Heimat-Roman Treueband 74 - Lothar Eschbach - E-Book

Heimat-Roman Treueband 74 E-Book

Lothar Eschbach

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Beschreibung

Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!

Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.

Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Alpengold 232: Nach ihrem Fehltritt
Bergkristall 313:
Der Bergdoktor 1821: Die Jugendsünde
Der Bergdoktor 1822: Wer bekommt denn nun die Braut?
Das Berghotel 169: Die Schönheit teuer bezahlt
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 611

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lothar Eschbach Rosi Wallner Andreas Kufsteiner Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 74

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Shutterstock AI

ISBN: 978-3-7517-8018-6

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Heimat-Roman Treueband 74

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Alpengold 233

Niemals will ich mich verlieben

Alpengold 234

Der verhängnisvolle Liebespakt

Der Bergdoktor 1821

Die Jugendsünde

Der Bergdoktor 1822

Wer bekommt denn nun die Braut?

Das Berghotel 169

Die Schönheit teuer bezahlt

Guide

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Contents

Niemals will ich mich verlieben

Angelika kann keinem Mann vertrauen

Von Lothar Eschbach

Männer! Wenn die hübsche Angelika Meisinger dieses Wort nur hört, bekommt sie eine Gänsehaut. Viel zu oft hat sie erlebt, wie sich ihre Freundinnen wegen eines Mannsbilds die Augen ausgeweint haben. Für Angelika ist klar: Sie bleibt Single – und glücklich!

Doch als eines Tages ein Studienfreund ihres Bruders, der unverschämt gut aussehende Peter Kleinschmidt, vor der Tür steht, gerät ihr dummes Herz gehörig ins Stolpern …

Es war eine Unruhe im Haus, wie am Tag vor einer Hochzeit oder einer Kindstaufe. Die beiden Männer waren in die Brauerei geflüchtet, weil sie nicht dauernd über Putzeimer, Staubsauger und aufgerollte Teppiche stolpern wollten. Die Fenster in der Halle im Erdgeschoss standen sperrangelweit offen, und mittendrin in dem Chaos stand Angelika und dirigierte die Putzkolonnen: das Hausmädchen, die Köchin und zwei Arbeiterinnen aus der Brauerei, die Angelika für den Großreinemachtag ihrem Vater abgeschwatzt hatte.

Roberta Meisinger, Angelikas Mutter, beteiligte sich nicht an der Putzerei. Von Zeit zu Zeit kam sie aus ihrem Zimmer im ersten Stock, um nachzusehen, ob das Wüten der dienstbaren Geister beendet war.

Sie blieb auf der breiten Treppe, die in den Oberstock führte, stehen und betrachtete kopfschüttelnd, aber auch lächelnd das Durcheinander.

»Jetzt sag bloß, Kind, was in dich gefahren ist? Veranstaltest du das ganze Theater wegen dem Prinzregenten oder wegen deiner Freundin Gretel?«

»In Bayern gibt’s keinen Prinzregenten mehr«, antwortete ihre Tochter. Sie trug ausgewaschene Jeans und eine ebenso verwaschene Bluse, was ihren Bruder Hannes schon beim gemeinsamen Frühstück zu der Bemerkung veranlasst hatte: »Wenn ein Mann dich so sieht, geht er lieber nach Altötting zum Wallfahren als mit dir an den Traualtar.«

»Ich brauch keinen Mann«, lautete Angelikas schnippische Antwort. »Mir langen schon du und der Papa. Ihr zwei habt mir die Gedanken an eine Heirat gründlich ausgetrieben.«

Josef Meisinger lächelte, wie er eigentlich meistens lächelte, wenn seine heiß geliebte Angelika etwas sagte.

Er war in jeder Beziehung ein typischer Brauereibesitzer, groß, fast gewaltig, mit einem mächtigen Bauch und einem roten Gesicht, aus dem zwei vergnügte Augen lachten.

Seine Kinder, die dreiundzwanzigjährige Angelika und der sechsundzwanzig Jahre alte Hannes, sahen sich so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Sie kamen auf die Mutter, die immer noch, obwohl sie die Fünfzig überschritten hatte, eine gut aussehende Frau war.

Hannes und Angelika hätten Zwillinge sein können, wenn nicht der Altersunterschied gewesen wäre. Beide waren hochgewachsen, schlank, hatten blonde Haare und tiefblaue Augen. Beide hatten die gleichen schmalen Gesichter, und wenn sie lachten, bekamen sie auf der linken Wange ein Grübchen.

Und Angelikas Aussage, dass ihr Vater und der Bruder den Appetit auf einen Ehemann verdorben hatten, brauchte man nicht so ernst zu nehmen.

Das Haus Meisinger war ein lustiges Haus, wo überhaupt alles nicht so tierisch ernst genommen wurde. Und weil das so war, nahm Angelika den Besuch ihrer heiß geliebten Freundin Gretel zum Anlass, wenigstens im Erdgeschoss mal wieder alles umzukrempeln und frischen Dampf in das alte Gemäuer zu lassen, wie sie sich ausdrückte.

Das Wohnhaus der Familie Meisinger war tatsächlich alt. Es stammte aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und wirkte von außen wie ein kleiner Herrschaftssitz mit dem kleinen Türmchen, das auf der linken Seite aufgesetzt war.

Die Mauern waren mehr als einen Meter dick, was bei der Renovierung vor zwanzig Jahren, besonders bei der Installation einer Zentralheizung, große Schwierigkeiten bereitet hatte.

Und natürlich verbrauchte das Haus, das eigentlich für die Familie viel zu groß war, eine Menge Heizöl.

»Der Bräu hat’s ja«, sagten die Leute, wenn wieder mal der Tankwagen vorfuhr und Öl brachte.

»Jetzt machst aber bald Schluss, gell? Man kann auch alles übertreiben. Wenn ich der Gretel erzähle, was sie bei uns für einen Aufstand ausgelöst hat, dann …«

»Untersteh dich, Mutter!« Angelika drohte ihr schelmisch mit dem Finger. »Ein Wort – und ich bin tödlich beleidigt.«

Aber Angelika hatte ein Einsehen. Zuerst schickte sie die Kathl zurück in die Küche. Denn wenn die Männer nicht pünktlich ihr Mittagessen bekamen, waren sie stocksauer. Vor allem ihr Vater, dem es dann einfallen konnte, Kundschaft essen zu gehen, was bedeutete, dass er mit dem Hannes über Land fuhr, um seine eigenen, verpachteten Dorfwirtschaften aufzusuchen, wohin er auch das Bier lieferte.

Kundschaft essen nannte man das in Oberbayern … Aber meistens wurde ein Kundschaft trinken daraus, was dem Sepp dann wieder den sowieso schon zu hohen Blutdruck hochtrieb und seiner Frau große Sorgen machte.

Als die Teppiche in der Halle an Ort und Stelle lagen, durfte sich die Resi um die oberen Zimmer kümmern. Die beiden Arbeiterinnen, die sonst in der Abfüllanlage die Maschinen bedienten, wurden ebenfalls von Angelika mit einem zusätzlichen Trinkgeld entlassen und bekamen noch ein paar Süßigkeiten für die Kinder in die Hand gedrückt.

Angelika sah sich wohlgefällig um.

»Ist nicht alles schön geworden, Mutter? Jetzt hol ich noch Blumen aus dem Garten, fülle die Bodenvasen, und dann ist’s wieder richtig gemütlich.«

»Gott sei Dank«, stöhnte ihre Mutter. »Lange hätte ich das Theater nicht mehr ausgehalten. Wann kommt denn die Gretel? Kommt’s mit dem Wagen oder mit der Bahn?«

»Mit der Bahn. Ich hole sie kurz vor achtzehn Uhr in Miesbach ab. Und wenn du der Kathl sagst, dass sie den Rehrücken für sieben Uhr fertig haben soll, dann wäre das gerade recht.«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Dass dir ausgerechnet als Begrüßungsessen ein Rehbraten eingefallen ist. Findest du das passend? Gretels Vater ist schließlich Förster. Meinst du net, dass der Gretel was anderes lieber gewesen wäre?«

»Eben nicht, Mutter. Bei unserem letzten Telefongespräch hat sie extra einen Rehrücken haben wollen. Weil die Kathl darin eine Meisterin ist, hat sie gesagt, und weil ihr Reh daheim überhaupt net schmeckt.«

»Hoffentlich bleibt sie recht lang, die Gretel. Ich mag sie genauso gern wie du. Und ihr zwei seid ja wie Schwestern gewesen, als ihr noch bei den Englischen Fräulein im Internat wart.«

Angelika hakte sich bei ihrer Mutter ein und nahm sie mit hinaus in den Garten.

»Ich freu mich ganz narrisch, Mutter. Aber mir ist die Gretel ein bisserl bedrückt vorgekommen am Telefon. Und sie hat auch so geheimnisvolle Andeutungen gemacht, dass sie bei uns in der Gegend was Familiäres zu erledigen hätte. Ich kann mir bloß net vorstellen, was das sein soll.«

Ihre Mutter setzte sich auf die weiß gestrichene Gartenbank und sah zu, wie Angelika die Blumen abschnitt. Möglichst langstielig, dass die Blumen auch nach was aussahen, wenn sie in die Bodenvase kamen.

»Schad, dass die Sonnenblumen noch nicht so weit sind. Sonnenblumen sehen in der Halle immer besonders schön aus.«

Roberta Meisinger, die von ihrem Mann nur Bertl gerufen wurde, nickte gedankenverloren, ohne Angelikas Bemerkung ganz verstanden zu haben.

Wenn sie durch die Zweige der hohen Bäume blickte, konnte sie das rote Dach der Brauerei sehen. Die Gebäude lagen gut dreihundert Meter vom Wohnhaus entfernt und lehnten sich an einen Berghang an, von dem auch das herrliche Wasser kam, mit dem die Meisingers schon seit acht Generationen ihr würziges Bier brauten.

Der Meisinger hätte sich längst vergrößern können, weil sein Bier wirklich ganz einmalig schmeckte. Aber durch die eigenen Quellen waren ihm gewisse Grenzen gesteckt. Er konnte nicht mehr einbrauen, wie die Quellen aus dem Berg hergaben. Und anderes Wasser wollte er nicht verwenden.

Roberta war stolz auf den Besitz. Sie war stolz auf ihren Mann und stolz auf ihre Kinder, auch wenn sich manchmal ein bedrückendes Gefühl bei ihr einschlich. Wegen der Angelika, die bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit betonte, dass sie ledig bleiben wollte.

Warum bloß, überlegte die Bertl immer wieder. Hat sie vielleicht irgendwann einmal eine Enttäuschung erlebt?

Die besorgte Mutter nahm sich vor, die Gretel deswegen mal ganz vorsichtig auszuhorchen. Der Hannes hatte noch Zeit. Er war erst seit einem halben Jahr aus Weihenstephan zurück, wo er die Prüfung als Braumeister mit Auszeichnung abgelegt hatte.

»Träumst du, Mutter?«, hörte sie plötzlich ihre Tochter sagen. »Ich hab dich gebeten, die Blumen ein bisserl zu ordnen, damit ich weiß, wie viele ich noch abschneiden muss. Aber du hast mich net gehört. Ist dir vielleicht nicht gut?«, fragte sie besorgt.

Roberta Meisinger nahm die Hände ihrer Tochter und streichelte sie.

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin wohl ein bisserl eingenickt. Es ist schwül, hoffentlich gibt’s kein Gewitter.«

Aber Angelika war nicht so leicht abzuspeisen. Sie setzte sich zu ihrer Mutter auf die Bank und sagte leise: »Du hast eben ganz unglücklich ausgeschaut, Mutter. Machst du dir über irgendetwas Sorgen, was du mir net sagen willst?«

»Was hast du denn bloß? Man wird doch mal einnicken dürfen, wenn man über die Fünfzig ist?«

Aber Angelika wusste ganz genau, dass ihre Mutter nicht eingenickt war, wie sie behauptete. Ihre Augen waren offen gewesen, aber irgendwie leer. Sie hatte einfach durch ihre Tochter hindurchgeblickt. Und das machte man nur, wenn man mit seinen Gedanken ganz, ganz weit weg war. Oder wenn man sich Sorgen machte.

***

Angelika sah ihre Freundin schon an der Tür stehen, als der Zug langsam in den Bahnhof einrollte. Es stiegen nur wenige Leute aus.

»Gretel, dass du endlich mal gekommen bist«, freute sich Angelika. »Wie geht’s dir, wie geht’s deinem Vater? Hast du viel Zeit mitgebracht?«

Margarete Mühlbacher war so groß wie ihre Freundin. Sie hatte lange braune Haare und tiefbraune Augen, die manchmal fast schwarz wirkten.

Sie trug ein grünes Trachtenkostüm, dazu einen passenden Hut mit einer Spielhahnfeder.

»Wie machst du es bloß, dass du immer noch eine Figur hast wie eine Sechzehnjährige?«, staunte Angelika. »Ich muss ab und zu einen Hungertag einlegen, wenn ich mein Gewicht halten will.«

»Ich auch«, entgegnete Gretel lachend. Ihre Stimme lag um eine Terz tiefer als die ihrer Freundin. »Um aber gleich deine erste Frage zu beantworten. Ich hab diesmal viel Zeit! Ich werde euch ganz schön auf die Nerven fallen. Denn ich hab mir eine Menge vorgenommen.«

»Erzähl schnell!«, unterbrach Angelika sie eifrig, während sie zum Gepäckschalter gingen, um die Koffer abzuholen. Als alles verstaut war und die Freundinnen nebeneinander im Auto saßen, fing Angelika wieder an: »Was hast du dir vorgenommen? Was willst du unternehmen?«

Gretel seufzte. »Das ist gar keine so schöne Geschichte. Und sie liegt schon viele, viele Jahre zurück. Du weißt doch, dass meine Mutter tödlich verunglückt ist, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war.«

Angelika nickte. »Du hast mir mal alles erzählt, als wir noch im Internat waren. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern. Ich bin zu dir ins Bett gekrochen, weil die Schwestern mal wieder so wenig geheizt hatten und wir unheimlich gefroren haben.«

»Genauso war’s. Aber ich hab dir nichts Genaues sagen können über den Tod meiner Mutter. Es wurde zu Hause immer so eine Art Geheimnis daraus gemacht. Erst in der letzten Zeit habe ich meinen Vater immer wieder gebeten, mir etwas über meine Mutter zu erzählen.«

»Und …?«

Gretel schüttelte den Kopf. »Ich bin immer bei ihm gegen eine Wand gestoßen. Erzählt hat er immer dasselbe. Wie gut sie sich verstanden und wie sehr er meine Mutter geliebt hatte. Aber ich wollte mehr wissen. Vor allem etwas über die Familie meiner Mutter, die hier ganz bei euch in der Nähe einen großen Bauernhof haben soll.«

»Wo?«

»In Elsterbach.«

»Kenne ich gut«, erwiderte Angelika lebhaft. »In Elsterbach gibt es den Gasthof Zur Eiche . Der gehört uns. Was war denn der Mädchenname deiner Mutter?«

»Angerer hat sie geheißen.«

»Angerer …« Angelika nickte. »Das ist wirklich der größte Bauernhof in Elsterbach. Die Leute nennen den Angerer den Dukaten-Bauer , weil der Großvater oder der Urgroßvater, das weiß ich nicht so genau, sein ganzes Barvermögen immer auf dem Hof aufbewahrt hat. Eben in lauter Dukaten. Vielleicht waren es auch ganz normale Goldstückl. Von diesem Hof stammt also deine Mutter?«

»Ja, und ich möcht mir mal meine Verwandtschaft ansehen. Onkel und Tante und einen Vetter soll’s auch geben.«

Angelika ließ den Motor an und legte den Gang ein. Dann fuhr sie gleich hinter der Bahnhofsstraße eine steile Bergstraße hoch, die weiter nach Tegernsee führte. Nach vier Kilometern zweigte eine Staatsstraße nach Mietenkam ab.

Gretel blickte sich aufmerksam um.

»Bei euch ist es einfach schöner als bei uns im Bayerischen Wald. Schon die Häuser! Das ist ein Stil, den ich gern mag. Mir geht es jedes Mal so, wenn ich dich besuche. Irgendwie fühle ich mich hier mehr daheim als bei uns.«

Angelika wusste gleich eine Antwort. »Das kommt wahrscheinlich daher, weil deine Mutter aus dieser Gegend stammt.«

»Mein Vater ja auch. Er ist in Schliersee geboren, wo sein Vater Oberförster bei den Wittelsbachern gewesen ist. Der war noch ein echter kurbayerischer Oberförster, der oft mit dem Prinzregenten zur Jagd gegangen ist. Vater ist erst kurz vor meiner Geburt in den Bayerischen Wald versetzt worden.«

»Vielleicht wird er mal wieder zurückversetzt?«

Gretel glaubte das nicht. »Er ist im vergangenen Jahr Oberforstrat geworden und verwaltet einen riesigen Bezirk. Einschließlich des neuen Naturparks, den sie bei uns eingerichtet haben.«

»Ist ja auch egal«, meinte Angelika. »Ich freu mich jedenfalls von ganzem Herzen, dass du jetzt bei uns bist.«

Gretel legte ihre Hand auf den Arm der Freundin. Sie passierten gerade das Ortsschild von Mietenkam.

»Fahr bitte ganz langsam. Ich möchte den Häusern Guten Tag sagen. Und das kann ich bloß, wenn ich sie mir genau anschauen kann.«

Angelika schaltete in den zweiten Gang zurück.

»Mietenkam ist ein wunderschönes Dorf«, schwärmte Gretel mit leuchtenden Augen. »Weißt du eigentlich, wie schön du es hier hast?«

»Ich glaub schon.«

»Und ich glaube nicht«, entgegnete Gretel lächelnd. »Schau mal da hinüber auf die Linde vor der Kirche. Siehst du den Baum überhaupt noch, wenn du jeden Tag an ihm vorbeiläufst? Und dort!« Sie zeigte auf den kleinen Kramladen, der noch so aussah wie vor fünfzig Jahren. »Überall, auch in den kleineren Dörfern, gibt es nur moderne Selbstbedienungsläden, aber keinen richtigen Kramladen mehr. Ist der nicht herrlich?«

»Gretel! Ich kenn dich ja gar nicht wieder! Du bist eine richtige Romantikerin geworden!«

Ihre Freundin zuckte die Schultern. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Aber seit dem letzten Jahr sehne ich mich manchmal nach Dingen zurück, die ich früher kaum beachtet habe. Dazu gehören, zum Beispiel, alte Dorfläden. Oder Schmieden, wenn es so was überhaupt noch gibt«, erklärte sie. »Neulich war ich bei uns in einem abgelegenen Bauerndorf, ganz in der Nähe der tschechischen Grenze. Dort gab es noch einen richtigen Hufschmied, der gerade ein Pferd beschlagen hat. Ich habe mindestens eine Stunde zugeschaut. Es war einfach wundervoll!«

»Wundervoll ist, dass wir angekommen sind. Darf ich dich bitten, auszusteigen?«

Gretel hatte sich so in Begeisterung geredet, dass sie die Auffahrt zum Haus der Meisingers völlig verpasst hatte.

Angelika hupte dreimal. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und alle drei Meisinger erschienen zur Begrüßung. In der Mitte Angelikas Mutter, links der Vater, rechts Bruder Hannes.

»Willkommen, Gretel«, sagte Roberta und nahm die Freundin ihrer Tochter ganz fest in ihre Arme.

»Grüß Gott, Tante Bertl«, erwiderte das Madl und gab Angelikas Mutter einen Kuss.

»Und was ist mit mir?«, warf Josef Meisinger ein. »Bekomme ich keinen Kuss?«

»Freilich, Onkel Sepp. Du bist zwar kein richtiger Onkel, aber du bist der beste, den ich hab.«

Er freute sich genauso wie seine Frau. »Du hast halt keine Auswahl an Verwandtschaft. Wenn man der Einzige ist, ist man auch schnell der beste Onkel!«

»Vielleicht ändert sich das bald«, meinte Angelika. »Aber das erzählt euch die Gretel am besten selbst.«

»Willkommen, Gretel«, sagte auch Angelikas Bruder. Hannes sah den Besuch an, als ob er die Gretel wer weiß wie lange nicht gesehen hätte. Dabei war es erst drei Jahre her. Dann lief er aber auffallend schnell zum Wagen, öffnete den Kofferraum und holte das Gepäck heraus.

Die anderen betraten inzwischen das Haus.

Gretel blickte sich in der Halle um. Dann stellte sie fest: »Irgendwas hat sich verändert. Irgendwas fehlt hier!

»Der alte Bücherschrank«, erklärte Hannes, der die Koffer hereinschleppte und Margaretes letzte Worte noch mitbekommen hatte. »Er steht jetzt oben in meinem Zimmer und wirkt da viel besser als hier unten.«

»Ich werde ihn mir anschauen«, beschloss Gretel und blickte ihn dabei mit fast der gleichen Intensität an, mit der Hannes Gretel bei der Ankunft gemustert hatte.

Niemand schien diesen stummen Blickkontakt mitzubekommen. Onkel Sepp drängte ins Esszimmer, weil er einen Mordsappetit verspürte. Seine Frau war schnell in der Küche verschwunden, um die Kathl zu fragen, wie weit der Rehrücken sei, und Angelika schnappte sich die Reisetasche ihrer Freundin, die sie in das Gästezimmer tragen wollte, das gleich neben ihrem Zimmer lag.

Endlich saß die Familie mit ihrem Gast um den großen Esstisch herum, und die Resi servierte den köstlichen Rehrücken.

Es gab Semmelknödel dazu und Preiselbeeren. Gretel versicherte mehrmals, dass sie zu Hause noch nie einen so guten Rehrücken gegessen hatte.

Die Kathl wurde hereingeholt, damit sie persönlich den Dank und die Lobeshymnen entgegennehmen konnte. Danach setzte man sich ins Wohnzimmer zu einem Glas Wein zusammen. Gretel musste erzählen.

»Ich komm an meinen Vater einfach nicht heran. Wenn ich anfange zu fragen, was mit Mutter damals passiert ist, als sie starb, renne ich gegen eine Wand. Er erfindet tausend Gründe und Ausreden, hat plötzlich irgendetwas völlig Unwichtiges zu tun, und wenn ich einen Tag später wieder frage, antwortet er mir, dass wir doch erst am Vortag über dieses Thema gesprochen haben.«

Der Meisinger hörte aufmerksam zu. »Also, vom Angererhof in Elsterbach stammt deine Mutter. Das ist ein ansehnlicher Besitz. Ich kann mich dunkel erinnern, dass es da mal einen Unglücksfall gegeben hat. War’s net im Winter?«

»Ja, Onkel Sepp, im Januar. Aber von den näheren Umständen hab ich eben keine Ahnung.«

»Und was willst du unternehmen?«, erkundigte sich Angelikas Mutter. »Einfach hingehen und sagen: Grüß Gott, ich bin eure Nichte?«

Gretel zuckte die Schultern. »Ich hab noch keinen Plan. Vielleicht spielt auch der Zufall ein bisserl mit.«

Da ergriff der Hannes zum ersten Mal das Wort. »Auf den Zufall würde ich mich an deiner Stelle net verlassen. Aber ich mache dir einen Vorschlag: Wir fahren morgen hin, und du siehst dir die Heimat deiner verstorbenen Mutter an. Damit du mal einen Eindruck bekommst.«

»Wann hast du Zeit, Hannes?«

Onkel Sepp antwortete für seinen Sohn. »Für unseren Besuch hat der Hannes immer Zeit. Das Bier gärt auch, wenn der junge Herr Braumeister nicht anwesend ist. Bis vor einem halben Jahr musste es ja auch ohne ihn gehen.«

So wurde verabredet, dass Hannes und Gretel morgen am Vormittag nach Elsterbach fahren sollten.

***

»Ich hab richtig Herzklopfen«, meinte Gretel, als sie in Elsterbach einfuhren.

»Warum denn?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt’s daran, dass hier meine Mutter in ihrer Jugend herumgelaufen ist. Vielleicht denkst du, ich spinne ein bisserl. Aber wenn ich, zum Beispiel, das alte Kopfsteinpflaster anschaue, das es sowieso sonst kaum noch gibt, dann fällt mir ein, dass meine Mutter vielleicht mit dem Fahrradl darübergefahren ist. Schau mal, die Kirche! Mein Gott, ist die schön! Echter bayerischer Barock. Meinst du, du könntest mal anhalten? Ich würd mir gern den Friedhof ansehen.«

Hannes stellte das Auto direkt neben dem Eingangstor ab. Eine alte Frau harkte die Erde auf einem der Gräber, sah kurz zu den beiden jungen Leuten herüber, als sie den Friedhof betraten, und harkte weiter.

Sie gingen zwischen den Gräbern entlang. Plötzlich blieb Gretel stehen.

»Das Familiengrab der Angerers«, flüsterte sie. »Ein bisschen protzig, findest du nicht?«

Hannes nickte. »Das ist bei uns in der Gegend allerdings so üblich. Je größer und reicher der Bauer, desto teurer auch der Grabstein.«

»Das müssten also meine Großeltern sein, die hier begraben sind. Ich hab sie nie kennengelernt, obwohl die Großmutter erst gestorben ist, als ich schon zwölf Jahre alt war. Ich finde das alles sehr, sehr seltsam. Ob meine Mutter meinen Vater vielleicht gegen den Willen der Eltern geheiratet hat? Weil er kein Bauer, sondern bloß ein beamteter Forstmann war?«

Ein alter Mann betrat in diesem Moment den Friedhof.

Er war klein und verwachsen, hatte aber einen wundervoll ausgeprägten Gelehrtenkopf mit schlohweißen Haaren. Er stützte sich auf einen Stock und nickte den beiden jungen Leuten zu, die vor dem Grab der Familie Angerer standen.

Gretel und Hannes grüßten zurück.

»Meinst du, dass das ein Einheimischer war?«, flüsterte Gretel Hannes ins Ohr. »Hast du den Kopf gesehen? Er sieht mehr wie ein Städter aus, aber nicht wie einer, der auf dem Land aufgewachsen ist.«

»Das ist der Habersatter-Konrad, ein Junggeselle. Sie nennen ihn hier den Professor.«

»Du kennst den alten Herrn?«

»Nicht persönlich. Aber ich hab schon viel von ihm gehört. Er ist der Bruder vom Heinrich Habersatter, Landwirt und Mühlenbesitzer in Elsterbach. Als der Konrad sieben oder acht Jahre alt war, ist er von der Tenne gefallen und mit dem Rücken auf einem Balken aufgeschlagen. Er soll lange zwischen Leben und Tod gelegen haben. Seitdem hat er den Buckel und ist wohl auch kaum mehr viel gewachsen.«

»Wir wollen gehen«, sagte Gretel leise und schlug das Kreuzzeichen für ihre Großeltern.

Der alte Konrad Habersatter sah zu den beiden hinüber, als sie den Friedhof verließen. Er grüßte noch einmal, und Gretel hatte das Gefühl, dass er sie ganz besonders eingehend musterte.

Sie stiegen wieder ins Auto. Hannes fuhr noch knapp hundert Meter und bog dann nach rechts auf einen geschotterten Fahrweg ein. Am Ende des Weges, nach knapp vierhundert Metern, versperrte ein großer Hof die Weiterfahrt.

Hannes stellte den Motor ab. »Der Angererhof«, sagte er. »Die Heimat deiner Mutter und, wenn du so willst, auch ein bisserl deine Heimat.«

Vorn stand ein mächtiges Wohnhaus mit weit heruntergezogenem Dach und einem Balkon, der die gesamte Vorderseite und eine Querseite einnahm. Grüngestrichene Fensterläden und Hunderte von Geranien vor den Fenstern, zusammen mit den vier Linden, die ihre mächtigen Kronen weit über das Dach erstreckten, machten das Anwesen gemütlich und behäbig zugleich. Man roch förmlich, dass hier der Wohlstand zu Hause war.

Hinter dem Wohnhaus, in gehörigem Abstand, erstreckten sich die Ställe, Scheunen und Wirtschaftsgebäude. Alles sah sehr sauber und gepflegt aus.

Ein Mann ging über den Hof, blickte kurz auf das Auto, das mitten in der Zufahrt stand, und setzte dann seinen Weg fort.

»Ob das mein Onkel Karl war?«, fragte Gretel.

»Sollen wir ihn fragen?«, entgegnete Hannes grinsend.

»Mir ist überhaupt nicht zum Lachen«, meinte Gretel. »Du kannst nicht verstehen, wie mir zumute ist. Vielleicht gehörten die beiden Fenster ganz rechts im ersten Stock zu dem Zimmer meiner Mutter?«

»Aber vielleicht auch die beiden linken?«

»Du kannst einem wirklich die ganze Stimmung verderben! Ich hätte allein herfahren sollen. Oder mit der Angelika.«

»Entschuldige bitte.« Hannes machte ein ganz betretenes Gesicht. »Ich hab’s wirklich net bös gemeint und wollte dir überhaupt nicht zu nahe treten. Ich hab wahrscheinlich keinen Sinn für solche Situationen, weil ich so etwas nie kennengelernt hab. Sollen wir in einem Bogen um den Hof herumfahren?«

»Geht das?«

»Natürlich geht das. Um einen so großen Hof gibt’s genug Wege. Wie soll denn sonst der Bauer zu seinen Feldern und Wiesen kommen!«

Sie nahmen den ersten Feldweg, der links am Angererhof entlangführte und dann rechts um den Angererhof herum einen großen Bogen schlug.

»Bitte halt mal einen Augenblick an«, bat Gretel, als sie an einer Stelle angekommen waren, von der aus man den Angererhof und seine unmittelbare Umgebung gut überblicken konnte.

Jetzt waren vier Leute auf dem Hof: drei Männer und eine Frau. Leise sagte Gretel: »Ob das die Tante Theres’ ist?«

Mit brennenden Augen starrte sie hinüber. Am liebsten wäre sie losgerannt, und am liebsten – sie wagte den Gedanken vor Hannes nicht auszusprechen – hätte sie die Erde geküsst.

Heimaterde, denn den Bayerischen Wald, wo sie geboren und aufgewachsen war, hatte sie nie als Heimat empfunden. Ihre Heimat, das wusste sie in diesem Augenblick ganz sicher, ihre Heimat war hier. Hier in Elsterbach auf dem Angererhof.

»Fahren wir zurück, Hannes. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, ob ich meine Verwandten überhaupt aufsuchen werde. Vielleicht ist’s ihnen auch lieber, wenn sie mich gar nicht erst kennenlernen?«

***

Noch zweimal fuhr Hannes mit der Gretel nach Elsterbach. Und beim letzten Mal machten sie einen langen Spaziergang um das ganze Dorf herum. Und wieder begegnete ihnen der alte Konrad Habersatter. Er grüßte so freundlich, als ob sie alte Bekannte wären, blieb sogar einen kurzen Augenblick stehen, und Hannes wurde das Gefühl nicht los, dass der Habersatter die Gretel vielleicht angesprochen hätte, wenn er nicht dabei gewesen wäre.

Gretel war so schweigsam wie selten. Hannes machte sich ein wenig Sorgen um sie, weil sie so traurig aussah. Und er mochte es lieber, wenn sie lachte.

»Kann ich dir helfen, Gretel?«, fragte er leise. »Du bist nicht glücklich. Deine Augen sind ganz dunkel. Manchmal glaube ich, dass du geweint hast. Und wir möchten doch alle, dass du dich recht wohl bei uns fühlst.«

Gretel legte die Hand auf seinen Arm. »Aber das tu ich doch, Hannes. Ihr alle verwöhnt mich so, wie ich noch nie verwöhnt worden bin in meinem Leben. Ich bin glücklich, wenn ich bei euch sein kann.«

»Aber du machst dir Gedanken wegen deiner Verwandten.«

»Ja, das stimmt.«

»Dann solltest du dich für den nächsten Sonntag bei ihnen anmelden und einen richtigen offiziellen Besuch machen. Ich bring dich hin und warte irgendwo in der Nähe. Und wenn’s dir bei den Angerers net gefällt, fahren wir gleich wieder zu uns zurück.«

Gretel nickte. »Ich will es mir überlegen. Aber wahrscheinlich hast du recht. Ich werde hingehen, werde mit ihnen sprechen müssen, sonst bekomme ich keine Ruhe.«

Doch dann kam alles ganz anders.

Am Samstag, alle saßen schon beim Frühstück, nur Hannes war noch nicht da, stürmte er plötzlich herein und schwenkte die Zeitung in der Hand.

»Ich hab’s! Das ist die Lösung!«, rief er lachend.

Seine Mutter bedachte ihn nur mit einem strafenden Blick. »Bei uns wünscht man sich erst einen guten Morgen, ehe man einfach so hereinplatzt.«

»Guten Morgen, die Herrschaften …« Er grinste und verbeugte sich vor der Tischrunde. Dann setzte er sich neben Gretel und zeigte auf eine Annonce in der Zeitung.

»Hier, das ist was für dich. Deine Tante Theres’ sucht eine Unterstützung in Haus und Hof , wie sie sich in der Anzeige ausdrückt. Du wirst dich sofort bewerben.«

»Ich verstehe nicht«, erwiderte Gretel.

Und Angelika fügte hinzu: »Hast du noch nicht gemerkt, dass der Hannes morgens nicht zurechnungsfähig ist? Er behauptet zwar das Gegenteil, denn angeblich hat er am Morgen die besten Ideen, aber damit ist wohl nicht viel los. Da siehst es ja selbst.«

Ernst sah Hannes einen nach dem anderen an. »Ehe die Herrschaften ihre unpassenden Meinungen und Urteile über einen genialen jungen Mann abgeben …«

»So bescheiden warst du schon immer«, brummte sein Vater dazwischen.

»Danke, Vater, es ist gut, dass du einsiehst, dass wir zusammenhalten müssen, um uns der weiblichen Übermacht zu erwehren. Aber zurück zu meiner Rede: Diese Annonce der Frau Therese Angerer ist ein besonders glücklicher Umstand für unsere Pläne.«

»Was heißt hier: unsere Pläne?«, warf seine Schwester ein.

»Ich meine natürlich Margaretes Pläne. Aber ihr langhaarigen Geschöpfe seid halt völlig fantasielos, sonst wärt ihr längst auf den springenden Punkt gekommen.«

»Und der wäre …?«, wollte seine Mutter nun wissen. »Schließlich gehöre ich auch zu den von dir gegeißelten langhaarigen Geschöpfen.«

»Mütter sind natürlich ausgeschlossen. Aber ernsthaft das liegt doch direkt auf der Hand! Gretel wird sich bei ihrer Tante um die ausgeschriebene Stellung bewerben. Unter einem anderen Namen natürlich.« Er hielt seiner Schwester die leere Kaffeetasse entgegen. »Darf ich bitten, liebe Angelika? Würdest du deinem genialen Bruder etwas Kaffee einschenken?«

Sie tat es, füllte die Tasse aber nur halb. Dann merkte sie, dass sie ihrem Bruder, der sie nur verspottete, regelrecht zu Diensten war.

Also setzte sie die Kaffeekanne wieder ab. »Schenk dir doch den Kaffee selbst ein. Die Langhaarigen können das nicht so richtig, wie der hohe Herr das vielleicht wünscht.«

»Dann probiere ich es«, sagte Gretel lächelnd, und als sich ihr Blick mit dem von Hannes traf, stieg eine leichte Röte in ihre Wangen.

Hannes bemerkte es, wie er immer alles bemerkte, auch wenn er nicht darüber sprach. Er gehörte zu denjenigen, die nicht gleich alles in die Welt hinausposaunten. Er beobachtete lieber, dachte darüber nach und zog dann seine Schlüsse.

Hannes dankte mit einem Lächeln, das über die normale Höflichkeit hinausging. Er tat Sahne und Zucker in seinen Kaffee, und als er umrührte, sah er Gretel nicht an, obwohl er sich jetzt direkt an sie richtete.

»Du solltest dich wirklich bewerben, Gretel. Eine bessere Gelegenheit, deine Verwandtschaft kennenzulernen, bekommst du nie wieder. Sie wissen nicht, wer du bist, aber du erfährst wahrscheinlich mehr über sie, als wenn du den Angerers nur einen offiziellen Besuch abstatten würdest. Du stellst dich vor, wählst irgendeinen Familiennamen, wobei ich an deiner Stelle den Vornamen beibehalten würde, und …«

»… und was macht sie«, unterbrach ihn seine Schwester, »wenn man sie nach ihren Papieren fragt? Nach der Lohnsteuerkarte, zum Beispiel?«

»Dann wird ihr schon was einfallen. Die Papiere müssen von ihrer Heimatgemeinde erst noch nachgeschickt werden. Und das dauert ein paar Tage. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gretel gleich ein paar Wochen bei Onkel und Tante arbeiten will.«

Gretel dachte nach.

Als sie ihre Entscheidung gefällt hatte, blickte sie zuerst den Onkel Sepp an.

»Was würdest du mir raten? Mir liegt viel an deiner Meinung.«

»Es kommt nur darauf an, was du willst, Gretel. Aber wenn ich an deiner Stelle wär, würde ich mich noch heute bei den Angerers vorstellen. Und wenn sie dich nehmen, gleich am Montag mit der Arbeit anfangen.«

Alle waren dafür, nur die Angelika hielt die Geschichte für einen ausgemachten Schmarren. Sie hielt mit ihrer Meinung auch gar nicht hinter dem Berg, denn im Grunde genommen war sie traurig, dass sie ihre Freundin wieder verlor. Auch wenn es vielleicht nur für ein paar Tage oder eine Woche war.

»Ich würde es nicht tun«, meinte sie. »Wie kommst du denn dazu, für deine Verwandtschaft, die nie etwas mit dir zu tun haben wollte, den Dreck wegzuräumen. Du müsstest ja verrückt sein.«

»Verrückt ist auch mal ganz schön«, gab Gretel zur Antwort. »Ob es wirklich an den Angerers gelegen hat, dass ich sie bisher nicht kennengelernt hab, das möchte ich ja herausbringen.«

***

Zur gleichen Zeit fast, als dieses entscheidende Gespräch im Hause des Brauereibesitzers Meisinger stattfand, stellte sich bei der Therese Angerer das erste Mädchen für die ausgeschriebene Stelle vor.

Es war ein etwas einfältiges, noch sehr junges Mädchen, dem man vom Gesicht ablesen konnte, dass es noch nicht viel in der Welt herumgekommen war.

Es trug ein einfaches, aber sauberes Dirndl, knickste vor der Bäuerin und sagte: »Ich bin die Weissacher-Emily aus Steingaden. Ich … ich hab mir gedacht, dass ich die Frau fragen könnt, ob sie mich nehmen möchte.«

»Hast denn schon mal im Haushalt gearbeitet, Emily?«

»Freilich. Der Mutter helf ich halt, wenn sie große Wäsche hat. Und gekocht hab ich auch schon mal.«

»Und wie steht’s mit dem Putzen?«

»Hast du putzen gesagt, Bäuerin?« Sie beugte sich etwas vor und hielt sich die Hand hinters Ohr. »Weißt du, Bäuerin, ich hör ein bisserl schlecht, weil mir mein Bruder, der Bazi, zu Silvester einen Knaller ans Ohr gefeuert hat. Aber putzen kann ich wie eine Wilde. Hauptsächlich im Saustall bin ich besonders gut, weil die Säue ja auch die größte Schweinerei machen, gell?«

»Und warum bleibst du net daheim bei der Mutter?«

Die Emily lächelte, wobei sie auf einmal nicht mehr ganz so einfältig wirkte. Ehrlich war sie jedenfalls, wie ihre nächsten Worte bewiesen.

»Das ist nämlich so, Bäuerin«, antwortete sie und dämpfte dabei ihre Stimme, als ob sie das, was sie zu sagen hatte, nicht jedem anvertrauen könnte. »Gell, meinen Wastl kennst du net?«

Die Therese, die sehr viel Sinn für Humor hatte, konnte sich nur mühsam ein Lachen verbeißen.

»Nein, Emily.«

»Da hast was verpasst, Bäuerin. Da tätest schauen, weil der Wastl nämlich ein ganz sauberer Bursch ist. Und eine Kraft hat der! Der zwingt dir glatt einen Bullen auf die Erde, wann er mag. Aber zurzeit mag er net, der Wastl. Weil er nämlich zu den Soldaten gegangen ist.«

»Wohin denn?«

»Hab ich das noch net gesagt, Bäuerin? Nach Miesbach, zu den Gebirgsschützen oder so was. Auf jeden Fall hat der Wastl was mit die Berg zutun. Und da hab ich mir halt gedacht, wenn ich bei dir in Stellung gehen täte, dann könnt der Wastl mich allweil besuchen. Weil die Soldaten doch so viel Zeit haben. Und Hunger haben sie doch auch immer, die Soldaten, weil sie doch bloß mit der Kanone gefüttert werden.«

»Du meinst sicher die Gulaschkanone, die Küche der Soldaten.«

Emily schüttelte den Kopf. »Also, eine Küche haben die armen Schlucker keine. Das weiß ich ganz gewiss. Weil nämlich der Wastl erst vorige Woche zu mir gesagt hat: Emily, mein Schatz, hat er gesagt, du schaust dir jetzt um eine Stellung in der Nähe von Miesbach, dass du mir kräftig was zustecken kannst, dass ich net vom Fleisch falle. Das hat der Wastl wirklich gesagt. Und weil ich net möchte, dass er so von den Kräften kommt, hab ich mir halt gedacht, dass es mir bei dir gerade passen täte.«

Aber mir nicht, dachte die Therese. Laut aber sagte sie: »Weißt du was, Emily, ich glaub, dass das mit uns zweien nix wird.«

»Net? Gefall ich dir net, Bäuerin? Dass ich net schön bin, kannst du gewiss net sagen. Und mit der Arbeit kommen wir zwei schon zusammen. Bloß morgens musst ein bisserl Geduld mit mir haben. Da komm ich halt gar so schwer aus den Federn. Besonders dann, wann der Wastl auf die Nacht da gewesen ist. Aber gell, Bäuerin, das verstehst schon«, fügte sie plump vertraulich hinzu. »Bist ja auch amal jung gewesen. Wirst es schon gewusst haben, wie’s geht, wann die Burschen an dein Kammerfensterl geklopft haben.«

Lustig ist sie ja, überlegte die Angerer-Bäuerin. Aber ich brauche jemanden, der was vom Haushalt versteht. Lachen kann ich auch selber.

Und so wurde es halt nichts mit der Bäuerin und der Emily. Es wurde auch nichts mit den zwei anderen, die sich ebenfalls noch im Laufe des Vormittags bei der Theres’ vorstellten.

Die eine fuhr gleich im eigenen Auto vor, und ihre Lohnvorstellungen waren astronomisch.

Beim Mittagessen mit der Familie und den übrigen Leuten, die bei den Angerers arbeiteten, wurde über die Mädchen nicht gesprochen, die sich bisher vorgestellt hatten.

Es wurde überhaupt nicht viel geredet, wenn der Bauer am Tisch saß. Der Angerer-Karl war ein Sinnierer, wie die Leute im Dorf sagten. Manche hielten ihn seit einem gewissen Ereignis auch für schwermütig.

Tatsache war jedenfalls, dass es die Theres’ mit ihrem Karl nicht immer leicht hatte, während ihr Sohn, der Stefan, völlig nach der Mutter geraten war, gern lachte und auch einen Spaß mitmachte.

Die zwei Knechte und die Stallmagd verließen die Küche, um wieder an ihre Arbeit zu gehen. Der Angerer-Karl wollte hinterher, aber seine Frau hielt ihn am Ärmel fest.

»Nu wart halt einen Augenblick. Mit den Mädchen, die sich bisher vorgestellt haben, ist’s nix gewesen. Meinst du, dass ich vielleicht mal im Oberbayerischen Boten inserieren soll?«

Der Karl zuckte die Schultern. »Wie du’s machst, ist’s schon recht. Schick mir halt den Buben raus aufs Feld, wenn er vom Landratsamt zurückkommt.«

Wenn er hinauswollte, musste er an den beiden Fenstern vorbei, die zur Straße hinausgingen, und da merkte man, dass er doch nicht so interesselos war, wie er eben noch getan hatte.

»Da kommt ein Madl mit dem Fahrrad. Das könnte doch eine sein, die zu uns passen täte.« Er trat dicht an die Scheibe heran und sah hinaus.

»Das ist aber mal eine, das …« Er schüttelte den Kopf. »Wie ein Dienstmadl sieht’s net aus. Aber das erfährst du ja gleich, wenn’s reinkommt.«

***

Das muss der Onkel Karl sein, überlegte Gretel, als der Angerer aus dem Haus herauskam. Er ging ein wenig gebückt, als ob er eine schwere Last zu tragen hätte. Und besonders gesund schaute er auch nicht aus für einen, der sich hauptsächlich an der frischen Luft aufhielt.

Grau war er. Nicht nur die Haare, sondern auch das Gesicht. Und wenn man bedachte, dass er höchstens Mitte fünfzig war, wirkte er zum Beispiel gegenüber dem Onkel Sepp, der ebenso alt war, wie ein Greis.

Gretel grüßte, wobei ihr Herz stürmisch zu klopfen begann.

Er nickte zurück, sah sie an, als ob er sich besinnen müsste, verhielt einen Moment seine Schritte, ging dann aber doch weiter, ohne mit ihr gesprochen zu haben.

Die Therese räumte schnell das Geschirr zusammen, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, warum sie das tat. Denn vor einem Hausmadl brauchte man sich nicht zu genieren, wenn das Geschirr herumstand.

Sie strich ihre Schürze glatt, fuhr sich über die Haare und stellte sich neben dem Tisch in Positur.

Im gleichen Augenblick klopfte es schon.

»Herein«, sagte die Theres’. Und in diesem Augenblick ging es ihr wie der Gretel. Ihr Herz fing an zu klopfen.

»Grüß Gott, ich komme wegen Ihrer …« Sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass es hier in der Gegend üblich war, dass auch die Dienstboten den Bauern und die Bäuerin mit du anredeten. »… wegen deiner Anzeige im Kreisblatt.«

»Grüß Gott«, erwiderte die Theres’ und musterte das neue Hausmadl, das so gar nicht wie eine aussah, die es nötig hatte, bei fremden Leuten in Dienst zu gehen.

Gretel blieb bescheiden an der Tür stehen. Besonders wohl war ihr nicht zumute, als sie sagte, dass sie Gretel Reiser hieße.

Die Angerer-Bäuerin ging der Gretel ein paar Schritte entgegen und reichte ihr die Hand.

»Bist mit dem Radl da, hab ich gerade gesehen. Wohnst du denn hier in der Gegend?«

Gretel nickte. »Deswegen hab ich ja die Anzeige gelesen. Ich bin bei einer Tante von mir zu Besuch.« Das war nicht einmal gelogen.

»Setz dich her, Gretel«, forderte die Theres’ das Mädchen auf, »dass wir ein bisserl miteinander plauschen können. Bist du schon viel in Stellung gewesen?«

»Viel nicht, aber ich kann alles, was man so verlangt. Wir könnten ja eine Probezeit ausmachen«, schlug die Gretel vor. »Nach einer Woche wissen wir bestimmt, was wir voneinander zu halten haben.«

»Das wär mir recht, Gretel«, erwiderte die Theres’. Sie war ein wenig durcheinander und hatte das Gefühl, dass nicht sie, die Bäuerin, das neue Madl prüfte, sondern dass es eher umgekehrt war.

Diese Gretel Reiser hatte eine Art, einen anzusehen, dass es einem durch und durch ging. Und Hände hatte sie! Die sahen nicht so aus, als ob sie kräftig zupacken könnten. Aber das würde man ja sehen. Eigentlich sehr geschickt, dass die Gretel selber eine Probezeit vorgeschlagen hatte. Das gab es sonst nicht bei den bäuerlichen Dienstboten.

Gretel blickte sich um. »Wenn’s dir recht ist, Bäuerin«, das Du ging ihr auf einmal ganz geschwind von den Lippen, »dann spül ich dir schnell das Geschirr ab.«

»Aber das braucht’s doch net. Wann könnest du denn bei uns anfangen?«

»Am Montag? Übermorgen?«

»Das wär mir schon arg recht«, erwiderte die Bäuerin erfreut. »In der nächsten Woche ist bei uns Kirchweih. Und da gibt’s eine Menge zu backen und zu braten. Und die Kirschen müssen auch eingekocht werden.«

Noch während die Bäuerin redete, hatte sich die Gretel eine Schürze umgebunden, die am Kleiderhaken an der Tür hing, heißes Wasser in das Spülbecken laufen lassen und angefangen abzuspülen. Das ging in einem Tempo, dass die Theres’ nur so schaute.

Die Bäuerin erzählte noch immer von der Kirchweih, da war die Gretel schon beim Abtrocknen. Und erst als die Gretel fragte: »Was machst du mit den Töpfen? Bei meiner letzten Stelle haben wir sie immer auf die Herdplatte zum Trocknen gestellt«, merkte die Theres’, dass das neue Madl schon den ganzen Abwasch hinter sich gebracht hatte.

»Stell’s nur auch auf den Ofen«, sagte sie. Und dann raffte sie sich zu ihrem ersten Lob auf. »Bist schon eine ganz eine Schnelle, Gretel. So geht mir das nimmer von der Hand. Ich freu mich, dass du bei uns anfängst.«

»Ich freu mich auch. Wenn’s recht ist, tät ich jetzt gern heimfahren. Oder hast du noch eine Arbeit, die schnell erledigt werden müsste?«

Die Theres’ wollte ablehnen. Doch dann juckte sie es doch.

»Ich hab ein paar Schnitzel für das Abendbrot vorbereitet. Wenn du mir die herrichten tätest, wär ich dir schon arg dankbar. Wir kriegen nämlich Gäste heute. Und was fertig ist, das ist fertig.«

Das mit den Gästen stimmte natürlich nicht. Aber in der Speisekammer lagen zehn Schweineschnitzel. Es konnte nicht schaden, wenn die jetzt schon paniert würden.

Sie holte das Fleisch herein und stellte auch alle übrigen Zutaten bereit. Angefangen vom Paniermehl, den Eiern und den verschiedenen Gewürzen.

Gretel sah sich das Fleisch an, nickte befriedigt und begann es zu klopfen und mit dem Messer an den Rändern einzuschneiden, damit sich die Kanten nicht beim Braten nach oben bogen.

Die Schnitzel wurden gesalzen, gepfeffert und mit einem Hauch Liebstöckelpulver bestreut, was die Theres’ selbst noch nie versucht hatte.

Aber sie ließ die Gretel gewähren. Die Therese sah ihr fasziniert zu, wie sie die Schnitzel hin und her wendete, sie mit dem Paniermehl bestreute und danach auf ein Holzbrett legte.

»Fertig!«, sagte sie plötzlich, obwohl die Theres’ noch nicht einmal mit dem Zusehen fertig war. »Wenn du willst, kann ich sie dir leicht im Fett anbraten, ganz hellgelb, und am Abend brauchst du bloß eine neue Pfanne zu nehmen und sie goldbraun zu Ende zu braten. Sie werden dann besonders saftig, und schnell geht’s obendrein.«

»Das sind ja richtige Tricks, die du da anwendest. Wo hast du denn das gelernt?«

Beinahe hätte die Gretel gesagt: bei den Ursulinen. Aber dann wäre es mit ihrer Stellung bei der Angerer-Bäuerin wohl vorbeigewesen, noch ehe sie richtig angefangen hatte. Zum Glück fiel ihr noch rechtzeitig eine Antwort ein: »Ich hab mal in einer Hotelküche ausgeholfen. Und der Koch hat’s mit den Schnitzeln immer so gemacht.«

Sie wusch sich die Hände und wollte sich gerade zwei Pfannen vom Bord herunterholen, als der Theres’ noch gerade rechtzeitig einfiel, dass man nicht gleich am ersten Tag zu viel verlangen sollte.

»Ich dank dir schön, Gretel. Aber anbraten tu ich nachher schon selbst.«

»Ist recht, Bäuerin«, erwiderte die Gretel, die von Minute zu Minute sicherer geworden war. Sogar das Herzklopfen war verschwunden. Sie war so richtig in ihrem Element. Und erst, als sie sich von der Angerer-Bäuerin verabschiedete, die ja ihre Tante Theres’ war, dachte sie wieder an ihre verstorbene Mutter.

Ob sie vielleicht an dem gleichen Herd gestanden hatte? Alt genug schien er zu sein.

In diesem Augenblick kehrte das Herzklopfen zurück. So laut und so kräftig, dass sie Angst bekam, dass es die Theres’ hören könnte.

***

Angelika Meisinger öffnete die Haustür und blieb wie angewurzelt stehen. Sie konnte noch nicht einmal Grüß Gott sagen.

Vor ihr stand ein junger Mann, ungefähr so alt wie ihr Bruder. Er lächelte amüsiert, deutete eine knappe Verbeugung an und fragte: »Könnte ich wohl den Hannes sprechen? Mein Name ist Peter Kleinschmidt. Ich bin ein Studienkollege vom Hannes.«

Angelika war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Aber in diesem Augenblick an der Türschwelle hatte es bei ihr eingeschlagen. Sie brachte gerade noch fertig: »Bitte, kommen Sie doch herein …«

»Ich habe mich nicht angemeldet und komme sicher ungelegen. Weil ich zufällig hier in der Gegend zu tun hatte, wollte ich mal vorbeischauen.«

»Wenn … wenn Sie bitte einen Augenblick Platz nehmen wollen«, sagte Angelika und wies auf die Sessel in der rechten Ecke der Halle. »Ich werde meinem Bruder gleich Bescheid sagen.«

»Dann sind Sie die Angelika«, stellte Peter Kleinschmidt lächelnd fest. »Der Hannes hat mir viel von Ihnen erzählt, wenn wir abends beim Bier in der Schenke zusammensaßen.«

Angelika nickte nur. Sie hatte eine Mordswut im Bauch. Wie kam ihr Bruder dazu, mit fremden Leuten über sie zu reden? Noch dazu mit einem Preußen, wie sie an der Sprache des Besuchers feststellte.

Sie lief ins Arbeitszimmer ihres Vaters, um ihren Bruder in der Brauerei anzurufen.

Sie bekam ihn auch gleich an den Apparat.

»Da ist so ein unverschämter Kerl, der dich besuchen möchte. Er sagt, er heißt Peter Kleinschmidt und …«

Hannes ließ seine Schwester gar nicht ausreden.

»Ich komme!«, schrie er ins Telefon, so laut, dass Angelika den Hörer vom Ohr nehmen musste.

Einen Augenblick stand sie unschlüssig in der Mitte des Zimmers. Wie sie bloß aussah! Ausgerechnet heute trug sie ihre ältesten Jeans und die karierte Bluse, die sie längst ausrangieren wollte. Aber wenn sie sich jetzt umzog, musste dieser arrogante Kerl ja glauben, sie täte es seinetwegen. Und das war selbstverständlich nicht der Fall. Jedenfalls hätte sie es nie zugegeben. Am allerwenigsten sich selbst gegenüber.

Sie öffnete leise die Tür und blickte in die Halle hinunter.

Der junge Mann stand am Fenster und blickte hinaus auf die Straße.

Er war noch etwas größer als der Hannes und hatte die Figur wie ein Sportler. Er sah so verdammt gut aus, dass es schon fast unanständig war.

Aber der Angelika konnte der Kerl natürlich überhaupt nicht imponieren. Dass sie fast der Schlag gerührt hatte, als sie ihm die Tür geöffnet hatte, verdrängte sie einfach.

Überhaupt – wo ihr die Männer doch völlig gleichgültig waren! Kam da ein Preuße daher, so ein frecher, und bildete sich ein, sie vielleicht durcheinanderbringen zu können. Und was er sich gleich erlaubte! Hatte einfach Angelika zu ihr gesagt. Und Hannes hatte also schon viel von ihr gesprochen. Noch eine Unverschämtheit, die sie ihrem Bruder bei nächster Gelegenheit heimzahlen wollte.

Schade, dass ihre Freundin Gretel nicht da war, dann hätte sie die Geschichte mit diesem preußischen Kerl gleich mit ihr besprechen können. Aber nein, sie musste ja das Dienstmädchen spielen, anstatt ihrer Freundin zu helfen.

Wie sollte sie sich diesem … diesem Kleinschmidt gegenüber verhalten?

In der Halle ging plötzlich ein furchtbares Geschrei los.

Hannes war gekommen, und jetzt tanzten die beiden Verrückten, sich wie ein Liebespaar umarmend, in der Halle herum.

Angelika fand das höchst unpassend.

Durch das Geschrei angelockt, betrat Roberta Meisinger die Halle. Hannes stellte der Mutter seinen ehemaligen Studienkollegen vor. Und sie lud ihn gleich zum Mittagessen ein, was der Kerl auch annahm.

»Angelika … Angelika? Wo steckst du?«, schrie Hannes durch das Haus.

Angelika kam jetzt ganz aus dem Arbeitszimmer heraus und schloss die Tür hinter sich.

»Hier bin ich«, rief sie, sich zur Gelassenheit zwingend. »Warum schreist du denn so?«

»Weil ich dir meinen alten Studienkollegen vorstellen möchte. Bitte komm runter.«

»Wir haben uns schon bekannt gemacht«, erwiderte Angelika lässig. Jedenfalls war sie der Meinung, dass sie sich lässig und uninteressiert anhörte. »Ich komme später, wenn das Indianergeheul aufgehört hat.«

Peter Kleinschmidt lachte. Und wie er lachte! Einfach frech! Na, der konnte von ihr was zu hören bekommen, wenn er tatsächlich mit am Mittagstisch sitzen sollte.

Und jetzt lachte ihre Mutter auch noch! Der feine Herr schien etwas sehr Witziges gesagt zu haben, denn ihre Mutter hörte überhaupt nicht mehr auf zu lachen.

Alle drei verschwanden im Wohnzimmer, und Angelika lief im ersten Stock wie eine gefangene Tigerin hin und her.

Endlich hörte sie ihre Mutter aus dem Zimmer kommen. Angelika huschte die Treppe hinunter und sah gerade noch, wie sich ihre Mutter die Tränen aus den Augen wischte.

»Das scheint ja sehr lustig bei euch zugegangen zu sein«, stellte Angelika fest.

»Ja, sehr lustig sogar. Also dieser Peter ist ein Urviech, wie man bei uns in Bayern sagt. Was ich in den letzten Minuten gelacht hab, so viel lache ich sonst in der ganzen Woche nicht. Geh nur ruhig rein zu den beiden. Die schwelgen gerade in ihren Studentenerinnerungen. Der Peter bleibt übrigens zum Essen, und ich glaub, der Hannes hat ihn eingeladen, noch ein paar Tage unser Gast zu sein.«

Angelika rauschte wortlos an ihrer Mutter vorbei. Und es war ganz zufällig, dass sie zum Fenster hinausschaute. Als sie den Kleinschmidt vorhin hereinließ, hatte sie seinen Wagen nicht gesehen.

Aber jetzt sah sie ihn.

»Komm bloß mal her, Mutter. Das ist doch ein kompletter Angeber! Weißt du, was da steht? Ein Porsche! Scheint ganz neu zu sein, und wenn ich mich richtig auskenne, ist das sogar ein Turbo! Weißt du, was der kostet, Mutter? Ein Vermögen!«

Roberta schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, dass du dich darüber so aufregst? Du musst das Auto ja net bezahlen. Er wird sich’s schon leisten können. Hast du gemerkt, wie gut er angezogen ist? Sehr zurückhaltend, sehr solide, aber auch sehr teuer. Ich erinnere mich jetzt, dass uns Hannes von diesem Peter schon erzählt hat. Seine Eltern müssen einen kleinen Brauereikonzern in Norddeutschland haben.«

»Na und? Was hab ich damit zu tun? Und wie er angezogen ist, das interessiert mich nicht!«

Roberta betrachtete ihre Tochter eingehend. »Du wirst dich umziehen müssen, Kind.«

»Wegen dem arroganten Angeber? Ja, nicht ums Verrecken!«

»Angelika!« Ihre Mutter war erschrocken. »Was hast du denn auf einmal für eine Ausdrucksweise? Du benimmst dich nicht gerade wie eine junge Dame.«

»Dame – wenn ich das schon höre! Das ist auch so ein Relikt der Männerwelt. Damit wollen sie uns Frauen nur zu ihrem Spielzeug machen. Aber nicht mit mir! Und wenn ich dem feinen Herrn in meinen Hosen nicht gut genug bin, dann kann ich auch nichts dafür.«

»Mir bist du nicht gut genug«, erwiderte ihre Mutter. »Seit wann ist es bei uns üblich, dass du dich in deinen ältesten Hosen an den Tisch setzt?«

»Ich esse überhaupt nicht, weil ich nämlich Kopfschmerzen hab.«

»So plötzlich?«, fragte ihre Mutter zweifelnd.

»Kopfschmerzen überfallen einen immer plötzlich. Genauso wie so komische Besucher wie dieser … dieser …«

»Peter Kleinschmidt«, ergänzte ihre Mutter.

»Von mir aus kann er doch heißen, wie er will.« Und dann rannte sie die Treppe hoch in ihr Zimmer, als ob tausend Teufel hinter ihr her wären.

***

Zwei Tage arbeitete die Gretel nun schon in dem ehemaligen Elternhaus ihrer Mutter.

Ihr Onkel Karl hatte noch keine zwei Worte mit ihr gesprochen. Vetter Stefan dagegen schlich um sie herum wie ein aufgeplusterter Truthahn. Er machte kein Hehl daraus, dass ihm die neue Hausangestellte gut gefiel. Im Laufe des Tages kam er ihr mit mindestens zehn Vorschlägen, was er ihr im Dorf und in der Umgebung alles zeigen könnte.

Aber Gretel lehnte ab. Sie wollte allein sein, wenn sie sich die Heimat ihrer Mutter ansah.

Nach dem Abendbrot machte sie einen Spaziergang durchs Dorf, betrachtete eingehend jeden Bauernhof, blieb am Dorfteich stehen und sah den Gänsen und Enten zu, die ruhig auf dem Wasser ihre Bahnen zogen.

Dann ging sie auf den Friedhof, der eine seltsame Anziehungskraft auf sie ausübte.

Und wieder blieb sie vor dem Grab der Familie Angerer stehen.

Da räusperte sich jemand leise hinter ihr.

Gretel drehte sich um und sah den kleinen, verwachsenen Habersatter-Konrad vor sich.

»Ich wollte Sie nicht stören«, begann er mit einer leisen, sehr feinen Stimme. »Aber ich glaube, ich weiß, wer Sie sind.«

Gretel erschrak. Sollte ihr Gastspiel auf dem Angererhof so schnell beendet sein.

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe schon geahnt, wer Sie eigentlich sein müssten, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. Nicht wahr, Sie sind die Tochter der Angerer-Helene?«

»Ja …«

Er reichte ihr eine schmale, gar nicht bäuerlich derbe Hand. »Ich bin der Konrad Habersatter, und als Ihre Mutter noch ein ganz kleines Madl war, ist sie schon zu mir gekommen. Sie wollte immer neue Geschichten von mir hören, und manchmal hab ich selbst welche erfunden, wenn mir grad keine alte eingefallen ist.«

Sie gingen zusammen über den Friedhof, und der Konrad erklärte der Gretel zweimal, dass unter den Grabsteinen auch Verwandte von ihr ruhten.

»Möchten Sie nicht auf ein Stünderl zu mir kommen? Ich hab noch ein paar Fotografien von Ihrer Mutter, weil ich immer gern geknipst hab, als ich noch jünger war. Es ist net weit bis zu meinem Häusl. Zehn Minuten bloß. Sie täten’s allein schneller schaffen. Aber ich kann’s halt net besser.«

Das war und blieb das einzige Mal, dass er seine Behinderung erwähnte.

Gretel passte sich seinen kurzen Schritten an, blieb zwischendurch auch mal stehen, um ihn nach den Besitzern bestimmter Häuser zu fragen und ihm damit Gelegenheit zum Verschnaufen zu geben.

Das Häusl lag etwas abgesetzt von der Straße in einem wunderschönen Obstgarten. Es war ein richtiges Bilderbuchhäusl, einstöckig, mit knallroten Läden und vielen Blumen vor den Fenstern.

Das Holztürchen im Gartenzaun war verwittert und nur mit einem geschnitzten Hebel gesichert, der eigenartig quietschte, wenn man ihn zurücklegte.

Der Boden im Flur bestand aus großen Backsteinen. Es roch nach einer Mischung aus Trockenobst, verwelkten Blumen und Weihrauch. An der Wand stand ein großer, bunt bemalter Bauernschrank mit der Jahreszahl 1789. Die Steine auf dem Boden bedeckte ein weißer Schafwollteppich.

Konrad Habersatter öffnete die Tür auf der linken Seite. Zu dem Geruch im Flur kam jetzt noch ein ganz bestimmter Tabakduft hinzu.

Gretel blieb auf der Schwelle stehen und blickte sich überrascht um. Von außen konnte man dem kleinen Haus nicht ansehen, dass es über einen so großen Raum verfügte. Drei Wände waren voll mit Bücherregalen, die bis zur Decke hinaufreichten. Vor dem Fenster stand ein altertümlicher Schreibtisch, in der Mitte des Zimmers ein runder Tisch mit drei tiefen Sesseln.

Der Raum war ungeheuer gemütlich. Eine fantastisch anmutende Gelehrtenstube.

»Sie sind überrascht, Fräulein …«

»Margarete heiße ich, aber eigentlich nennen mich alle Gretel.«

»Ich weiß.« Der alte Mann nickte lächelnd. »Margarete Mühlbacher, nicht wahr? Mögen Sie sich nicht ein bisserl hinsetzen?«

Gretel konnte sich von dem Anblick der vielen Bücher nicht losreißen.

»Haben Sie die alle schon gelesen?«

»Alle nicht, aber fast alle. Es sind viele Nachschlagewerke und Lexika dabei. Und die liest man ja nur, wenn man etwas ganz Bestimmtes wissen will.«

Der Habersatter war von einer wunderbar altmodischen Höflichkeit. Er bewegte sich völlig lautlos, so, als ob er kaum den Fußboden berührte.

»Gell, Sie entschuldigen mich einen Moment. Ich möchte Ihnen gern etwas anbieten. Einen selbst gemachten Heidelbeerwein, den die Helene auch so gern getrunken hat.«

Er verließ das Zimmer, kam aber gleich mit einer herrlich geschliffenen Glaskaraffe und einer Porzellanschale zurück.

Aus dem Glasschränkchen, das zwischen den beiden Fenstern stand, holte er zwei passende Gläser, schenkte ein und hob dann sein Glas.

»Wollen wir auf das Andenken Ihrer Mutter trinken. Wir waren nämlich sehr gute Freunde. Ich hatte nie eine aufmerksamere Zuhörerin als die Helene.«

Gretel hatte einen Kloß im Hals. Noch nie hatte jemand so zart und lieb von ihrer Mutter gesprochen. Ihr Vater konnte es nicht. Gretel glaubte, dass er möglichst nicht an die Zeit mit seiner jungen Frau zurückdenken wollte. Er musste sie sehr geliebt haben.

Konrad Habersatter setzte sich in den Sessel Gretel gegenüber, hob den Deckel der Porzellanschale und sagte: »Es sind Anisplätzchen, die mir meine Anna backt. Anna ist eine Cousine von mir, die mich ein bisserl versorgt und das Haus in Ordnung hält. Mögen Sie die Plätzchen probieren? Sie passen ganz wunderbar zu dem Heidelbeerwein.«

Sie schmeckten köstlich und waren hauchdünn, sodass man sie nur auf die Zunge zu legen brauchte, wo sie dann ganz von selbst zergingen.

»Sie wohnen bei Ihren Verwandten, Fräulein Margarete?«

»Das Fräulein müssen Sie weglassen, bitte«, sagte sie. »Es redet sich dann leichter. Ja, ich wohne zurzeit bei den Angerers. Aber sie wissen nicht, wer ich bin.«

Der Habersatter-Konrad nickte, als erzählte sie ihm etwas, dass er schon längst wusste.

»Dann sind Sie wohl die neue Hausangestellte, gell?«

»Ja, ich habe mich auf die Annonce hin gemeldet …«

»Sie brauchen mir nicht zu sagen, was Sie dazu gebracht hat, bei Ihrer eigenen Tante eine Stellung anzunehmen.«

»Aber ich möchte es gern, weil ich Sie noch so vieles fragen möchte über meine Mutter.«

Er sah sie erstaunt an, griff dann nach dem Weinglas und nahm einen kleinen Schluck.

Gretel erzählte ihm, dass sie von ihrer Mutter überhaupt nichts wusste, dass ihr Vater kaum je etwas von ihr erzählt hatte und dass sie sich gefragt habe, warum jeder Kontakt zu den Verwandten in Elsterbach vermieden wurde.

»Dann wissen Sie also nicht, wie Ihre liebe Mutter ums Leben gekommen ist?«

Gretel schüttelte den Kopf.

»Ja, dann …«, murmelte er nachdenklich, nahm die Kristallflasche und schenkte Wein nach. Zum ersten Mal bemerkte Gretel, dass seine Hand ein bisserl zitterte.

»Das ist damals eine schlimme Geschichte gewesen«, begann er zögernd. »Ich will nicht nach der Schuld fragen, denn ich bin kein Richter über die Menschen. Aber Sie sollen von mir die Wahrheit erfahren. Jedenfalls so, wie ich das damals miterlebt hab.«

***

Der alte Mann setzte sich noch ein wenig in seinem Stuhl zurecht und begann.

»Es war im Januar. Die Helene war aus dem Bayerischen Wald, wo Sie damals mit Ihnen und Ihrem Vater lebte, zur Beerdigung einer Verwandten auf den Angererhof gekommen. Es lag sehr viel Schnee, und es war so kalt, dass man, wie man so sagt, die Luft vor Frost klirren hörte. Der Himmel war strahlend blau – nur Sonne, Schnee und Kälte. Der Karl war damals auch noch nicht lange verheiratet. Der Stefan war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Eines Tages fiel dem Karl ein, dass man mit den Pferden eine Schlittenpartie machen könnte. Er spannte also ein Pferd vor einen Hörnerschlitten, und an den Schlitten hängten sich mindestens zehn andere an, auf denen die jungen Burschen und Mädchen aus dem Dorf saßen.

Die Helene wollte nicht mitfahren, weil es ihr, wie sie sagte, eben zu kalt war. Aber ihr Bruder Karl gab einfach keine Ruhe. Er war ein verrückter Kerl damals, schneidig und unternehmungslustig.

Also, wie gesagt, er bettelte die Helene so lange, bis sie sich mit einem Schlitten als letzte an die lange Schlange anhängen ließ.

Dann ging es los wie die Feuerwehr. Über die Felder und tiefverschneiten Wiesen, den Waldweg hoch und den Waldweg runter. In einer Linkskurve bergab passierte es dann. Das Pferd preschte los. Es war einfach nicht mehr zu halten.

Ein paar der jungen Burschen erkannten die Gefahr, ließen sich in den Schnee fallen und schrien der Helene zu, sich ebenfalls runterzuwerfen. Sie war jedoch wohl in Panik geraten. Jedenfalls klammerte sie sich an den Schlitten wie eine Ertrinkende, und in der nächsten Kurve wurde sie vom Schlitten geschleudert und prallte mit dem Kopf gegen den nächsten Baum. Sie soll auf der Stelle tot gewesen sein.

Seit diesem Tag hat der Karl Angerer kein überflüssiges Wort mehr gesprochen. Die Leute sagen, dass Ihr Vater, als er seine tote Frau abholte, den Karl niedergeschlagen haben soll.«

Gretel schlug die Hände vors Gesicht. »Das hab ich alles nicht gewusst. Keine Ahnung hab ich gehabt …«

Der Habersatter nickte. »Es ist eine schreckliche Geschichte, an die man nicht gern rührt. Wenn man bedenkt, dass der eigene Bruder zumindest mitschuldig ist am Tod der Schwester! Der Karl ist nie darüber hinweggekommen, und die Theres’ hat’s net leicht gehabt mit ihm die ganzen Jahre. So, und jetzt trinken wir noch ein kleines Schluckerl auf die Helene.«

Dann holte der alte Konrad ein Fotoalbum hervor und zeigte der Gretel Bilder von ihrer Mutter. Vorsichtig, eines nach dem anderen löste er sie aus der Umhüllung, packte sie in ein Kuvert und gab es dem Madl.

»Das ist für Sie. Bei Ihnen sind die Bilder besser aufgehoben als bei mir altem Mann. Ich weiß, wie die Helene ausgesehen hat, als sie so alt war wie jetzt die Tochter.«

»Wenn die andere Kleidung nicht wäre, könnten es fast Bilder von mir sein.«

»Ja …« Konrad nickte. »Und deshalb hab ich Sie auch gleich beim ersten Mal erkannt, als Sie an dem Grab gestanden haben. Ich bin sehr glücklich, dass die Tochter von der Helene in meiner Stube sitzt.«

»Es ist wunderbar bei Ihnen. Und wenn ich darf, möcht ich gern einmal wiederkommen.«