Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Buch »Haus Fühlingen und das Mädchen am Fenster« erzählt eine Geschichte über eine Gruppe Jugendlicher, die eine prägende Nacht am See verbringt. Eine Nacht der Schrecken, die ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellt und die Schatten einer vergangenen Zeit ausleuchtet. Morde geschehen, die einen nicht endenden Spießrutenlauf auslösen. Die Gegenwart verschmilzt mit dem Grauen der Vergangenheit. Andenken benötigt Gegenwart.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 510
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Dieser Thriller befasst sich mit einer Gruppe Jugendlicher, denen eine Reihe von unheimlichen Begegnungen widerfährt. Es geht um Morde aus der Vergangenheit und Gegenwart, die es aufzuklären gilt. Der Ursprung der Ereignisse hat einen wahren Hintergrund. Die Namen aller Hauptdarsteller, mit Ausnahme von einem Akteur, sind verändert worden. Die Namen wurden abgeändert, um die Nachkommen der Täter zu schützen. Widmen möchte ich dieses Buch Edward Margol, der in den Wirren der nationalsozialistischen Zeit in Köln-Fühlingen grausam ermordet wurde. Ich möchte des Weiteren mit diesem Buch auf die Schrecken der NS-Zeit verweisen, damit diese nicht in Vergessenheit geraten.
Andenken benötigt Gegenwart.
Diese Tatsache gibt mir den Anlass, eine moderne Geschichte mit wahrem Hintergrund zu verfassen. Dieses Buch soll zum Dialog zwischen Generationen und Menschen verschiedener Nationen führen. Reden Sie über das Buch und die Beweggründe, warum man ideologisch geprägte Verbrechen in Erinnerung behalten sollte. Spielt man so den ewig Gestrigen zu oder rüttelt man damit die Unentschlossenen auf? Die Charaktere der Hauptdarsteller sind mit Bedacht gewählt und spiegeln unterschiedliche Lebensweisen oder auch Kulturkreise wider. Die Herausforderung einer jeden Gesellschaft ist es, kulturelle Kompromisse der alltäglichen Gepflogenheiten einzugehen. Dabei steht der Kompromiss nicht essentiell für eine bestimmte Art von Gesellschaft, sondern vielmehr für jede Art von gemeinschaftlichem Leben. Nachdem die geschichtlichen und ideologischen Hintergründe klargestellt sind, kann jetzt die Reise beginnen.
Alles begann vor Jahrzehnten am Fühlinger See in Köln, doch seinen Anfang nimmt diese Geschichte in einer kleinen Autowerkstatt in der Nähe von Köln-Chorweiler.
Alex hatte früh Feierabend, es war 13:30 Uhr und der Werkstattleiter ließ vom Auszubildenden die Halle fegen. Nur noch einen Stapel Reifen in den Container werfen und er könnte duschen gehen. Dann ein Knall und ein Schrei. Der Auszubildende hatte beim Fegen einen großen Rangierwagenheber angestoßen, der sich zu seinem Unglück löste und das damit aufgebockte Fahrzeug zur Seite fallen ließ. Eine kleine Beule und ein wütender Werkstattleiter waren das Resultat der Aktion. So hatte Simon, der Siebzehnjährige Auszubildende, sich seine erste Woche als KFZ-Mechatroniker bestimmt nicht vorgestellt. Nach kurzer fachlicher Einschätzung konnte der zwei Jahre alte 5er BMW ohne Lackierarbeiten nicht instand gesetzt werden. Die Folge würde ein Brief an die Geschäftsführung sein und ein Eintrag in die Personalakte des mittlerweile sprachlosen, geschockten Azubi werden. Ein paar Geschichten kamen Alex aus seiner Lehrzeit hoch. Er schluckte, schmiss den letzten Reifen in den Container und ging zu seiner Stempelkarte. Eine korrekte Zeiterfassung war dem Werkstattleiter sehr wichtig, was für ein gutes Betriebsklima sorgte. Überstunden waren die Seltenheit und ein geschenkter Freitagnachmittag bei erledigter Arbeit fast schon die Regel. Alex und der Rest der Belegschaft empfanden dies als Kompliment und eine großen Wertschätzung der getanen Arbeit. Das Klicken der Stempelmaschine ließ wie immer alles vergessen.
»Endlich Wochenende!
Jetzt schnell Susanne abholen und kurz ein paar Kleinigkeiten für heute Abend einkaufen«, denkt sich Alex. Susanne ist Erzieherin und arbeitet in einer integrativen Kita in Köln-Ossendorf. Sie freut sich schon lange auf den heutigen Abend, da ihre beste Freundin Nicole aus Aachen zu Besuch kommen sollte. Susanne und Nicole sehen sich nur noch selten, seitdem Nicole angefangen hat Chemie zu studieren und sich nur noch mit ihrem neuen Freund trifft. »Das ist doch ein toller Anlass, mal so richtig einen draufzumachen und den See von früher zu rocken«, denkt sich auch Susanne.
Susanne hatte heute Küchendienst, was bedeutet, dass sie im Sozialraum der Mitarbeiter sowie im Gruppenraum der Mittagskinder abräumen muss. Die Aufsicht beim Mittagstisch der Kinder wechselte wöchentlich, was für jede Erzieherin, die dieses große Los gezogen hatte, eine hektische Woche bedeutete. Integrative Kindergärten haben eine große Verantwortung und müssen Brücken zwischen verschiedensten Kindern bauen. Das kann bei einem Achtstundentag an die Substanz gehen, was aber bei Susanne heute nicht der Fall war. Sie erlebte einen sehr gelassenen Freitag, der ihr ein paar tolle Eindrücke brachte. Der Küchendienst konnte auch nichts daran ändern. Das Geschirr war schnell in die Spülmaschine geräumt, die Zivildienstleistenden regelten den Rest. Eine halbe Stunde später konnte sie sich umziehen und zum Parkplatz der Kita gehen.
Da bog auch schon Alex um die Ecke. Sein neues Auto schimmerte in der Sonne und Susanne war schon ganz aufgeregt, ihrem Liebsten die Geschehnisse vom Tag zu berichten. Alex hatte nicht viel Geld für einen teuren Neuwagen zur Verfügung, konnte aber günstig einen zwei Jahre alten, verunfallten Mercedes instand setzen. Das Luxuscoupé war nach drei Wochen intensivster Aufmerksamkeit nicht mehr als Unfallfahrzeug zu erkennen. Lediglich wenige Stellen der Front wiesen eine leicht abweichende Lackschicht auf. Die restlichen Blechteile wurden erneuert und neu lackiert. »Ein Unfallschaden repariert vom Fachmann«. Diese Auszeichnung wurde vielen Fahrzeugen bescheinigt, stimmte aber nur bei den wenigsten.
Ein absoluter Hingucker, aber jetzt wieder zu Susanne.
Sie überlegte, was sie Alex alles erzählen würde. Nicht dass etwas Besonderes geschehen wäre, aber ein paar Zankereien und neue Gerüchte gibt es eigentlich immer zu verbreiten.
Alex fuhr auf direktem Weg zum nächsten Feinkost-Supermarkt. »Heute nur das Beste für den Klappgrill am See«, dachte er und stellte sich schon sein Abendessen vor. Susanne redete und redete von ihren Kolleginnen sowie den Missgeschicken der Kinder, die beeindruckender nicht hätten sein können. Endlich am Supermarkt angekommen, konnte der Kaufrausch beginnen. Gekauft wurde, was Spaß macht.
So denken Pärchen mittleren Alters ohne Kinder, die es sich ein Wochenende lang gutgehen lassen wollen.
Steak für Freitag, Schrimps für Samstag und Sonntag ein Katerfrühstück.
Nach einer Dreiviertelstunde war alles vorbei und die Kauforgie im Auto verstaut. »Jetzt schnell nach Hause, umziehen und die Taschen für den See packen. Nicole und ihr Freund wollen um 16:30 Uhr am Hauptbahnhof sein.«
Unterdessen stellt sich Nicole in Aachen vor, wie der heutige Abend laufen würde. »Wird Susanne meinen, zugegeben etwas rechthaberischen und schnell aufbrausenden, Freund Ruslan akzeptieren? Was wird passieren, wenn sie erfährt, dass wir ein Pärchen aus der Uni dazugeladen haben? Was werden die beiden von Maite und Alain halten?«, dachte sie sich.
Maite und Alain sind die typischen Studenten und Vollblutnerds. Beide sind totale Leseratten und Fashiongegner. Strickpullis, Hornbrillen, Sandalen und einen ausgeprägten Rechtssinn für alles, was Unterdrückung von Frauen oder Tierrettung betrifft. Allgemein verkörpern sie genau den Typ Mensch, den wir in unserer Schulclique nie akzeptiert hätten. Dass die beiden einfach spitze Typen und superwitzig sind, hätte dabei keine Rolle gespielt. Kennengelernt haben die beiden sich im Studentenheim. Alain hatte ein Zimmer in derselben Etage wie Maite. Er hielt sich viel im Flur, in der Lobby sowie im Gemeinschaftsraum auf. Man hätte denken können, dass er sich in seiner Freizeit ausschließlich im Studentenheim aufhält. Er musste Maite einfach auffallen. Sie stammt eigentlich aus Barcelona, doch ihre Eltern lebten schon mehr als dreißig Jahre in Deutschland. Schon nach dem ersten Semester fand die schüchterne Maite im lockeren Alain ihren Seelenverwandten. Ein süßes Paar, was von diesem Tag an alles zusammen erledigte. Sie hielten sich zusammen im Wohnheim auf und verbrachten ihre freien Tage zusammen in Debattierclubs und bei endlosen Play-Station-Abenden.
Alain ist in Marseille geboren und lebt seit seinem sechsten Lebensjahr mit seiner gesamten Familie in Leverkusen bei Köln. Seine Lebensart ist typisch für Südfrankreich, gelassen und auch bei ernsten Themen sehr intuitiv. Seine Geschwister, Eltern und Großeltern wohnen zusammen in einem älteren Mehrfamilienhaus aus den 20er Jahren. Alle genießen die Nähe der Familie und leben ohne Schlösser zusammen im Haus. Oft spielt sich das Familienleben im Innenhof, in einer kleinen Gartenlaube ab, wo sich Jung und Alt sowie die halbe Nachbarschaft treffen.
Zurück zu Nicole.
Aufgeregt suchte sie Susannes Telefonnummer in ihrer Adressenliste des Smartphone raus und drückt auf Anrufen.
»Hallo, Süße, na, wie geht’s?«, das übliche belanglose Gequatsche begann, über das aktuelle Befinden und was man gerade in diesem Moment anstellte.
»Alain und Maite! Wer soll das sein?«
»Freunde von der Uni!«
»O. K.!«
»Die sind schwer in Ordnung und später fahren die mit der ersten Bahn nach Leverkusen. Alain wohnt da und wird nicht auch noch versuchen bei euch zu übernachten! Keine Panik! Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn wir euer Gästezimmer nutzen können?«
Susanne holte kurz Luft und versicherte, dass es ihnen nichts ausmachen würde. Man könnte auch Samstag gerne zusammen ausschlafen und frühstücken. »Alles klar, also schafft ihr die Bahn und seid dann spätestens um 16:30 Uhr am Bahnhof.«
»Ja, klar, passt. Maite und Alain fahren jetzt schon mal nach Leverkusen und kommen dann direkt zum See.«
Nachdem alles für den Grillabend zusammengepackt wurde und das Zelt gefunden war, ging es los. Susanne und der etwas gestresst wirkende Alex starteten Richtung Köln HBF. Die A57 ist wieder rappelvoll und bei Ossendorf ging es wieder nur im Schritttempo voran.
»Na toll, das fängt ja schon super an«, dachte Susanne. An der Rückseite des Hauptbahnhofs angekommen spurteten Susanne und Alex Richtung Gleis 11, wo die S-Bahn aus Aachen vor fünf Minuten eingefahren sein sollte. Oben am Bahnsteig angekommen, war nichts von Nicole und diesem komischen Proleten zu sehen. Sie gingen den Bahnsteig von vorne bis hinten einmal ab und konnten immer noch keinen der beiden entdecken.
Kurz darauf, ein seltsames Pfeifen. Susannes Smartphone meldete sich.
Nicole: »Wo seid ihr?«
Susanne: »Auf dem Bahnsteig und ihr?«
Nicole: »Sind schon nach unten gefahren und haben uns beim Bäcker Verpflegung geholt. Ruslan hatte etwas Hunger und kannte den Einkaufsbahnhof Köln noch nicht.«
Mit seinen siebzig Geschäften, Kneipen und Restaurants lockt die Passage Reisende mit allerlei Interessantem. Die historische Stahlträgerkonstruktion ist nach der letzten Renovierung zum Vorschein gekommen und bietet am Fuße des Kölner Doms ein einmaliges Flair. Imposante dunkle Stahlträger mit Tischtennisball großen Nieten, glänzende Böden und strahlend beleuchtete Ladenlokale. Ein höchst lebendiger Ort der zu keiner Tages oder Nachtzeit zu schlafen scheint.
Susanne: »Super, wir kommen dann auch nach unten.« Die Begrüßung hielt sich eher in Grenzen.
»Ab nach Hause«, dachte Susanne. Die Fahrt ist relativ wortkarg gewesen, doch auf der Rückfahrt gab es wenigstens keinen Stau. Nachdem Alex das Auto in der Tiefgarage abgestellt hatte, machte Ruslan schon ein paar abwertende Bemerkungen über die Wohnanlage in Chorweiler. Alex ignorierte ihn.
»Wenn wir in der Wohnung sind, werde ich erst einmal die Männer mit einem Bierchen versorgen und dann mit Nicole in Ruhe sprechen. Das wird toll«, dachte sich Susanne. Es gab viel zu reden und aus dem Gästezimmer kam viel Gekicher und Gelächter. Bei Ruslan und Alex herrschte Eiszeit. Nicht, dass sie keine Interessen teilten.
Es schien eher so, dass keiner den Anfang machen mochte. Dann ein erster Lichtblick!
»Biste FC-Fan?«, fragte Alex.
Ruslan konnte sein Grinsen nicht mehr verbergen und rief los, »Nein, Fortuna-Fan. F95 Olé! F95 Olé!«
Alex schlug die Hände übers Gesicht und musste lachen. »Jetzt weiß ich, warum ich dich vom ersten Augenblick an nicht leiden konnte!« Ruslan fing ebenfalls an laut zu lachen und stieß mit seiner Bierflasche an.
»Kölsch, toll, ich schätze, du willst mich vergiften.« Alex antwortete schroff, »Ich würde es versuchen, aber heute darf ich ja nicht! Susanne würde echt kurz sauer sein, wenn ich dich vom Balkon werfen würde. Komm mit und lass uns den Ausblick über Chorweiler genießen, wenn du dich mit mir nach draußen traust.«
Das Eis schien gebrochen. Zwei Interessengemeinschaften bildeten sich und das gemeinsame Wochenende konnte kommen. Mittlerweile war es 17:20 Uhr und in fünf Minuten sollte die Linie 120 vorbeikommen. Mit dieser Buslinie wollte die Ausflugsgruppe unbedingt zum Fühlinger See fahren. Der Aufbruch ist überstürzt bis hektisch gewesen, aber das hatte danach keine Bedeutung mehr. Die Gruppe, ein Haufen Rucksäcke und Tüten saßen wenige Minuten später im Bus Richtung See.
»Wo treffen wir uns eigentlich mit den anderen?«, fragte Susanne. »Am Blackfoot Beach?«
»Nein, nicht da«, antwortete Nicole.
»Wir sollen neben der Brücke, die über die Regattabahn führt, warten.«
Und da war es auch schon passiert.
»Wir sind am Schwimmbad vorbei!«, rief Alex.
» Na und«, rief Ruslan. » Sind doch noch nicht am See, oder?«
» Doch, wir hätten hier aussteigen müssen.« Der Bus fuhr um eine Kurve. »Drück auf Stopp, wir steigen die Nächste aus.« Der Bus verlangsamte sein Tempo und hielt kurze Zeit später an.
»Das ist ja gar nicht weit entfernt«, rief Alex. Sie stiegen mit Sack und Pack aus und stellten die Taschen erst einmal zusammen.
Das, was sie jetzt sahen, nachdem der Bus die Sicht frei gemacht hatte, war überwältigend und beängstigend zugleich. Sie standen vor der Haltestelle »Haus Fühlingen«. Das riesige Herrenhaus stand da, so verfallen und überwuchert von Schlingpflanzen wie aus einem Horrorfilm, der in den Sümpfen des Mississippi-Deltas spielt. Die Tore standen weit auf, das Grundstück schien verlassen und sehr weitläufig zu sein. Alle Fenster waren zerschlagen, der Putz hatte handbreite Risse, eine Eingangstür fehlte. Anstelle der Eingangstür klaffte dort nur ein schwarzes Loch. Um das Haus herum gab es nur tiefen Wald sowie einen schmalen Pfad, der vom Haus wegzuführen schien. Der Augenblick kam allen ewig vor. Die jetzt schon tiefer stehende Nachmittagssonne ließ das Dach funkeln. Lichtstrahlen fielen durch Löcher an der Außenwand. Schattenspiele waren in der gesamten oberen Etage zu beobachten. Die Ruine stand da wie eine verlassene Festung. Das Haupthaus hatte drei Etagen, seine Breite betrug gute vierzig Meter. Zwei Seitenflügel sowie eine niedergebrannte Hofanlage, die von hier nur schwer zu erkennen war, schlossen sich dem Hauptgebäude an.
Alex unterbrach als Erster die erstaunte Gruppe. »Was glotzt ihr denn so? Das ist Haus Fühlingen. Der Komplex steht leer, seit ich denken kann, und verfällt immer mehr. Hier sollen schlimme Dinge passiert sein. Vor allem in der braunen Epoche. Fühlingen ist schon seit den 30er Jahren ein Freizeitpark mit Reitanlage und Schwimmbad gewesen. Also, das habe ich gehört.«
Susanne sprach als Nächste in die verunsicherte Runde. »Das ist richtig, ich habe so etwas auch gehört. Der Gutsherr soll nicht alle Tassen im Schrank gehabt haben! Bei uns auf der Schule gab es eine Projektwoche dazu.«
Nicole rümpfte die Stirn. »Ja, ich weiß noch, der Gutsbesitzer hat Zwangsarbeiter aus Polen für sich knechten lassen und einige haben wohl auch den Tod gefunden. Die Projektarbeit ist eine Kooperation zwischen einer Interessengemeinschaft aus Israel, der Schule und einer Behörde, die sich um die Aufklärung von Naziverbrechen kümmert. Ich will sofort hier weg.«
»Schatz! Sei nicht so angespannt. Das gibt es bei mir in Minsk an jeder zweiten Ecke. Irgendwelche alten Hucken, in denen was ganz Schlimmes passiert sein soll, sagte die Oma. Bullshit! Da ist nichts, wovor man Angst haben sollte. Bis auf irgendwelche Obdachlose und Punks, die dich abziehen wollen, gibt es da nichts.«
Nicole sah angesäuert aus und Ruslan hatte einen Gang drauf, der John Wayne zu seiner besten Zeit ähnelte. Susanne wechselte das Thema und kurze Zeit später knickte ein kleiner Weg nach links ab, in Richtung Regattabahn.
Sobald man an die Seen rings um die Regattabahn kommt, steckt man in einem wilden Gedränge zwischen fußballspielenden Jugendlichen und grillenden Großfamilien. Die verschiedensten Kulturkreise und Sprachen prasseln auf einen ein. Wer denkt, an einem Naturpark, der von der Uni Köln mit Schilfzonen und gewässerreinigenden Biotopen versehen wurde, geht es ruhig und beschaulich zu, der irrt total. Der Fühlinger See ist ein Treff der Kulturen. Bei den Jugendlichen der Umgebung, wie einst auch Alex, Susanne und Nicole, galt er lange als einziges Ausflugsziel. Zumindest bis zur Führerscheinzeit. Dann kommt bei den meisten Jugendlichen eine Zeit der Diskothekenbesuche. Hierbei gilt, je weiter weg, desto interessanter.
Nach einem weiteren Fußmarsch von circa fünfzehn Minuten erreichten sie die Brücke, wo die beiden Gäste schon warteten. Maite und Alain standen etwas abseits des Weges direkt an einem schwimmenden Podest der Regattabahn.
Ruslan wetterte direkt los. »Na, ihr Streber, alles richtig hinter der Hornbrille?« Sichtlich schockiert und gepeinigt drehte Alain seinen Kopf etwas nach rechts unten. Als hätte er nichts gemerkt. Maite warf Ruslan stattdessen einen Blick zu, der sich gewaschen hatte. Ruslan reagierte umgehend. » Macht euch mal locker, ist nur ein Scherz gewesen! Ich liebe euch, das wisst ihr doch.« Danach stellte der Unruhestifter sich an den Rand des Schwimmers und schaute übers Wasser.
Nicole übernahm sofort die Unterredung.
»Achtet nicht auf den Rüpel. Das sind Maite und Alain.«
»Hallo, ich bin Alex und das ist meine bessere Hälfte Susanne.« Die zwei Parteien stellten sich herzlich vor. Schnell packten sie alle Mitbringsel an das nahe Seeufer und klappten ihren Reisegrill aus. Alles verlief immer harmonischer, sogar Ruslan wurde netter.
Wider Erwarten schienen sie sich super zu verstehen. Alain verstand zwar nichts von Fußball, war aber begeisterter Trecker-Fan. Dies ermöglichte einem Mechaniker und Treckerverrückten ein Spektrum von fast unerschöpflichen Unterhaltungsthemen. Alains Eltern hatten im Hof immer ein Restaurationsobjekt der Marke Lanz stehen, über das dann die gesamte Nachbarschaft philosophierte. Bei Maite reichten die Neuigkeiten bei DSDS, GZSZ und Verbotene Liebe vollkommen aus. So langsam nahm die Party Fahrt auf. Die Zelte waren schnell aufgebaut und der Sprung ins kühle Nass folgte sofort. Der Zufall sorgte dafür, dass sich Nicole direkt vor Alex umzog. Ihr schlanker Körper rekelte sich langsam aus ihrem Oberteil. Ihre langen brünetten Haare glitten dabei durch die Strahlen der tief stehenden Sonne. Er nahm den Duft ihres Parfüms wahr und erinnerte sich an das Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit. Er, Nicole und Susanne gingen auf dieselbe Schule, jedoch nicht in die gleiche Klasse. Das, was dann auf der Abschlussfahrt geschehen ist, konnte man sich gut vorstellen. Es ist nichts daraus entstanden, aber diese Woche am Gardasee hatte ihre Spuren hinterlassen. Kurze Zeit darauf sind dann Susanne und Alex zusammengekommen. »Wird Nicole es jemals Susanne erzählen?« Unglaublich, wie ihn die Vergangenheit eingeholt hatte, dachte Alex. Als er merkte, dass Ruslan näher kam, ließ er seinen Blick von den langen samtigen Beinen auf das Seepanorama schweifen. » Nicole merkt schon nichts«, dachte er und ging zum Grill. Nach einer gefühlten Stunde im See wurde der Grill angezündet. Mittlerweile war es circa 19:50 Uhr und alle haben Hunger.
Susanne kam mit den Nachbarn ins Gespräch, Maite gesellte sich dazu. Es war eine marokkanische Großfamilie bzw. die drei jüngeren Töchter dieser. Eine von ihnen war Jamila, eine junge großgewachsene Frau mit gelockter Mähne. Sie gingen zusammen zur Schule und heute arbeitete sie seit längerer Zeit in dem besten und einzigen Reisebüro in Chorweiler. Sie erzählten sich von den letzten Urlauben und Jamila von Hoteltests, zu denen sie regelmäßig eingeladen wurde. Für eine marokkanische Familie ging es sehr locker zu. Die Männer tranken Bier und rauchten Shisha direkt am See. Es war eine sehr ausgelassene Atmosphäre, bis sich Ruslan etwas versuchte aufzuspielen.
»In Tschetschenien haben meine Verwandten euch Moslems kennengelernt«, rief er und ging auf die vergnügt feiernde Gesellschaft zu. Alex reagierte sofort und zog ihn zur Seite, bevor einer der Nachbarn merkte, dass der Schreihals sie meinte.
Alex nahm sich jetzt Ruslan vor. »Ich denke, du kommst aus Weißrussland! Was soll der Mist, wir kennen diese Leute schon seit der 5. Klasse! Sie sind immer sehr höflich zu uns gewesen und total westlich eingestellt. Ich kenne niemanden aus dieser Familie, der schon mal negativ aufgefallen wäre!«
Ruslan verdrehte die Augen und entschuldigte sich. Er stand ganz schön mickrig da, neben dem 1,95 Meter großen und total trainierten Alex. Ruslan selbst war nur circa 1,73 Meter groß und eher schmächtig. Dafür hatte er eine Klappe wie ein Bodybuilder, total aufgeblasen. Die beiden hatten sich damit erst so richtig kennengelernt. Nach einer kurzen, emotionsloseren Debatte über die großen Weltreligionen und deren Fanatiker nahmen sie sich jeder ein eiskaltes Bier. Sie setzten sich zu Alain, der schon begonnen hatte zu grillen. Es dauerte nur kurze Zeit und das gesamte Areal roch köstlich nach Bauchspeck, russischen Schaschlik-Spießen, marinierten Nackensteaks und Garnelenspießen in Speckmantel. Die Raubtierfütterung dauerte eine gute Stunde und die untergehende Sonne tauchte die Landschaft in warme Töne. Jetzt lagen sich alle wieder in den Armen und es wurden so manche lustigen Geschichten von früher erzählt. Auch von jener Abschlussfahrt am Gardasee. Bei jeder Anekdote darüber schreckte Alex innerlich zusammen und Nicole warf ihm provozierende Blicke zu. Diese Art von Blick, die man direkt deuten konnte. »Wie konnte das passieren, warum macht sie so was?«, fragte sich Alex, der insgeheim die Antwort auch nicht wissen wollte. Sie war hübsch, keine Frage, aber seine Susanne war auch eine Granate. Außerdem hatte Susanne diese Ausstrahlung, sie war einfach das, was er sich ersehnte. »Sie ist meine Seelenverwandte!«, dachte Alex. Fast schon erschrocken über diese tiefen Erkenntnisse seiner momentanen Beziehung beschloss er, alles, was von Nicole an Sticheleien kommen sollte, zu ignorieren.
Das Thema wechselte Maite. Sie sprach jetzt quasi pausenlos über ein unheimlich wichtiges Präparat, welches sie momentan in der Uni herstellte. Sie stellt sich darauf ein, ihre gesamte Bachelorarbeit über dieses Molekül zu schreiben.
»Es ist ein besonderer Salizylsäureester, der vielleicht bahnbrechende Eigenschaften haben könnte. Ähnlich wie Aspirin sollte dieser Stoff enzymatisch die Produktion von Prostaglandinen im Körper steuern. Prostaglandine werden bei Verletzungen, Entzündungen und Schmerzen allgemein freigesetzt. Sie steuern somit das Wohlbefinden.«
Ruslan meldete sich zu Wort. »So eine Art von LSD habe ich auch mal probiert. Ist mir nicht so gut bekommen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich in Unterhosen und mit offenem Hemd von der Party heimgekehrt bin.«
Ein Gelächter brach los. Nach diesem trockenem Stoff gab es endlich wieder was zu lachen.
»Maite, vergiss heute mal deine Uni! Wir sind zum Feiern hier«, sagte Susanne.
Alain warf ihr einen verstohlenen Blick zu und drehte langsam die Musikanlage auf. Diese Situationskomik machte den Charme von Alain aus. Alle kleinen Anmerkungen passten immer so genau in die Situation, die sich gerade abspielte. Er war dafür im Studentenwohnheim bekannt, mit seiner lockeren und etwas zurückhaltenden Art die Situation fast schon einzigartig zu kommentieren. Er ist dabei nie abgehoben, was Maite jedes Mal ein Funkeln in die Augen trieb.
»Die zwei haben sich einfach gefunden«, dachte Nicole. Erneut sah sie Ruslan zur Schnapsflasche greifen.
»Dieser Typ raubt mir noch den letzten Nerv«, dachte sie und schaute kurz verstohlen zu Alex.
»Susanne hat so ein Glück gehabt. Unglaublich, die denkt wohl, sie ist was Besseres!«
Als Nächstes haben die Jungs begonnen, auf dem Grill ein kleines Lagerfeuer einzurichten. Die Installation aus Pappkarton, Ästen und leider auch Blättern, die Ruslan unbedingt zum Anzünden benutzen wollte, wurde mit einem kräftigen Schluck Flüssiganzünder übergossen. Die Stichflamme war atemberaubend, das Lagerfeuer oder eher die Blätter trieben einem Tränen in die Augen. Unsere Nachbarn waren auch nicht begeistert und zogen es vor, für heute Schluss zu machen, sie gingen nach Hause. Alle, außer Jamila, sie fragte, ob sie sich noch etwas zu uns setzen könnte. Sie hätte noch keine Lust, mit den anderen nach Hause zu gehen.
Alle stimmten zu, auch Ruslan. Der Verfechter und Beschützer der westlichen Lebensart aus Weißrussland hatte wohl ein Auge auf die großgewachsene Afrikanerin geworfen. Anscheinend ist jetzt ihre Herkunft, Religion und Gesinnung nicht mehr von Bedeutung.
Es wurde immer dunkler und wie ausgerechnet Susanne wieder auf die Idee gekommen ist, von den Spukgeschichten übers Haus Fühlingen zu reden, konnte sich im Nachhinein niemand erklären. Es ist offensichtlich gewesen, dass auch ihr bei der Ankunft sehr unwohl gewesen ist. Sie musste dabei immer an ihren Vater denken, der letztes Jahr durch einen grausamen Autounfall in der Nähe der angrenzenden Landstraße verstorben war. Es gibt einige Fotos, außerdem sogar einen kurzen Super-8-Film von Susanne und ihrem Vater spielend auf dem Grundstück von Haus Fühlingen. Das Areal ist schon in den 80ern eine öffentlich zugängliche Ruine gewesen. Sie haben sich dabei immer mit Prinzessin und Herr König angesprochen. Ein ganz normales Szenario für kleine Mädchen, die mit Märchenfilmen aus Tschechien bombardiert wurden. Nach dem Unfall war ihr Vater noch eine Woche am Leben gewesen und ist kurz vor seinem Ableben aus dem Koma erwacht. Als würde er Susanne noch etwas mit auf den Weg geben wollen. Er konnte leise und bedacht reden. Er erklärte, dass er kurz vor dem Ford-Werk Merkenich von etwas Hellem geblendet wurde. Dann könne er sich nur noch an einen kurzen Zeitraum nach dem Unfall erinnern, wobei er schon eingeklemmt in der Fahrerkabine des umgestürzten LKWs lag. Er erwähnte immer einen fülligen alten Mann, der in einer Art Fischermantel neben ihm gestanden hatte und ihn grimmig ansah. Der alte Mann konnte ihm wohl altersbedingt nicht helfen.
»Hat der Alte die Polizei gerufen?«, fragte er immer.
Er war ein starker Mann gewesen, der die Kraft besaß, seiner Familie Lebewohl zu sagen. Einige Stunden später war es um ihn geschehen. Die Beerdigung eine Woche später war schrecklich. Alles kam ihr hoch, wenn sie Haus Fühlingen live sah. Aber Spukgeschichten über vergangene Tage erzählen, das schien für sie in Ordnung zu sein.
Sie wusste anscheinend einiges und fing euphorisch, aufgeregt an zu reden.
» Wusstest ihr, dass ganz Fühlingen und das Worringer Feld Schauplatz eines riesigen Gemetzels im Mittelalter gewesen sein sollen? Genau hier soll die Rivalität zwischen Düsseldorf und Köln ihren Ursprung gehabt haben. Über eintausend Tote soll es gegeben haben und die Leichen der Gefallenen sollen meterhoch gestapelt worden sein. Genau da, wo sie einst die Leichen gestapelt haben, wurde Haus Fühlingen erbaut. Es soll jedem Besitzer Pech gebracht haben. Man redet immer von einem adeligen Bankier, der Haus Fühlingen Ende des 17. Jahrhunderts erbaut haben soll. Dieser Adelige baute auch Stallungen für sein Gestüt, welches er auf den Feldern ringsum aufbauen wollte. Leider erwies sich schon nach kurzer Zeit, dass die Gegend für eine Pferdezucht total ungeeignet war. Kurze Zeit später, nach Fertigstellung des Hauses, verkaufte er wieder die komplette Anlage. Vom adeligen Bankier kaufte ein Gutsherr aus der Umgebung das Haus, um auf den Wiesen und Feldern Kies abzubauen. Die so entstandenen Kiesgruben waren gleichzusetzen mit der Grundsteinlegung des Fühlinger Sees. Teile der so entstandenen Seen wurden schon in den 30er Jahren als Naherholungsgebiet genutzt. Mit allem, was dazu gehört. Strandbad, Café und schönen, noblen Strandkörben.«
Nicole unterbrach Susannes Redeschwall. »Woher weißt du diese ganzen Sachen? Ich fühle mich wie in einer Geschichtsstunde bei Frau Kratz! Erinnerst du dich? Unsere Lehrerin für Geschichte und Politik auf der Gesamtschule. Ich bin auch in Chorweiler geboren, aber von diesen ganzen Sachen habe ich noch nichts gehört!«
»Tja«, antwortete Susanne trotzig. »Meine Verwandtschaft stammt eigentlich aus Fühlingen selbst. Meine Oma wohnt immer noch da. Ich habe diese Geschichten immer von meinem Vater erzählt bekommen, der konnte einfach super Geschichten erzählen!«
Susannes Gesicht verzog sich wieder ein bisschen. Sie schaute ins Mondlicht und drehte sich euphorisch direkt wieder zu der gespannten Meute.
»Aber das Beste habe ich noch nicht erzählt!«
»Der Gutsherr ist ein sehr ehrgeiziger Mensch gewesen, der für seinen Profit auch vor Grausamkeiten nicht zurückschreckte. Er beschäftigte in der Nazizeit viele Zwangsarbeiter und ließ sie in den Stallungen einkerkern. Tagsüber wurden sie angekettet und zur Arbeit in den Steinbruch getrieben. Wie Vieh, was man auf eine Weide treibt! Meine Oma hat die Kolonnen öfters gesehen. Sie wurden am Schwimmbad unterhalb des Herrenhauses vorbei zum zweiten Steinbruch getrieben. Da steht heute das Bootshaus der Regattabahn. Der Gutsherr hatte eine schöne Tochter, die damals zwischen zwölf und sechzehn Jahren alt gewesen sein muss.«
Ruslan unterbrach das Schweigen kurz mit einer obszönen Bemerkung.
»Diese Tochter verliebte sich in einen jungen gutaussehenden Zwangsarbeiter. Der Junge, kaum älter als sie, erwiderte dieses Liebesgesäusel erst nicht. Kein Wunder in seiner Lage! Doch wie das Leben so spielt, wurden die beiden ein heimliches Paar, immer auf der Flucht vor neugierigen Blicken und ihrem strengen Vater.«
Maite gab ein Surren von sich und liebkoste Alain, den die plötzliche Aufmerksamkeit um seine Person total verlegen machte.
»Typisch Streber«, hetzte Ruslan. » Schnapp sie dir richtig«, rief er dazwischen.
Susanne fuhr fort.
»Eines Tages erwischte der Gutsherr seine geliebte Tochter beim Fluchen. Eigentlich wäre es keine große Sache gewesen, doch das Burgfräulein fluchte auf Polnisch. Allerunterste Schublade! Der Gutsherr war entsetzt. Er recherchierte sofort, welcher der dreckigen Zwangsarbeiter Kontakt zu seiner Tochter hatte, und wurde fündig. Schnell hatte einer der älteren Zwangsarbeiter ausgepackt und beschuldigte ebendiesen jungen Polen, für ein paar Vorzüge bei der Aufgabenverteilung im Steinbruch.«
»Verräter«, rief Alex. Ruslan buhte und ein Gelächter folgte.
»Der Gutsherr war außer sich vor Wut und bestellte einen guten Freund des Hauses zu sich. Der örtliche Gestapo-Richter, welcher die gesamte Rechtsprechung innerhalb diese Stadtgebietes verkörperte, stand kurze Zeit später auf der Matte von Haus Fühlingen. Die Schergen der Schutzstaffel hatte er direkt mitgebracht. Sie machten kurzen Prozess mit dem armen Polen. Die übrigen Zwangsarbeiter sollten alles mit ansehen. Die Tochter des Gutsherrn schlief fest und wurde vom Hundegebell des SS-Zuges geweckt. Als sie zum Fenster im ersten Obergeschoss ging, durchzog ein schmerzhafter Schreck ihren ganzen Körper. Sie konnte sich nicht bewegen und stand da wie erstarrt. Ihr Geliebter hing am Halse aufgeknüpft am Scheunentor des Gestüts. Zur Sicherheit soll der Richter selbst noch die Hand angelegt haben. Mein Vater hat immer gesagt, wenn die Alliierten nach der Eroberung des Kölner Stadtgebiets das gewusst hätten, wäre der gute Mann kein Richter geblieben.«
Maite entsetzt: »Was, der Typ ist nach dem Zusammenfall des Dritten Reichs Richter geblieben? Was soll er denn mit dem Jungen gemacht haben?«
Susanne antwortete fast schon verlegen. »Der Richter soll ihm ins Gesicht geschossen haben. Als Zeichen für die Zwangsarbeiter! Zu seinem Glück stand die Rückeroberung durch die Amerikaner kurz bevor, dabei sind wohl die meisten Zeugenaussagen abhandengekommen.«
»Dann hat wohl ganz Fühlingen den Drecksack geschützt«, sagte die bis jetzt absolut zurückhaltende Jamila. »Tolle Leute hier! Ich glaube, ich hau ab!«
Susanne antwortete schnell und sehr verlegen. Sie war da ganz schön tief in ein Fettnäpfchen getreten. Jetzt dachten anscheinend alle, sie wären in einer Nazifamilie groß geworden, die NS-Verbrecher schützt.
»Bitte bleibe sitzen! Das ist anders gelaufen, Jamila, schon einen Tag drauf wurde das ganze Stadtgebiet von den Amerikanern befreit und die Zwangsarbeiter haben sich umgehend am Gutsherrn gerächt. Sie hängten ihn ebenfalls und zündeten danach die Scheune mit ihm an. Die Reste der abgebrannten Hofanlage sind noch zu sehen. Der Richter wurde länger nicht mehr gesehen und tauchte erst Jahre später wieder auf. Zeitzeugen Fehlanzeige, nur das Gerede im Dorf, was niemand beweisen kann!«
»Was ist aus dem Rest der Familie des Gutsherrn geworden?«, fragte der nachdenklich aussehende Alex.
»Ist das Mädchen in Sicherheit? Oder wurde es mit ihrem Vater aufgeknüpft?«
Susanne beruhigte sich wieder und fuhr mit ihrem Schauermärchen fort. »Das Mädchen war der einzige Nachkomme des Gutsherrn und wurde nie wieder gesehen. Die Leute im Dorf redeten wohl oft von ihr. Sie soll einigen sogar in der Nähe des Hauses begegnet sein.«
Ruslan platzte mal wieder in die Situation. » Bestimmt! Alles Ammenmärchen!«
»Nein, ich sage euch, es gab da eine alte Frau, die im Haus gearbeitet hatte. Die soll sich so erschrocken haben, dass sie den Hang vor dem Haus zum See hinuntergefallen ist. Sie war seit diesem Tag an querschnittsgelähmt. Das Haus ging nach dem Krieg an die Bezirksverwaltung über und wurde nicht genutzt. Einige Jahre später, so in den 50ern, soll das Haus ein Privatmann gekauft haben. Der hat es dann verfallen lassen. Aber wer das gewesen ist, weiß ich nicht. Meine Familie hat allgemein wenig über diese Ereignisse geredet. Mein Vater wollte nie über die Geschichte des Hauses reden, aber meine Großmutter fing immer wieder davon an. Meistens tat sie das, wenn wir alleine waren. Sie redete viel über die schöne Umgebung hier und den See, der damals schon so sauberes und klares Wasser führte. Ich bin manchmal mit ihr zum See gefahren und spazieren gegangen. Ich musste dann immer auf dem Feldweg nach Haus Fühlingen halten. Dann sind wir zusammen den kleinen Weg zum See spaziert. Wie wir das heute getan haben.«
»Hat jemand Bock auf einen Caipirinha?«, Alex fragte anscheinend genau zum richtigen Zeitpunkt. Die gesamte Lagerfeuerrunde stimmte zu. Alex hatte zu Hause alles vorbereitet. Rohrzucker, Limettensaft, Zuckerrohrschnaps und Crushed-Eis von der Tankstelle. Er legte sofort los. In seiner Zivildienstzeit hatte er abends in einer Bar gearbeitet. Was er nach dem dritten bis vierten Bier immer erwähnte.
Es war schon spät und um den See herum wurde es stiller. Das Mondlicht ließ den See wie einen Spiegel wirken. Der warme Sommerwind wehte sanft das Schilf und das Zirpen der Nacht spielte uns ein Konzert. Es war jetzt schon nach 23:00 Uhr.
»Ist jemand von euch hier schon mal auf dem Summerjam Festival gewesen? Es findet jedes Jahr auf der großen Wiese und eigentlich dem kompletten Areal des Naturschutzgebietes Fühlinger See statt. Ich bin die letzten drei Male dort gewesen! Es ist ein Reggae-Festival unbeschreiblicher Art«, schwärmte Jamila. »Einfach unglaublich, diese jamaikanischen Rhythmen in Köln. Die meisten Interpreten werden extra für das Festival aus Jamaika und Kuba eingeladen.«
Maite, Alain, Alex und Susanne waren schon mal da gewesen und konnten ebenfalls von abgefahrenen Storys rund ums Festival erzählen. Nur Ruslan konnte damit überhaupt nichts anfangen.
»Was soll ich da machen?«, fragte er die anderen. »Den ganzen Tag kiffen und mir das Gesäusel von irgendwelchen Stadtaffen anhören?«
»Das war zu viel«, dachte Jamila und wurde sauer. Nicole ging verlegen rüber zu Susanne. »Wie kannst du diese Leute als Stadtaffen bezeichnen? Du bist ein Affe, weißt du das!«
Ruslan hatte damit gerechnet, aber er konnte seine Überraschung trotzdem nicht verbergen. »Mein Gott, das habe ich doch nicht so gemeint! Das sagt man doch nur so, mach dich mal locker!«
Jamila sah ihn immer noch an, als würde sie ihn verprügeln wollen für das, was er gesagt hat und wie er es gemeint hatte. Schlussendlich beschloss sie, Ruslan einfach zu ignorieren, wie es wohl alle hier taten.
Maite versuchte die Szene etwas aufzulockern. »Nächsten Samstag findet auf der großen Wiese das ›Fühlingen for Life‹-Festival statt. Das ist eine Veranstaltung, organisiert von den Studenten der Kölner Uni. Das Festival ist ein Crossover durch R&B, Hip-Hop und auch etwas Dance Hall. Der Erlös geht direkt an die organisierenden Studentenverbindungen. Sollen wir nächste Woche alle zusammen dahin gehen?«
Jamila war immer noch total rot vor Wut. »Wenn dieser Russe zu Hause bleibt, bin ich dabei!«
Ruslan stand vorher auf, um kurz seine Notdurft in einem Gebüsch zu befriedigen. Die Stimmung lockerte sich nach ein paar kurzen männerfeindlichen Witzen der vier Mädels.
»Sollen wir vielleicht einen kleinen Mitternachtsspaziergang machen?«, Alain wollte sich ein bisschen bewegen, um nicht auf der Thermomatte festzuwachsen. Bis jetzt war der Abend ziemlich statisch verlaufen. An einer kleinen Grillstelle neben der großen Autobrücke, die über die Regattabahn führt. Die Mädels waren direkt für den Spaziergang. Alex waren jetzt der Unmut und die Unlust wie ins Gesicht geschrieben, »Ach, lasst uns doch hierbleiben und noch ein paar Caipirinhas killen.«
Susanne wusste direkt, was er vorhatte, »Mach mal langsam, du lallst ja schon! Wir sollten wirklich etwas spazieren gehen!«
Ruslan kam gerade zurück. »Spazieren gehen? Ja klar, bin dabei! Lasst uns zum Herrenhaus gehen, mal nachsehen, ob wir ein paar Geister sehen.« Er lachte hämisch und sah die Panik in den Gesichtern der anderen.
Alain antwortete als Erster. » Ich würde mir das Haus gerne mal genauer ansehen!«
Die Mädels schienen geschockt zu sein. »Das kann doch nicht euer Ernst sein!« Susanne reagierte schon fast panisch. »Auf keinen Fall gehen wir jetzt ins Haus, ich finde es schon bei Tage unheimlich genug.«
Alex schien sich rächen zu wollen und ging total auf die Sache ein. »Klar, lasst uns losgehen!«
Bis auf Susanne waren alle für eine kleine Nachtwanderung. Die skeptische Susanne willigte nach einigen Liebkosungen von Alex ein. Die Gruppe packte alles in ihre Zelte und ging los. Jamila nahm schon mal ihr Fahrrad mit, immerhin war es schon spät geworden. Der Weg schlängelt sich die beiden ersten Seen entlang. Alex und Ruslan nahmen sich noch Grillfleisch und jeweils zwei Flaschen Bier mit. Die Mädels hatten Sekt mit, Maite und Alain wollten mit Bionade anstoßen. Es war kurz vor 24:00 Uhr und alle wollten in Haus Fühlingen anstoßen, um sich wie die feine Gesellschaft von einst zu fühlen. Als die Gruppe den kleinen Feldweg erreicht hatte, der vom See direkt den Hügel hoch zum Herrenhaus führte, stockte ihnen der Atem. »Seht ihr das?«, platzte Jamila in die Stille des Sees. »Was denn, Puppe?«, ätzte Ruslan. Nicole gab ihm einen Ellenbogen in die Seite. »Da oben, ist das nicht das Herrenhaus hinter dem Laub?« Susanne antwortete sofort, »Ja klar! Da brennt irgendein Licht in der oberen Etage. Von hier aus würde ich sagen, sollte es eins der mittleren Zimmer im ersten Obergeschoss sein.«
»Ach, seid ihr sicher?«, Alex sah ein schwaches Flimmern verborgen hinter Bäumen und Gebüsch. »Wie kann man da eindeutig ein Licht oder ein beleuchtetes Zimmer erkennen? Es könnte von hier aus auch eine Straßenlaterne das Licht abgeben.«
Sie gingen weiter, der Feldweg machte einen kleinen Knick. Die verunsicherten Jugendlichen entfernten sich einen kurzen Augenblick weiter vom Herrenhaus und der Landstraße. Die Stimmung wurde besser, sogar Ruslan und Jamila konnten ein bisschen rumalbern.
Dies zauberte jedoch dunkle Regenwolken auf Nicoles Gesicht.
»Hat der einen Knall, dieser blöden Kuh schöne Augen zu machen«, dachte sie. » Unglaublich, jetzt versuchte Ruslan ihr mit seiner Taschenlampe Angst zu machen, indem er von unten auf sein Gesicht leuchtet. Wahnsinnsidee, du super Typ.« Nicole schickte giftige Blicke Richtung Jamila. Jamila selber bekam das sofort mit und orientierte sich mehr zu Maite. Ruslan machte sich noch ein Bier auf und heftete sich an Alex’ Fersen.
Jetzt waren sie auf der Landstraße angekommen. Wenige hundert Meter trennten sie noch vom Arial des Gutshofes. Man merkte, dass sich die Stimmung auf dem Höhepunkt befand, die gesamte Gruppe benahm sich absurd aufgestachelt. Alle waren enorm gespannt und aufgekratzt, das Gelächter war weit hörbar.
Alex empfand das genauso, »Wenn da Geister sind, werden sie uns jetzt schon gehört haben.« Die Gruppe lachte laut, die Mädels quietschten regelrecht. Der kichernde Mob näherte sich dem Eingang der Anlage. Nach einem Wimpernschlag kam das Haus plötzlich zum Vorschein, tatsächlich erhellte irgendetwas ein Zimmer im Obergeschoss. Jedoch war dieses Licht wirklich schwach und könnte ebenfalls aus einem Loch im Dach vom Mondlicht herstammen. Die Mädels stoppten sofort ab, selbst Jamila und Nicole waren sich einig. »Da gehen wir doch jetzt nicht rein?«
Susanne ging wundersamerweise als Erste der Gruppe auf die andere Straßenseite zum Eingang des Gutshofs.
»Kommt schon«, rief Susanne. »Ich bin so oft auf diesem Gelände gewesen, da ist nichts, wovor ihr Angst haben solltet.« Alex sah Susanne an und konnte ein seltsames Funkeln in ihren Augen vernehmen. Die Laterne der Bushaltestelle gegenüber sorgte für ein gedämpftes Licht im Eingangsbereich.
Die überdachte Terrasse warf einen tiefen Schatten ins Haus. Mit Taschenlampen versuchten sie den Eingangsbereich auszuleuchten. Endlich am Eingang des Herrenhauses angekommen übernahm Susanne direkt das Wort.
» Die massive Eichentür hat ein Nachbar aus dem Dorf meiner Oma entwendet. Jeder weiß das, doch niemand nahm es ihm übel. Der letzte Besitzer ließ hier alles verrotten. Warum sollte man nicht das nutzen, was sonst verloren wäre?«
Der Putz im Inneren war fast komplett von der Wand gefallen. Der Boden sah aus wie in einer Lehmhütte in der Sahara. Vom Eingang gingen zwei Flügel ab und geradeaus war das Treppenhaus. Der Flur und die Terrasse waren vollkommen mit Graffitis beschmiert gewesen. Das erste Zimmer zur Linken bestand ebenfalls aus einer Wüstenlandschaft und einem weiteren zugemauerten Bereich. In der Mauer, welche den restlichen Hausflügel vom Zimmer trennte, fehlten einige Steine in Augenhöhe. Hier schien schon mal jemand nach dem Rechten gesehen zu haben. Oder jemand hat nach Stehlbarem Ausschau gehalten.
In diesem Vorraum des linken Flügels sammelte sich die Gesellschaft.
» Hey, lasst uns eine Flasche Sekt aufmachen. Nicole, mach mal dein Handy an und stell die kleine Box auf. Lasst uns Party machen!« Alain hatte wohl Lust, einen draufzumachen. Er redete wie ein echter Anführer, alle stimmten zu und schnell entwickelte sich das Erdgeschoss zu einer Party-Lounge. Die Partygemeinde hatte natürlich mehrere Flaschen Sekt mit und das Erdgeschoss des Spukschlosses wurde zur Disko. Selbst Alain und Maite ließen sich gehen.
Jamila hatte eine schaurige Idee. »Lasst uns das Haus besichtigen. Ruslan! Jetzt kannst du mal zeigen, ob du so ein toller Typ bist, kannst ja vorgehen.«
Nicole reagierte aggressiv. »Ja klar, geh und zeig ihr alles. Schreib mir einfach eine Karte, wenn ihr was gefunden habt! Scheinst ja den Abend zu genießen!«
Nicole stapfte aus der Villa und rempelte Jamila dabei an. Jamila hingegen sprach direkt Susanne an. »Was hat die denn? Ich habe nur Spaß gemacht, ich will nichts von dem.«
Ruslan rief Nicole noch hinterher, » Schatz! Kein Problem, ich regele das mit ihr!«
Jamila fuhr erneut aus der Haut und klatschte Ruslan eine. Sie lief raus und wollte Nicole alles erklären. Von so einem Arschloch würde sie nie etwas wollen.
An der Bushaltestelle konnte sie endlich Nicole sehen. »Hey, warte bitte! Ich will nichts von deinem Freund, ich habe eigentlich ein Riesenproblem mit ihm. Bitte, du kannst ihn bestimmt haben, aber erklär mir eins. Warum ist er so ein Arschloch? Wieso muss er immer alles miesmachen? Ich habe ihn nur angestachelt, weil ich ihn ärgern wollte!«
»O. K.! Aber dann lass ihn ab jetzt in Ruhe, ich mag keine Flittchen, die ihn mir streitig machen wollen!«
»Erstens, ich bin kein Flittchen, und zweitens kannst du den Scheißkerl gerne behalten! Warte ab, bis er dich schlägt! Ich kenne solche Typen, die versprechen dir das Blaue vom Himmel und wenn du ihm vertraust, wird er dich fertigmachen.«
Nicole wurde so langsam richtig sauer. »Du kennst ihn nicht, er ist ein sehr liebevoller Partner und eigentlich nur auf Partys etwas aufbrausend. Lass uns einfach in Ruhe!«
Jamila antwortete einfühlsam und entschuldigte sich. »Tut mir leid, ich wollte ihn dir nicht schlechtmachen. Ich schwöre dir, ich werde ihn nicht mehr ansprechen. Ich habe schon mal schlechte Erfahrungen mit einem Typen gemacht, der ihm etwas ähnelt.«
Nicole sah Jamila skeptisch an. »Was ist denn da gewesen, mit diesem Typen?«
Jamila senkte den Kopf und erzählte, was ihr vor Jahren passiert war. Er war ein Schläger, der schon bei den kleinsten Missgeschicken oder besser Regelverfehlungen ausrastete. Er war ein halbes Jahr mit ihr zusammen und verhielt sich sogar in Anwesenheit ihrer Familie zum Teil ausfallend. Manchmal wurde er auch handgreiflich. Um ihn loszuwerden, wurde ihm der Umgang verboten. Er dürfe sich ihr nicht mehr als fünfzig Meter nähern, und das galt auch für ihre Wohnung. Sie verbrachte die erste Zeit in einem Frauenhaus. Jetzt wohnte sie wieder bei ihrer Familie. Seit dieser Zeit sieht sie diesen Typ »Macho« mit gemischten Gefühlen.
Nicole zeigte Verständnis. Die zwei redeten noch eine ganze Zeit lang an der Bushaltestelle. Abschließend stellten sie fest, dass dieser Abend einfach schlecht gelaufen ist. Niemand hatte so richtig Schuld dran, es waren einfach zu verschiedene Charaktere aufeinandergetroffen.
» Lass es für heute einfach gut sein, ich schnappe mir mein Fahrrad und fahre nach Hause«, meinte Jamila. »Ich bin sowieso etwas geschafft von der Woche. Grüße die anderen, ich bin jetzt weg.«
»Sollen wir dich nicht etwas begleiten?«
Jamila dankte und schlug die Einladung aus. Innerlich dachte sie nur, »Später wirst du dich an meine Worte erinnern. Dann, wenn dieser Idiot dich wegen dem versalzenen Mittagessen verprügelt.« Sie schwang sich auf den Drahtesel und fuhr los. Nur schnell weg von diesem düsteren Ort.
Nicole ging zurück in die Villa, wo alle anderen schon auf sie warteten.
»Wo ist Jamila?«, fragte Susanne.
»Sie ist nach Hause. Wir haben uns ausgesprochen, alles ist aus der Welt. Es gab da eine Reihe von Missverständnissen!«
» Ach«, platzte Ruslan in die Runde. » Ich glaube eher, dass Jamila eine gewaltige Schraube locker hat. Ich mach hier und da einen kleinen Spruch und sie tickt jedes Mal richtig aus.«
»Ruslan, bleibe locker, sie hatte einen Grund. Das hat nichts mit uns zu tun. Sie wurde von ihrem Ex geschlagen und du erinnerst sie an ihn. Sie hat mir erzählt, dass er dieselbe Art hatte wie du. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass er immer ausgerastet ist. Er hat sie über ein halbes Jahr wöchentlich grün und blau geschlagen.«
»Na toll, da gehen wir einmal zusammen feiern und treffen auf eine solche Verrückte. Lasst uns auf einen geretteten Abend anstoßen.«
Alle waren sich einig und versuchten die Aufregung zu vergessen.
» Mach mal die Musik lauter«, rief Alex. » Kommt schon, ihr Angsthasen, lasst uns das Haus erkunden.« In diesem Moment ging das Handy aus. »Was ist los?«, rief Alex. Nicole ging zu ihrem Handy. »Es ist aus, selbst die LED der Mini-Box leuchtet nicht mehr. Egal, lasst uns das Haus ansehen.«
Alex und Alain gingen vor. Ruslan blieb bei Nicole und ist allgemein ganz brav geworden. »Wo sollen wir als Erstes hin? Das Erdgeschoss haben wir erkundet, sollen wir in den Keller oder in die oberen Etagen?«
Alain begann wieder alles zu managen. »Lasst uns die Hütte von unten aufrollen«, sagte er und ging sogar vor.
»Was war das?«, rief Maite. Nach der Treppe ins Untergeschoss stand da plötzlich eine massive Wand im Weg, in der glücklicherweise wieder einige Ziegelsteine fehlten. »Leuchte mal da rein.« Alain nahm seine LED-Laterne und hielt sie in das tiefschwarze Loch. Zum Vorschein kam ein riesiger Gewölbekeller, mit dicken Säulen und schönen gemauerten Bögen. Sie staunten nicht schlecht, als sie die zwei Autos im hinteren Teil des Gewölbes erblickten.
»Da müssen schon einige Jugendliche drin gewesen sein.« Alain lenkte das Licht auf Graffitis.
»Da passen wir schon durch«, meinte Alex und so kletterte die Gruppe nacheinander durch die Öffnung in der Wand. Die Autos waren umwerfend. Es fehlten eine Menge Einzelteile, die wohl einen guten Preis im Online-Auktionshaus gebracht haben. »Schaut mal, hinter dem alten VW steht ein Mercedes. Hammer! Das ist die renommierteste Luxuslimousine aus den 60ern, ein S →.«
» Alex’ Schrauber-Herz schlug höher. » Komm, Alain, den schrauben wir bis morgen auseinander. Lass mal sehen, ob der Motor noch dreht.«
»Alles klar«, erwiderte er. Susanne öffnete die leicht aufstehende Haube.
Einige Kilometer weiter in Worringen fiel Jamila plötzlich auf, dass sie noch den Pullover von Maite anhatte. Ihr war am Lagerfeuer etwas kalt gewesen und Maite war so nett, ihr einen Strickpulli zu leihen.
»Den Strickpulli hat meine Oma gemacht und er ist super gemütlich, schau selbst«, sagte Maite.
Jamila musste sofort an diesen Satz denken. » Ich muss ihr den Pulli sofort zurückbringen. Das ist ein Andenken an ihre Oma, das kann ich nicht auf mir sitzen lassen«, dachte sie.
Jamila war nur noch eine Straße von zu Hause entfernt. Trotzdem drehte sie auf der Stelle um und radelte wieder Richtung See. Im Keller von Haus Fühlingen versuchten unterdessen drei leicht angetrunkene Halbstarke das Handschuhfach des Mercedes aufzubrechen. Alex hatte dafür eine rostige Stange aus dem Volkswagen organisiert. Leider war diese Stange nur circa zwanzig Zentimeter lang. Jegliche Hebelwirkung fehlte somit.
Die Mädels beobachteten das Spiel und öffneten in der Zwischenzeit eine weitere Flasche Sekt. Die Stimmung war wieder hervorragend und die Mädchen begannen Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Ein Spiel, was schon fast in Vergessenheit geraten war. Aber eben nur fast. Damit die Jungs nichts davon mitbekommen, flüsterten sie.
Die Jungs interessierte das nicht, sie waren an diesem Handschuhfach dran.
»Wusstet ihr eigentlich, dass, wenn wir den Fahrzeugbrief des Wagens finden, er offiziell uns gehört? Es würde sogar schon reichen, wenn nur der Schein da wäre«, sagte Ruslan.
»Wieso das denn?«, erwidert Alex. »Um das Auto anzumelden, benötigst du immer den Brief.«
»Nein, den Brief kann man beim Straßenverkehrsamt nachdrucken lassen. Zumindest, wenn der Wagen nicht als gestohlen gemeldet worden ist. Was hier nicht der Fall sein sollte. Die Frage ist dann nur, wie wir unser Eigentum aus dem Gewölbe bekommen. Irgendwie muss das Teil auch hier reingekommen sein. Eins ist sicher, die Treppe hat das Auto nicht genommen.«
So philosophierte die Gruppe munter weiter. Jede Partei hatte ihr Thema gefunden.
Unterdessen fuhr Jamila auf den Vorhof des Gutshauses vor. Im Erdgeschoss brannte kein Licht mehr. Über dem Anwesen schien fade das Mondlicht. Einzig die Laterne der Bushaltestelle schien hell. Im ersten Obergeschoss flackerte ein kleines Licht. »Direkt neben dem Treppenhaus«, dachte sich Jamila. »Das sind bestimmt die anderen, die sehen sich jetzt bestimmt das Haus an.«
Vorsichtig schlich Jamila in das dunkle Treppenhaus. »Hallo, Nicole! Wo seid ihr!« Ihre Rufe hallten durch das Haus. Im Keller jedoch konnte man keinen Ton hören. Die Treppe machte einen Knick und das Loch in der massiven Wand ließ so gut wie keine Geräusche durchdringen. Auch wenn etwas durchdringen sollte, die Mädchen kicherten und quatschten die gesamte Zeit durcheinander und die Jungs waren völlig abgeschrieben. Sie hatten das Handschuhfach ein Stück aufbekommen. In der Ablage schien wirklich der Fahrzeugschein drin zu sein. Was auch logisch war, warum hätte man sonst abgeschlossen? Um den alten Fahrzeugschein nicht zu beschädigen, wollten sie unbedingt das Schloss von der Seite aufhebeln. Der Hebel war kleiner, aber die Gefahr, abzurutschen, war geringer.
Jamila ging in den großen Saal im Erdgeschoss. »Nichts zu sehen«, dachte sie. »Oder doch?« Da standen ihre Vorräte. Zwei Bier, eine Flasche Sekt und Chips. Alex hatte seinen Rucksack neben der Tür liegen lassen. Sie mussten noch hier sein.
»Alex! Susanne! Nicole! Wo seid ihr?«
Sie ging wieder ins Treppenhaus.
»Sie müssen im Obergeschoss sein und mein Rufen nicht gehört haben. Vielleicht ist da eine Türe, die den Schall nicht durchlässt. Ich habe ja die Taschenlampe gesehen.« Die Treppe nach oben hatte kein Geländer mehr. Die Stufen waren karg und ausgetreten. Sie sah nicht einmal die Hand vor Augen. Als sie im 1. OG ankam, fiel etwas Licht von der zur Straße gerichteten Seite durch die großen Fenster.
»Maite! Ich habe deinen Pulli, den von deiner Oma!« Ihre Rufe wurden nicht erwidert. Als sie nach links schaute, sah sie einen schwachen Lichtschlitz unter der Tür neben der Treppe leuchten. »Jetzt habe ich sie gefunden«, dachte Jamila.
Sie ging schnell auf die Tür zu, stolperte, knallte dann mit dem Kopf gegen die Tür und stieß sie damit auf. Als sie wieder zu sich kam, konnte sie nicht fassen, was sie zu sehen bekam. Da war ein älterer, kräftig aussehender Mann, mit lichtem Haar. Er hatte ein komisches, graues Hemd an und saß vor einem massiven Schreibtisch aus Eiche. Er schaute aus dem Fenster. Jamila versuchte ihn anzusprechen. Als sie das tat, drehte er sich langsam um. Er stand auf, zog seinen Mantel an und ging langsam mit den Händen auf dem Rücken verschränkt auf Jamila zu. Jamila rappelte sich in der Zeit auf und versuchte sein Gesicht zu erkennen. Das Mondlicht schien ins Zimmer, da er sich vom Fenster näherte, stand sein kompletter Körper im Schatten.
» Entschuldigen Sie, haben Sie meine Freunde gesehen? Die sind eben noch im Erdgeschoss gewesen und haben ihre Sachen noch dagelassen.«
Der Mann sprach mit einer tiefen Stimme. »Habe keine Angst, mein Kind. Du kannst nichts für deine Fehler! Du bist nur ein minderwertiges Beispiel unserer Theorie. Die Rassenlehre ist eine Wissenschaft, die ihre Thesen immer wieder bestätigt.«
Jamila stand da wie versteinert, als der Alte sich ein Stück nach rechts drehte, sah sie ihm direkt in sein totes, fahles Gesicht. Es sah so kahl aus wie Kalk mit einigen vereinzelten Leberflecken. Im Auge trug die Gestalt ein altmodisches Monokel. Er kam näher und ein fauliger Geruch machte sich im Raum breit, jetzt verstand Jamila alles. Der Mantel war ein Ledermantel der Waffen-SS und diese Gestalt lebte nicht mehr. Es war ein Ding, was nur Wut in sich hatte.
Als sie endlich die Situation verstand und wegzulaufen versuchte, packte sie eine starke Hand am Hals. Ihre Haut brannte, der übermächtige Gegner schlug ihren Kopf gegen die Zarge und warf sie anschließend durch die halboffene Tür. Ein Aufschrei, dann ein dumpfer Schlag.
Im Untergeschoss ging plötzlich das Handschuhfach des Mercedes auf. Eine Ledermappe rutschte heraus, in der ein Führerschein eines Unbekannten und der erhoffte Fahrzeugschein steckten.
»Unglaublich! Super, wir haben was, schaut mal.« Gespannt wurden die Dokumente begutachtet.
»Kommt mit«, rief Alex. »Lasst uns weitergehen. Hier unten ist nichts mehr zu holen.« Sie kletterten nacheinander durch das Loch in der Wand und gingen wieder zurück ins Erdgeschoss. » Ich bin mal kurz eine Stange Wasser an den Busch stellen«, tönte Ruslan. Er ging zum Vordereingang und lief auf einen großen Busch zu.
Die anderen packten etwas Verpflegung aus und schlugen sich die Bäuche mit Nackensteaks auf Toast voll. Dann waren plötzlich Schritte zu hören. »Ist Ruslan nach oben gegangen?«
»Wo soll ich hingegangen sein?« Ruslan stand schon längst wieder in der Türe.
»Da waren eben Schritte zu hören. Über uns!«
»Richtig, da ist Licht an«, erwiderte Ruslan. »Oben in der ersten Etage, ich konnte das von draußen sehen!«
Susanne antwortete hektisch, »Was denn für ein Licht? Hier im Hause ist jedes Stromkabel seit Jahren nicht benutzt worden. Falls euch das nicht aufgefallen sein sollte, nirgendwo sind noch intakte Lampen.«
»Lasst uns nachsehen gehen.«
Unglaublich, Alain versuchte die Initiative zu übernehmen.
»Was denn, was denn«, rief Ruslan. »Anscheinend haben wir einen neuen Anführer! Alain, der Unbesiegbare! Oder eher der Schreckhafte?« Ruslan brachte mal wieder seine schlechteste Seite zum Vorschein. Sie gingen zum Treppenhaus, ein leiser Windzug schien ihnen entgegenzuwehen.
»Da, wieder diese Schritte, das hört sich nach Wanderstiefeln an«, sagte Nicole. » Kommt, lasst uns weitergehen, wir sollten kurz nachsehen und dann nichts wie weg von hier. So langsam finde ich es hier unheimlich.«
Die Gruppe ging weiter in das erste Obergeschoss. Ein großer Raum eröffnete sich ihnen hinter dem Treppenhaus.
»Das muss ein Ballsaal gewesen sein«, sagte Maite. Etwas weiter links stand eine Tür auf, fahles Licht schien aus dem Raum zu leuchten.
»Was ist das da hinten? Da kommt das Licht raus«, rief Ruslan.
Sie näherten sich, bewaffnet mit Taschenlampen und einer gehörigen Portion Angst. Ruslan stieß die Türe auf. Sie öffnete sich in Zeitlupe. Anscheinend ist die Türe sehr schwer und die Scharniere wurden seit Jahrzehnten nicht gefettet. Ein einstig repräsentatives Büro kam zum Vorschein. Ein wuchtiger Schreibtisch mit einem schweren Stuhl ohne Sitzbezug, ein alter Garderobenständer, eine kaputte Kommode und ein großer Spiegel. Der Spiegel hatte zwar einen Sprung, er reflektierte jedoch noch super das schwache Licht der Straßenlaterne.
Alle lachten.
»Das muss das Licht gewesen sein, was wir von weitem gesehen haben.«
Susanne erkundete den Raum. Sie setzte sich auf den abgenutzten Stuhl an den massiven alten Schreibtisch. »Von hier aus kann man super auf die Straße sehen, man hat sogar einen tollen Panoramablick über die Seen. Wahnsinn, das muss das Arbeitszimmer des Großgrundbesitzers gewesen sein.«
»Toll«, sprach Nicole. »Dann müsste im Ballsaal die arme Tochter gestanden haben und den Tod ihres Geliebten von einem der Fenster aus beobachtet haben.«
»Richtig«, rief Alain aus dem Ballsaal herüber. »Hier ist ein Fenster in Richtung Innenhof. Dort hinten sollten dann die Schlafräume gewesen sein. Hier ist sonst nichts mehr, nur eine Riesenmenge an Putz und Dreck. Lass uns noch in die zweite Etage gehen. Vielleicht sind dort noch Möbel oder anderes Zeug.«
Susanne schaute noch die vorhandenen Schubladen durch.
»Nichts drin.« Sie ärgerte sich und schlug die letzte Schublade zu. Dabei fiel ein Stück Furnier ab und eine kleine Klappe am verschnörkelt geschnitzten Tischbein kam zum Vorschein.
»Was ist das?«, rief sie jetzt.
Alex kam sofort herbeigeeilt. »Lass mal sehen, das scheint ein kleines Versteck zu sein. So was ist gut möglich, in einem handgemachten und einst so toll verzierten Schreibtisch.« Alex öffnete die Klappe mit einem kleinen Taschenmesser. Er fühlte in die kleine Kammer.
»Da ist ein gefaltetes Dokument und ein Stück Stoff. Wartet, da ist noch eine dünne Kette mit einem Medaillon.«
»Lies mal, was da steht«, rief Maite.
Nach Erlass der Reichsregierung vom 8. März des Jahres 1940 vollstreckt der anwesende Hauptwachtmeister Schubert im Beisein des verurteilenden Richters Kilian die Todesstrafe durch den Strang. Das Todesurteil, begründet aus der Straftat des polnischen Zivilarbeiters Edward Margol, der die minderjährige Tochter des Großgrundbesitzers Köhler unzüchtig berührt haben soll. Der Tathergang wurde von Herrn Köhler selbst beobachtet. Dies stellt eine gravierende Verletzung der Rassengesetze und der Gehorsamsverpflichtung polnischer Zivilarbeiter gegenüber deren Gutsherrn dar.
»Unglaublich, das ist die Vollstreckungsurkunde eines Todesurteils. Ich habe noch diesen Stofffetzen mit einem P und diese dünne Kette mit einem schönen Medaillon gefunden. Was hat das zu bedeuten?«
»Da hatte wohl jemand ein Geheimnis«, rief Ruslan in den Raum. »Eine Leiche im Keller oder den Vollstreckungsbescheid im Schreibtisch. Der nette Papa, der seinen polnischen Zwangsarbeiter-Schwiegersohn abmurksen ließ. Versteht ihr denn nicht! Der Alte wäre sicher dran gewesen, wenn die Amerikaner diese Urkunde bei ihm gefunden hätten. Dass er den nächsten Tag sowieso nicht erleben würde, weil ihn die übrigen Zwangsarbeiter noch in der Nacht gelyncht hatten, konnte er ja nicht wissen. Wahnsinn!«
»Mir wird ganz komisch«, sagte Maite. »Das ist ein Albtraum! Dieses Dokument macht mir echt Angst! Können wir nicht endlich abhauen? Wir sind jetzt bestimmt schon über eine Stunde in diesem muffigen Haus.«
Alex hatte Blut geleckt und versuchte sie zu beeinflussen.
» Komm schon, sei kein Spielverderber. Wir haben nur noch eine Etage vor uns.« Er bekam natürlich sein Recht und so setzte sich die Touristengruppe in Bewegung. »Was ist das da hinten am Treppenabgang?«, rief Alex nervös.
»Da steht doch jemand! Hallo! Sie da!«
Susanne drängelte sich nach vorne.
»Wer ist da? Was hast du gesehen?«
Alex lief auf die Treppe los, dem Eindringling hinterher. Die restliche Truppe wartete im Ballsaal. Nur einige Augenblicke später stand Alex wieder im Türrahmen.
Susanne wollte jetzt sofort wissen, was er gesehen hatte.
»Ich habe einen großen, schweren Typen im Mantel auf der Treppe stehen gesehen. Ich bin sofort auf ihn zugelaufen. Er hat überhaupt nicht reagiert und ging schnell die Treppe hinunter.«
»Wie sah er aus? Konntest du sein Gesicht erkennen?«
»Ja, das konnte ich, er sah sehr zornig aus. Sein Gesicht hatte sehr markante Züge und sein Nacken war ausrasiert gewesen. Die Haare, die noch auf seinem Kopf wuchsen, ließ er lang wachsen und kämmte sie über seine Glatze. Der Typ war ein schäbiger Vogel, keine Frage, aber auf der Treppe muss ich ihn verloren haben! Kommt jetzt nur kurz in die nächste Etage und dann gehen wir wieder an den See.« Alex ging zwei Schritte vor, die anderen warteten im Treppenhaus. Eigentlich wollte jeder gehen, außer Alex.
»Kommt schon«, rief er jetzt und stürmte auf die Zwischenetage. Er schaute nach oben in den zweiten Stock. Sein Gesicht verzog sich sofort, er fiel nach hinten und sackte in sich zusammen. Als er seinen Blick auf die versteinerte Gruppe richtete, lief eine Träne seine Wange hinunter.
Susanne war wie alle anderen auch schockiert von seiner Reaktion. Sie ging langsam auf ihn zu und drehte ihren Kopf zögerlich nach oben.
Ein durchdringender Schrei kam aus ihr, der nach einem Wimpernschlag in ein wimmerndes Heulen überging. Die Übrigen reagierten nicht anders. Lediglich Maite konnte ihre Veggie-Würstchen nicht in sich behalten. Es roch jetzt, wie es aussah. Einfach schrecklich.
Im Treppenhausflur der zweiten Etage hing Jamila, am Halse aufgeknüpft. Ihre dunklen Locken hingen blutdurchtränkt herunter. Ihr Oberteil wurde zerschnitten und zwischen ihren Brüsten klaffte ein großes aufgerissenes Loch. Unter ihr lagen Exkremente und eine große Menge Blut lief die Treppe hinunter. Ein Rinnsal, welches erst seit kurzem getrocknet sein musste. Es war ein grauenhafter Anblick. Hinter ihr stand in seltsamen altmodischen Buchstaben:
Nehmt die Hure aus meinem Haus.
Das ist ein unbeschreiblich schockierender Anblick für die Gruppe gewesen. Sie hielten sich an den Händen und liefen die Treppen runter zur Straße. An der Bushaltestelle sammelten sie sich wieder. Maite und Alain zitterten am ganzen Körper, vor lauter Angst konnten sie nicht einmal richtig reden. Susanne und Nicole heulten, sie hielten sich an den Schultern ihrer Männer fest.
Ruslan schaute Alex absolut ernst an. So hatte er sich noch nie gezeigt. » Was sollen wir jetzt machen? Ich schätze, wir müssen die Polizei rufen.«
Nicoles Heulen verstummte kurz danach.
»Was, aber was sollen wir ihnen denn sagen?«
Alex antwortete gefasst und sehr ernst. »Wir sagen ihnen, dass wir das Grundstück widerrechtlich betreten haben und dass in der zweiten Etage Jamila hängt. Ganz einfach, die ganze Geschichte. Wir haben nichts zu befürchten! Klar, wir haben unbefugt dieses Grundstück betreten, aber da wir keinen Fernseher klauen wollten, sollte das nur ein Bagatelldelikt sein. Das ist nur eine Ordnungswidrigkeit aber welches Monster hat das Jamila angetan?«
Maite flüsterte mit wimmernder Stimme. »Habt ihr gesehen, wie ihre Brust ausgesehen hat? Man hat ihr das Herz herausgerissen. Wieso macht man so was? Wer hat ihr das nur angetan?«
Alain flüsterte, » Keine Tat fordert so eine Vergeltung. Das war der Teufel persönlich!«
Alex versuchte die Situation an sich zu reißen. » Ruhe! Ich rufe jetzt die Polizei.«