamt?«

»Habe ich ›gesamt‹ gesagt? Ich meinte doch ›gesegnet‹ und ›verdammt‹.«

3

Und das Haus versucht, die Mutter zu verschlingen

Tilton

Meine Mutter steckte in dem unteren Erkerfenster fest, in dem ganz viel heiße, helle Sommersonne war. Das Haus hat versucht, meine Mutter aufzuessen. Man muss dem Haus zugutehalten, dass sich meine Mutter in seinen Mund hineingezwängt hat. Das Haus trifft keine Schuld.

Falls mich jemand danach fragt, werde ich genau das sagen, denn Ruthie wird es wissen wollen. Sie mag unsere Mutter nicht. Wenn sie über sie redet, klingt es, als würde sie über eine andere Mutter sprechen. Ruthie wird wissen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, und anrufen. Sie sollte eigentlich bei mir sein, so wie sie es versprochen hat. Wir haben einen Pakt, der jetzt gebrochen ist. Es wäre grausam, sie daran zu erinnern. Meine Mutter sagt, in meinen genetischen Code ist Grausamkeit nicht eingeschrieben. Als Ruthie wusste, dass sie ihren Pakt, mich niemals zu verlassen, brechen würde, haben wir einen neuen geschlossen. Wir sind auf den Dachboden gegangen, haben unsere Hände erneut aneinandergelegt und, so wie Wee-ette es mir gezeigt hat, mit einem Faden umwickelt, bis unsere Hände ganz rot und angeschwollen waren. Das war kein Kokon – oh nein. Das war ein Bund. Ruthie hat versprochen, dass sie zurückkommt und mich rettet. Ich habe den Faden losgemacht, ein kleines Klebeschildchen angebracht, und darauf habe ich geschrieben: »R. T. und T. T. 1986. Rückkehr & Rettung.«

Es ist Zeit für die Rückkehr! Das würde ich Ruthie wirklich gerne sagen. Doch muss ich überhaupt gerettet werden? Oder sie?

Mrs Gottleib hat gesagt, dass meine Mutter einen Herzanfall hatte, als sie im Mund des Hauses feststeckte. Andere würden sicher sagen, dass die Vordertür der Mund ist, aber für mich ist das ein Grübchen, und die Erkerfenster sind das breite Grinsen. Die Fenster im ersten Stock sind die Augen, die über alles wachen.

Hat ihr Herz sie angefallen? Oder sie ihr Herz?

Mrs Gottleib hat gesagt, dass sie für solche albernen Fragen keine Zeit hat.

Ich weiß, dass das Haus keine Münder hat. Und doch bin ich in seinem Kopf. Ich bin ein Gedanke.

Ich weiß nicht viel über menschliche Herzen, wohl aber über Vogelherzen. Zum Beispiel über die Herzschlagfrequenz: beim Haushuhn 245, der Krähe 345, dem Hausspatz 460, dem Rubinkehlkolibri 615 Schläge pro Minute!

Große, schwere, flügellose Menschen? Nur sechzig bis achtzig Schläge pro Minute. Ich habe neulich erst etwas über das menschliche Herz gelesen, in unserem Lexikon, dessen Bände drei Regalbretter füllen.

Heute fühle ich mich wie ein Hausspatz: 460 Schläge pro Minute.

Ich habe mich verletzt. Schwer verletzt. Ich habe versucht, das Fenster zu öffnen, damit das Haus meine Mutter entweder ausspucken oder ganz verschlingen konnte – egal was, ehrlich, denn ich war ja im Kopf des Hauses – und habe mir den Daumen aufgerissen. Da war Blut.

Wee-ette war auch dabei, weil sie immer bei uns ist, auch wenn sie tot ist. Wee-ette ist die Mutter meiner Mutter. Sie ist gestorben, da war ich zehn, doch ich liebe sie noch immer. Wee-ette! Das flüstere ich manches Mal. Wee-ette! Wie der Ruf eines Gleitaars oder eines Rotkardinals am frühen Morgen. Als ich noch klein war, habe ich versucht, ihren Namen auszusprechen, Harriet, denn so hat meine Mutter ihre Mutter genannt. Aber aus meinem Kindermund ist nur Wee-ette gekommen. Sie hatte ein Pult und eine eifrig klappernde Schreibmaschine. Bei ihr durfte ich sogar mit Schere und Kleber spielen. Wee-ette und ich, wir haben Geheimnisse. Wir sind verbunden. Wir haben ein ähnliches Innenleben – das hat sie oft zu mir gesagt. Nur, dass Wee-ettes Innenleben jetzt wüsste, was zu tun ist. Doch obwohl sie bei mir ist, spricht sie nicht.

Ich hatte darauf gewartet, dass meine Mutter nach Hause kommt. Wenn sie weggeht, verschließe ich alle Türen und Fenster. Die hintere Veranda ist immer verschlossen, das ist unser Lager, es ist voller Sachen, die wir nicht mehr wollen, aber auch nicht loswerden. Wissen Sie, die Welt ist gemein und gefährlich und auch voller Leid. Und gegen das meiste draußen in der Welt bin ich allergisch.

Außerdem halte ich das Haus des siebten Buchs wegen immerzu verschlossen. Wenn ich allein wäre und die Türen offen stünden, könnte ein Wolf-Fan erscheinen und mir lauter Fragen stellen, die ihn überhaupt nichts angehen. Ein Fan hat meiner Großmutter einmal eine Haarsträhne vom Kopf gezogen – vor vielen Jahren, als sie noch aus dem Haus gegangen ist. Nach Wee-ettes Tod war ein Schild an unserem Haus, aber dadurch ist es noch schlimmer geworden. In einem Jahr hat eine Frau an Wee-ettes Todestag Kerzen in unserem Garten angezündet und sich hingekniet, bis meine Mutter der Polizei gesagt hat, dass sie die Frau wegbringen soll. Auf dem Dachboden hatten wir Kisten voller Fanpost. Da hatten sich schon Mäuse eingegraben, also haben wir die Briefe eines Winters im Garten verbrannt. Meine Mutter schützt mich vor diesen Leuten, doch ich höre, wenn sie an der Tür betteln oder sie uns anrufen, und dann sind da noch die Mormonen, die Fahrrad fahren, und die Zeugen Jehovas, die das nicht tun. Mir ist es lieber, wenn die Fenster offen stehen und die Fliegengitter eingesetzt sind, dann kann ich die Vögel besser hören. Aber ich kenne die Regeln, die gelten, wenn meine Mutter nicht im Haus ist.

Warum war meine Mutter überhaupt weggegangen? Daran ist nur Mrs Devlins Tochter schuld.

Einen Grillofen zu reparieren kann gefährlich sein. Es kann am Kabel liegen, dem Hauptschalter, der Thermosicherung oder der Magnetspule. Manchmal muss man auch das Thermostat rekalibrieren. Das alles weiß ich, weil es gut ist, wenn man eine Aufgabe hat und sich nützlich machen kann.

Ich weiß auch viel über Vögel, aber ich weiß nicht, wie ich mich damit nützlich machen soll. Ich kann zum Beispiel keinen Vogelflügel richten, der gebrochen ist. Die Leute glauben, dass sie wie ein Vogel fliegen könnten, wenn sie sich nur ausreichend große Flügel anschnallen würden. Irrtum. Vogelknochen sind hohl und können sich sogar mit Luft füllen, wenn der Vogel atmet. Vögel haben kein Zwerchfell, weil bei ihnen der ganze Körper als Blasebalg dient. Man müsste das gesamte Knochen- und Atemsystem verändern, um zu fliegen, und dann bräuchte man auch noch Federn und Flügel.

An dem Morgen hatte meine Mutter mir gesagt, dass ich für Mrs Devlin einen Grillofen reparieren und ein Gedicht für die Hochzeit ihrer Tochter schreiben soll. Auch auf diesem Weg mache ich mich nützlich – mit Versen. Ich kann zu jedem Anlass ein Gedicht schreiben. Ich stamme aus einer Schriftstellerfamilie und sollte die Gabe, die mir Gott verliehen hat, auch nutzen, sonst würde ich Gott beleidigen.

Ich habe meine Mutter gefragt, ob Mrs Devlin zwei Töchter hat.

Meine Mutter hat Nein gesagt. Sie hatte mir ein Glas Tang gemacht, und als sie das Pulver umgerührt hat, hat der Löffel klang, klang, klang gemacht, das reimt sich auf Tang, Tang, Tang.

Ich habe sie gefragt, ob Mrs Devlins einzelne Tochter zum zweiten Mal heiratet.

Meine Mutter hat gesagt, dass Mrs Devlins Tochter zum zweiten Mal heiratet.

Meine Mutter war weggegangen, um den kaputten Grillofen bei Mrs Devlin abzuholen, doch dann ist sie mit einem Fernseher zurückgekommen. Ich habe vom Küchenfenster aus gesehen, wie sie ihn getragen hat. Er war viel zu schwer für sie. Sie hat ihn auf der Straße abgestellt und sich daraufgesetzt.

Wenn es möglich wäre, würden wir Vögel besitzen. Aber Vögel kann man nicht besitzen, nicht einmal in einem Käfig. Nicht wirklich. Als Wee-ette gestorben ist, hat sie uns von einem Zimmer erzählt, in dem ganz viele Vogelkäfige waren. Sie hat fantasiert. Ihre Augen waren milchig. Ihre Augenlider bläulich. Ihre Lippen waren wie ein kleiner Sprung in einer Vase. Meine Mutter hat ihr fünf Nymphensittiche gekauft. Dann ist Wee-ette gestorben, und meine Mutter hat die Sittiche freigelassen, weil ich wollte, dass sie freikommen. Später habe ich irgendwo gelesen, dass Hausvögel sterben, wenn man sie freilässt, weil sie das Wildsein nicht verstehen. Meine Mutter sagt, dass ich mir das merken soll. Dass das Bekannte besser ist als das Unbekannte. Sie bereut, dass sie die Vögel freigelassen hat.

Ruthie fragt mich immer, wie ich in einem Haus festsitzen kann, in dem es nichts zu sehen und zu tun gibt. Ihr ist nicht klar, wie viel ich im Blick behalten muss – die Zugvögel zum Beispiel.

Ich habe noch nie einen Pakt gebrochen. Ruthie hat noch nie einen eingehalten.

Aber wenn ich früher Angst hatte und nachts in ihr Bett gekrochen bin, dann hat sich mein blondes Haar mit ihrem dunklen so vermengt, als würden uns Seidenfäden aneinanderbinden.