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HELLSPARADISE von Stephan Lasser entführt die Leser in ein Afghanistan, das von den Taliban beherrscht wird. Ein ungewöhnliches Team reist um die halbe Welt, um Geiseln der Taliban zu befreien. Ein fesselnder Roman über Mut, Hoffnung und die Suche nach Menschlichkeit inmitten Chaos und Gewalt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Hell´s Paradise
Von Stephan Lasser
Jede Ähnlichkeit mit Personen, die gelebt haben, jede Übereinstimmung der Namen, Orte kann bloß auf zufälligem Zusammentreffen beruhen, und der Verfasser lehnt dafür im Namen unveräußerlicher Rechte der Einbildungskraft die Verantwortung ab.
Copyright © 2024 Stephan Lasser
Alle Rechte vorbehalten.
WIDMUNG
Für Katrin K.
Vorwort
Zwanzig Jahre nach der Vertreibung von der Macht in Afghanistan beherrschen die Taliban das Land erneut. Im August 2021 eroberten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul und brachten das Land so erneut unter ihre Kontrolle. Die Taliban schränken die Pressefreiheit immer weiter ein: Nun sind Live-Übertragungen von politischen Veranstaltungen nur noch mit Zustimmung der Machthaber möglich. Auf der Rangliste zur Pressefreiheit steht Afghanistan auf dem drittletzten Platz der 180 darin aufgeführten Länder. Seit die Sowjets im Jahr 1979 Afghanistan überfallen hatten, hatten ihre 115.000 Soldaten das Land verwüstet, hatten eine Million Dorfbewohner getötet, hatten eine halbe Million Einwohner nach Persien in die Flucht getrieben und mehr als drei Millionen nach Westpakistan. Mit diesem Hintergrund kommt das Land sehr schwer zur Ruhe. Gerade für Frauen ist das Märtyrertum besonders schwer: Laut UN Women gibt es Millionen von Frauen und Mädchen, auf der ganzen Welt, die deshalb gesundheitliche Nachteile haben, nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen.
Trotzdem viel Vergnügen.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Afghanistan:
Der typische Dieselgeruch so vieler Städte Asiens setzt sich Herbert Langström umgehend in die Nase kaum das der Schwede den Flughafen der Hauptstadt Kabul betrat. Neu waren ihm nur die Antlitze der Mullahs, die in großformatigen Bildern, Werbestars gleich, gestreng auf das rege Treiben in den Hallen des Terminals 2 hinunterblickten. Schon in Erwartung dieses Blickes versteckten seine Mitfliegerinnen ihre, eben noch offen getragenen, dunklen schweren Haare, unter Tüchern. Auch die jungen Frauen, die bei seinem Abflug noch ihre engen, knapp sitzenden Jeans mit darunter hervor blitzenden Tangas so selbstbewusst trugen und mit ihrer jungen Schönheit so sehr kokettierten, konnten sich diesem Ritual nicht verschließen. Nur das Leuchten ihrer dunklen Augen und ihr verstohlenes Lächeln beim Abschied verrieten ihm, dass es sich immer noch um dieselben Mädchen handeln musste. Der Architekt war zwei Mal, indirekt, für die Kreditanstalt für Wideraufbau (KfW) in Afghanistan tätig. Zu seinen Aufgaben als Architekt zählte u.a. die Organisation und Durchführung von Wideraufbaumaßnahmen von Schulen und Gesundheitszentren, auch außerhalb der Sicherheitszone der ISAF. Dabei standen der Aufbau und die Pflege von persönlichen Beziehungen zu Ministerien und örtlichen Entscheidern (Shura-Mitgliedern) und Dorfbewohnern immer am Anfang eines neuen Projektes.
Männer und Frauen inhalierten bereits am Gepäckband die ersten tiefen Züge ihrer Zigaretten. Vor dem Grenzhäuschen des afghanischen Zolls erwartete ihn eine große Menschentraube, alle auf Einreisestempel in ihren Pässe wartend. Hier standen Männer in traditionellen afghanischer Kleidung, großen Turbanen und langen wilden Bärten ebenso, wie ihre in Burkas eingehüllten, meist in Gruppen hockenden Frauen, die besser gekleideten iranischen Geschäftsleute in ihren billigen Kunststoffanzügen und einige zerlumpte Kinder, auf eine Gelegenheit wartend das Gepäck von den Trägern in Empfang nehmen zu können und für 80 Afghani (ca. 1 Euro) zu bewachen. Die Stimmung war gereizt, wie überall wo Menschen der Willkür anderer ausgesetzt sind, hier der Willkür der afghanischen Behörden, die mit ihrer Zustimmung oder Ablehnung über Familienzusammentreffen, Geschäftsabschlüsse oder einfach nur der Heimkehr von Kriegsflüchtlingen in ihre alte Heimat entscheiden.
Da man vor Reiseantritt keine Devisen kaufen konnte, war Langström auf die Außenstelle einer der vielen iranischen Banken in der Gepäckhalle angewiesen. Nach neun Stunden Flug stand ihm der Kopf nicht wirklich nach Feilschen, aber bei einem mehr als vierfach überteuerten Preis blieb ihm nichts anderes übrig, als mehrere Taxifahrer selber auf Englisch anzusprechen, zu lächeln, zu drohen, witzig zu sein, um schließlich bei einem der Fahrer in der hintersten Reihe der wartenden Aasgeier einen Preis 60 Afghani herauszuschlagen. Dieser "Dumpingpreis" sollte ihm allerdings noch teuer zu stehen kommen. Kaum waren seine 35 kg Gepäck zuzüglich 15 kg Handgepäck sicher verstaut, er selbst setzte sich unbequem auf der Rücksitzbank, da begann sein Fahrer gleich über den Wertverfall der iranischen Währung zu lamentieren. "Only paper, only paper, Dolli mutch more betti", so begann er. Er müsse doch schon 550 Afghnai fürs Parken zahlen, das Benzin sei viel zu teuer und überhaupt sei alles nach dem Sturz des Regimes 2021 viel schlechter geworden. Unter solchen und ähnlichen Verwünschungen ging es durch die immer noch sehr volle Stadt, immer großen mehrspurigen und gut ausgebauten Schnellstraßen folgend bis zu seinem Hotel.
Sein Weg sollte ihn über Qalat, Maiwand und Farah Rud hindurch durch die nebelverhangene Wüstenlandschaft immer auf der gut ausgebauten Bahnstrecke. Die Berge, Hügel und Täler erinnerten ihn an Bilder verschiedener Hollandbesuche am Meer. Man hatte den Eindruck, als habe jemand die durch Welleneinfluss entstandene Wattebene der Nordsee, diesen Daumenabdruck der Wasserwellen im sandigen Boden, um ein tausendfaches vergrößert und hierher gebracht. Afghanistan war auf seine Art wunderschön. Und politisch gesehen unglaublich instabil.Die Lage der Menschenrechte war bereits vor der Machtübernahme der Taliban schlecht.
Am dritten Tag brachte ein Taxifahrer den Schweden zum Treffpunkt einer Gruppe, die schon am Stadtrand in einer Halle auf ihn wartete. Er hatte sich selten in seinem Leben so einsam gefühlt wie an diesem Ort. Seine Habe auf drei Koffer verteilt, der Sprache nicht mächtig, also weder Neupersisch (Farsi, der Amts- und Kultursprache Irans, das in einer um vier Buchstaben erweiterten arabischen Schrift geschrieben wird) noch Dari, wie die persische Sprache in Afghanistan heißt, und fern der Heimat.
Die helle Haut der Westlerin vor ihm fiel ihm sofort auf, als sich Susan Engholm ihm näherte, die Journalistin aus Den Haag, die wie andere Frauen sich lieber verhüllten. „Sie sind da. Willkommen, aber Sie sind drei Stunden zu spät.“
„Das meinte ich, als ich sagte, wir hätten uns ruhig am Flughafen treffen können. Die Straßen sind verstopft.“ Langström schienen sich die Haare zu sträuben. „Als Fahrgemeinschaft, meine ich. Wenn wir sowieso schon die nächsten Wochen zusammen verbringen müssen…“
Die kobaltblauen Augen hinter der dunklen Burka sahen ihn scharf an. „Ich bezweifle nicht, dass Sie es schwer hatten, aber wenn wir nicht noch mehr Probleme bekommen wollen, mussten wir vereinzelt auftauchen. Es sind schon alle da.“
„Ist unser Dolmetscher da?“
„Ja. Aber er wird uns in Herat verlassen und dann übernimmt sein Schwager für ihn.“
Langströms Nervosität begann sich zu verdoppeln. „Das war so nicht abgemacht! Viel zu viele wissen, dass wir hier sind. Wenn nur einer redet…“
„Geredet wird immer.“ Sie bedeutete ihm zu folgen und ging voraus.Susan Engholm setzte sich gerade für die Rechte der Frauen in der Welt ein, ihre neue Studien zu Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit wartete auf die Aktualisierung – und Langström war ihr „Ehemann“, um sie sicher zum nächsten Kontakt zu bringen.
„Bleiben Sie immer bei mir“, gebot Langström leise und nicht zu auffällig; wissend, dass mahnende Worte kaum was bei ihr brachten. „Unser Sicherheitsbeauftragter der Malteser in Herat und Badghis schlägt sich immer noch mit einer Baufirma herum, die bereits für Ende September die Fertigstellung einer Schule in einer der Distrikte zugesagt hatte.“
„Ich hörte davon.“
„Wir haben alle unsere Ziele – aber wir werden sie nicht erreichen, wenn wir nicht vorsichtig sind.“ Langström sah sich um, glaubte vor und hinter sich argwöhnische Augen ihn mustern und beeilte sich aufzuschließen. „Es ist nicht sicher.“ Die allgemeine Sicherheitslage erlaubt es nach wie vor nicht, dass Expats die Projekte in den einzelnen Distrikten besuchen und damit sinnvoll beaufsichtigen können. Dies hängt nach wie vor u.a. mit den Auswirkungen der im Juli 2004 fünf ermordeten Mitarbeiter von Medcins sans Frontiere (MsF) in Qades, im gleichnamigen Distrikt, zusammen. „Es geht das Gerücht um, dass der, durch die Regierung in Kabul abgesetzte, Gouverneur Qades´ mit dem Mordauftrag nichts anderes bezweckte, als seinem Nachfolger deutlich machen zu wollen, dass dieser nicht für ein sicheres Arbeitsumfeld für NGOs sorgen könne.“
„Ich habe es nicht vergessen, Langström. Die Taliban sind zu sehr damit beschäftigt, den Frauen das Arbeiten zu verbieten und ihre Kontakte zu den anderen Gruppierungen stabil zu halten. Was kümmert sie da eine einzelne Frau aus Europa?“
Langström schwieg, denn er wusste, dass Susan Engholm zu den mutigsten Personen gehörte, die er je kennenlernen durfte. Sie war keine Närrin – lebensmüde, vielleicht – aber dumm war sie nicht. „Wenn Sie meinen, Schatz.“
„Gehen sie ein paar Schritte vor, Geliebter.“
Langström stellte sich der Gruppe vor, die mit drei weiteren Journalisten aus der Türkei, England und Irak Susan in ihrer Forschung unterstützen wollten. Niemand sprach viel, man hielt sich an den Regeln in Städten und Dörfern erstmal nur zu beobachten – mehr nicht. Die Männer und Frauen waren Profis, wie Langström im Laufe der Reise beobachtete: niemand ließ den „Reporter“ raushängen (wie er es nannte) indem er auffällig Fotos machte oder Sätze in ein Diktiergerät sprach. Das beruhigte ihn etwas.
Die Reise ging zur grünen Oase Herat, dem Handelszentrum im Nordwesten des Landes, das inmitten einer flachen, staubigen Steppe lag. Es wird angenommen, dass die heutige, 150.000 Menschen zählende Stadt im 4. Jahrhundert v. Chr. von Alexander dem Großen gegründet wurde. Im 7. Jahrhundert n. Chr. nahmen sie Muslime ein, bevor der mongolische Eroberer Tamerlan sie 1381 zu seiner Hauptstadt machte. Sie entwickelte sich daraufhin zum Zentrum persischer Kunst und Bildung. Erst 1749 fiel die Stadt an Afghanistan und ist noch heute im Land bekannt für seine Bildungselite, Miniaturmalereien (wie die bedeutendste Buchmalerei der Timurid-Periode. Diese findet sich im Buch Sah Nameh, ca. 1430 n. Chr. Heute zu sehen im Gulistan Museum, Teheran, und von Baysunghur aus Herat gefertigt), mundgeblasenem blauen Glas, einer funktionierenden Seidenindustrie und seiner Teppiche, die aus den angrenzenden Provinzen wie Badghis nach Herat geliefert werden.
Der Plan sah vor, dass die Gruppe bei Herat mit der Karawane auf den Gebirgswegen reiste – ganze zwei Tage, da Experten vor den Kontrollen auf den Straßen und der Bahn warnten. Von dort würde Langström die Leute zu seinem Firmenbüro bringen, wo sie nächtigen und von dort zwei Wochen recherchieren konnten. Susan und ihre Gruppe würden von dort in die Dörfer reisen und … der Rest war Langström ziemlich egal: er war nur froh, wenn er in Herat in seinen eigenen vier Wänden war.
In der vierten Nacht der Reise passierte es.
Der Pass war eng und steil, die Landschaft zerklüftet und abweisend wie keine, die der Schwede je kennengelernt hatte. Obwohl Sterne am Himmel glänzten, war der Pfad in pechschwarze Nacht getaucht. Er fühlte mehr, als dass er sah. Er spürte die massige Düsternis der Felsbrocken und die gespenstischen Schatten der Karawane, die, einer hinter dem anderen, lautlos daher zog. Die Nacht verstärkte die Geräusche: das Heulen des Windes, das Scharren der Pferdehufe über Stein. Seile rieben sich und knarrten von dem Gewicht der Kisten und Koffer, die auf den Rücken der Pferde festgezurrt waren.
Die dünne Luft machte Langström ganz benommen; ihm war elend und schlecht. Trotz der dicken Fleecejacke zitterte und fror er. Sie waren nur noch einen Tag von Herat entfernt, als das neue Geräusch vernahm. Urplötzlich, alarmierend und intensiv, ein tiefes, rollendes Wumm-Wumm-Wumm. Es klang fremd und unnatürlich, es kam von oben. Sein Herz pochte. Der laut kam näher, schwoll an.
Die Karawane kam ruckartig zum Stehen. Langström spürte die Verwirrung seiner Gruppe. Der afghanische Führer sprang von seinem Pferd und zerrte es zu Boden. Verstecken. Jetzt.
Langström sah zu Susan, wie sie ihr Pferd zu Boden riss und sich eine Decke schnappte, um sich und ihr Pferd zu verstecken. Tarnung war die einzige Hoffnung. Das Wumm-Wumm-Wumm füllte die Luft und schwoll zu einem unaufhörlichen Donner an. Endlich bewegte sich auch der Schwede, nahm sein Pferd und stolperte über einen Stein, den er in den Dunkelheit übersehen hatte. Kaum hatte er die Decke herausgezogen, verdunkelte etwas die Sterne. Das Ding sahs aus wie ein Frachtwaggon – aber es hatte Flügel, und die gezackten Silhouetten unter den Flügeln bedeuteten Raketen, Bordkanonen und Maschinengewehre. Der Kampfhubschrauber kam näher, und es schnürte ihm die Kehle zu. Ihm war, als hätte er Glas verschluckt.
Der Suchscheinwerfer flammte auf und der gleisende Strahl traf Langström in seiner Bewegung sich unter die Decke zu verstecken. Das gespenstische weiße Licht traf ihn voll und in dem Moment wusste er, dass er so schnell nicht wieder nach Hause kommen würde.
Die Gewalt der Rotorblätter, die den unglaublichen Wind erzeugten, und sie alle entlarvte. Langström hielt den Atem an…
Einige Zeit später:
Langström stöhnte und kam langsam zu Bewusstsein. Der Schmerz durchzuckte seinen Körper, seinen Magen, seine Seite, sein Rückgrat, seinen Kopf. Er fürchtete, dass die Schläge mit den Gewehrkolben eine Rippe gebrochen hätten oder seine Kopfhaut geplatzt wäre. Er rang nach Luft. Starke Scheinwerfer blendeten ihn, er konnte nichts sehen, die Augen taten weh. Mit Gewalt brachte er sich dazu, die Augen an die Sicht zu gewöhnen. Er lag in einer engen Zelle aus Stein, die eine eiserne Tür verschloss. Ein Rechteck in der Tür bildete ein hohes, schmales Fenster. Dahinter lag der Korridor, aber ein anderes Fenster gab es nicht. Keine Schlafstelle, keine Latrine. Die gleisenden Scheinwerfer wurden durch Eisengitter geschützt.
Langström war der Panik nahe. Er zwang sich zur Ruhe, wohlwissend, dass ab jetzt nur noch unangenehme Fragen und viel, viel Schmerzen auf ihn warteten. Leise weinte er und fragte sich, wie er es jemals aus dieser Lage schaffen könnte. In Sandviken wartete sein Mann auf ihn, gemeinsam hatten sie sich ein Haus am See Storsjörn bezogen, das blau gestrichen war und von dem man aus in frühen Stunden den friedlichsten Ort der Welt bewundern durfte. Selbst ihre Katze Peterson würde ihn vermissen, wenn er nicht mehr wiederkam. Keine gemeinsamen Stunden am Kamin mehr, keine Lasagne-am-Dienstag mehr und keine Ausflüge zum Stadtpark. Langström ahnte, dass er hier seinen letzten Gefallen aufgebraucht hatte.
Als ein Schlüssel sich in dem Schloss der Zellentür drehte, war er wieder in der Gegenwart. Mit gemischten Gefühlen beobachtete er, wie die Tür aufging. Ein schlanker, aber kräftig gebauter Mann mit einem dichten Bart trat ein und zog einen Stuhl hinter sich her. Er war etwa Mitte fünfzig und strahlte Autorität aus. „Ich bin Emir Rasoul. Aus deinen Papieren geht hervor, dass du ein Architekt aus Schweden bist. Warum nimmst du einen Schmugglerweg nach Herat?“
Langström glotzte ihn verständnislos an.
„Diese Erfahrung kann für dich leicht oder schmerzvoll sein“, fuhr der Taliban fort, „je nachdem, wie du willst. Du hast die Wahl. Susan Engholm. Ist sie deine Frau?“
Langsam begann es in ihm zu dämmern. Sie hatten sich vorsichtig verhalten wollen – und waren übervorsichtig gewesen. Und hatten dummerweise eine Route benutzt, die regelmäßig von den talibanischen Sicherheitskräften kontrolliert wurde. „Ich“, begann er langsam und wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte.
„Sie ist deine Frau?“
„Ja…“
„Ihr trag nicht dieselben Namen? Das ist ungewöhnlich, und unverzeihlich. Schmuggler seid ihr nicht, denn wir haben eure Sache gesehen. Darunter Handys und zwei Laptops. Schmuggler tragen keine Ausweise aus dem Westen. So, jetzt wissen wir, was du nicht bist. Ich will wissen, was du bist. Willst du wissen, was ich glaube?“
Langström schluckte trocken.
„Ihr seid Spione.“
„Nein, ich bin Architekt und… Susan ist meine Frau“, gab er schnell wieder, unsicher wie lange er das Spiel mitspielen konnte. „Ich schwöre es.“
„Du hast keinen Ring. Es ist nichts vermerkt“, berichtigte der Emir vor ihm müde. „Du bist schlecht im Lügen. Warum bist du und diese Gruppe durch die Berge gekommen? Wer von euren Leuten kommt noch hierher? Wir haben euch beobachtet. Diese Frau und die anderen sind uns bekannt. Westliche Vorstellungen von Frieden und Wohlstand! Wir kämpfen täglich gegen den IS. Die Umerziehung der Bevölkerung nach den alten Sitten ist unsere Angelegenheit – da brauchen wir niemanden aus den Teilen der Welt, die meinen, sie wüssten es besser. Dargelegt von Mullah Omar.“
„Köpfe abschlagen, Frauen verprügeln und Selfies machen…“ Er verstummte schnell, als der Mann ihn strafend ansah. „Ihr habt“, die nächsten Worte wählte er lieber mit viel Bedacht, „ihr habt …den amerikanischen Drachen getötet und wart siegreich. Sehr schön. Genießt euren Sieg, und ich werde auch für euch jubeln. Versöhnt euch mit eurem Volk. Damit sich das Kalifat wie Samen im Wind verbreiten kann.“
„Verräter machen mir Sorgen.“ Emir Rasoul kratzte sich am Kinn und maß Langström mit nachdenklichem Blick. „Ich will, dass du nach Hause kommst. Aber dafür will ich Namen hören.“
„Namen?“
„Wer ist noch auf dem Weg? Mit wem habt ihr gesprochen? Mit welcher Frau, mit welchem Mädchen und mit welchem Mann! Sag es mir, dann könnt ihr gehen. Raus aus der Hölle.“
„Ich weiß nichts.“
„Sag es.“
„Ich weiß doch nichts!“
„So, du willst nicht reden.“ Er stöhnte leise, stand auf und ging zur Tür. „Ich denke, wir können euch noch etwas hierbehalten und ausfragen. Statt Wasser, Brot und Datteln werden wir euch zeigen, wie man leidet. Wie man den Weg zur Wahrheit findet. Zur einzigen Wahrheit, die hier in dieser Welt etwas wert ist. Möge sich der Staub erheben und die Apostel den Schrei hören…“ Er klopfte an den Tür und eine große Wache kam herein. Langström sah an ihm vorbei und erkannte andere Zellen, vor denen andere Taliban standen. Und von irgendwo stöhnte jemand gerade laut auf. Emir Rasoul ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Fünf Sekunden später gab Langström innerlich zu, dass der Emir recht behalten würde. Er war in der Hölle.
Berlin, Schönefeld:
Hipstermetropole, Identitätskrise, Partytouristen, Bikini Berlin und die logische Konsequenz der globalisierten Bohemian-Blase – Berlin war nicht nur eine Stadt, sondern besaß eine eigene Seele. Berlin bot in städtetechnischer Hinsicht die wohl größte Abwechslung in Deutschland, gerade für Touristen, die sich auch zur frühen Stunde aufmachten um es zu genießen, durch die Straßen zu laufen, ohne irgendwann vor einer Mauer zu stehen. Bäcker brachten ihre frischen Brote und Brötchen zu den Exportplätzen, von denen sie per Lkw eine Reise zu den hunderten von Läden feilgeboten wurden. Der nie endende Strom aus Pkws brachte Schüler wie Arbeiter zu ihren angestammten Orten, von wo aus sie den Lehren anderer zuhörten oder ihren Sold erfüllten – je nach Lage.
Zwei Männer.
Arvid Cedric Ludwig, Personenschützer, stand schon um 6 Uhr auf. Seine Vierzimmerwohnung mit Balkon lag in einem der ruhigen, sehr grünen Vororte wo man in der Regel die Balkontür offen lassen konnte ohne ausgeraubt zu werden. Arvid zog sein Seidenschlafanzug aus und betrachtete seinen drahtigen Körper im Spiegel, bewunderte seine Tattoos und die vielen Narben einiger Extremmomente und lächelte im gleichen Zuge über seine Eitelkeit: auch die Narben waren besondere Auszeichnungen, die von Extremsportunfällen und sogar Kämpfen herrührten. Dann zog er Joggingkleidung an und begann den Tag mit zehn Minuten Yoga. Ein Glas Orangensaft, Müsli und einem Espresso später ging er joggen (30), besuchte das Fitnesscenter seiner Wahl und trainierte Kardio (15), ging an die Geräte (20) und im großen Pool schwimmen (15). Nach ein wenig Flirten mit den Studentinnen an der Rezeption lief er wieder nach Hause, zog Jeans und einen Houdi an und spazierte relaxt zu seinem Arbeitsplatz.
Der andere Mann war…anders.
Josip Baroda wachte um 7 Uhr 43 im Unterhemd und mit einem fahlen Geschmack im Mund in einer fremden Wohnung auf und setzte sich erstmal aufrecht hin. Der Ukrainer besaß ebenso Narben am Körper, aber die meisten zeugten von Einschüssen oder schlimmen Verletzungen wie abgebrochenen Flaschen oder sogar Brandmienen. Der schwarze Bart war am Mund gelb vom Nikotin geworden, der Haaransatz ging immer weiter zurück und mit kühlen, sehr emotionslosen Augen wirkte der mit kyrilischer Schrift tätowierte Mann wie ein typischer Bondbösewicht. Erst beim Aufstehen begriff er langsam, dass er sich etwas Beischlaf gegönnt hatte. Der Prostituierten schob er das Geld herüber, sah auf die Uhr und spülte den schlechten Geschmack mit einem Zug aus seiner Wodkaflasche. Die blasse Frau beobachtete den Kunden argwöhnisch, als dieser seine Unterarmschiene mit Klettverschlüssen am rechten Arm anpasste, in der eine scharfe Klinge versteckt war. Ungefragt zündete sich dieser über ihre Spüle eine Zigarette an, während er sich ein billiges T-Shirt und sich ein Holster überzog. Die Beretta darin forderte die Frau im Bett nicht gerade zum Nachfragen ein, welchem besonderen Beruf der Kunde wohl nachging aber sie war sich sicher, dass dieser nicht im Branchenverzeichnis verzeichnet war. Nach einem selbstgefälligen Nicken ging er raus auf die Straße, holte sich einen Kaffee und einen Hamburger, rief ein Taxi und ließ sich zur Arbeit fahren.
Fast synchron kamen Arvid und Josip um 7 Uhr 56 an.
An der Bundestraße 96 fuhr der Corsa um 8 Uhr 23 langsam ins Parkhaus während rund um Berlin in den frühen Morgenstunden das geschäftige Leben begann. Jaqueline Kaplan stieg aus dem Corsa aus und atmete bewusst ein und aus – bevor sie sich zum angrenzenden Bürogebäude aufmachte. „Idioten“, murmelte sie leise und balancierte dabei gekonnt drei Taschen mit Akten, wohlwissend, dass sie ihren Bruder irgendwann erwürgen würde. Durch ein Treppenhaus zu den Fahrstühlen hoch in den sechsten Stock, wo sie schon durch die Glasvitrine zwei männliche Gestalten erkannte. „Idioten“, bekräftigte sie noch einmal und suchte unter der schweren Last wankend den Schlüssel für die Tür. Als sie ankam, starrten die beiden Männer schuldbewusst zu Boden. Was für ein Witz, dachte sie nur spöttisch und marschierte an ihnen vorbei um endlich aufzuschließen. „Wie kann es sein, dass gerade ihr eure Schlüssel vergessen habt!? Zwei der gefährlichsten Männer Europas– nicht zu fassen!“
Arvid Cedric Ludwig - seines Zeichens Söldner, Kaufmännischer Angestellter und Junior Linguist – wirkte wie eine deutsche Version von Steve Rogers, die in Freizeitklamotten sportiv und frisch daherkam – und gerade zum Bodeninspektor wurde. Genau wie er ersparte sich Josip Baroda jeglichen Kommentar, der zumindest äußerlich wie das genaue Gegenteil wirkte: bleiche Haut, verfilzter Bart und ein grauer Stoffmantel, der seine Düsternis nur noch unterstrich. Der ukrainische Killer hatte mit den Wölfen von Zargras geheult, vielen Männern und Frauen den Tod gebracht – aber vor der resoluten Jaqueline schnell begriffen, dass er auf beißende Kommentare lieber verzichtete. Es wäre nicht gut ausgegangen. „Danke.“
„Danke.“
„Schon gut.“ Jaqueline schloss die doppelt verstärkte Tür zum Büro der Compass Keep auf, die das Herzstück ihres Unternehmens war: die Zurückführung von Journalisten aus der ganzen Welt, die infolge aus politischen Gründen um ihr Leben bangen mussten. Fünfzig Millionen Euro schwer, nur aus zwei Mitarbeitern bestehend (wenn man Jaqueline als ehrenamtliche Teilzeitkraft nicht dazu zählte) und die einzige Organisation, die sich dem Stress und der Todesgefahr aussetzte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drängelte sie sich vorbei, stellte die Taschen am einzigen Bürotisch ab und ließ den Computer hochfahren während Josip zielstrebig zur Toilette ging. Arvid trottete ihr hinterher und versuchte smart zu lächeln. „Was wären wir nur ohne dich.“
„Geschenkt. Koch bitte Kaffee, während ich das Chaos ordne, ja? Und sag ihm, dass hier drinnen nicht geraucht wird.“
„Er hat hier nicht…“
Von ihrem Platz aus wischte sie mit dem Finger über den Tisch und zeigte ihren Fund stolz wie eine Detektivin. „Arvid, man kann es riechen. Man kann die Ascheflöckchen sehen. Und ich sehe schon die ersten Nikotinspuren an der Decke. Willst du diskutieren?“ Für vierhundert Euro im Monat hatte man ein stilvolles, helles Büro mit einem Konferenzraum gemietet, dass neben einer Küche und einem Empfangsraum auch ein abschließbares Lager hatte. Für weitere zweihundert schauten Sicherheitskräfte regelmäßig nach dem Rechten und die Kameras und die teure Alarmanlage sorgten für ein Quäntchen Sicherheit. Für das viele Geld konnte man nach Jaquelines Logik auch etwas Reinlichkeit erwarten.