Heimat - Hannah Lühmann - E-Book

Heimat E-Book

Hannah Lühmann

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Hinter der perfekten Idylle lauert die »Tradwife«-Szene – Hannah Lühmanns Roman über ein virales Thema und den Rechtsruck in unserem Land Als Jana mit ihrer Familie aufs Land zieht, merkt sie schnell: Hier gelten andere Regeln. Hinter der bürgerlichen Fassade lauert ein höchst problematisches Weltbild, wie selbstverständlich wird hier AfD gewählt. Auch Janas charismatische Nachbarin Karolin hat sich ganz der Rolle als Hausfrau und Mutter verschrieben. Je mehr Zeit Jana mit Karolin verbringt, desto klarer wird ihr, dass sie auf eine sehr zeitgemäße Weise ultrakonservativ ist – sie kämpft als »Tradwife« im Namen der Tradition gegen alles, wofür Jana eigentlich steht. Jana versucht, sich gegen ihre Faszination zu wehren, und ertappt sich doch immer wieder bei dem verstörenden Gedanken, dass sie Karolin um ihr Leben beneidet …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 201

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Heimat« von Hannah Lühmann

Über das Buch

Hinter der perfekten Idylle lauert die »Tradwife«-Szene — Hannah Lühmanns Roman über ein virales Thema und den Rechtsruck in unserem LandAls Jana mit ihrer Familie aufs Land zieht, merkt sie schnell: Hier gelten andere Regeln. Hinter der bürgerlichen Fassade lauert ein höchst problematisches Weltbild, wie selbstverständlich wird hier AfD gewählt. Auch Janas charismatische Nachbarin Karolin hat sich ganz der Rolle als Hausfrau und Mutter verschrieben. Je mehr Zeit Jana mit Karolin verbringt, desto klarer wird ihr, dass sie auf eine sehr zeitgemäße Weise ultrakonservativ ist — sie kämpft als »Tradwife« im Namen der Tradition gegen alles, wofür Jana eigentlich steht. Jana versucht, sich gegen ihre Faszination zu wehren, und ertappt sich doch immer wieder bei dem verstörenden Gedanken, dass sie Karolin um ihr Leben beneidet …

Hannah Lühmann

Heimat

Roman

hanserblau

Für Hinrich

Im Spiegel sieht sie ihr Gesicht ganz nah. Ihre Gesichtszüge, aus dieser Nähe betrachtet, haben eine andere, eine neue Qualität. Sie streicht über den Flaum ihrer Wangen, lässt ihre Hand hinabsinken auf ihren Brustkorb. In ihrem Herzen beginnt sich ein Gefühl der Ekstase auszubreiten. Es dehnt ihre Seiten, steigt ihr Schlüsselbein empor, lässt sie strahlen. Ihre Rippen weiten sich, sie saugt die Luft ein, lässt Raum entstehen für das Kribbeln. Jede Faser ihres Körpers scheint sich mit der Umgebung zu verbinden. Endlich ist sie da, wo sie hingehört. Sie richtet sich auf, strafft ihre Schultern, ihren Rücken. Sie atmet ein, schließt die Augen. Der Druck ihrer Füße gegen den Boden, der Hocker, auf dem sie sitzt, die neue, ungewohnte Leichtigkeit. Jedes Teilchen im Universum hat seine Ordnung. Sie ist angekommen. Ihr sind Wurzeln gewachsen, und ihr Geist fliegt. Auf dem Glas des Spiegels sind Staubkörner. Ihr Lächeln verschwimmt, wird Teil eines größeren Bildes. Das, was fern schien, ist jetzt nah, sie spürt hinter sich den Raum, das Licht, die Dunkelheit. Es gehört alles ihr. Es ruft alles nach ihr. Sie dreht sich nicht um, sie sieht in den Spiegel, sie sieht sich an. Ihre Lippen, die schmaler geworden sind, den blauen Stoff, ihre kleinen Ohren. Das ist das Glück. Ein Rascheln.

Er kommt.

Zum ersten Mal begegneten sie sich im Eiscafé des Neubaugebiets, in das Jana und ihr Mann Noah vor Kurzem gezogen waren. Es war einer der ersten Vormittage, an denen sie allein war. Noah hatte nach den Ferien wieder angefangen zu arbeiten. Die Kinder waren in der Kita, endlich blieben sie den ganzen Tag, hatten sich ins neue Umfeld eingewöhnt. Da Jana zuletzt Vollzeit gearbeitet hatte, konnte sie sie bis vier oder fünf Uhr dort lassen, und sie hatte nicht vor, es jemals zu ändern, auch wenn das keine der anderen Mütter hier so machte. Sie alle standen um spätestens vierzehn Uhr mit ihren Buggys, ihren Rollern und ihren Brotdosen vor der Kita und schlossen ihre Kinder in die Arme. Es waren ausschließlich die Mütter, die ihre Kinder abholten, in der Stadt waren die Väter wenigstens an manchen Tagen gekommen. Jana spürte ein starkes Ziehen im Unterleib. Diese Schwangerschaft war nicht wie die beiden anderen. Das Gefühl der Freiheit, das sie nach der Kündigung empfunden hatte, war verpufft, sie lag die meiste Zeit auf dem Sofa herum, die Hand auf dem Bauch, und scrollte auf dem Handy.

An diesem Tag saß sie, in eine Decke gehüllt, auf der Terrasse des Cafés. Das Wetter war frühlingshaft, und sie löffelte eine Kugel Vanilleeis, während sie versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren: eine Rilke-Ausgabe, die Noah ihr vor langer Zeit geschenkt hatte. Sie starrte auf die Zeilen, sie hoffte, etwas von der Begeisterung wiederzufinden, die dieser Dichter früher einmal in ihr ausgelöst hatte. Doch sie fühlte keine Verbindung zwischen ihrem jugendlichen Ich, das Gedichte geliebt hatte, und ihrer Gegenwart.

»Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen.« Eine Frau stand auf einmal neben ihr. Sie beugte sich leicht über den Tisch, Jana konnte ihr herbes, frisches Parfüm riechen. Die Frau warf ihre Haare zurück und lachte, den Fortgang der Elegie weiter aus dem Kopf zitierend, »und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören«. Sie trug die Passage vor, als handele es sich um ein ausgesprochen komisches Stück Literatur, allgemein bekannt und zum Abschuss freigegeben, unangemessenes Pathos einer längst verstrichenen Haltung den Dingen gegenüber.

Die Frau schaute Jana an, als erwartete sie Applaus für eine gelungene Vorführung. In ihren hellblauen Augen flackerte es. Jana hätte es denkbar unoriginell gefunden, sie als klassische Schönheit zu beschreiben, weil die Worte so abgenutzt klangen, wenn nicht der warme, echte Mensch dazu vor einem stand: Ihre Haare waren lang und blond, die Wangenknochen hoch, und sie hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, die ihr breites, alles gewinnendes Lächeln freigab. Sie trug eine gesteppte Barbourjacke über einem hochgeschlossenen Kleid mit buntem Blumenmuster, dessen hellblaue Knopfleiste ein Stück ihres schlanken Halses hinaufreichte.

»Karolin«, sagte sie, jetzt einen Schritt zurücktretend, als wollte sie Jana Raum geben, sich zu erholen. »Bitte entschuldige den Auftritt, ich fand es nur so toll, dass du hier sitzt und Gedichte liest, zwischen allen diesen …« Karolins Kopf machte eine kleine dramatische Runde, als wollte er das Ausmaß der Katastrophe vermessen. Um die beiden herum saßen frischgebackene Vorstadtmütter auf mit flachen Kissen bestückten Holzkisten. Überall auf dem kahlen Vorplatz lagen Kaffeesäcke verteilt, auf denen mit schwarzer Sprühfarbe die Namen exotischer Orte gesprüht waren: Columbia. Brasil. Product of Honduras, 73 kg. Die Einfallslosigkeit, mit der die neue Siedlung versuchte, ihren größtenteils jungen Bewohnern ein Gefühl von Urbanität zu vermitteln, deprimierte Jana. Um den Platz herum waren ringförmig die Wohnungen derer angelegt, die sich kein Gartenhaus hatten leisten können.

Jana musste lachen. »Jana«, sagte sie, »freut mich sehr.«

»Welche Woche?«, fragte Karolin, und Jana verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte, sie verstand es nicht, weil es schlicht nicht sein konnte, dass man es sah. Es war erst wenige Wochen her, dass sie noch im Bad ihrer alten Wohnung voll Angst auf den zweiten, überdeutlichen Strich auf dem Schwangerschaftstest gestarrt hatte.

»Wow«, sagte Jana, »woher weißt du …?«, und Karolin zog auf mädchenhafte Weise die Schultern hoch, als teilten sie ein ulkiges kleines Geheimnis.

»When you know you know«, sagte Karolin, und Jana, die sonst nicht so schnell aus der Reserve zu locken war, musste schon wieder lachen. Sie fühlte in diesem Moment zum ersten Mal so etwas wie Freude über die Schwangerschaft in sich aufkommen, ein Gefühl von Stolz und Neugierde auf das, was kommen würde und was ihr jetzt, obwohl sie es bereits zweimal erlebt hatte, erneut unvorstellbar erschien.

Im Sandkasten, der, ebenfalls im Sinne der in der Siedlung veranschlagten Philosophie städtischer Lebendigkeit, in den Beton des großen Platzes eingelassen war, begann ein Kind zu schreien. »Oh Mann«, sagte Karolin, »entschuldige bitte.« Sie ging zum Sandkasten — »Fritz, wenn du deine Schwester noch einmal mit der Schippe haust, gibt es Ärger!« —, kam zurück mit einem etwa einjährigen Mädchen auf der Hüfte und sagte: »Wo waren wir stehen geblieben?« Die Kleine trug ein rot-weiß kariertes Kleidchen und darüber eine Art dunkelgrüner Lodenjacke, unglaublich niedlich, dachte Jana.

»Respekt«, sagte Jana, »die sind echt nah beieinander«, und Karolin verzog das Gesicht und flüsterte, als würde sie Jana ein schauerliches Geheimnis anvertrauen: »Es gibt noch drei davon zu Hause.« Sie lachte, als sie Janas aufrichtig entsetzten Ausdruck sah. »Wie du siehst, lebe ich noch. Es hat mich wirklich gefreut, dich kennenzulernen.«

Fritz, viel dunklere Haare als seine strohblonde Mutter, keine drei Jahre alt, ebenfalls in einer grünen Lodenjacke, hatte sich von hinten an Karolins Bein geschmiegt, während die beiden Frauen die letzten Worte wechselten. Louis wäre nie so widerspruchslos aufgebrochen, dachte Jana, und auch wenn Vergleiche bei ihr grundsätzlich zugunsten ihrer eigenen Kinder ausgingen, spürte sie so etwas wie Neid, als Karolin ruhigen Schrittes die Terrasse verließ.

Jana sah ihr dabei zu, wie sie am Straßeneingang in einen schmutzigen, armeegrünen Jeep Cherokee stieg. Karolin wirkte gelassen, selbst beim Verstauen der Kinder, selbst als die Kleine auf der Rückbank wieder zu schreien anfing. Karolin hatte sich eine große schwarze Sonnenbrille aufgesetzt, aber Jana war sich ziemlich sicher, dass sie sie im Rückspiegel beobachtete. Karolin hob die Hand, und Jana winkte zurück.

*

Als Jana am Nachmittag Louis und Ella von der Kita abholte, fühlte sie sich wacher, energiegeladener, sie drückte ihre Nase in die weichen Haare ihrer Kinder und sagte: »Na kommt, habt ihr Lust, noch einkaufen zu gehen?« An der Kasse des großen Supermarktes nahm Jana Ella auf den Arm, damit sie nicht auf die Idee kam, die Quengelware abzuräumen. Sie häufte einhändig abgepackte Schupfnudeln, Reibekäse und Tiefkühlerbsen, Joghurts für den nächsten Morgen, einige Äpfel, Milch und Weintrauben aufs Band und versuchte den weinenden Louis zu trösten, der ihr seit Tagen damit in den Ohren gelegen hatte, dass er Erdbeeren wollte, und nicht verstand, dass der Supermarkt im Winter keine führte. »Ich will aber Erdbeeren!« Louis stand stocksteif, seine Augen füllten sich mit Tränen. Jana versuchte, ihn nach vorn zu schieben, damit die hinter ihnen stehenden Personen weitergehen konnten, aber er kauerte sich auf den Boden. »Du kommst jetzt verdammt noch mal mit«, schrie sie ihn an und bereute es sofort, er hatte ja nichts getan, er war ein Kind, das Erdbeeren wollte, von der Zielstrebigkeit erwachsener Menschen nichts verstand. Die ältere Dame hinter ihr zog die Augenbrauen hoch und schüttelte verständnislos den Kopf. Auch Jana war nun den Tränen nah. Kannte Karolin solche Momente? Verlor sie jemals die Ruhe? Jana dachte an ihren aufrechten Gang, sie konnte es sich nicht vorstellen.

Beim Bezahlen fand Jana ihre Karte nicht gleich, und je länger sie suchte, desto mehr glaubte sie, Missbilligung in den Augen der Verkäuferin zu erkennen. Es war neu, dass Jana so empfindlich war, früher hatte sie sich kaum darüber Gedanken gemacht, was die Leute über sie dachten. Aber in letzter Zeit fühlte sie sich ständig taxiert und bewertet. Als hätte sie ihren Platz hier unter Vortäuschung falscher Tatsachen bekommen. Sie hätte der Verkäuferin gern gesagt, dass das alles so nicht geplant gewesen war, dass sie es selbst nicht für eine gute Idee hielt, schon wieder schwanger zu sein, dass auch sie sich fragte, warum sie eigentlich tagein, tagaus zwischen den Eckpfeilern dieser neuen Stadt hin und her tingelte, von der sie hoffte, dass sie irgendwann einmal ihre Heimat sein würde: vom Supermarkt zur Kita zum Spielplatz und wieder nach Hause. Ihr Auto checkte sich mit einem sanften Bimmeln aus der Parkplatzzone aus. Smartvillage, KI-gesteuerte Straßenbeleuchtung, gemeinschaftlich geteilte Heizkosten und im Sommer ein automatisiertes Sprenklersystem — was vielversprechend geklungen hatte, stellte sich mehr und mehr als ein Albtraum der Spießigkeit und Langeweile heraus.

*

Der Weg zur Haustür war ein gerader, grauer Strich zwischen zwei Streifen Gras. Die schwarzen Latten des Zauns glänzten noch immer, als hätte sie jemand mit dem Poliertuch bearbeitet. Die Kinder stürmten in den Garten hinter dem Haus, zum Trampolin. Jedes Mal, wenn Jana und Noah vor dem Umzug durch das Neubaugebiet gefahren waren, waren ihnen die Trampoline in den Gärten aufgefallen. Noah fand es albern, aber Jana hatte die Vorstellung geliebt, und schließlich hatte Noah sich breitschlagen lassen. Jana entschied sich, die Kinder einen Moment allein zu lassen, auch wenn es draußen schon dunkel war. Sie konnte die beiden durch das Küchenfenster sehen und, wenn sie es kippte, auch hören. Das Licht des Bewegungsmelders an der Veranda tauchte den Garten in einen grellen Schein. Er ging für eine Sekunde aus, dann sprang Louis empor, und er ging wieder an. Jana wusch die Weintrauben ab und legte sie in eine Schüssel. Sie gab Öl in die Pfanne und begann, die Schupfnudeln zu braten. Die Kinder hatten sofort angefangen zu hüpfen, ihr Kreischen und Glucksen ließ Jana fühlen, dass sie vielleicht doch irgendetwas richtig gemacht hatte.

*

Ein Blick aufs Handy zeigte ihr, dass Noah, mit dem sie am Morgen heftig aneinandergeraten war, nicht geschrieben hatte. Er verbrachte den Nachmittag in der Stadt und hatte gesagt, dass es später werden würde. Noah war immer schon stur gewesen, aber so lange wie dieses Mal hatte eine Verstimmung bei ihm noch nie angehalten. Als die Kinder endlich schliefen, legte Jana sich aufs Sofa und blätterte in der Zeitung, die umsonst in der Siedlung verteilt wurde. Ein parteiloser Politiker wurde porträtiert, der sich in der Gemeindevertretung für die AfD hatte aufstellen lassen. Jana fand den Grundton des Artikels irritierend positiv. Seit sie Mutter war, bekam sie viel zu wenig vom politischen Tagesgeschehen mit. Nach ihrer Kündigung hatte Noah ihr gemeinsames Zeitungsabo abbestellt, das Geld könnten sie sich sparen, sagte er. Das Abo seines Hacker-Magazins hatte er nicht gekündigt, da war sich Jana sicher. Sie hatte natürlich mitbekommen, dass sich die Dinge auf eine Weise begonnen hatten zu verändern, wie es niemand jemals für möglich gehalten hätte. Die Allgegenwart der Partei war ihr schon in den ersten Tagen ihrer Ankunft hier aufgefallen. Die AfD verteilte auf dem Markt Flyer für Filmabende, sie sponsorte Kneipenabende und Dorffeste. Dort, wo hinter der Neubausiedlung die Welt der Straßendörfer und Fitnessstudios begann, waren die Straßen blau von Transparenten. Und auf dem Fußballfeld neben dem Waldeingang trafen sich Kampfsportgruppen zu paramilitärischen Übungen — das hatte ihr Rike, die Vorsitzende des Bauvereins des Quartiers, bei der Schlüsselübergabe erzählt. Jana selbst hatte junge Männer mit Tanktops und rasierten Köpfen beobachtet, die auf dem Weg dorthin waren. Aber so einen wohlwollenden Text in einem offiziellen Regionalblättchen, da war sie sich sicher, hätte es noch vor wenigen Monaten nicht gegeben.

Sie ging auf Instagram und tippte den Namen »Karolin« ein. Einige der Mütter aus der neuen Kita hatten sich bereits mit Jana vernetzt, so wusste der Algorithmus, wonach sie suchte: Das dritte Profil von oben war Karolins. Von ihrem Gesicht sah man nur Wange, Ohr und Kinn, trotzdem erkannte Jana sie sofort. Jana empfand Aufregung und Freude, weil die künstlerisch angehauchte Ästhetik von Karolins Profil das bestätigte, was sie seit dem Treffen im Eiscafé gehofft hatte: dass es wenigstens eine interessante Person hier draußen gab. Karolin hatte über siebentausend Follower. Der Zugang zu ihrem Profil war eingeschränkt, Jana konnte nur einige wenige gespeicherte Storys sehen. Eine hieß »Wildes Leben« und zeigte verschiedene Aufnahmen von Karolins Kindern beim Plätzchenbacken an einem großen hölzernen Tisch, beim Fangenspielen, bei einer Schneeballschlacht. Vor Kaninchengehegen, beim Sammeln von Eiern in einem Hühnerstall. Zwischen zwei Bäumen eine Hängematte. Karolin drehte sich im Kreis und tanzte. Küchenfenster, weiße Vorhänge, Eichenparkett. Ein Mann trat hinzu: flaschengrüne Augen, hellbrauner Bart. Er hieß Clemens, an jedem seiner Oberarme hielten sich zwei Kinder fest. Ein wildes, weites Feld, dahinter Tannen. Jana fragte sich, wo dieser Ort war, stand er doch in so offenkundigem Gegensatz zu den betonierten Gehwegen und kontrollierten Gartenflächen ihrer neuen Nachbarschaft. Eine andere Story hieß »Das Land erkunden«. Karolin wanderte durch einen Buchenwald, es war Sommer, sie drehte sich um und sprach fröhlich in die Kamera, präsentierte bunte Steine, die sie gefunden hatte. Karolin an einem Bachufer, Karolin an Rheinfelsen, Karolin beim Klettern an einer steilen Felswand. Familienpicknick, Wildschweingehege. Jana zwang sich, sich vom Scrollen zu lösen. Sie legte das Handy ein Stück weit weg, schob es unter das Sofakissen, nahm es sofort wieder in die Hand. Sie zögerte kurz, dann rief sie Karolins Profil erneut auf und drückte auf »Folgen«. Jana legte das Handy endgültig zur Seite, machte den Fernseher an und klickte sich durch die Mediatheken. Sie entschied sich für einen Dokumentarfilm über die Tiefsee, innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen.

Sie wachte nachts davon auf, dass Noah ihr über die Haare strich. Sie gingen nach oben ins Schlafzimmer. Ihre Hände fanden sich kurz in der Mitte des Bettes, eine kleine, versöhnliche Routine. Sie sprachen nicht darüber, wie spät es geworden war.

*

Louis hatte Ella gekniffen, sie weinte mit geballten Fäusten. Jana war mit den Kindern aufgestanden, die beiden stritten sich seit dem Moment, in dem sie das Bett verlassen hatten. Louis setzte ein zweites Mal an, Jana schrie und entschied sich, den Fernseher einzuschalten, um in Ruhe die Brotboxen vorbereiten zu können. Noah kam die Treppe herunter, er begrüßte die Kinder und verschwand ins Badezimmer. Das Rauschen des Wassers machte Jana aggressiv. Er würde nach dem Duschen sofort das Haus verlassen, obwohl sein Unterricht erst mit der dritten Stunde begann. Seit der Kündigung hatten Noah und sie kein einziges vernünftiges Gespräch miteinander geführt. Eine Zeit lang hatte er sie mit Vorwürfen überzogen, dann war er dazu übergegangen zu schweigen — er konnte es nicht lassen, Jana durch sein Verhalten darauf hinzuweisen, wie unverantwortlich er es fand, dass sie genau in dem Moment gekündigt hatte, in dem sie mit der Abzahlung des Kredits für das neue Haus sowie einem neuen Familienmitglied mehr denn je auf ihr Gehalt angewiesen waren. Und natürlich hatte Noah recht, es war unverantwortlich, was sie getan hatte, sie konnte es sich im Grunde selbst nicht erklären. Louis und Ella protestierten lautstark, als Jana den Fernseher wieder ausstellte. Um einen Wutanfall von Louis zu verhindern, versprach sie ihm, dass er auf dem Weg zur Kita auf dem Handy weiterschauen durfte. Während der kurzen Autofahrt war er über das Gerät gebeugt, als gälte es, eine unbekannte Käferart zu erforschen. Ella verrenkte sich in ihrem Sitz, um auch etwas sehen zu können. Nach dem Ende der Folge ließen die Kinder sich leicht abgeben, Margarete, Louis Bezugserzieherin, nahm Louis in der Garderobe an die Hand und führte ihn zum Morgenkreis. Ella rannte von selbst hinein — sie drehte sich nicht einmal nach Jana um, als diese ihr »Hab dich lieb« hinterherrief.

Für einen kurzen Moment ließ das Gefühl der Schuld, das Jana sonst fest im Griff hatte, nach. Sie saß im Auto, die Fenster leicht geöffnet, die Stille ein unverhofftes Geschenk. Früher, als es nur Louis gegeben hatte, hätte sie in so einem Moment genüsslich die Gedanken schweifen lassen, aber sobald sie jetzt die Augen schloss, schossen ihr die vielen Aufgaben des Tages durch den Kopf. Sie musste einkaufen, das Bad putzen, Wäsche sortieren. Sie musste mindestens eine der Umzugskisten ausräumen. Sie musste ihre Mutter anrufen und ihr endlich erzählen, dass sie gekündigt hatte. Und dass sie wieder schwanger war. Jana sah den seltsamen Lilastich ihrer Haare vor Augen und konnte jetzt schon die Sätze hören, die Sabine sagen würde: Janas Arbeitslosigkeit sei doch eine aufregende Entwicklung, vielleicht könne sie jetzt endlich anfangen, etwas Sinnvolles zu tun, etwas, bei dem man auch mal nachdenken musste. Sabine hatte zuletzt als Sozialarbeiterin gearbeitet; bis in Janas späte Zwanziger hinein hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihre Tochter beruflich zu etwas Substanziellem finden würde. Am unangenehmsten aber fand Jana den Gedanken, dass Sabine ihre Schwangerschaft abtun würde, dass sie sie als grotesken Unfall in einer sowieso schon grotesken Situation darstellen würde. Wahrscheinlich würde sie Jana sogar fragen, wie weit sie sei, ob es nicht noch Optionen gebe.

Als wäre sie ein Geist, eine Art gedankliche Doppelgängerin ihrer Mutter, trat hinter Sabine nun Janas ehemalige Chefin Renate hervor. Bei ihrem letzten Treffen hatte Renate einen cremefarbenen Hosenanzug getragen, sie war direkt aus dem Büro gekommen. Das dunkle Holz der kleinen japanischen Weinbar, Renates bronzefarbener Glow, die unfassbar straffe Gesichtshaut einer Frau weit über vierzig. Jana dachte an Renates warme tiefe Stimme und an die Kälte, die ihren Blick in dem Moment hatte gefrieren lassen, in dem der Kellner ihnen einschenken wollte und Janas Hand sich über das Weinglas legte. Im Nachhinein glaubte Jana, dass etwas in ihr es darauf angelegt hatte, Renate frühzeitig von der Schwangerschaft zu erzählen. Renate hatte sich mit Jana treffen wollen, um über weitere Schritte zu sprechen, jetzt, da die Kinder aus dem Gröbsten raus waren. Renate hatte eine achtjährige Tochter, die einen Großteil der Zeit bei ihrem getrennt lebenden Expartner verbrachte, mit dem Renate sich arrangierte. Eigentlich mochte Jana Renate, sie fand sie unkonventionell und lustig. Jeder in der Branche kannte sie, und nicht wenige hatten ein wenig Angst vor ihr. Jana war stolz, dass diese Frau sie über die letzten Jahre hinweg gefördert hatte, dass sie Janas erste Schwangerschaft gefeiert hatte. Renate hatte sie gedrückt damals und ihr versprochen, dass sie, sobald sie das wünschte, auf ihre alte Position würde zurückkehren können. Und Renate hatte Wort gehalten, sie hatte Jana weiter unterstützt, auch als sie vergesslich wurde, auch als sie Nachmittagstermine kaum noch wahrnehmen konnte, weil sie Louis nicht so spät aus der Kita holen wollte. Als Jana mit Ella schwanger wurde, war Renate ein kleines bisschen weniger begeistert gewesen. Nach Janas Rückkehr aus der zweiten Elternzeit hatte Renate ihr die weniger wichtigen Projekte übertragen. Aber Jana glaubte nicht, dass dahinter eine böse Absicht stand, und dass Renate sie treffen und mit ihr sprechen wollte, zeigte doch, dass sie weiter an sie glaubte. Dann bestellte Renate Wein und Tataki. Jana fragte sich kurz, wie sie hatte so dumm sein können, sich ausgerechnet hier mit ihr zu verabreden, in einer Weinbar, und beschloss dann, dass ihr Vertrauensverhältnis ausgeprägt genug war, um offen mit ihr zu reden. »Ich bin wieder schwanger«, hatte Jana gesagt. Renate war erst kaum merklich zurückgewichen, dann aber hatte sich ihr Körper in die elegante Angriffshaltung begeben, die Jana an ihr beobachten konnte, wenn sie in ihrem großen, gläsernen Büro mit den Reportings ihrer Teams nicht zufrieden war. »Was für eine Überraschung«, sagte sie kühl. Ob Jana schon darüber nachgedacht habe, was das für den Produktlaunch im Spätsommer bedeute. Als der Kellner an ihren Tisch kam, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei, hatte Renate gelächelt und gesagt, ihr fehle etwas Eis. »Wie gefällt es dir denn auf dem Land?«, hatte Renate gefragt. »Es ist sehr schön«, hatte Jana geantwortet und an das glänzende Schwarz ihres Gartenzauns gedacht. »Wir wollten ja so gern ins Grüne.« Renate sah auf das Stück rohen Thunfisch zwischen ihren Stäbchen, sie sagte: »Die Schulwahl wird sicher nicht leicht.« Jana entgegnete, dass die Grundschule in der nahe gelegenen Kreisstadt einen guten Ruf hatte, aber Renate fuhr ihr über den Mund: »Ich glaube, es kommen nur noch Privatschulen in Betracht — oder konfessionelle, wenn man das will. Auf keinen Fall staatliche. Schau dir doch an, in welchem Zustand das Land ist.« Als der Kellner kam, um die Teller abzuräumen, verlangte Renate nach der Rechnung. Das Gespräch war beendet. Nachdem sie sich verabschiedet hatte — ein Küsschen in die Luft links von Janas Schulter —, blieb Jana sitzen. Sie sog die Farben in sich auf, das Gold, das Schwarz, das Braun. Die Menschen um sich herum, das leise Klirren der Gläser, die murmelnden Unterhaltungen. Das Baby in ihrem Bauch. Sie spürte eine unbändige Erleichterung.

Am nächsten Morgen hatte Jana, ohne mit Noah zu sprechen, die Kündigung eingereicht.

Sie putzte das Bad nicht.

Sie ging nicht einkaufen.

Sie packte nichts aus.

Sie rief ihre Mutter nicht an.

Später am Vormittag backte sie einen Kuchen.

Sie aß ihn allein auf.

Sie schlief auf dem Sofa ein.

Sie wischte den Tisch.

Sie schrieb Noah, dass sie reden müssten.

Diese immer gleichen Tage.

Diese Anstrengung, die nicht enden wollte.

Später.

Der Garten, das Zwielicht vor ihrem Fenster. Die Dämmerung, das Rosengitter. Die Kälte am Abend. Ihre Terrasse, die Lampions, das Korbgeflecht. Der Kaffeegeruch am Morgen, das Getapse kleiner Füße. Karolin hatte ihre Anfrage bestätigt.

*