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Araberpferd Nasar wohnt seit dem Orkan „Xaver“ im Haus. Als Hauspferd erlebte er so manches Abenteuer und erlangte weltweite Bekanntheit als Pferd auf dem Flur. Kann Nasar überzeugt werden, seine Hausbesuche für eine heißblütige Stute einzustellen? Warum wird eines Tages das schöne Friesenhaus im hohen Norden verkauft und wie reist ein Hauspferd angemessen in das entfernte Spanien? Darf Nasar in Spanien auch wieder in das Haus und gibt es auch im Süden außergewöhnliche Abenteuer zu bestehen? Das Buch „Hauspferd Nasar - Glück ist selbstgebacken“ ist die Fortsetzung des erfolgreichen ersten Buches der Autorin Dr. Stephanie Arndt „Nasar - Abenteuer eines Hauspferdes“. Wieder ein Lesespaß für die ganze Familie: Originell und unterhaltsam geschrieben mit einzigartigen Fotos!
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2016
Meinen geliebten Tieren, die mein Leben auf so wundervolle Weise bereichert haben.
© 2016
Autor: Dr. Stephanie Arndt
Herausgeber: Dr. Stephanie Arndt
Homepage:WWW.NASAR.LAND
Photos: Holde Schneider, Patrick Lux
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verarbeitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-7345-3132-3 (eBook)
ISBN: 978-3-7345-3025-8 (Printausgabe)
Es regnete. Mal wieder. Der starke Wind peitschte die Wassermassen an die Fenster und drückte das Wasser unter der Tür hindurch in die Diele. Was war nur in der Planung des Landkreises Nordfriesland schiefgelaufen? Es konnte sich nur um einen Konstruktionsfehler handeln. Regen, Wind und endlos flaches Land. Die Bäume bogen sich im Wind, der Himmel grau in grau, die kleine Straße vor dem Haus durch die schweren landwirtschaftlichen Maschinen kaputt gefahren und verdreckt. Trostlos.
Hundegebell ertönte. Es kam aus der Küche. „Nasar, hör auf damit!“ Ich eilte den langen Flur entlang zur Küche. Es war genau, wie ich mir dachte. Nasar hatte Aaron, der unter dem Küchentisch lag, geärgert. Das tat er gerne. Aaron war auch ein leichtes Opfer. Immer lieb und nett, nichts Böses ahnend. Nasar stand vor dem Küchentisch, versperrte mit seinen 500 Kilogramm Aaron den Weg und versuchte, ihm sein Lieblingskissen zu entreißen. „Nasar, zurück. Lass das! Und Aaron, bringe dich doch nicht immer in solche Situationen, du kennst das doch.“ Ich hatte mehrfach in dieser Situation nicht eingegriffen und es dann nach einer Stunde Dauergebell nicht mehr ausgehalten. Es schien nicht selbstlimitierend zu sein. Aber was sollte man bei dem Wetter auch anderes tun. Ich trennte die Streithähne. Aaron schnappte sich sein Lieblingskissen und flüchtete in den Flur. Nasar hinterher. Nun ging das Spiel auf dem Flur weiter, später dann im Wohnzimmer. Ich stellte Nasar einen Eimer mit Mohrrüben in sein Zimmer. Er ließ sofort ab von Aaron und dem Kissen und widmete sich seinen Möhrchen. Aaron verfrachtete ich wieder unter den Küchentisch, ging ins Arbeitszimmer und sank seufzend auf meinen Schreibtischstuhl. Dieses Wetter machte mich einfach mürbe. Es ging nun schon wieder seit Tagen so. Das Klingeln des Telefons riss mich aus dem erneuten Lamentieren über das Wetter. Immerhin gab es hier Telefon und so eine Art DSL-Anschluss. Das Handynetz funktionierte schon seit Monaten nicht mehr. Der Sendemast wurde abgebaut. Wahrscheinlich dachte man sich, dass hier wegen der ganzen überdimensionierten und lauten Windmühlen sowieso kaum noch jemand wohnte. „Arndt, schönen guten Tag“, meldete ich mich am Telefon. Es war eine Berliner Rufnummer. Eine Journalistin der Bild-Zeitung fragte nach, ob es was Neues von Nasar gäbe, sie hätten schon zwei Monate nicht mehr über ihn berichtet. „Nein, eigentlich nicht. Nasar steht drin und wartet auf besseres Wetter“, entgegnete ich. Seit den großen Stürmen im Oktober und Dezember 2013 war Nasar zum Medienliebling geworden.
Die Warnungen vor dem Orkan „Christian“ im Oktober hatte ich zunächst gar nicht ernst genommen und war ganz normal zur Arbeit gefahren. „Christian“ hatte dann innerhalb von knapp zwei Stunden Schäden von unvorstellbarem Ausmaß hinterlassen. Gut ein Drittel des Waldbestandes in Schleswig-Holstein wurde irreversibel zerstört. In Nordfriesland war es besonders schlimm. Unsere rund 300 Jahre alte, kerngesunde Eiche im Garten war komplett entwurzelt. Der Krater war so groß, dass man Nasar darin hätte verstecken können. Ein sehr trauriges Ende für diese stolze Eiche. Mein schönes Friesenhaus war am Reetdachfirst auf einer Länge von rund 50 Metern aufgerissen. Der Strandkorb fand sich völlig zerfleddert einen halben Kilometer weiter am anderen Ende des Grundstückes wieder.
Damals hatte ich mir fürchterliche Vorwürfe gemacht, dass ich Nasar allein zu Hause gelassen hatte. Er hätte von einem der vielen entwurzelten Bäume begraben werden können. Sein Stall war auf beiden Seiten von gut 20 Meter hohen Kiefern umgeben, die wie durch ein Wunder seinen Stall nicht unter sich begraben hatten. Nie wieder wollte ich ihn so einer Gefahr aussetzen. Deshalb hatte ich Nasar bei dem im Dezember 2013 angekündigten Orkan „Xaver“, der noch viel intensiver als „Christian“ wüten und dazu auch noch drei Tage und Nächte anhalten sollte, einfach mit in das Haus genommen. Es war der sicherste Ort. Das ganze Grundstück war voller Bäume und der Stall war aufgrund der angrenzenden hohen Kiefern in keinem Falle sicher. So räumte ich damals im Haus ein Zimmer leer, legte es mit Stroh aus und holte Nasar zum Schutz vor dem angekündigten „Jahrhundertsturm Xaver“ ins Friesenhaus. Nasar genoss die Zeit im Haus sichtlich. Das war ganz nach seinem Geschmack: jede Menge Abwechslung und stets etwas Leckeres zu essen. Nasar lernte Mikrowelle, Wasch-, Geschirrspülmaschine sowie Fernsehen kennen. Ganz besonders gefiel ihm der Toaster. Geduldig wartete er vor dem Toaster, bis das fertige Toastbrot heraussprang. Mit spitzen Lippen nahm er es gekonnt heraus und genoss es. Dann wippte er mit seinem Vorderbein und mit seinem Kopf so lange, bis ich ihm ein neues Toastbrot in den Toaster legte. Und wehe, wenn ich nicht schnell genug seinem Wunsch nachkam, dann konnte das Wippen des Vorderbeines auch in ein forderndes Schlagen gegen den Küchentisch übergehen. Eigentlich war ich heilfroh, als „Xaver“ wieder vorbei war. Drei Tage und Nächte mit einem Pferd im Haus können lang werden. Als der Sturm vorbei war, verkündigte ich erleichtert, dass wir nun alle wieder raus könnten. Nur Nasar weigerte sich hartnäckig, dass Haus zu verlassen. Fernsehen, Toaster und andere Annehmlichkeiten aufgeben? Nein, dass kam für ihn nicht infrage.
Nach dem Sturm kamen zahlreiche Medien und berichteten über das erste Hauspferd der Welt. Dies bestärkte Nasar natürlich darin, dass er ins Haus gehörte. Nasar war eine richtige Rampensau. Grelles Scheinwerferlicht, Tonangeln, die über seinem Kopf kreisten und wildfremde Leute, die ihm Fragen stellten. Mit einer unglaublichen Professionalität absolvierte er die Medientermine. Tagein, tagaus. Zeitung, Radio, Fernsehen. Nasar war auf allen Kanälen. Ihm gefiel das. Er war in seinem Element. Ich ließ es geschehen. In der Anfangszeit kam ich überhaupt nicht mehr zur Arbeit, weil die Übertragungswagen die Hauszufahrt versperrten. Ich dachte, es würde sich nach kurzer Zeit legen. Dem war nicht so. Nasar machte es unglaublichen Spaß, die Menschen erfreute es. Das empfand ich als schön. Und dann nahm alles seinen Lauf. Die Medien kamen immer wieder und es gehörte mittlerweile zum Alltag.
An meinen verschieden Arbeitsstellen kam wegen der Medienpräsenz nicht überall Freude auf. Schließlich hätte ich Verantwortung und sollte seriös auftreten. Ein Pferd auf dem Flur ist sicherlich nicht alltäglich, aber nicht automatisch unseriös konterte ich. Und ließ mich weder beirren noch einschüchtern. Viele Menschen, die mich näher kannten, sagten: „Typisch, dass bringst auch nur du.“ Ja, ich machte schon Zeit meines Lebens Dinge, die jenseits der zweifachen Standardabweichung der Gaußschen Normalverteilungskurve lagen. Aber gar nicht mutwillig. Es war nur immer irgendwie logisch. Wenn zum Beispiel der Orkan das Verbleiben des Pferdes im Außenbereich potenziell tödlich erscheinen lässt und im Haus ein sicherer Ort ist, dann hole ich das Pferd ins Haus. Dass ein Pferd eigentlich kein Haustier ist und normalerweise nicht im Haus steht, ist doch unter den Umständen eine zu vernachlässigbare Größe. Finde ich.
Nasar ist allerdings auch kein normales Pferd. Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob er überhaupt ein Pferd ist oder er sich selbst als Pferd sieht. Wie ich liegt er mit einem Verhalten auch jenseits der besagten zweifachen Standardabweichung. In der Fachliteratur ausgewiesen als sogenannte Extremvarianten. Nasar ist ausgesprochen intelligent, bildet sich gerne seine eigene Meinung, ihn langweilt Routine, er ist immer auf der Suche nach neuen Abenteuern, ruht in sich selbst und ist autark. Wir sind seelenverwandt.
Nasar kam als Fohlen im Alter von sechs Monaten zu mir. Zunächst nahm er gar nicht so recht Notiz von mir. Er lebte in seiner eigenen Welt. Dann kam er eines Tages zu mir, als ich in seiner Nähe stand und ihn beobachtete. Er stellte sich zu mir und schaute mich an. Mit seinem linken Auge, er stand seitlich von mir, schaute er mir in meine Augen. Ich traute mich kaum, Luft zu holen. Es war ein ganz intensiver Blick. Ich stand wie vom Donner gerührt und es vergingen nach meinem Gefühl Minuten. Mir wurde schwindelig und ich holte dann doch Luft. Nasar setzte seinen intensiven Blick unbeirrt fort. Nach einer gefühlten Ewigkeit wippte er ganz leicht mit dem Kopf, dann berührte er mein Gesicht mit seinen Nüstern und ging. Ergriffen blieb ich zurück. Seitdem sind wir untrennbar verbunden.
Ein Freund von mir, Gerd Siegfried, ritt seit Jahrzehnten. Er hatte in seinem Leben einige Pferde besessen. Gerne erzählte er davon. Ihn fragte ich, ob ihn seine Pferde erkannten und vielleicht auch vermissten, wenn er nicht da war. „Stephanie, Pferde sind anders als Hunde. Die Intensität der Bindung ist nicht so eng. Ob das Pferd mich erkennt? Nein, das glaube ich nicht.“ „Bei Nasar und mir ist das anders“, wollte ich ausführen. „Nein, das ist es nicht“, unterbrach mich Gerd Siegfried mit gewohnter Strenge. Gerd Siegfried ist Ökonom und arbeitet in einer Verwaltung. Für ihn haben Zahlen und Definitionen eine festgelegte Bedeutung. Eins und eins macht zwei. Und nicht zwei und ein wenig. Aber im Großen und Ganzen war alles definiert, es gab dafür eine Vorschrift oder anderweitige Regelung. Natürlich war das ein oder andere Auslegungssache. Aber dass eine so enge Bindung zwischen Pferd und Mensch besteht, ging Gerd Siegfried doch zu weit. „Dann glaube das eben nicht“, antwortete ich gewohnt trotzig. Gerd Siegfried kannte das schon und lebte seit nunmehr rund 17 Jahren damit. Wir wechselten das Thema.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Auf den Feldern um unser Haus herum bildeten sich riesige Seen. Durch den Einsatz der überdimensionierten, schweren Maschinen in der Landwirtschaft hatte sich über die Jahre eine immense Bodenverdichtung ergeben. Dass das Wasser nicht mehr abfließen konnte, war eine Folge davon.
„Regenpause. Wir gehen raus“, rief ich. Aaron schnappte sich sein Lieblingskissen und rannte zur Tür in der Diele. „Das gilt für alle!“, drohte ich. Die kleine Frieda räkelte sich in ihrem Körbchen und fühlte sich nicht angesprochen. Sie musste noch Schlaf nachholen, war sie doch die halbe Nacht außer Haus gewesen, wie sich das für eine Katze gehört. „Für dich gilt das aber in jedem Falle, Nasar“, rief ich energisch in Richtung seines Zimmers. Nasar stand in seinem Zimmer und schlief. „Tue nicht so, als würdest du schlafen, auf geht es, raus!“, forderte ich. Nasar rührte sich nicht und atmete ganz ruhig tief ein und aus. Seine Augen waren halb zu. Er schlief wirklich. Aaron und ich gingen allein über das nasse Grundstück zum großen weißen Tor. „Rechts oder links rum?“, fragte ich Aaron und dieser bog schwanzwedelnd mit seinem großen Kissen rechts herum. „Gut, gehen wir Richtung Wald“, stimmte ich zu. In knapp zwei Kilometer Entfernung hatten wir einen Wald, Grünland und einen See. Rund 20.000 qm. Ich hatte die Fläche unter Naturschutz gestellt. Umringt von Massentierhaltung und mit Chemie getränkten, von riesigen Maschinen bearbeiteten Flächen, empfand ich das als notwendig. Kaum waren Aaron und ich aus dem Haus, fing es natürlich wieder an zu regnen. Ich war es leid. Aaron nicht. Er ging weiter. Pitschnass erreichten wir den Wald. Es waren keine weiteren Bäume entwurzelt. Das war ja schon viel wert. Der Orkan „Christian“ hatte den Wald ordentlich zugerichtet. Besonders den westlichen Teil des Waldes. Sehr viele Bäume entwurzelten und rissen darüber hinaus andere Bäume mit sich. „Xaver“ erreichte zwar nicht die Maximalgeschwindigkeit von „Christian“, sorgte aber auch für reichlich Zerstörung, weil viele Bäume schon gelockert waren oder nun ungewohnt allein im Wind standen, fielen auch sie. Es war ein Jammer. Und man konnte nicht helfen. Die Natur ist einfach stärker als der Mensch. Das musste man akzeptieren. Auch wenn es schwerfiel.
Aaron und ich machten uns auf den Heimweg. Tapfer schleppte Aaron sein durchnässtes und mittlerweile verdrecktes Kissen nach Hause. In der Diele angekommen rubbelte ich Aaron mit einem Handtuch trocken. Selbiges warf ich zusammen mit dem Kissen gleich in die Waschmaschine. Dann versorgte ich mich. Als ich in den Flur trat, schaute ich nach Nasar. Er war nicht in seinem Zimmer. Ich ahnte Böses. Natürlich traf ich Nasar in der Küche. Mich traf der Schlag. Er hatte in unserer Abwesenheit alle Teelichter aus der Schublade gezerrt und in der Küche verteilt. Natürlich hatte er sich es nicht nehmen lassen, jedes Teelicht entweder durch einen Biss oder Tritt mit seinem Huf untauglich zu machen. Aber es kam noch schlimmer. Die verunstalteten Teelichter mischten sich auf dem Küchenboden fröhlich mit den Tausenden Kroketten aus Aarons 20 kg Vorratspackung Trockenfutter. Nasar wieherte kurz und knapp, als ich die Küche betrat und verließ selbige danach sang- und klanglos. Ich stand wie vom Donner gerührt. Aaron machte sich über die Kroketten am Boden her. Frieda blinzelte kurz und schlief dann weiter. Draußen fing es wieder an zu regnen.
Nach einer ausgiebigen Artikulation über den vorgefundenen, aus meiner Sicht völlig indiskutablen Küchenzustand, machte ich mich mangels Alternativen an die Beseitigung des Chaos. Nasar hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und schlief mal wieder. Klar. So eine Sauerei war auch anstrengend. Aaron saß unter dem Küchentisch und vermisste sein Kissen.
Gut, dass ich morgen wieder zur Arbeit fuhr, sonst würde ich hier verrückt werden. Obwohl ich mich meist abends nach der Arbeit kritisch fragen musste, ob die Arbeit und das Umfeld am Arbeitsplatz nicht verrückter waren als das Leben mit dem Pferd auf dem Flur. Mit unserer tierischen Wohngemeinschaft in Holt lagen wir - jedenfalls statistisch gesehen - jenseits der besagten zweifachen Standardabweichung. Aber was bedeutete das schon.
Eines Tages kam mir die Idee, Nasar eine Frau zu suchen, dann würde er vielleicht auf seine Hausbesuche verzichten. In der Vergangenheit hatte ich schon einige Pferde als Gesellschafter gekauft: jung, alt, groß, klein. Allerdings waren sie alle männlich. Ich sollte es einmal mit einer Stute versuchen. Begeistert von meiner Idee rief ich meine Freundin Kerstin an. Sie lebte mit ihrem Mann Wolfram im nahen Osten, genauer gesagt in der Nähe von Leipzig. Kerstin war für mich in allen Lebenslagen eine wichtige Ratgeberin und sie kannte sich auch allerbestens mit der Psyche von Tieren aus. Obwohl sie bei Nasar auch an ihre Grenzen stieß. „Eiverbibbsch“, begrüßte ich Kerstin auf fließend Sächsisch. „Was hältst du davon, wenn ich Nasar eine Frau kaufe, dann will er vielleicht nicht mehr ins Haus?“, kam ich gleich auf den Punkt. „Das könnte eventuell klappen, ein Versuch wäre das in jedem Falle wert“, ermunterte mich Kerstin. „An was für eine Art von Stute hattest du denn gedacht?“ „Natürlich an eine Angemessene!“ „Also eine, die auch ins Haus will“, lachte Kerstin. Allein die Vorstellung, dass mir abends beim Fernsehen zwei Pferde die Sicht auf den Bildschirm versperrten, machte mich einen Moment sprachlos. „Nein, auf keinen Fall! Auf gar keinen Fall!!“, antwortete ich entschlossen. Wir diskutieren eine Weile und dann stand fest: Die optimale Frau für Nasar ist zwischen 4 und 8 Jahren alt, ebenfalls ein Vollblut, gut zu Fuß, damit sie mit Nasar über die Koppeln jagen kann, und sie sollte auf keinen Fall ins Haus wollen. Mit diesem Profil machten wir uns auf die Suche. Nach einiger Zeit hatten wir sie gefunden. Olivia hieß sie, war edelster Abstammung, 7 Jahre alt, fuchsfarben und erfolgreiches Rennpferd. Sie war bildhübsch. Wir sahen uns einige Videos von ihr an, wie sie bei Rennen lief, es war beeindruckend. Ich fasste mir ein Herz und rief bei der angegebenen Telefonnummer an. Mit der Eigentümerin und Tochter des Rennstallbesitzers Frau Dr. Jörgensen führte ich ein sehr freundliches Gespräch. Am Ende sagte ich, dass ich Olivia gerne kaufen möchte. „Da wird sich Olivia aber freuen, dass sie nicht mehr trainieren muss“, war die erste Reaktion von Frau Dr. Jörgensen auf meine Kaufzusage. Wir lachten. Olivia wurde ab sofort vom Training freigestellt und wir machten einen Termin aus, an dem ich sie abholen sollte.
Sogleich rief ich bei Kerstin an. „Termin für die Hochzeit steht“, verkündete ich stolz. Kerstin war mindestens so aufgeregt wie ich. „Eiverbibbsch, zu dumm, dass du so weit weg wohnst, ich wäre gerne mitgekommen, die Olivia abzuholen“, sagte Kerstin etwas traurig. „Ich schicke dir mit dem Handy Fotos und dann kommst du uns gleich danach mal für ein verlängertes Wochenende besuchen“, versuchte ich sie zu trösten. Kerstin stimmte zu.
Heute war es so weit. Nasar würde auf seine Frau treffen. Morgens fuhren wir los. Es waren rund 300 km zum Rennstall. Ingwer begleitete mich. Er wohnte bei mir in der Nachbarschaft und arbeitete seit rund 50 Jahren mit Pferden. Mit seiner ruhigen Art und seinem Pferdeverstand fand er zu jedem Pferd einen Zugang. Dank Ingwers Hilfe hatte Nasar mit knapp zwei Jahren auch gelernt, die Kutsche zu ziehen und später auch mich reitenderweise durch die Lande zu tragen. Beides klappte dank Ingwers Hilfe völlig problemlos. Ingwer und ich fuhren gut gelaunt los und unterhielten uns angeregt während der Fahrt. Ingwer fragte mich plötzlich: „Kennst du die?“ „Wen?“, fragte ich irritiert. Ingwer zeigte auf die Überholspur. Dort überholte uns ein Wagen und die Insassen winkten fröhlich. Wir lachten und winkten zurück. „Die waren ja nett, aber ich weiß gar nicht, wer das war“, wunderte ich mich. „Kennst du die denn?“, fragte Ingwer. Ich schaute ihn an. Er zeigte wieder auf die Überholspur. Ich wendete meinen Kopf nach links und wieder winkten uns fröhlich die Menschen zu. Wir winkten fröhlich zurück. Und wunderten uns. Es ging noch einige Male so. „Der Hänger!“, entfuhr es Ingwer. „Was ist mit dem Hänger?“, fragte ich aufgeregt und wollte schon eine Vollbremsung einleiten. „Auf dem Hänger steht doch Hauspferd Nasar“, klärte Ingwer mich auf. Stimmt, der Aufdruck war neu, ich hatte noch keine „Reiseerfahrungen“ damit sammeln können. Nun hatten wir auch das Rätsel der fröhlich winkenden Menschen gelöst.
Gegen Mittag erreichten wir den Rennstall. Er lag schön gelegen in einer tollen Grünanlage mit Trainingsrennbahn. Wir wurden herzlich empfangen und zu den Stallungen geführt. Die Stallgasse war hell, blitzblank gefegt, die Boxen waren riesig und mit allerbestem Stroh randvoll gefüllt. Die Pferde waren alle unglaublich gepflegt, das Fell glänzte und sie schauten uns zufrieden an. Nun standen wir vor Olivias Box. „Oh“, entfuhr es mir. Ingwer sagte gar nichts. Olivia war so wunderschön. Man öffnete mir die Boxentür und ich betrat wie in Trance die Box. Olivia schaute mich freundlich an. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und streichelte sie. Olivia bestand nahezu komplett aus Muskeln. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Nasar war hingegen – wie sagte Kerstin doch immer so schön: „pummelig“.
Er stand ja auch nur auf dem Flur oder hilfsweise in der Küche vor dem Toaster. Aber das würde sich jetzt ja schlagartig ändern!
Nachdem die Vertragsmodalitäten erledigt waren und der Kaufpreis gezahlt wurde, machten wir uns daran, Olivia zu verladen. „Das wird garantiert kein Problem werden, die Rennpferde fahren ja ständig zu Rennen und sie sind das Verladen gewohnt“, hatte Kerstin prognostiziert. Olivia wollte sich aber nicht verladen lassen. Erstens war sie es nicht gewohnt, allein auf Reisen zu gehen und zweitens war sie einen ordentlichen LKW gewohnt und keinen Anhänger. Daß der Pferdeanhänger der absolute Luxusanhänger war, beeindruckte sie wenig. Der Trainer übernahm das Verladen höchstpersönlich. Nach langem Hin und Her konnte Olivia überzeugt werden und sie stand auf dem Hänger. Der Trainer sah sie noch einmal an, wie sie im Hänger stand und sagte: „So Olivia, nun wirst du berühmt.“ Olivia war so erfolgreich viele Rennen gelaufen, hatte zeit ihres Lebens so hart trainiert. Sie hatte sehr viel geleistet. Nun aber wurde sie die Frau von Nasar und wurde „berühmt“. Ich schämte mich. Nasar stand immer nur auf dem Flur herum und Olivia musste so hart arbeiten. Das Leben ist nicht gerecht.
„Könnten Sie mir vielleicht noch einiges zu Olivia sagen?“, fragte ich den Trainer. „Was soll ich da sagen, sie ist eine ganz Liebe“, entgegnete der Trainer. Genau das war es auf den Punkt gebracht, wie ich später herausfand.