Haus über Kopf - Krissi Brückner - E-Book

Haus über Kopf E-Book

Krissi Brückner

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Beschreibung

Als sie vom Heiratsantrag ihres Freundes überrumpelt wird, spürt die Journalistin Ella Kühne, dass ihr Leben nicht mehr nach ihren Vorstellungen verläuft. Sie kehrt Berlin den Rücken, um bei ihrer besten Freundin in Bautzen Zeit zum Nachdenken zu finden. Was als Auszeit gedacht war, erweist sich als solider Neubeginn. Um wieder Fuß zu fassen, nimmt sie einen Job bei einer lokalen Tageszeitung an. Dass ihr Vorgänger, Jo Hartmann, unter noch ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist, lässt ihr keine Ruhe. Bei ihren Recherchen stößt sie auf einen großangelegten Betrug. Musste Jo Hartmann sterben, weil er zu viel wusste? So begibt sich Ella mit journalistischer Neugier und viel Charme auf Spurensuche, ganz zum Leidwesen des ermittelnden Kriminaloberkommissars Benno Kastner.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Krissi Brückner

Haus über Kopf

Ein Fall für Ella Kühne

Krissi Brückner lebt mit Ihrer Familie in Bautzen, wo auch ihr Debütroman um die Journalistin Ella Kühne spielt.

Inhaltsverzeichnis

Haus über Kopf

1

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ENDE

Impressum

Krissi Brückner

Haus über Kopf

Kristin »Krissi« Brückner wurde 1979 in Bautzen geboren und wuchs in der Oberlausitz auf. Das Studium der Sozialwissen- schaften führte sie nach Dres- den, Görlitz und Zittau. Aktuell lebt sie mit ihrer Familie in Baut- zen, wo auch ihre Geschichten spielen. Bereits als Kind schrieb sie Kurzgeschichten und Gedich- te, später Artikel für die Schüler- und Studentenzeitung.

Um auch das Handwerk hinter dem Schreiben zu begreifen, ab-

solvierte sie ein Studium zum Schreiben von Prosa- und Kri- minalliteratur und im Anschluss noch eine Fortbildung zur freien Lektorin.

Ihre erste Veröffentlichung ist die Kurzgeschichte »Von Mön- chen und Mythen« in der Anthologie »Ost-Rand-Geschichten«, erschienen beim Oberlausitzer Verlag 2022.

Mit »Haus über Kopf – ein Fall für Ella Kühne« veröffentlicht sie ihren Debütroman.

Krissi Brückner

Haus über Kopf

Ein Fall für Ella Kühne

Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Ge- schehnissen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

© Neissuferverlag – Brückner, Hörhold, Sturm & Thiem GbR Thrombergstraße 1, 02625 Bautzen

© 2024 Krissi Brückner

Lektorin: Karin Damaschke Portraitfoto: Tine Jurtz, Dresden Umschlaggestaltung: Anne Gebhardt Coverbild: Elke Burkhardt

Layout und Satz: Dorit Schneider

Druck und Bindung: Booksfactory, Polen ISBN 978-3-910866-17-1

www.neissuferverlag.de

1

Auf dem Boden lag ausgebreitet der Stadtplan von Bautzen, daneben sammelten sich Exposés von al- ten Stadtvillen und Bürgerhäusern. Man hätte bei dem Anblick vermuten können, jemand suche nach einer neuen Behausung.

Über all dem kniete Jo Hartmann, der zwar auf der Suche war, aber nicht nach einem Zuhause. Sein journalistisches Bauchgefühl trieb ihn an, irgendet- was war hier faul.

In den letzten Tagen hatte es sich in Bautzen her- umgesprochen, dass fremde Investoren in der Stadt waren, um vom Verfall bedrohten Bürgerhäusern neues Leben einzuhauchen. Die Immobiliensitua- tion in Bautzen war angespannt. Viele Interessen- ten mit viel Geld hatten in der Vergangenheit, di- rekt nach der Wende, hier ihr Schindluder getrieben. Heute fehlte es an bezahlbarem Wohnraum. Einfa- milienhäuser verkauften sich wie geschnitten Brot, doch in die mehrstöckigen Bürgerhäuser hatte bis- her keiner investieren wollen.

Jo Hartmann liebte seine Heimatstadt, besonders die alten Villen hatten es ihm angetan. Da er meist zu Fuß unterwegs war, blieb er ab und an vor einer

stehen und hatte das Gefühl, die Stadt und ihre Stimmung aufnehmen zu können. Zu gern hätte er selbst eines der alten Häuser gekauft, aber das lag weit über dem Budget eines Lokaljournalisten. Ob- wohl er nicht viel zum Leben brauchte, herrschte auf seinem Girokonto meist Ebbe. Alle zwei bis drei Jahre gönnte er sich eine große Reise, auf die er eisern sparte. Wer wollte schon im Urlaub knausern! Japan war sein nächstes Ziel.

Interessiert daran, diejenigen zu treffen, die in seine geliebte Stadt investieren wollten, und nicht zuletzt getrieben von journalistischer Neugier und einem unerklärlichen Missbehagen, forschte er nach und stieß auf eine Firma, die »Kollmer Immobilien Invest« hieß. Eine ortsansässige Immobilienfirma war das nicht, das hätte er gewusst, nicht einmal eine aus dem näheren Umland. Er klickte weiter. Warum interessierten sich Investoren aus Nordrhein-West- falen ausgerechnet für Immobilien in Bautzen? Die Zeiten, in denen der goldene Westen in den Osten investiert hatte, waren doch lange vorbei.

Jo Hartmann stand auf und streckte sich. Dann ließ er sich in seinen Bürostuhl zurückfallen, der da- durch gefährlich wackelte. Jo war groß, kräftig ge- baut und kein Kostverächter, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet war, dass er allein lebte, bestens versorgt von den Besitzern der Pizzeria unter ihm.

Er nahm sein Notizbuch, vermerkte sich ein paar

Zeilen und darunter in seiner eigenen Kurzschrift

»Kollmer Immo anrufen«. Dann löschte er gegen halb zehn das Licht, schloss das Redaktionsbü- ro ab und lief nach Hause in der Hoffnung, dass Gina Bianchi, die charmante Pizzabäckerin, für ihn ein Abendbrot zur Seite gestellt und vielleicht auch noch Lust auf ein Glas Wein hatte.

2

Ella lag im Bett, die Decke bis unters Kinn gezo- gen, und starrte ins Dunkel. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und sie fühlte den kühlen Luft- hauch, der durch das gekippte Fenster zog. Durch die Jalousie schimmerte ein Streifen Licht von der Straßenlaterne und zum wiederholten Mal in dieser Nacht hörte sie Sirenen durch die Straßen heulen.

Neben ihr lag Stefan. Sein leises, monotones Schnarchen hatte etwas Beruhigendes und trotzdem konnte sie keinen Schlaf finden. Vor drei Monaten war sie dreißig geworden, sie hatten eine große Party mit Freunden und Familie gefeiert und letztlich war ihr die Dreißig gar nicht mehr so bedrohlich vorgekommen. Am Abend darauf hatte Stefan ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ihr das vor all den Leuten nicht gefallen hätte, auch wenn es ihm eine Freude gewesen wäre.

So aber war er zu ihr ins Wohnzimmer gegangen.

»Ich habe noch ein kleines Geschenk für dich.« Mit diesen Worten war er vor ihr niedergekniet, eine winzige Schachtel aufgeklappt in den Händen und darin ein bezaubernder feiner Silberring, in sich ge- dreht, mit einem kleinen Stein. »Ella Kühne, willst

du mich heiraten?« Ella war vor Schreck wie ver- steinert. Sie hatte niemals darüber nachgedacht, dass Stefan ihr einen Antrag machen könnte.

»O mein Gott!«, war alles, was sie herausgebracht hatte. Etwas umständlich hatte Stefan sich wieder aufgerichtet. Die Enttäuschung stand ihm ins Ge- sicht geschrieben. Verlegen hatte er gestammelt:

»Ich wollte dich nicht überfahren, aber ich dachte, du … also wir …«

»Stefan, es tut mir leid.« Ella hatte das Bedürfnis gehabt, ihn zu trösten. »Das kommt nur so plötzlich und wir haben auch noch nie darüber gesprochen. Ich liebe dich, ich weiß nur nicht, ob ich überhaupt heiraten möchte.« Dann hatten beide wie zwei Häuf- lein Elend auf der Couch gesessen.

»Ich dachte immer, das wollen alle Frauen«, hatte Stefan noch niedergeschlagen gesagt.

»Es tut mir leid, dass ich nicht wie alle Frauen bin.« Ella hatte seine Hand genommen und ihn an- gesehen. »Wir haben doch noch so viel Zeit. Lass mich ein bisschen darüber nachdenken, okay?« Wi- derwillig hatte Stefan genickt. Sie wusste, dass es dann an ihr wäre, den ersten Schritt zu machen; be- drängen würde Stefan sie nicht, dazu kannte er sie zu gut. Ella hatte einen festen Willen, an der Gren- ze zur Sturheit. Wenn sie von etwas überzeugt war, konnte nichts und niemand sie davon abbringen. Sie hatten nicht wieder darüber gesprochen.

Doch seit diesem Tag rumorte ein Gedanke in Ellas Kopf, der ihr keine Ruhe ließ. Sie hatte eine heile Familie, einen Mann an ihrer Seite, der sie lieb- te, einen durchaus akzeptablen Job und eine hüb- sche Wohnung in Berlin-Schöneberg. Was wollte sie mehr?

Und trotzdem, oder möglicherweise gerade des- halb, fühlte sie eine innere Unruhe. Irgendetwas stimmte nicht. Sollte das alles gewesen sein? Viel- leicht kämen noch Kinder und eine Eigentumswoh- nung am Stadtrand, ein Mini-Van und irgendwann vielleicht die Erwartung, dass sie dann zu Hause bleiben und sich um Haushalt und Familie küm- mern würde. Wenn sie sich diesen Gedanken hin- gab, schnürte es ihr die Kehle zu. Hatte sie darum nicht einfach »ja« gesagt, als Stefan ihr den Antrag gemacht hatte?

Je länger sie darüber nachdachte, desto unru- higer wurde sie. Ella brauchte das Abenteuer, die Abwechslung, die Veränderung. Daher kam sie in ihrem Job als Journalistin so gut zurecht. Sie konnte sich schnell auf Menschen und Situationen einstel- len, mochte es zu stöbern und nachzuforschen und am meisten liebte sie es, herumzuschnüffeln, wenn ihr etwas merkwürdig vorkam.

Ella stand auf und schlich vorsichtig durch das dunkle Zimmer, um Stefan nicht zu wecken. Als sie durch den Flur lief, vorbei an der großen Fotowand,

die sie gleich nach ihrem Einzug vor fünf Jahren gestaltet hatte, hielt sie inne. Fotos aus Kinderta- gen, mit ihrer Schwester, Familienfotos, Bilder aus Studentenzeiten – und plötzlich wurde ihr klar, was nicht mehr stimmte. Das Pärchen auf den Fotos war jung und wild, es war in einem Einkaufswagen durch die Stadt gefahren und hatte sich in Umklei- dekabinen unter leisem Kichern geliebt. Wann war aus diesen jungen Wilden das geworden, was sie jetzt waren? Mit schicken Möbeln, einem 50-Zoll- Flachbildfernseher und dem Mercedes SLK in der angemieteten Garage?

Früher hatten sie in einer Einraumwohnung ge- lebt mit selbst gebautem Hochbett, Stühlen vom Trödel und billigem Kaffee. Es war nicht heraus- ragend gewesen, aber es war ein Leben, es war ihr Leben. Dann hatte Stefan den Job in der Bank be- kommen und bald darauf waren aus einem Zimmer drei geworden, die alten Holzstühle waren durch Designerstühle ersetzt worden und der Discounter- Kaffee durch frisch gemahlenen aus dem program- mierbaren Vollautomaten. Ihr war das alles nicht wichtig gewesen, sie hatte ihm aber die Freude ge- lassen. Materielles war ihr schlichtweg egal.

War sie noch die Alte?

Und genau in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie dieses Leben, so wie es war, nicht mehr wollte. Sie trug lieber Jeans statt des kleinen Schwarzen,

trank Bier aus der Flasche statt Champagner aus Flöten und wollte echte Freunde statt Teil der Bussi- Gesellschaft zu sein. Das Leben, das sie hier in Ber- lin führten, spielte sich fast ausschließlich in Stefans Welt ab, und diese Welt lag gefühlt Meilen von ihrer entfernt.

»Was machst du denn hier mitten in der Nacht?« Ella schrak auf, als Stefan plötzlich hinter ihr stand und ihr sanft mit der Hand über den Nacken strich. Er legte sein Kinn auf ihren Kopf, wie er es manch- mal tat, wenn er ihr nah sein wollte. Er roch nach Bett und sah verschlafen aus. Ella fühlte sich einge- engt, sagte aber nichts, um nicht mitten in der Nacht eine Diskussion zu provozieren.

»Du warst nicht im Bett, und ich dachte, dir geht’s nicht gut, dabei hast du doch auf der Party kaum was getrunken.«

›Ich hätte mehr trinken sollen, um den Abend zu ertragen‹, ging es ihr durch den Kopf. »Nein, ich wollte mir nur einen Schluck Wasser holen. Geh nur wieder ins Bett, ich komme gleich.« Stefan schlurfte ins Schlafzimmer und ließ sie im Flur zurück. ›Und nein, mir geht es nicht gut‹, dachte sie. Und im nächsten Moment wurde sie sich der Konsequenzen ihrer Erkenntnis nur zu bewusst. Sollte sie sich wirk- lich von Stefan trennen? Sie verwarf den Gedanken schnell und ging zurück ins Bett. An Schlaf war nun erst recht nicht mehr zu denken.

3

Kathi und Ella hatten sich eine Ewigkeit nicht ge- sehen und in den letzten Monaten nur selten tele- foniert. Doch nun saßen sie zusammen in Jonnys Bar und es fühlte sich an, als wären sie erst gestern auseinandergegangen. Sie tranken, quatschten über früher und kicherten wie Schulmädchen.

Kathi Friedrich war seit Studientagen Ellas beste Freundin.

Am Morgen hatte sie spontan beschlossen, Kathi in Bautzen zu besuchen.

Ella nahm einen großen Schluck aus ihrem Bier- glas und leckte sich den Schaum von der Oberlippe. Kathi hatte sich eine Weinschorle bestellt, kam aber vor lauter Lachen nicht zum Trinken.

»… und weißt du noch, wie der alte Schubert dich anzeigen wollte, weil du deine Schuhe ständig im Treppenhaus hast stehen lassen? Aber du hast ihm ganz schön die Meinung gegeigt. Du hattest schon damals eine große Klappe.«

»Aber der Erfolg hat mir doch recht gegeben.«

»Ja, unsere kühne Ella!«

Ella Kühne war bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und sich für ihre und die Belange

anderer einzusetzen. Für ihren Job als Journalistin war das von Nutzen, auch wenn ihre beherzte Art beim Gegenüber nicht immer gut ankam.

Kathi dagegen war alles das, was Ella nicht war – feinfühlig, besonnen und stetig, das Yin zu ihrem Yang. Kathi schaffte es, sie zu erden, war eine kluge Ratgeberin und ihre Vertraute.

Früher hatte Kathi in Jonnys hübscher 50er-Jah- re-Bar, gejobbt, bevor sie, gemeinsam mit ihrer Schwester, eine Boutique eröffnete.

Ella hatte inzwischen ein frisches Bier vor sich, Kathi einen bunten Cocktail, an dem sie hin und wieder nippte.

Schon als Ella in Bautzen angerufen und sich fürs Wochenende eingeladen hatte, war Kathi klargewe- sen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Jetzt wartete sie ab, bis der Alkoholpegel hoch genug war, um Gefühle und Informationen überschwap- pen zu lassen. Zwei Tequila und eine halbe Stunde später räumten sie ihre Plätze an der Bar. Kathi or- derte noch einen Cocktail für sich und ein Bier für ihre liebste Freundin und sie verzogen sich, schon ein bisschen angetrunken, in die bequeme Sitzecke.

»Ach, ich glaub, es fährt gerade alles gegen den Baum.« Ella ließ den Kopf etwas unsanft auf die Tischplatte fallen. Als sie wieder aufblickte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Kathi nahm sie in den Arm und dann gab es kein Halten mehr. Ella weinte

so bitterlich, dass es selbst ihre Freundin überrasch- te, doch es war Ella einfach egal, was die anderen Gäste dachten.

»Was ist denn passiert?«

Und so erzählte Ella von der Nacht vor der Fo- towand, von Stefan und all dem, was sich in ihrem Leben verändert hatte, seit er auf der Karriereleiter stetig nach oben kletterte. Von den Dinnerpartys im schicken Cocktailkleid, in dem sie sich immer wie verkleidet vorkam, und von Stefans Plänen für ihre gemeinsame Zukunft. In einem Jahr würde er beför- dert werden, dann hätten sie genug Geld, um eine Eigentumswohnung anzuzahlen und endlich »ihre Verhältnisse zu ordnen«, wie er es so schön um- schrieb.

»Er hat mich nach der Geburtstagsparty gefragt, ob ich ihn heiraten will.«

»O! MEIN! GOTT! Warum hast du mir das nicht erzählt?« Kathi schrie beinahe. Und bevor Ella ant- worten konnte, bohrte sie weiter: »Und was hast du gesagt?« Eine für Kathi unerträglich lange Pause später antwortete Ella kleinlaut: »Nichts. Ich konnte nicht.«

»O weh.« Die sonst so eloquente Kathi schluckte.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich habe Stefan gesagt, dass ich darüber nach- denke, immerhin ist das eine große Sache. Er war ziemlich enttäuscht.« Sie sah wieder sein Gesicht vor

sich, als er vor ihr gekniet hatte, den Ring in seiner Hand, und sie beinahe flehentlich angeblickt hatte, in der Hoffnung, sie möge »ja« sagen. Doch das hat- te sie nicht getan. Sie hatte ihn vertröstet, vielleicht in der Erwartung, dass sich ihre Gefühle ändern würden. Aber in ihrem Innersten hatte sie wohl ge- wusst, dass das nicht passieren würde.

Die beiden Freundinnen saßen in der Ecke unter einer Glocke Weltschmerz, als Jonny plötzlich mit einem Tablett vor ihnen stand, darauf eine Flasche Tequila und drei Gläser.

Völlig verheult blickte Ella ihn an.

»Du siehst aus, als könntest du noch einen ver- tragen.« Seine tiefe Stimme ging wirkte beruhigend auf sie.

»Prost!«

»Prost!«

»Prost!«

Die Zitrone kam Ella saurer vor als vorhin und so schüttelte sie sich kurz. »Danke«, sagte sie dann und lächelte.

»Ich glaub, ich muss mich erst mal kultivieren.« Sie stand auf und steuerte mäßig zielsicher in Rich- tung Toilette.

»Die ist hoffentlich nicht immer so drauf?« Jonny nahm neben Kathi auf der Bank Platz.

»Gewöhnlich nicht, so hab ich sie auch noch nicht erlebt. Eigentlich ist sie der lebenslustigste Mensch,

den ich kenne, aber irgendwas läuft da grad schief. Danke für den Schnaps, Jonny.«

»Ich setz es dir auf die nächste Rechnung«, raun- te er im Aufstehen halblaut über den Tisch, wohl wissend, dass er das niemals tun würde, und ver- schwand in der Küche.

Ella, inzwischen seelisch so halbwegs und optisch ganz akzeptabel wiederhergestellt, ließ sich neben ihrer Freundin auf die Bank fallen und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Danke, dass du mir zugehört hast. Du bist die Beste!« Sie umarmten sich fest.

Die Tür ging auf und drei Männer betraten die Bar. Jonny steckte den Kopf aus der Küchentür und begrüßte sie wie gute Bekannte. Auch Kathi hob grüßend die Hand. Sie ließen sich an der Bar nieder und unaufgefordert stellte Jonny jedem der drei ein großes Bier vor die Nase.

»Du kennst hier wohl jeden?«, fragte Ella ihre Freundin.

»Das sind Stammgäste. Die kommen mindestens zweimal die Woche. Der Kleine mit der Brille ist Oliver, der arbeitet in der IT. Der mit dem Zopf heißt Andi und macht grad seinen Doktor, irgend- was Technisches, und der große Blonde ist Benno, der ist bei der Polizei, Kripo oder so.« Ella bemerk- te nicht, wie Kathi sie ansah, während sie ihrerseits Benno anstarrte.

»Sieht gut aus, nicht?«

Und wie gut er aussah. Groß, bestimmt zwei Köp- fe größer als sie und durchtrainiert war er. Die Haa- re nach hinten gekämmt, ein enges Shirt und eine knackig sitzende Jeans. Vermutlich wusste er, dass er gut aussah.

So saßen die Freundinnen noch eine Weile da, redeten über dieses und jenes, lachten und tranken, bis Kathi sich ein Herz fasste. »Los, wenn wir jetzt nicht gehen, versacken wir total und der Tag mor- gen ist gelaufen.« Widerwillig gab Ella ihr recht. Sie verließen die Bar, aber nicht, ohne einen Blick auf den knackigen Hintern des Polizisten zu werfen. Draußen kicherte Ella so sehr, dass sie sich kaum die Zigarette anzünden konnte. Die kühle Luft die- ser klaren Septembernacht ließ sie kurz frösteln und sie zog mit der leeren Hand die Jacke enger um sich. Kathi rollte nur mit den Augen. »Du bist unmög- lich.«

»Aber kannst du dir nicht vorstellen, in so einen festen Hintern zu kneifen? Das ist doch …« Plötzlich hielt Ella inne, Kathis erstarrter Gesichtsausdruck hatte sie zum Schweigen gebracht. Kathi presste die Lippen zusammen und ihre sonst so großen brau- nen Augen bildeten schmale Striche. »Er steht hinter mir, stimmt’s?« Prustend konnte Kathi nur noch ni- cken. Auf den Hacken drehte Ella sich um und sah einen äußerst amüsierten Benno vor sich.

»Ähm, hallo, ich bin Ella und steh auf knacki- ge Hintern«, konterte sie das freche Grinsen und streckte ihm die Hand hin. Benno schlug ein. »Ich bin Benno und fühle mich geschmeichelt.«

»Komm jetzt, bevor du noch mehr Blödsinn quatschst«, unterbrach Kathi und zu Benno meinte sie: »Ich entschuldige mich für das lose Mundwerk meiner Freundin. Leider ist die immer so.«

»Ja dann … vielleicht sieht man sich ja mal«, rief Ella, während Kathi sie am Ärmel davonzog.

»Ich würde mich freuen.« Benno winkte ihnen hinterher.

Ella hakte sich bei ihrer Freundin unter und ki- chernd gingen sie nach Hause. In Kathis hübscher Altbauwohnung am grünen Ring von Bautzen an- gekommen, schaffte es Ella noch, sich die Zähne zu putzen, um danach direkt ins Bett zu fallen.

Am Vormittag machten die beiden Pläne, wie sie den Tag verbringen könnten. Bei dem herrlichen Spätsommerwetter wäre ein Bummel durch die Altstadt genau das Richtige. Ellas Handy klingelte.

»Entschuldige mich kurz, ist meine Mam.« Sie ver- ließ den Raum zum Telefonieren. Kathi konnte den- noch genug hören, um zu bemerken, dass dieses Ge- spräch Ella große Beherrschung abverlangte.

»Ja, Mam, ja doch, ich bin erwachsen und weiß, was ich tue. … Ja, bei Kathi in Bautzen. … O nein! Wie geht’s ihm? … Natürlich fahre ich wieder

zurück. … Versteh mich doch, ich fühle mich nicht bereit, zu heiraten. … Und wenn schon. Was ist, wenn es nicht das Leben ist, das ICH führen möch- te. … Doch. … Für mich ist diese Diskussion an dieser Stelle beendet.«

Kurz darauf kam sie kreidebleich zurück. Von der vorherigen Ausgelassenheit war nichts mehr übrig. Kathi tat gar nicht erst so, als hätte sie nichts mitbe- kommen, und fragte direkt nach: »Was ist denn los? Ist was passiert?« »Mein Vater ist im Krankenhaus, Herzrhythmusstörungen.« Ella atmete tief durch.

»Meine Mutter hat natürlich bei mir zu Hause an- gerufen. Stefan hat ihr erzählt, dass ich weggefahren bin, und bei der Gelegenheit auch gaaanz zufällig den Heiratsantrag erwähnt.« Frustriert ließ sie sich zurück auf die Couch fallen.

»Er hat es deiner Mutter erzählt? Ich fasse es nicht!« Entsetzt stand Kathi auf und holte aus dem Kühlschrank eine angebrochene Flasche Sekt. »Aber warum jetzt, das hätte er doch eher schon machen können«, überlegte sie laut, »oder ahnt er, dass ihm die Felle davonschwimmen?« Dann teilte sie das pri- ckelnde Getränk gerecht auf zwei Gläser auf.

»Ich weiß es nicht. Sie hat mir jedenfalls die Hölle heiß gemacht, warum ich nicht sofort ›ja‹ gesagt hät- te und worauf ich warten wolle. Und dass Anni so glücklich wäre mit ihrer Familie und ob ich das nicht auch möchte.« Kathi nickte nur stumm. »Die wollen

einfach nicht begreifen, dass ich nicht wie Anni bin.« Anni, Ellas ältere Schwester, hatte gemeinsam mit ihrem Mann nicht weit von den Eltern ein Eigen- heim gebaut, hatte zwei zauberhafte Kinder und einen Mini-Van. Sie arbeitete halbtags in einer Arzt- praxis als Sprechstundenhilfe, er als Bauingenieur in einer großen Baufirma. Alles ganz solide, alles ganz bodenständig, alles ganz langweilig – so betrachtete

Ella es zumindest.

»Und jetzt?« Kathi blickte auf den letzten Trop- fen in ihrem Glas. Ella schaute Kathi unsicher an:

»Ich hab’s verbockt. Eindeutig. Was soll ich denn jetzt machen?«

»Verbockt hast du gar nichts«, erwiderte Kat- hi, »aber die Entscheidung kann ich dir nicht ab- nehmen.« Sie zögerte. »Und ich glaube, du hast sie schon längst getroffen.«

Ella sprang auf und lief aufgeregt, fast schon hys- terisch durch den Raum. »Ich kann da nicht mehr hin. Ich kann da nie wieder hin!«, stellte sie, wild mit den Händen fuchtelnd, fest. Ella neigte gelegentlich zu Theatralik, doch dieses Mal schien sie wirklich verzweifelt. »Ich kann das nicht mehr, das ist einfach nicht mein Leben.« Ella wurde die Endgültigkeit dieser Aussage schmerzlich bewusst. Sie sackte in sich zusammen, legte sich flach auf den harten Die- lenboden und starrte an die Decke. Beide schwiegen, weil es dazu nichts mehr zu sagen gab. Nach einiger

Zeit setzte Ella sich auf, stürzte den Inhalt ihres Sektglases hinunter und meinte entschlossen: »Ich muss es Stefan sagen, alles andere wäre nicht fair.« Gerade wollte sie auf ihrem Handy seine Nummer wählen, als Kathi sie zurückhielt.

»Willst du ihm das nicht lieber persönlich sagen?«

»Und wieder mal hast du recht. Weißt du, manch- mal hasse ich dich für deine Vernunft.« Entmutigt ließ sie sich auf die Couch sinken. »Jetzt ist alles im Arsch.« Kathi setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Das wird schon wieder!«

4

Von Unruhe getrieben saß Ella drei Stunden später im Zug zurück nach Berlin. Sie hatte so gar keine Lust, Stefan gegenüberzutreten. Sie hatte ihn gern und das Leben mit ihm war schön und auch bequem. Aber je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es eher die Gewohnheit war, die sie bei ihm gehalten hatte. Die Liebe war im Alltag ir- gendwo auf der Strecke geblieben und sie erinner- te sich beim besten Willen nicht daran, wann und wie das passiert war. Im Zug hatte sie viel Zeit zum Nachdenken. Sie spielte alle möglichen Szenarien, wie ihr Lebensgefährte reagieren könnte, im Kopf durch. Stefan war nicht der Typ für Wutausbrüche. Er würde ihre Entscheidung eher still hinnehmen. Bei diesem Gedanken überkam sie eine große Trau- rigkeit. Sie wollte ihn nicht verletzen, wusste aber, dass es keinen anderen Weg gab. Dabei konnten we- der Stefan noch sie etwas dafür. Sie hatten sich ein- fach in unterschiedliche Richtungen entwickelt.

Wo sollte sie jetzt hin – sie konnte ja kaum weiter-

hin in der gemeinsamen Wohnung leben? Um eine eigene Bleibe hatte sie sich noch nie groß geküm- mert. Seit sie von zu Hause ausgezogen war, hatte

sie entweder in WGs oder mit Stefan zusammen- gewohnt, nie allein. Allein … wie ein bedrohlicher Parasit setzte sich dieses kleine Wörtchen in ihrem Kopf fest und begann, sich durch ihre Gedanken zu fressen.

In Schöneberg angekommen, stand sie vor der Tür und brachte es kaum fertig, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie die Wohnung betrat. Das Öffnen der Tür ließ Stefan aus dem Wohnzimmer kommen. »Hallo«, sagte er leise.

»Hallo«, erwiderte sie, »wir müssen reden.«

»Ich weiß.«

Stefan kochte Kaffee und dann saßen sie steif nebeneinander auf der Couch, weil es keiner fertig- brachte, dem anderen in die Augen zu sehen. Ella er- klärte unter Tränen, dass sie sich selbst etwas vorge- macht hatte, dass sie Stefan zwar noch gern mochte, aber sie auch das Gefühl hatte, dass ihre Vorstellun- gen von einer gemeinsamen Zukunft schon seit ei- ner Weile auseinanderdrifteten und sie einen Druck verspürte, sich ihm und seinem Lebensstil anpassen zu müssen.

Sie konnte sich nicht verstellen. »Es tut mir so leid, aber das bin einfach nicht mehr ich.« Stefan schwieg.

»Jetzt sag doch auch was dazu!«

»Was soll ich denn noch sagen? Offenbar hast du deine Entscheidung schon gefällt«, meinte er nüch- tern, stand auf und brachte seine halb volle Tasse

in die Küche. Ella konnte nur ahnen, wie verletzt er sein mochte. Dann kam er zurück und blieb aufge- richtet im Türrahmen stehen.

»Was kann ich tun, damit du bleibst?«, fragte Stefan, er schien entschlossen, Ella nicht kampflos aufzugeben. Nun war es Ella, der die Worte fehl- ten. Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie senkte den Blick und sagte … nichts. Sie schwieg.

»Okay, ich verstehe.« Seine Stimme klang plötz- lich hart. »Ich bin bei Thorben. Morgen früh hol ich meine Tasche und dann bin ich ein paar Tage in Frankfurt.« Er zögerte und fuhr in einem sanfteren Ton fort: »Ich kann ja dann erst mal im Gästezim- mer schlafen, wenn du ein bisschen Luft brauchst. Und vielleicht …«

»Stefan. Nicht …«, unterbrach sie ihn.

Er warf ihr einen letzten Blick zu. Sie konnte erkennen, dass auch ihm die Tränen in den Augen standen. Dann hörte sie, wie er eilig ein paar Sa- chen zusammenpackte, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Die Zeit seiner Dienstreise konnte sie in der Woh- nung bleiben. Mit ihm gemeinsam hätte sie es unter diesen Umständen nicht einen Tag ausgehalten. Es schmerzte sie, ihn so verletzt zu sehen.

Aber was nun? Freunde hatte sie in Berlin weni- ge, und das waren alles Leute, die Stefan mit in die Beziehung gebracht hatte. Die würden sie sicher

nicht verstehen. Vielleicht könnte sie fürs Erste bei jemandem aus der Redaktion unterkommen? Halb- herzig stöberte sie im Internet nach WGs und Mit- wohngelegenheiten. Fürs Alleinsein war sie nicht gemacht.

Hunger hatte sie keinen und so ging Ella schon um acht Uhr ins Bett. Sie fühlte sich unendlich müde und schlief sofort ein. Gegen sieben Uhr wurde sie vom Mahlwerk des Kaffeeautomaten geweckt. Sie fand Stefan im Freizeitlook in der Küche, eine Tasse heißen Kaffees in der Hand. Er wirkte vollkommen fit und sehr gefasst. »Ich pack nur noch schnell was ein und fahre dann.« Was sollte sie darauf antwor- ten? Ein »tut mir leid« hielt sie für unangebracht. An einer Trennung haben meist beide ihren Anteil, redete sie sich ein, um ihr aufkeimendes schlechtes Gewissen zu beruhigen. »Okay«, war alles, was ihr über die Lippen kam.

Mit der Tasse in der Hand verließ er die Küche und sie hörte nur, wie er sie im Flur abstellte. Ein Rascheln im Ankleidezimmer verriet ihr, dass er An- züge einpackte. Zehn Minuten später stand er in der Tür, den Koffer gepackt, das Sportsakko über dem Unterarm. »Ich fahr dann«, sagte er mit gesenktem Blick. »Fahr vorsichtig«, erwiderte sie mechanisch. Er wollte sich zu einem Kuss vorbeugen, hielt aber mitten in der Bewegung inne und griff um Ella he- rum ans Schlüsselbrett, um seinen Autoschlüssel zu

nehmen. Dann nickte er ihr kurz zu und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Da stand sie und hielt sich an der Tasse fest, die ihr in dem Moment der einzige Trost schien. Sie musste Kathi anrufen. Schon seit gestern Abend ignorierte sie deren Nachrichten, die in regelmäßi- gen Abständen eintrafen. Sie nahm das Telefon zur Hand, brachte es aber nicht über sich, zu wählen. So schrieb sie nur: So weit alles ok, glaub ich. Muss mich erst mal sortieren, meld mich wieder.

Eine ganze Weile stand sie da. Der Kaffee war in- zwischen lau und schmeckte bitter. Sie fühlte sich verheult und müde. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gekrochen, doch das war in ihrer momentanen Situation keine Option. Sie brauchte eine Unter- kunft und das dringend. So beschloss sie, sich die Tränen abzuwaschen, und stieg in die Dusche. Das heiße Wasser entspannte sie und sie ließ es minu- tenlang über ihren Körper rinnen. Mit dem Hand- tuch oberhalb der Brust verknotet, lief sie durch die Wohnung, um sich frische Kleidung zu holen. Sie wählte eine bequeme Jeans, zog ein gestreiftes Shirt über und begab sich wieder ins Bad. Etwas Masca- ra und sie fühlte sich besser. Sie entschied sich für Sneakers und eine leichte Jacke und machte sich auf den Weg zur Redaktion. Das kam ihr als Erstes in den Sinn. Außer Wilfried Wuttke, dem Chefredak- teur, würde um diese Zeit keiner da sein.

Die Zeitung war sein Baby. Auch wenn die Auf- lage in den letzten Jahren im Zeitalter des Inter- nets immer weiter gesunken war, gab es noch eine Stammleserschaft und für die gab Wilfried sein Bes- tes. Wie erwartet, saß er in seinem Büro, als sie die Redaktion betrat. Etwas verwundert schaute er sie an. »Was machst du denn hier?«

»Ich, äh, musste mal raus«, stammelte sie. Miss- trauisch geworden, stand er auf.

»Ich habe Kaffee gemacht. Hol dir einen und dann erzähl mir, was los ist, Kindchen.« Wilfried war 52, ein ausgezeichneter Journalist und hatte immer den richtigen Riecher für Schlagzeilen. Da- für, dass er sich – wie jetzt – von seiner väterlichen Seite zeigte, mochten ihn besonders die jüngeren Mitarbeiter. Er ging zu Ella, die am Konferenz- tisch Platz genommen hatte, die Beine hochgezo- gen und die Kaffeetasse mit beiden Händen fest umschlossen. Seine mitfühlende Art führte dazu, dass ihr wieder die Tränen kamen. Sie erzählte von ihrer ganzen Misere. Er hörte geduldig zu. »Hast du eine Idee, wie es weitergehen soll?«, fragte er schließlich.

»Ich weiß es nicht«, schniefte sie. »Wärst du mir sehr böse, wenn ich mir ein paar Tage freinehme, um mich zu sortieren? Ich brauche eine Wohnung. Da kann ich unmöglich bleiben.« Sie blickte ihn fra- gend aus ihren großen blauen Augen an. Wilfried

setzte zu sprechen an, hielt aber inne, um seinen nächsten Satz zu überdenken.

»Was ist los?«, fragte sie, als sie sein Zögern be- merkte.

»Es tut mir leid, dass ich dir da gerade nicht hel- fen kann«, begann er. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Was ist los?«, bohrte sie, allmählich ner- vös, nach.

»Ich hätte schon vor Wochen mit dir sprechen sollen, verzeih, dass ich es nicht gemacht habe. Ich habe auf einen günstigen Augenblick gewartet. Ich mag dich gern und schätze deine ambitionierte Art, aber deine Methoden …« Er unterbrach sich und sah sie an. »Ella, ich hatte erst kürzlich einen Anruf und … so kann das jedenfalls nicht weitergehen.« Ella sprang so abrupt vom Stuhl auf, dass er fast umkippte.

»Feuerst du mich etwa?« Wütend und enttäuscht pulverte sie los. »Diesen Moment hältst du also für günstig! Kann diese ganze Scheiße noch schlimmer werden!« Aufgebracht lief sie durch den Konferenz- raum und blieb schließlich mit verschränkten Ar- men vor dem Fenster stehen. Sie hatte Wilfried den Rücken zugekehrt, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte. Er stand auf und ging zu ihr hin. »Ich will dich doch nicht feuern. Hör mal!« Er drehte sie zu sich herum und wischte ihr väterlich mit einem säu- berlich gefalteten Stofftaschentuch die Tränen aus

dem Gesicht. »Dein Engagement für eine gute Story in allen Ehren, aber ich möchte manchmal gar nicht wissen, auf welchem Wege du dir die Informationen beschaffst.« Ella beruhigte sich langsam. Womöglich hatte sie den Bogen in letzter Zeit wirklich etwas überspannt. Zum Beispiel als es darum ging, über die Einbruchserie im Viertel zu berichten. Sie hat- te Polizisten bezirzt, Hausverwalter bestochen und sich unter Angabe falscher Tatsachen Zugang zu nicht öffentlichen Informationen beschafft. Sprach- los stand sie ihm gegenüber. Also redete er weiter:

»Ich mach mir Sorgen, dass du dich irgendwann ein- mal in ernsthafte Gefahr begibst.« Wilfried ergriff ihre Hand. »Kindchen, du bist eine tolle Journalistin, aber vermutlich wärst du eine noch bessere Detek- tivin.

---ENDE DER LESEPROBE---