Heimatkinder Box 1 – Heimatroman - Diverse Autoren - E-Book

Heimatkinder Box 1 – Heimatroman E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Während eines Sommerurlaubs lernt der junge Förster Hannes Burger die bildhübsche Städterin Sonja Rosen kennen. Obwohl er seit Langem mit Marett, einem Dirndl aus seinem Dorf, verlobt ist, folgt er der schwarzhaarigen Sonja in die Stadt und verlebt hier eine Zeit unbeschwerten Glücks. Aber dann folgt die Ernüchterung, denn er sieht Sonja an der Seite eines anderen Mannes. Voll Reue kehrt Hannes in die Heimat zurück, fest dazu entschlossen, Marett um Verzeihung und einen neuen Anfang zu bitten. Nur mit ihr, so weiß er jetzt, kann er glücklich werden. Doch kaum ist er zu Hause angekommen, erkennt er, dass er zu lange gewartet hat: Marett hat ihr Jawort einem anderen gegeben … Keine Leseprobe vorhanden.

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Inhalt

Ein Stadtkind auf dem Lande

Als Vreneli wieder lachen lernte

Das Glück auf dem Lande

Unsere Heimat ist Westerheide

Das Dirndl aus dem Gnadenhäusl

Heimatkinder –1–

5er Box

Diverse Autoren

Ein Stadtkind auf dem Lande

Roman von Isabell Rohde

Ostern lag schon eine Woche zurück, aber erst heute, an einem ganz gewöhnlichen Wochentag, schien die Sonne so, wie alle es ungeduldig erwarteten. Und darum setzte sich Kurt Traubnitz, der Verwalter des Gutes Erlenfeld, auch einfach auf die Fensterbank, mitten ins warme Frühlingslicht, und sah dort die Post durch.

Gertrud Meister, die zweimal wöchentlich im Büro als Schreibkraft aushalf, musste über ihn lächeln, eine Bemerkung allerdings wagte sie nicht. Herr Traubnitz konnte manchmal in schlechter Stimmung sein. Da aber geschah ein Wunder. Denn der Verwalter schaute jetzt auch zu ihr hinüber und erwiderte ihr Lächeln. Gertrud, erst zweiundzwanzig und leicht in Verlegenheit zu bringen, wurde knallrot.

»Herrliches Wetter heute, nicht?«, schmunzelte er. »Man sieht Ihrem Lächeln an, wie gut Ihnen die Sonne in den Tag passt. Oder freuen Sie sich auch so auf die Ankunft von Frau Hillmer und der kleinen Anka?«

»Die kenne ich doch gar nicht!«, meinte Gertrud unsicher.

»Sie werden sie kennenlernen. Meine Frau und Frau Schäfer sind schon unterwegs zum Flughafen in Hamburg. Die beiden kommen ja aus Buenos Aires.« Dann konzentrierte er sich auf einen Brief und fügte kurz darauf hinzu: »Kennen Sie Herrn Stefan Berger?«

Gertrud lächelte nun doch wieder. »Den kennt doch fast jeder. Ich auch, aber nicht persönlich. Er ist dieser Textilunternehmer, der jetzt auf seinem Grundstück bei Loberg wieder eine neue Fabrikhalle baut. Fast«, setzte sie hinzu, »wäre ich bei ihm als Stenotypistin untergekommen. Aber er braucht keine Teilzeitkräfte. Und mein Mann wollte nicht, dass ich ganztags arbeite.«

Kurt Traubnitz mochte nur etwas über vierzig sein. Er war groß und kräftig gebaut, hatte mittelblondes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar. Gertrud merkte schon, dass er heute sehr gut aufgelegt war, denn nun grinste er noch mehr.

»Dafür braucht er jetzt einen Stall, wo er für ein halbes Jahr seine drei Reitpferde unterstellen kann. Tja, wir haben ja keine Pferde mehr und auch keinen Stall, der sich dafür eignet. Schreiben Sie ihm, es tut uns leid, ihm nicht behilflich sein zu können.« Er legte den Brief neben ihre Maschine und wandte sich der anderen Post zu.

»Soll ich ihm nicht gleich vorschlagen, es mal bei der Familie Groß zu versuchen?«

Kurt stutzte. »Bei den Großens, denen wir das Kutscherhaus, zwei Koppeln und den großen Stall verpachtet haben? Wie soll denn das vor sich gehen? Den Stall brauchen sie für ihre Schafe und Karnickel.« Er überlegte einen Moment. »Sind eigentlich die Pachtbeträge für das erste Vierteljahr von den Großens eingegangen?«, erkundigte er sich dann.

Gertrud nickte.

»Es geht der Familie nicht gut. Bis sich die Schafzucht wirklich rentiert, werden noch einige Jahre ins Land ziehen. Nein, Frau Meister, erwähnen Sie nichts von den an die Großens vermieteten Stallungen. Herr Berger soll selbst eine andere Lösung finden.«

Da ging die Tür auf. Tessa Traubnitz kam ins Büro. Wie meistens trug sie auch heute einen dunkelgrünen Overall, der mit einem sehr einfachen Gürtel in der Taille zusammengehalten war.

»Du bist noch hier?«, fragte Kurt Traubnitz seine Frau verwundert. »Aber ich sah den Wagen von Mutter doch schon aus dem Gutshof fahren.«

»Ich habe sie nicht begleitet, Kurt, wie du siehst. Meine reizende Schwester Beate und ihre Tochter Anka kommen mir noch früh genug unter die Augen.« Ihr schmales Gesicht verriet angespannte Neugier, als sie dann fortfuhr: »Von wem hast du gerade gesprochen? Von Herrn Berger?«

Gertrud erhob sich sofort und reichte ihr den Brief. Und kaum hatte Kurt einige erklärende Worte hinzugefügt, reichte Tessa das Schreiben mit einem mokanten Lächeln zurück.

»Soll er sehen, wo er seine Pferde unterbringt. Wir wollen nichts mit ihm zu tun haben, Kurt.«

»Du kennst ihn also?«

»Er ist ein furchtbarer Mensch, ein Playboy, ein Nichtsnutz, ein Emporkömmling. Mein Vater hat ihn verachtet, meine Mutter ließ ihm vor Jahren, nachdem mein Vater gestorben war, einen Brief zukommen, in dem sie ihn bat, unseren Grund und Boden nicht mehr zu betreten. Seitdem herrscht Ruhe. Woher der Mann die Frechheit nimmt, einen Brief an uns zu schreiben, ist mir ein Rätsel.«

Kurt trat auf seine Frau zu.

»Das muss fast zehn Jahre her sein. Vielleicht hat er es vergessen.«

Tessa Traubnitz, geborene Schäfer, war eine kühle Schönheit. Trotz ihrer großen braunen Augen und den vollen Lippen lag ein leicht bitterer Zug auf ihrem Gesicht. Das Personal fürchtete ihre Unduldsamkeit, ihre Mutter Margaret Schäfer mied ihre Gegenwart, wann immer es möglich war. Zwar kam es nie zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden, aber keinem im großen Gutshaus blieb doch verborgen, welch eisige Atmosphäre zwischen den beiden herrschte.

»Ich habe es nicht vergessen, Kurt«, erwiderte sie spitz und verließ den Raum.

Sie durchquerte die hohe Halle und ging dann langsam die breite Eichentreppe in den ersten Stock. Im östlichen Seitenflügel befand sich die Wohnung des Ehepaars Traubnitz, auf der anderen Seite bewohnte ihre Mutter drei Zimmer. Daran ging sie jetzt vorbei, bis sie die etwas schmalere Treppe erreichte, die in den zweiten Stock führte.

Hier wohnten die Dienstboten. Senta, die Haushälterin, die schon seit zwanzig Jahren bei den Schäfers arbeitete und wie zur Familie gehörte, sowie der alte Karl, der längst auf Rente war, sich aber doch noch immer im Betrieb nützlich machte. Ein kleines Zimmer mit schrägem Dach war Toni, dem landwirtschaftlichen Praktikanten, zugewiesen worden.

»Guten Morgen, Frau Traubnitz!«

Rita Stolz, eine junge Frau aus dem Dorf, kam täglich, um die gröberen Arbeiten im Gutshaus zu verrichten und um der alten Senta zur Hand zu gehen. Sie war eine immer fröhliche Person und lachte Tessa nun entgegen, als sie sich auf der schmalen Treppe begegneten.

»Ich habe oben in die drei kleinen Räume für Ihre Schwester noch Blumen gestellt. Die Tulpen im Garten sind noch nicht aufgeblüht. Ich habe welche aus dem Treibhaus geholt.«

»Wer hat Ihnen das erlaubt, Rita?«

»Erlaubt? Frau Schäfer bat mich darum. Sie kam nicht mehr dazu. Und die Räume für ihre Schwester und die kleine Anka sollen doch so hübsch wie möglich hergerichtet werden.«

Tessa erwiderte nichts, sondern ging weiter nach oben. Vor fünf Wochen war der entscheidende Brief ihrer Schwester Beate Hillmer aus Buenos Aires eingetroffen. Er hatte Tessas Leben entscheidend verändert. Nichts konnte sie mehr freuen oder erheitern. Fast stündlich durchfuhr sie ein Gefühl der Angst oder der Verbitterung.

Warum kam Beate zurück? Wie konnte es sein, dass die kleine Anka, deren Geburt doch so viel Unglück über sie gebracht hatte, von nun an hier leben sollte? Ihre Gegenwart würde sie doch immer an Ottmar, den verstorbenen Vater des Kindes, erinnern. Anka würde sie ständig dazu veranlassen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ihre Gedanken mussten in die Zeit zurückwandern, da Ottmar und sie ein glückliches Liebespaar gewesen waren und schon Zukunftspläne geschmiedet hatten.

Bis Beate sich mit allen Mitteln an ihn herangemacht, ihn verführt und schließlich sogar ein Kind von ihm erwartet hatte. Woher nahm ihre Schwester nur den Mut, mit diesem Kind, der kleinen Anka, wieder auf Gut Erlenfeld zurückzukehren?

Sie betrat die Räume, die für Mutter und Kind vorbereitet waren. Das kleine Mittelzimmer sollte ihr Wohnraum sein, daran schlossen sich jeweils ein Schlafzimmer. Das Bad gegenüber war neu installiert worden, und gleichzeitig hatte man einen Teil für eine winzige Kochnische abgeteilt. Eine Unmenge Geld hatte das alles gekostet!

Aber Beate, oberflächlich, kokett und immer fröhlich, war ja seit jeher der Liebling ihrer Mutter gewesen. Was auch immer sie anstellte, die Eltern haften ihr verziehen. Nicht einmal Wilhelm Schäfer, nun seit acht Jahren verstorben, hatte sich, wenn es um die hübsche Beate ging, an seine Prinzipien gehalten.

Und so hatte die Familie vor zehn Jahren schweigend vor Betroffenheit und wie gelähmt vor Schrecken, widerstandslos hingenommen, dass Ottmar sich von ihr, Tessa, abwandte und heimlich hinter ihrem Rücken Beate heiratete. Nun ja, weil Anka eben unterwegs war. Anka, dieses Unglückskind!

Sie beugte sich aus dem offenen Fenster. Von hier aus reichte der Blick über die Koppeln und Wiesen zu dem reichlich schäbigen Anwesen der Familie Groß. Im Licht der Sonne wirkte das alte Kutscherhaus mit dem Stall daneben nicht ganz so heruntergekommen. Das frische Grün legte sich wie ein zarter Schleier über das schmutzige Grau der Hauswand.

Tessa seufzte. Von Anfang an hatte sie sich gegen den Pachtvertrag mit der Familie Groß gewehrt. Was war von einem so jungen Ehepaar mit drei Kindern schon zu erwarten? Konnten die nicht froh sein, wenn sie ihre beiden Buben und das neugeborene Mädchen satt bekamen?

Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Aber sie spürte die Wärme nicht. Ihr Inneres befand sich einem Zustand von bitterer Kälte. Und da war es nur ein schwacher Trost, wenn sie sich jetzt noch für wenige Stunden als alleinige Herrscherin auf dem Gut fühlen konnte.

*

»Wo ist Anka geblieben?«, fragte Margaret Schäfer, kurz nach der überaus herzlichen Begrüßung mit ihrer Tochter Beate.

Noch standen sie im dichten Gedränge der gerade angekommenen Passagiere in der Flughafenhalle. Margaret Schäfer aber geriet schon in Panik. Innerhalb von Sekunden musste ihnen die kleine Anka abhanden gekommen sein.

»Sie ist mit der Familie Goarez in die Ladenstraße gegangen, Mutter. Ich habe es ihr erlaubt. Wir trafen die Familie zufällig im Flugzeug. Und da Anka den kleinen Fernando kannte, wollten ihr seine Eltern ein Abschiedsgeschenk kaufen. Sie wussten nicht, dass wir Buenos Aires für immer verlassen.«

Margaret Schäfer hatte diesen Tag kaum erwarten können. Jetzt atmete sie erleichtert auf. Und während Beate die Gepäckstücke zählte, betrachtete sie ihre Tochter etwas genauer.

Beate trug immer noch Schwarz, aber da sie blondes Haar hatte, stand ihr das ausgezeichnet. Sie sah auch nicht so elend und bekümmert

aus, wie Margaret es befürchtet hatte.

»Fünf Koffer und zwei große Taschen«, hörte sie Beate einem Dienstmann mit fahrbarem Untersatz erklären. »Bringen Sie es in den Wagen meiner Mutter. Er steht auf dem Parkplatz.« Sie hielt ihr die Hand hin, Margaret legte den Autoschlüssel hinein und nannte das Kennzeichen. »Den Schlüssel«, fuhr Beate fort, »geben Sie dann an der Bar ab. Dort erwarten wir Sie.«

Der Mann schob mit dem Gepäck ab.

»An der Bar?«, fragte Margaret erstaunt.

»Ja, Mutter. Dort sind wir mit der Familie Goarez verabredet. Sie werden Anka dorthin zurückbringen.«

So war Beate ja immer gewesen. Schnell entschlossen und zu jeder Abwechslung bereit. Sie nahm den Arm ihrer Mutter, presste ihn an sich, lachte und zog sie mit sich.

»Hör mal, Beate«, begann Margaret Schäfer, als sie ihre etwas rundliche Gestalt auf den Barhocker gehievt und eine Tasse Espresso vor sich stehen hatte, »es ist ganz gut, dass wir jetzt schon allein sind. Ich muss dir etwas sagen.«

»Ich weiß schon, Mutter. Ottmar ist seit einem Jahr tot. Du glaubst, ich könne die schwarze Kleidung jetzt in den Kleiderschrank verbannen.«

»Nein, mein Kind.« Margarets Augen wurden feucht. Sie hatte ihren Schwiegersohn Ottmar Hillmer in allerbester Erinnerung. Und die Nachricht von dem Unglück, bei dem er ums Leben gekommen war, hatte sie schwer getroffen. »Du musst die Trauerkleidung tragen, bis dein Herz seinen Tod überwunden hat. Ihr wart so glücklich. Ottmar war ein so liebevoller Ehemann und Vater.«

»Er war in erster Linie ein Mann, auf den man sich verlassen konnte, Mutter.«

Margaret Schäfer horchte auf. Mit ihren zweiundsechzig Jahren war sie noch weit von dem Alter entfernt, in dem einige Menschen fürchten, die Welt nicht mehr zu verstehen. Jetzt aber stellten sich ihr unzählige Fragen, aber nur eine davon richtete sie an Beate: »Du hast ihn doch geliebt?«

»Geliebt? Selbstverständlich. Ottmar brachte mir ungeheuer viel bei. Auf seine Veranlassung studierte ich ja noch und wurde seine Assistentin. Wenn er noch lebte, Mutter, könnte ich immer noch am Institut in Buenos Aires arbeiten.«

»Warum denn jetzt nicht mehr?«

Beate zuckte mit den Schultern. »Als junge Witwe hat man es dort drüben schwer. Ist es eigentlich das, was du mit mir unter vier Augen besprechen wolltest?«

»Nein, nein«, entgegnete ihre Mutter milde. »Es geht um Anka. Als ich sie auf mich zustürmen sah und sie dann in den Armen hielt, Beate, da war ich überglücklich, endlich mein einziges Enkelkind bei mir zu haben. Nur fürchte ich, sie wird sich nicht leicht auf Gut Erlenfeld einfügen. Weißt du, ihre Kleidung passt so gar nicht zu uns aufs Land und zu den Kindern im Dorf.«

In einem zinnoberroten Mäntelchen mit Glockenrock und pelzbesetzter Pelerine war Anka ihr entgegengeeilt. Dazu hatte sie ein gleichfarbiges Hütchen auf das goldenschimmernde Blondhaar gestülpt. Und dessen pelzbesetzte Krempe war noch mit einem Schleifchen dekoriert. Aber nicht nur wegen des Hütchens hatte Anka viele Blicke auf sich gezogen.

Margaret wusste nicht, ob sie schmunzeln oder stöhnen sollte. Denn Anka trug ja auch noch goldfarbene Strümpfe und Schuhe aus Lackleder dazu, die mit goldenen Agraffen verziert waren. Wie sollte sich die Neunjährige unter ihren zukünftigen Spielkameraden und Mitschülern einfügen? Man würde sie hänseln oder nicht ernst nehmen und sie früher oder später in die Rolle einer Außenseiterin drängen.

»Du denkst an das Mäntelchen und Hütchen dazu?«, erriet Beate und bedachte ihre Mutter mit einem belustigten Blick. »Das habe ich ihr extra für die Reise gekauft. Bei uns beginnt ja jetzt die kalte Jahreszeit. Und Anka sollte etwas bekommen, das ihr den Abschied von Buenos Aires und ihren vielen Freunden erleichtert.

»Hat sie noch mehr von solchen auffallenden Kleidungsstücken?«

»Natürlich. Anka war doch unser Prinzesschen. Sogar noch nach Ottmars Tod wurde sie weiterhin zu den vielen Kinderfesten eingeladen. Du darfst nicht vergessen, welchen Ruf Ottmar als Professor an der Universität genoss. Alle rissen sich um uns. Anka hatte Reit- und Klavierunterricht, sie spielte Tennis und bekam Tanzstunden. Einmal wurde sie sogar zur Königin des Kinderballs erwählt.«

Vor sechs Jahren, nachdem ihre älteste Tochter Kurt Traubnitz geheiratet hatte, war Margaret bei Beate, ihrem Mann und der damals vierjährigen Anka in Buenos Aires zu Besuch gewesen. Schon bei diesem Aufenthalt hatte sie feststellen müssen, dass das Leben ihrer Tochter mit dem auf Gut Erlenfeld überhaupt nicht zu vergleichen war.

Die Hillmers wohnten in einer riesigen Villa inmitten eines weitläufigen Parks, und das ganze Haus schien nur so von dienstbaren Geistern zu wimmeln. Kaum ließ man sich in einem der Salons sehen, tauchte auch schon jemand auf leisen Sohlen auf und fragte nach den Wünschen oder servierte ohne jeglichen Anlass Drinks, Tee oder Kaffee.

»Bei uns auf Gut Erlenfeld gibt es das nicht, Beate. Anka wird ein ganz anderes Leben führen müssen.«

Beate lachte. Sie hatte auffallend blaue leuchtende Augen, ein noch sehr junges Gesicht und einen wunderschön geformten Mund, auf dem fast jede ihrer Regungen abzulesen war. Der schien nur dafür geschaffen, mit seinem Lachen alle Anwesenden in gehobene Stimmung zu versetzen.

»Sorg dich doch nicht, Mutter! Ganz anders wird es sein. Anka und ich wollen uns bemühen, das gesamte Leben auf dem Gut umzukrempeln. Sind die Räume immer noch so schlicht eingerichtet? Stehen immer so viele Möbel aus dem Haushalt unserer Großeltern herum?« Sie lachte. »Tessa wird sich auch nicht viel verändert haben. Mehr als einmal jährlich sucht sie den Friseur nicht auf, stimmt’s?«

Dann schüttelte Beate ihre blonde Mähne mit einer übermütigen Bewegung in den Nacken.

»Tessa arbeitet viel, Beate. Sie leitet die Rinderzucht. Vergiss doch nicht, dass sie ausgebildete Tierärztin ist!«

Beate beeindruckte das wenig. »Und ihr Mann? Dieser Kurt? Ist er wenigstens charmant?«

»Beate, bitte!«, stieß Margaret warnend aus. Aber weiter kam sie nicht. Jetzt stürmte Anka durch die Halle auf die Bar zu. Sie hielt einen babygroßen rosafarbenen Teddy im Arm.

»Schau, Omi, was ich bekommen habe!«, jubelte sie stolz. Und während Beate zum letzten Abschied zu der Familie Goarez trat, zog Margaret ihre Enkelin gerührt an sich und sah ihr in die tiefbraunen Augen, die noch vor einer halben Stunde viel trüber und müder dreingeschaut hatten. Behutsam nahm sie ihr den Hut ab und wollte ihr über das Haar streichen.

»Nicht die Locken in Unordnung bringen, Omi!«, bat Anka, überließ ihr den Teddy und stob schon wieder davon, um sich auf spanisch von der Familie aus Buenos Aires zu verabschieden.

Kaum saß sie dann aber mit dem Teddy im Arm im Auto ihrer Großmutter, entwich Anka ein Seufzer aus tiefstem Herzen.

»Ich bin überhaupt nicht traurig«, meinte sie, »weil ich Fernando nun nie wiedersehe. Der hat immer so getan, als kann er alles besser als ich. Besonders Klavierspielen.«

»Aber das kann er doch auch, mein Liebling!«, widersprach Beate ihrer Tochter. »Darum fliegen seine Eltern jetzt mit ihm nach Stockholm weiter, damit er dort einem Pianisten vorspielt, der ihn dann wahrscheinlich unterrichten wird.«

»O jemineh!«, seufzte Margaret Schäfer, was Anka wiederum sehr erheiterte.

»Dabei hat der ganz blöde geklimpert, Omi. Wirklich! Und tanzen kann er auch nicht. Wenn ich im gemischten Doppel mit ihm spielen musste, wusste ich schon, dass wir verlieren. Und außerdem hat er auch noch Angst vor Pferden gehabt! Aber er hat schon eine richtige Visitenkarte. Er gab sie mir. Die zerreiße ich jetzt.«

Sie musste ihre kleine Handtasche geöffnet haben, wobei die ihr entglitten und zu Boden gerutscht war. Margaret, die gerade an einer Ampel hielt, schmunzelte über den kurzen spanischen Wortwechsel zwischen Tochter und Enkelin.

»Ich denke, wir sprechen hier nur deutsch, Mami?«, erkundigte Anka sich zwischen Rücksitz und Vorderlehne kauernd, um den Inhalt ihrer Tasche wieder einzusammeln. »Nein, dem Bild von Papi ist nichts geschehen. Schau, Omi!« Anka hielt Margaret ein Foto ihres Vaters im Silberrahmen mit Trauerflor vor die Nase. Margaret nickte flüchtig. Sie musste wieder anfahren.

»Wir haben nur dieses eine Bild mit Rahmen«, erklärte Beate.

Margaret fuhr weiter. Ja, Ottmar Hillmer war von ihnen gegangen. Ob es ihm gefallen würde, wenn Anka nun auf Gut Erlenfeld aufwuchs?

»Darf ich das Foto von meinem Papi neben mein Bett stellen,

Omi?«

»Natürlich darfst du das, Anka!«, antwortete die geistesabwesend. Sie musste sich jetzt nach rechts Richtung Landstraße einordnen und war froh, dem dichten Nachmittagsverkehr in der Großstadt entkommen zu können.

Aber schon an der nächsten Kurve bereute sie ihre schnelle Zusage. Was würde Tessa dazu sagen, wenn ihr das Gesicht Ottmar Hillmers aus dem Silberrahmen entgegenlächelte? Würde dieses Lächeln nicht schmerzhafte Erinnerungen in ihrer ältesten Tochter wachrufen?

Schon immer war Tessa mit ihrer ernsten, strebsamen Art ein sehr verschlossener Mensch gewesen. Darum hatte auch keiner in der Familie jemals gewagt, ihr ein Wort des Mitgefühls auszudrücken. Dabei wussten damals alle, wie sehr Tessa Ottmar Hillmer geliebt hatte.

»Wenn das Wetter morgen wieder so wunderschön ist wie heute«, meinte Beate in diesem Moment, »dann kannst du bestimmt reiten.«

»Au ja, darauf freue ich mich schon.«

»Wir haben keine Pferde mehr, Beate«, stellte Margaret richtig. »Schon seit fünf Jahren nicht mehr. Tessa und Kurt haben den Betrieb umgestellt. Kurt hat den Getreideanbau unter sich, Tessa als ausgebildete Tierärztin kümmert sich um die Rinderzucht.«

»Das sieht ihr ähnlich, Mutter!«, schnaufte Beate wütend. Das passte so gar nicht zu ihr, der hübschen, blonden Frau. »Die Pferde verkauft! Das hat sie nur getan, weil sie wusste, wie gern ich früher geritten bin.«

»Nein, Beate. Als wir uns dazu entschlossen, lebtest du schon fünf Jahre glücklich mit Ottmar in Buenos Aires. Keiner konnte wissen, ob du jemals wieder zu uns zurückkehren würdest.«

Margaret Schäfer war entschlossen, einige Dinge gleich von Anfang an klarzustellen. Seit dem Tod ihres Mannes hatte das Gut kaum noch Erträge abgeworfen. Wenn es nach einigen Veränderungen jetzt wieder bergauf ging, so war das der klugen Planung von Kurt und der emsigen Tüchtigkeit von Tessa zu verdanken.

»Wir werden uns alle von Herzen bemühen, in Harmonie zu leben und Verständnis füreinander aufzubringen«, sagte sie nach einer Weile. Es klang beschwörend, denn Margaret ahnte ja, dass mit Beates Rückkehr einige Wunden in Tessas Herzen aufgerissen werden konnten.

»Wo ist das Institut, das ich besuchen werde?«, fragte Anka gleich darauf. Dabei waren ihr schon die Augen halb zugefallen, während sie hinaus in die Landschaft sah. Beate lächelte und warf ihrer Mutter einen amüsierten Blick zu.

»Ein Institut wie in Buenos Aires gibt es hier nicht, Anka. Hier heißt es Schule. Sie befindet sich in Loberg, rund zehn Kilometer vom Gut entfernt. Ich habe sie auch besucht. Und ich werde dich jeden Morgen hinfahren.«

»Hat Omi denn keinen Chauffeur?«

Margaret schüttelte lachend den Kopf. »Nein, Anka. Aber deine Mami muss dich auch nicht fahren. Wir haben jetzt nämlich einen Schulbus, der alle Kinder aus dem Dorf hinbringt. Das wird dir Spaß machen, dann findest du auch gleich Freunde.«

Anka erwiderte nichts. Da sah Beate sich nach ihrem Töchterchen um. Die hatte ihr Köpfchen auf den Bauch des rosaroten Tedddys geneigt und war fest eingeschlafen. Flüsternd machte Beate Margaret darauf aufmerksam.

»Die Zeitumstellung wird Anka zu schaffen machen, Mutter. Und dann dieser Zwischenaufenthalt in Paris! Für Kinder ist so was eine rechte Strapaze. Schon heute früh ist sie eingenickt. Mir geht es ebenso. Auch ich bin todmüde.«

»Morgen sieht alles schon viel besser aus«, tröstete Margaret Schäfer. »Wenn ihr ausgeschlafen habt, werdet ihr euch bald auch heimisch fühlen.«

Beate nickte und gähnte. »Ich freue mich auf Tessa und ihren Mann. Ist Schwager Kurt nett? Warum haben die beiden keine Kinder?«

Margaret fuhr schweigend weiter. Die letzte von Beates Fragen konnte sie beim besten Willen nicht beantworten.

»Warum antwortest du nicht, Mutter?«, hakte Beate noch einmal nach, obwohl ihre Stimme immer schwächer klang. »Magst du Kurt nicht leiden?«

Da lächelte Margaret ein wenig. »Er ist ein herzensguter, ein sehr tüchtiger Mann, Beate. Ich verstehe mich prächtig mit ihm. Er wünschte sich auch Kinder. Ob Tessa jemals diesem Wunsch nachkommt, vermag ich nicht zu sagen. Die beiden scheinen ganz in der gemeinsamen Arbeit und Verantwortung für den Gutsbetrieb aufzugehen. Kurt liebt Tessa, das sehe ich. Aber ob Tessa …«

Sie hatte das Tempo verlangsamt und warf kurz einen Blick auf Beate. Die hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, und die Augen waren ihr zugefallen.

Margaret schmunzelte.

Vielleicht war es sehr gut, wenn Beate ihre Überlegungen nicht mitbekommen hatte. Auf dem Gut waren ja immer Dinge geschehen, die am besten unter einem Mantel des Schweigens verborgen blieben. Nur so würde es ihnen gelingen, wie eine glückliche Familie in Ruhe und Harmonie zu leben und Anka zu helfen, mitten unter ihnen eine neue Heimat zu finden.

*

Als Anka am nächsten Morgen nach zwölf Stunden tiefsten Schlafs langsam erwachte, wusste sie zunächst gar nicht, wo sie war. Das Licht, das durch einen Spalt in den Vorhängen drang, ließ einen kleinen, niedrigen Raum erkennen. Neben ihrem Bett stand ein Tischchen mit einer Vase voller bunter Tulpen. Davor hatte sie noch vor dem Schlafengehen den Silberrahmen mit dem Foto ihres verstorbenen Vaters gestellt.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Da knisterte etwas unter ihrem Arm. Anka rieb sich die Äuglein, dann holte sie ein Tütchen aus Zellophanpapier, das halb unter dem Kopfkissen steckte, hervor. Es war schon geöffnet. Und flups, griff sie wieder hinein und holte einen der köstlich weichen Karamell-Bonbons, die ihr die Großmutter noch gestern Abend als Betthupferl gebracht hatte, hervor. Sie wickelte ihn aus und ließ ihn in ihrem Mündchen verschwinden, dann legte sie sich aufatmend auf das Kissen zurück.

Ja, wirklich, sie war in Deutschland, auf Gut Erlenfeld, bei ihrer Omi! Und am Abend vorher hatte sie unten im Esssaal ihre Tante Tessa und ihren Onkel Kurt, sowie die alte Senta und noch drei andere Dienstboten kennengelernt.

Das Kalbsragout mit dem Kohlrabigemüse hatte sie nicht angerührt, die frische Milch aus dem Stall war ungetrunken stehengeblieben. Daran und an den kritischen Blick ihrer Tante Tessa konnte sie sich gerade noch erinnern. Die Müdigkeit hatte sie viel zu schnell übermannt. Aber der Karamell-Bonbon war sehr gut. Anka strich das Papier des Bonbons glatt und betrachtete die darauf abgebildete Kuh.

Ihre Mami hatte ihr erzählt, dass es auf Gut Erlenfeld fast hundert Kühe gab. Ob sie die heute mal ansehen sollte? Gerade wollte sie aus dem Bett springen, als ihr Blick auf ihre Fingernägel fiel. An einigen war der rosarote Lack abgesplittert.

»Carmen!«, rief Anka leise. »Carmen?«

Aber dann begriff sie sehr schnell, dass es hier keine Carmen gab. Carmen, ihr Kindermädchen, das sich in Buenos Aires seit Jahren um ihre Garderobe, ihre Frisur und um all die hübschen Kleinigkeiten ihres täglichen Lebens gekümmert hatte, war ja nicht mitgekommen. Aber wer legte ihr denn nun die Kleider für den Tag zurecht? Wer entfernte den Lack von ihren Nägeln und bestrich sie neu?

Neben ihr lag der große rosafarbene Teddy. Anka klebte ihm das Bonbonpapier auf die Nase und zog ihn dann an sich. Und weil er der Einzige war, dem sie in der morgendlichen Stille ihre Gedanken anvertrauen konnte, flüsterte sie ihm zu:

»Die Omi ist lieb, nicht? Und der Onkel Kurt auch. Ob die Senta mir beim Ankleiden hilft? Oder Tante Tessa? Mami darf ich nicht wecken, Teddy. Das mag die nicht …«

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie verstummen. Ganz vorsichtig wandte sie sich um und bemerkte eine schlanke Gestalt, die mit einer sehr energischen Bewegung die Vorhänge aufzog. Ankas Herz blieb stehen. Das war Tante Tessa! Ob die ihr jetzt beim Ankleiden half? Mit furchtsam geöffneten Augen sah sie zu ihr hoch. Diese Tante, die Schwester ihrer Mami, machte ihr Angst. Aber die beachtete sie gar nicht. Die Tante mit dem strengen Blick hatte nämlich den Silberrahmen in die Hand genommen. Und wie gelähmt vor Schrecken beobachtete Anka, wie deren Finger am Silberrahmen entlangfuhr.

»Das … das ist mein Papi«, hauchte sie ängstlich. Ihr Mund fühlte sich ganz trocken an, denn den Bonbon hatte sie schon ganz schnell vor Schrecken heruntergeschluckt.

»Ich weiß«, sagte Tante Tessa. »Dein Vater, Ottmar Hillmer, ein berühmter Geologe und anerkannter Wissenschaftler.«

»Er … er ist gestorben. Im Himmel ist er und schaut immer herunter, ob ich auch lieb bin.«

Tessa stellte das Bild endlich zurück, und dann sah sie ihre Nichte lange prüfend an.

»Wenn du lieb sein willst, steh auf, Anka. Es ist schon nach neun Uhr. Denn hier auf dem Gut wird nicht gefaulenzt. Das gilt auch für so kleine verwöhnte Mädchen wie dich.«

Anka schluckte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals verwöhnt genannt worden zu sein. Drüben in Buenos Aires unterschied sie sich nicht von den Kindern der reichen Eltern, mit denen sie auf dem Institut und in der Freizeit zusammen gewesen war.

»Und … wo ist Mami?«, wagte sie zu fragen.

»Schon unterwegs bei einem Rundgang übers Gut. Ich habe ihr versprochen, nach dir zu sehen.«

Anka fühlte einen dicken Kloß im Hals. Von Tante Tessa, so forsch und eindrucksvoll sie wirkte, ging eine verletzende Kälte aus. Wer sollte sich denn nun um ihre Kleider und ihre Frisur kümmern?

»Und Senta?«

»Senta?« Tante Tessa hatte sich dem Kleiderschrank zugewandt und zupfte an dem Besatz des Mäntelchens herum, das dort hing. »Was willst du denn von Senta?«

Anka richtete sich auf und deutete auf die Kleider auf dem Stuhl.

»Sie soll mir Kleidung herauslegen. Wie Carmen. Die hat immer gewusst, wie kalt oder warm es draußen war und ob ich zum Reitunterricht oder zu einer Party musste.«

Tessa lachte. »Reitunterricht hast du hier nicht, und Partys gibt’s hier nicht. Also, los, steh auf.«

Anka war den Tränen nahe. Sie neigte den Kopf und sah auf ihre Fingernägel. Das Gefühl der Verlorenheit wurde nur noch größer.

»Mami soll kommen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Deine Mutter ist entschlossen, sich hier auf dem Gut nützlich zu machen, Anka. Sie sucht sich eine Beschäftigung. Meinen Vorschlag, sich in Hamburg nach einer passenden Tätigkeit umzusehen, hat sie abgelehnt. Also wird sie sich dem Landleben anpassen müssen. Das gilt damit auch für dich.«

Sie hängte den Mantel wieder an den Kleiderschrank und beugte sich dann über den Koffer, der noch vollgepackt auf dem Stuhl am Ende des Bettes stand. Er war am Vorabend nur kurz geöffnet worden, um das Nachthemd für Anka herauszuholen.

»Nichts wie Firlefanz!«, fuhr Tessa fort und holte ein Kleid nach dem anderen hervor, um es mit spitzen Fingern hochzuheben und es dann auf den Boden fallen zu lassen. Das weiße Organza-Kleid mit der rosa Schärpe, das marineblaue mit der zarten Silberstickerei! Das kleine Stadtkostümchen aus hellgrauem Wollstoff mit den Lederrüschen und dem dazugehörigen Mützchen mit rotem Bommel – ein Teil nach dem anderen landete vor dem Bett.

»Irgendwo müssen doch ein paar Pullover und strapazierfähige Hosen stecken!«, wunderte Tessa sich und hatte weder einen Blick noch ein Gefühl des Mitleids für das kleine Mädchen übrig. »Einen ganzen Koffer voller Nutzlosigkeiten! Und drei davon stehen noch unten an der Treppe. Ist da wenigstens etwas Praktisches drin? Hosen und Pullover, oder ein Anorak?«

Anka, eingeschüchtert und völlig mit dem Herunterschlucken ihrer aufsteigenden Tränen beschäftigt, brachte nur einen kümmerlichen Piepser hervor.

»Antworte mir doch endlich!«, herrschte Tessa sie an. Nur so konnte sie sich des schmerzhaften Gefühls eines bohrenden Neides erwehren. Warum war Anka nicht ihr Kind? Warum blickten ihr aus dem Gesicht

des Mädchens die braunen Augen des Mannes an, den sie seit zehn Jahren vergeblich zu vergessen versuchte?

»Carmen … hat doch die Koffer gepackt.« Anka wischte sich über das Gesicht, mit der anderen Hand zog sie die Decke bis an ihr Kinn. Das war jetzt der einzige Schutz gegen die Gemeinheiten der Tante.

Tessa stieß einen gereizten Laut aus, griff mit spitzen Fingern von Neuem in den Koffer, und gleich darauf fiel ein winziger, mit Goldblümchen bedruckter Bikini zu Boden, dem folgte der passende Strandrock. Nun lachte Tessa wieder.

»Zum Zirkus solltest du gehen, Anka. Die Kleidung dazu hast du ja schon. Mein erster Eindruck gestern Abend war richtig. Du bist ein verzärteltes Püppchen. Ein Prinzesschen, dem man jeden Wunsch erfüllt und damit nur Schaden zugefügt hat. Damit sich das ändert, werde ich deine Mutter wohl mal zur Rede stellen müssen.«

In diesem Moment wurden draußen Schritte laut. Begleitet wurden sie von einem leisen Klappern. Dann flog die Tür auf, und Margaret Schäfer stand mit einem reichbeladenen Tablett im Raum.

»Omi!« Anka sprang aus dem Bett und eilte ihrer Großmutter entgegen, bis sie deren rundliche Hüften umklammern konnte.

»Du bist hier, Tessa?«, wunderte Margaret Schäfer sich und schob das Kind von sich, um erst mal das Tablett abstellen zu können. »Ich dachte, du begleitest Kurt und Beate beim Rundgang durch den Betrieb?«

»Beate zieht es vor, mit Kurt allein zu sein, Mutter. Sie gestattete mir, mich um das Prinzesschen zu kümmern.«

Anka setzte sich auf die Bettkante. Sie hörte die spitzen Worte der Tante und verstand immer weniger, was hier eigentlich vorging. Warum war Tessa so bös’ zu ihr, und warum brachte ihr die Großmutter dann das Frühstück ans Bett, wie sie es aus Buenos Aires gewohnt war? Dann schien es auf dem Gut der Großmutter doch nicht so anders zuzugehen, wie diese Tante ihr einzureden versuchte.

Margaret schob ihre Tochter am Arm aus dem Zimmer. Ein Blick in das tränennasse Gesicht ihrer Enkelin hatte genügt, um zu erkennen, dass Tessa ihre Missstimmung und ihre Abneigung gegen Kinder an dem kleinen Mädchen ausgelassen hatte.

»Warum quälst du die Kleine so, Tessa?«, fragte sie flüsternd. »Anka kann doch nichts dafür, dass sie Ottmars Tochter ist. Sie gehört zu uns, dies wird ihre Heimat sein, Tessa. Vergiss nicht, dass Beate Witwe ist, du aber einen liebevollen Mann an deiner Seite hast.«

Tessa lächelte spöttisch. »Augenblicklich befindet Kurt sich an Beates Seite, nicht an meiner, Mutter. Du siehst, es beginnt wieder alles so wie damals.«

Margaret konnte kaum atmen. So ängstigte sie das Benehmen ihrer Ältesten.

Und als sie ihr antwortete, musste sie die ganze Kraft ihres Herzens aufwenden, um ihrer Stimme einen bestimmenden Ton zu verleihen.

»Kurt ist ein sehr rechtschaffener Mann, Tessa. Ein wenig mehr Zärtlichkeit und Zuneigung von dir, und er wird nie eine andere Frau anschauen.« Sie holte jetzt ganz tief Luft. »Wie Beate uns gestern Abend noch verkündete, ist sie nicht bereit, sich eine Tätigkeit an der Universität in Hamburg zu suchen. Sie will bei uns bleiben. Und ich werde weder ihr noch Anka den Schutz unseres Hauses verwehren. Beate ist meine Tochter genauso wie du. Sie hat schwere Zeiten durchgemacht. Und außerdem bin ich sehr glücklich, endlich ein Enkelkind in meiner Nähe zu haben.«

»Uns, Mutter, hast du nie das Frühstück ans Bett gebracht!«, stieß Tessa leise hervor.

»Ich werde es auch nur heute tun, Tessa. Wir müssen Anka Zeit lassen, sich bei uns einzuleben. Sie ist maßlos verwöhnt worden. Aber sie ist ein liebenswertes Kind. Das wirst auch du noch begreifen.«

Tessa wandte sich ab. »Darauf hoffe nicht, Mutter. Anka sieht mich mit den Augen Ottmars an. Ihr braunes Haar, dieser Blick, diese schmale Nase …, alles das lässt alte Gefühle in mir aufbrechen. Warum nur hat Ottmar mir das angetan?«

»Weil sein Herz sich plötzlich für Beate entschied, Tessa. Wir können die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Das Schicksal war ja nicht nur gegen dich, sondern ist auch Beate ein dauerhaftes Glück schuldig geblieben. Und nun geh zu deinem Mann und zu deiner Schwester. Beweise, dass du ein großes Herz hast, in dem außer für die Liebe zu Kurt auch noch ein wenig Raum für Beate und ihre Tochter bleibt.«

Tessas Gesicht drückte Trotz aus. Und als sie sich entfernte, schob sie ihre Schultern hoch, und ihre Stiefel verursachten harte Geräusche auf der Diele. Da wusste Margaret, dass ihre Älteste viel Zeit brauchen würde, um sich an die Gegenwart der kleinen Anka zu gewöhnen.

*

Zur gleichen Zeit traten Kurt Traubnitz und seine Schwägerin Beate aus einem der neuen Ställe ins Morgenlicht hinaus.

»Respekt, Respekt, Kurt!«, lächelte Beate ihn an. »Das alles ist ja neu gebaut worden. Auch die Treibhäuser und der Gemüsegarten sind neu angelegt worden. Wie habt ihr das nur schaffen können?«

»Deine Mutter hat mir alle Vollmachten übertragen. Und Tessa ist eine wundervolle Frau, Beate.«

»Ja, das ist sie.« Beate hatte sich schon in den frühesten Morgenstunden ein Paar Jeans und eine nicht mehr neue Lederjacke von ihrer Schwester geliehen. Sie sah einfach wundervoll aus in dieser schlichten Aufmachung. Kurt bedachte sie auch mit einem belustigten Blick.

»Das steht dir besser als die schwarze Kleidung, Beate. Wenn du uns wirklich beim Blumen- und Gemüse-Anbau zur Hand gehen wirst, brauchst du deine Koffer gar nicht erst auszupacken.«

Der neue Schwager hatte Beate vom ersten Augenblick an gefallen. Nun schlenderten sie auf eine der Wiesen zu. Die Sonne ließ Beates Haar golden aufschimmern, ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie schob ihre Hände in die Hosentaschen und hob ihr Gesicht mit einem entschlossenen Ausdruck zu ihm auf.

»Ja, ich will, Kurt. Denn wenn ich in Hamburg arbeite, muss ich mich von Anka trennen oder sie in eine kleine Wohnung sperren, wo sie viel allein sein wird. Anka ist das nicht gewohnt. Ich habe in den letzten Jahren kaum Zeit für sie gehabt, aber immer waren Dienstboten um sie, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen.«

Kurt grinste. »Die Umstellung wird ihr auch hier schwerfallen, Beate. Aber was Tessa und ich bewältigen können, um Anka das Einleben zu erleichtern, werden wir tun.«

»Tessa auch?«, fragte Beate.

Da schob er seinen Arm unter ihren. »Tessa ist ein herber Typ, Beate. Sie ist der Meinung, sich nicht als Mutter zu eignen. Dabei wünsche ich mir Kinder. Aber meine Liebe zu deiner Schwester ist groß genug, um darauf verzichten zu können.«

Beate zog ihre kleine Nase kraus. »Das habe ich geahnt, Kurt. Darum bat ich sie ja, sich heute früh um Anka zu kümmern. Vielleicht werden die beiden doch noch Freundinnen.«

Sie blieb stehen und sah in die Landschaft hinaus. Dann hob sie den Arm und deutete auf das alte Kutscherhaus.

»Dort lebt also nun eine junge Familie, die es mit der Schafzucht versucht. Wie heißen die Leute noch?«

»Groß. Theo Groß und seine Frau Uta sind eigentlich recht sympathische Leute. Ob ihr Betrieb jemals etwas abwirft, ist schwer vorauszusagen. Die Pachtbeträge gehen nicht immer pünktlich ein. Aber ich dränge sie selten. Die jungen Leute haben drei Kinder zu ernähren. Darauf muss man Rücksicht nehmen.«

»Drei Kinder?«, wiederholte Beate begeistert. »Das ist ja herrlich. Dann hat Anka doch Spielkameraden in der Nähe.«

Kurt neigte den Kopf zur Seite, sein Gesicht drückte Skepsis aus. »Ob die deinem anspruchsvollen Töchterchen genügen werden? Es sind arme Leute. Jonathan ist zehn, er geht zur Schule, Ulf wird sechs. Und seit einem halben Jahr gibt es noch ein kleines Mädchen. Die Leute brauchen Hilfe. Und wenn Tessa ein wenig mehr Verständnis für Kinder aufbringen würde, hätte ich die beiden Buben schon gern manchmal in meiner Nähe. Ich bin eben ein Kindernarr. Und ich beobachte, wie gern die kleinen Jungens schon mit anpacken.« Er lachte leise und zog sie weiter auf die Wiese. »Übrigens«, fuhr er nach einer Weile fort, als folge er einem Zwang, das Thema zu wechseln, »erzählte mir Margaret gestern Abend, dass Anka gern reiten würde. Es tut mir leid, dass ich die Abschaffung der Reitpferde veranlasste. Aber um den Betrieb rentabel zu gestalten, musste es sein. Tessa hatte keinen Einfluss darauf. Sie beugte sich meinen Entscheidungen.«

Beate warf ihm einen Seitenblick zu. »Ist das wahr? Dann muss sie dich von ganzem Herzen lieben!«

Er lächelte glücklich. »Ich hoffe es.« Und dann, nach einem tiefen Atemzug, knüpfte er wieder an seine Gedanken an. »Um Anka aber eine Freude zu bereiten, solltest du ihr Reitunterricht geben lassen. In Loberg findet sich gewiss eine Gelegenheit dazu. Und wenn du bei uns arbeiten willst, bekommst du ja auch ein Gehalt, das solche Ausgaben ermöglicht.«

Beate blieb stehen. Mit ihren großen blauen Augen sah sie ihn erst ungläubig staunend an, dann brach sie, wie es so ihre Art war, in ein übermütiges Gelächter aus.

»Aber ich bin doch nicht auf euer Geld angewiesen, Kurt! Ottmar hat mir genug hinterlassen. Nein, ich brauche keinen Cent.«

»Aber warum willst du dann hierbleiben, in dieser Abgeschiedenheit? Warum beginnst du nicht in Hamburg ein neues Leben, wie es deinen Mitteln entspricht?«

»Weil ich hier zu Hause bin. Mit dem Gut verknüpfen sich wundervolle Erinnerungen. So glücklich wie hier war ich nie wieder in meinem Leben.«

Er stutzte. »Auch nicht als dein Mann noch lebte, dort drüben in Argentinien?«

Sie sah ihn nicht an. »Ottmar war immer viel unterwegs. Darum wendete ich meine ganze Liebe Anka zu. Als Ottmar begriff, wie einsam ich mich in den ersten Jahren fühlte, überredete er mich, einige Semester Botanik zu studieren. So wurde ich dann durch seine Fürsprache die Assistentin einer seiner Mitarbeiter.«

»Du hast ihn dann begleiten können?«

»Ottmar? Nein, Ottmar begleitete ich nie. Aber Dr. Paolo Sito. Nach Ottmars Tod war das nicht mehr möglich. Man wusste ja, dass meine Ausbildung im Grunde genommen nicht ausreichte.«

»So war das«, wunderte Kurt sich. »Und ich dachte, du und Ottmar …«

Irgend etwas in Beates Blick brachte ihn zum Schweigen. Dann aber bemerkte er, dass sie lächelte.

»Ich habe«, bekannte sie offen, »Anka von Anfang an viel zu viel verwöhnt. Es ergab sich so durch die Dienstboten, und natürlich sorgte Ottmars Stellung dafür, dass meine Tochter nur in den besten Kreisen verkehrte. Darum«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »werde ich auch noch heute nach Loberg fahren und sie in der Schule anmelden. Jetzt, nach Ottmars Tod, muss eben alles anders werden. Stimmt es denn, dass es hier einen Schulbus gibt?«

»Ja, Beate. Aber ob Anka sich darin nicht wie ein Fremdkörper ausnimmt? Sie ist so anders als die Kinder im Dorf.«

Beate hatte ihm nicht zugehört. Schon beschäftigte sie ein anderer Gedanke.

»Du hast von einer Reitgelegenheit in Loberg gesprochen, Kurt. Kennst du jemanden, der dort Reitpferde hat?«

»Nein. Nur einen gewissen Stefan Berger, der seinen Reitstall vorübergehend auflösen muss, weil er Baugrund braucht.«

Ihr Kopf zuckte hoch. »Stefan? Stefan Berger? Du kennst ihn?«

»Nein«, lachte Kurt amüsiert. »Aber es sieht so aus, als würdest du ihn kennen. Deine Schwester hat keine gute Meinung von ihm.«

Seltsamerweise schien Beate ausnahmsweise mal der Meinung ihrer Schwester zu sein. »Ja, Tessa hat recht. Er ist ein schrecklicher Mensch. Aber warum muss er seinen Reitstall auflösen? Damals besaß er die besten Pferde in der Umgebung.«

»Er vergrößert seinen Betrieb und baut neue Werkshallen auf seinen Koppeln.«

»Das sieht ihm ähnlich«, presste Beate hervor. »Er konnte ja den Hals nie voll genug kriegen.«

Kurt beobachtete sie amüsiert. In den letzten Minuten schien eine bedeutende Wandlung mit der entzückenden Schwägerin vor sich gegangen zu sein. Und das nur, weil er Stefan Berger erwähnt hatte?

Vom Gutshaus näherte sich Tessa. Mit ihren weitausholenden Schritten und den Stiefeln wirkte sie auf die Entfernung wie ein hübscher junger Mann. Kurt blickte ihr mit zärtlicher Bewunderung entgegen, bis er den trotzigen Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte.

»Was ist denn geschehen, Tessa?«

Tessa ging auf ihre Schwester zu. »Ich hatte Gelegenheit, mit deiner Tochter zu sprechen und den Inhalt ihrer Koffer zu überprüfen. Darin befindet sich kein einziges passendes Kleidungsstück, das sich für das Leben bei uns eignet. Ich hoffe, Beate, du besorgst deinem Prinzesschen einige praktische Hosen und Hemden.«

Eigentlich hatte Beate das auch schon vorgehabt, aber der vorwurfsvolle Ton ihrer Schwester verursachte nun auch eine trotzige Haltung bei ihr.

»Meine Anka ist ein liebenswertes, glückliches Kind, Tessa. Ich habe dir Gelegenheit gegeben, sie etwas näher kennenzulernen und deine Abneigung gegen meine Tochter zu verringern. Keiner hat dich gebeten, ihre Kleidung zu inspizieren. Anka bleibt so, wie sie möchte. Erst, wenn sie selbst den Wunsch nach derben Hosen äußert, wird sie sie bekommen.«

Beate schien wirklich wie ausgewechselt. Sie schnaufte und stapfte eilig davon.

Kurt sah seine Frau betroffen an.

»Lass den beiden doch Zeit, Tessa. Sie werden bleiben. Beate will sich um die Treibhäuser und den Gemüseanbau kümmern. Sie hat doch ein wenig Botanik studiert.«

»Sie hat ihre Tochter zu einem Prinzesschen herangezogen«, erwiderte die erregt. »Es ist nahezu abstoßend! Und was das Kind für Ansprüche stellt! Immer wird sie hier eine Fremde bleiben. Sie passt einfach nicht zu uns.«

Er strich ihr über den Arm. »Du hast noch nie viel Verständnis für Kinder aufgebracht, Tessa. Aber Anka ist nun mal deine Nichte. Und ich hoffe von Herzen, dass die kleine Prinzessin irgendwann Gefühle in dir wachruft, die deine unerbittliche Haltung verändern. Du würdest mich zum glücklichsten Mann auf der Welt machen.«

Tessa schwieg. Sie schien weder seinen zärtlichen Blick, noch seine liebevolle Berührung zu bemerken. Denn sie sah immer noch Ankas braune Augen vor sich, die denen auf dem Foto von Ottmar so sehr ähnelten.

»Ich habe zu tun, Kurt«, sagte sie nach einer Weile und entfernte sich in Richtung Stall.

*

Eine Woche war vergangen. Für Anka hatte an diesem Morgen der Ernst des Lebens begonnen. Weil ihr Beate den Anfang erleichtern wollte, hatte sie sie mit dem Wagen in die Loberger Schule gefahren und sie bis an die Tür zum Klassenzimmer geleitet, bis die Lehrerin, Frau Köppen, ihre Tochter in Empfang nahm.

Frau Köppen, eine gutherzige Frau von Mitte dreißig, hatte schon bei dem ersten Gespräch vor wenigen Tagen bemerkt, dass Anka ein überaus gescheites und aufgewecktes Mädchen war, dessen Wissen womöglich das seiner zukünftigen Klassenkameraden weit übertraf. Aber ihr war auch aufgefallen, dass die betont mädchenhaft herzige Garderobe des Kindes sich von der praktischen und nicht besonders hübschen Kleidung der Dorfkinder auffallend abheben würde.

An diesem Morgen, als Anka ihr in einem knallroten Kleidchen mit weitem Glockenrock, das über und über mit bunten Blümchen bestickt war, gegenübertrat, fiel es ihr schwer, ein Lächeln zu unterdrücken. Anka hatte ihr üppiges Haar mit einer passenden roten Taftschleife am Hinterkopf zusammengebunden, und ihre Füße steckten in weißen zierlichen Cowboystiefelchen mit hohem Absatz.

Schon als die Kinder die Klasse betraten, galt deren ganze Aufmerksamkeit dieser so ungewöhnlich gekleideten neuen Schülerin. Hier und da wurde gekichert. Einige Mädchen steckten mit hämischen Gesichtern ihre Köpfe zusammen. So ein aufgeputztes Mädchen bekam man ja nicht mal im Nachmittagsprogramm des Fernsehens zu sehen!

Da fiel Frau Köppens Blick auf Jonathan Groß, der Junge, ungewöhnlich hilfsbereit und für seine zehn Jahre reifer als die anderen, saß seit den Osterferien allein an einem Tisch. Denn seinen Nachbarn, den Rabauken Udo, hatte Frau Köppen ganz in ihre Nähe, in die vorderste Reihe, geholt.

Sie bat um Ruhe und stellte der schwatzenden Schar dann die neue Schülerin Anka Hillmer vor.

»Anka kommt aus Buenos Aires«, fügte sie hinzu und legte ihren Arm schützend um das Mädchen. »Wer von euch weiß denn schon, in welchem Land diese Stadt liegt?«

Jonathan Groß hob zögernd die Hand. »In … in Südamerika.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Anka lebhaft. Zwischen ihren zarten Brauen bildete sich sogar eine feine Falte vor Empörung. »Buenos Aires ist die Hauptstadt von Argentinien!«

Jonathan setzte sich beschämt. Das eisige Schweigen in der Klasse verriet schon jetzt, dass Anka es nicht leicht haben würde. Frau Köppen lächelte versöhnlich in die Runde.

»Trotzdem hat Jonathan recht«, erklärte sie. »Denn Argentinien liegt ja auf dem südamerikanischen Kontinent.« Ein Aufatmen ging durch die Kinder. Dass diese herausgeputzte Puppe dem beliebten Jonathan eine Schlappe beibrachte, gefiel keinem.

»Du wirst dich neben Jonathan setzen, Anka. Er wohnt ganz in deiner Nähe, auch auf dem Gut Erlenfeld. So kann er dir helfen, wenn du dich nicht gleich zurechtfindest.«

Anka blieb stocksteif stehen und sah Jonathan verblüfft an.

»Aber das ist ein Junge. Ich darf nicht neben Jungens sitzen. Nicht im Institut, wenn Unterricht ist. Die Eltern zu Hause haben es so bestimmt.«

Die Köpfe der Kinder hoben sich. So was hatte es ja noch nie gegeben! In wenigen Sekunden würde ein Sturm des Gelächters losbrechen. Frau Köppen musste das verhindern.

»Dieses ist eine deutsche Schule. Da sitzt jedes Kind auf dem Platz, den ihm die Lehrerin anweist, Anka. Du siehst doch, dass sonst nur noch der Platz hier vorn neben Udo Wutzke frei ist.«

Udo Wutzke, rothaarig und sommersprossig, duckte sich sofort, dann stieß er ein nicht gerade angenehmes Geräusch aus und fuhr sich wie ein Affe im Zoo mit wüster Gebärde durchs Strubbelhaar, um zu zeigen, zu welchen Ungezogenheiten er sich neben seiner Nachbarin versteigen konnte. Die Klasse grölte, Anka sah ihn entsetzt an.

»Nun, Anka?«

Anka antwortete nicht. Sie ging, zaghaft Füßchen vor Füßchen setzend, durch den Gang, bis sie neben Jonathan stand. Der hob den Blick zu ihr.

»Ich glaube, Anka erwartet, dass du dich erhebst und sie mit einem Handschlag begrüßt«, meinte Frau Köppen und schaffte es, ganz ernst dabei zu bleiben.

»Tag«, murrte Jonathan, erhob sich tatsächlich und hielt Anka seine Jungenhand hin. Sie ergriff sie. Und plötzlich durchfuhr sie ein Gefühl der Erleichterung. Ihre Fingernägel waren nicht mehr lackiert.

Nachdem sie sich gesetzt und ihre Schultasche verstaut hatte, vergingen noch einige Minuten, bis endlich wieder Ruhe eintrat. Die Jungens drehten sich feixend um, die Mädchen konnten den Blick nicht von ihren weißen Stiefelchen abwenden. Einige waren sofort entschlossen, sich spätestens zu Weihnachten solche von ihren Eltern zu wünschen. Nur wie lange würden die im Schneematsch auf den Landwegen weiß bleiben?

Während der kurzen Pause kam es zu einer ersten Annäherung zwischen Anka und Jonathan. Sie schob ihm nämlich die Hälfte ihres Schulfrühstücks hin. Er starrte das seltsame Gebilde an.

»Was ist das denn?«

»Ein Sandwich«, gab Anka ruhig zurück.

»Ist das was Amerikanisches?« Er griff schon zu, unterzog den überlappenden Belag aus Schinken und Salatblatt aber erst einer genauen Prüfung, bevor er hineinbiss. Dabei quoll seitlich die Mayonnaise hervor, und Jonathan erschrak richtig.

Anka lachte. »Das ist Cream«, erklärte sie. »So nennen wir Mayonnaise.«

Einige Schüler hatten sich neugierig genähert und umstanden die Bank der beiden. Auch Udo Wutzke war darunter. Er drängte sich vor und sah Anka unverwandt mit seinen listigen Augen an.

»Schmeckt gut«, lobte Jonathan und tat so, als bemerke er die anderen gar nicht. »Du kannst auch was von meinem Leberwurstbrot haben. Oder hier«, froh, dass ihm noch was Besseres eingefallen war, griff er unter den Tisch und holte einen schrumpeligen Apfel hervor. »Magst du den?«

Obwohl sie sich beobachtet fühlte und schon ahnte, welche Folgen ihre Ablehnung haben könnten, passierte es ihr: Sie rümpfte ihr Näschen. Die Mädchen stießen sich prompt an.

»Wir lagern die Äpfel über den Winter«, erklärte Jonathan. »Dabei bekommen die solche Falten und werden schrumpelig. Aber die schmecken klasse!«

Unter den abschätzenden Blicken der Kinder griff Anka nun doch zu und biss hinein. Und wirklich! Jonathan hatte nicht zu viel versprochen. Der Apfel war köstlich! Sie nickte anerkennend, und ein Mädchen wagte sich daraufhin ganz nah an sie heran.

»Was gibt es denn bei euch in Argentinien zu essen?«

Anka gab bereitwillig Auskunft. »Mittags essen wir ja in unserem Institut.«

»In der Schule?«, staunte die Blondbezopfte.

Anka nickte. »Da gibt’s jeden Tag was anderes. Meistens ist es gut. Und wir müssen selbst servieren und das Geschirr abräumen.«

Udo tupfte sich an die Stirn. »Servieren und abräumen!«

»Lass sie doch!«, fuhr Jonathan auf.

Es klingelte. Anka atmete auf. Denn gleich darauf betrat ein Lehrer die Klasse. Der ähnelte dem netten Onkel Kurt, begrüßte sie freundlich und begann dann zügig mit dem Sachkundeunterricht, sodass Anka ihm mit konzentrierter Aufmerksamkeit lauschen musste. Es ging um Müll und dessen Beseitigung. Und sie hatte gar nicht gewusst, dass man darüber etwas lernen musste.

Als sie gegen Mittag aus dem backsteinroten Gebäude trat, wurde sie schon von Beate erwartet.

»Wie war’s denn, Anka?«

»Prima, Mami. Und ich sitze neben einem Jungen. Er heißt Jonathan und wohnt auch auf dem Gut.«

Beate sah sich unter den Schülern um. »Zeig ihn mir, Anka. Vielleicht will er mit uns im Auto fahren.«

Anka legte ihre Tasche auf den Hintersitz. »Das will er nicht, Mami. Ich hab’ ihn ja schon gefragt. Der fährt wie die anderen im Bus.«

Beate setzte sich hinter das Steuer. »Und du? Willst du auch mal mit dem Schulbus fahren?«

Anka blickte hinaus. Dort hatten sich einige der Mitschüler am Schulhoftor versammelt und sie und ihre Mutter beobachtet. Udo Wutzke zog ihr schon wieder eine Grimasse nach, und die Mädchen tuschelten und lachten.

»Nein«, entschied Anka.

»Und warum nicht?« Beate wendete den Wagen. Anka aber antwortete nicht. Sie fühlte sich unbehaglich, aber sie konnte nicht erklären, warum.

*

Eine halbe Stunde später versammelte man sich auf dem Gut Erlenfeld an dem riesigen Tisch in der Küche. Dort gab es während der Wochentage für alle Hausbewohner das von Senta zubereitete Mittagsmahl.

Dabei ging es einfach und ruhig her. Die Familienmitglieder vermieden es, besonders feine Tischmanieren zu zeigen oder aber Gespräche zu beginnen, die mehr als unbedingt nötig über die Gedankenwelt oder die Probleme der Herrschaften verrieten. Also wurde nicht viel gesprochen.

So hielt man es, seitdem der verstorbene Wilhelm Schäfer vor gut achtunddreißig Jahren seine Margaret heimgeführt hatte. Und was ihnen allen zur Gewohnheit geworden war, hatte man auch nicht nach der Rückkehr von Beate und Anka umgestoßen. In den ersten Tagen hatte Anka sich dabei fremd gefühlt. Es gab weder eine Tischdecke noch Servietten, und der alte Karl schmatzte laut. Senta schwieg beharrlich während der Mahlzeit, und wenn Onkel Kurt sich mit der Omi oder der Tante Tessa unterhielt, ging es immer um Angelegenheiten des Betriebs.

Der einzige Lichtblick war Toni, der achtzehnjährige Praktikant. Der grinste andauernd verstohlen. Und das fand Anka so unterhaltend, dass sie ihn unaufhörlich beobachtete, bis sie ihr Lächeln selbst nicht mehr unterdrücken konnte.

Heute saßen schon alle um den Tisch, aber Senta weigerte sich, die Suppe auszuteilen. Frau Schäfer war nämlich noch nicht heimgekehrt. Onkel Kurt sah mehrmals ungeduldig zur Uhr, dann sprach er ein Machtwort.

»Wir können nicht länger warten, Senta. Bitte, teilen Sie die Suppe aus. Frau Schäfer wird dafür Verständnis haben.«

Alle atmeten erleichtert auf, nur Senta grummelte etwas, begann dann aber mit Tante Tessas Teller. Dann kam der von Onkel Kurt dran, dann der von Ankas Mami. Und als auch Anka, der alte Karl, Rita und als Letzter Toni die dampfende Suppe vor sich hatten, sprach Senta ein kurzes Gebet.

Kaum war das mit einem »Amen« abgeschlossen worden, wandte Kurt sich an seine Nichte.

»Nun, Anka, wie war’s denn in der Loberger Schule?«

Ankas Hand, die den Löffel hielt, sank herab. Onkel Kurt zwinkerte ihr zwar aufmunternd zu, aber die Blicke der anderen waren auch auf sie gerichtet. Und, was das Schlimmste schien, Toni hob die Augenbrauen und zog seinen Mund bis zu den Ohren. So übel wie die von Udo Wutzke war seine Grimasse nicht, aber sie nahm Anka den Mut, mit ihrem Bericht zu beginnen.

»Sag doch, wie schön es war, Anka-Schätzchen«, ermunterte ihre Mami sie. Das wirkte. Aber gerade, als Anka mit einem tiefen Atemzug beginnen wollte, spürte sie den Blick der dunklen Augen von Tante Tessa auf sich. Sie saß ihr gegenüber, und ihre Mundwinkel zuckten spöttisch.

»Haben nicht alle in der Klasse über deine rote Haarschleife und die vielen Blümchen auf deinem Kleid gelacht?«

So mucksmäuschenstill wie jetzt war es lange nicht mehr in der großen Küche des Gutshauses gewesen. Nicht einmal Toni grinste mehr.

Anka wandte den Kopf von einer Seite zur anderen. Ganz langsam ging das, denn der Schrecken über Tante Tessas Bosheit war ihr in die Glieder gefahren.

»Das Kleid ist doch sehr niedlich, Tessa«, schaltete Onkel Kurt sich ein. »Wenn Anka eines Tages feststellt, dass es in der Schule unpraktisch ist, wird sie es nicht mehr anziehen. Stimmt’s, Anka?«

Da lächelte Anka erleichtert. »Ja, Onkel Kurt.«

Dann spürte sie die Hand ihrer Mami auf dem Arm und begann mit einem leisen Seufzer zu essen. Eigentlich hätte sie zu gern von ihren Erlebnissen in der Schule, von Frau Köppen, dem frechen Udo und dem netten Jonathan erzählt. Aber trotz Onkel Kurts Freundlichkeit war ihr der Spaß daran vergangen. Sie linste noch einmal zu Toni hinüber. Der grinste schon wieder. Senta sah ihn strafend an, aber das rührte ihn nicht.

Nach der Suppe gab es eine Gemüseplatte, wie jeden Montag. Der hatte Anka schon vor einer Woche, gleich nach ihrer Ankunft, wenig Geschmack abgewinnen können. Darum erschien es ihr wie eine Rettung, als draußen die schwere Tür zufiel und sich kurz darauf die Schritte ihrer Omi näherten.

Sie lachte über ihr ganzes liebes Gesicht, als sie rotbäckig und erhitzt von ihrem Einkaufsbummel aus der nächstgrößeren Stadt, Hagensee, zurückkam.

»Fein, dass ihr nicht auf mich gewartet habt!«, rief sie und zog die Jacke ihres Tweedkostüms aus. »Suppe will ich sowieso nicht mehr. Nur Gemüse. Ist davon noch etwas da, Senta?« Sie war zweifellos außer Atem. Ihre beiden Töchter Tessa und Beate schmunzelten.

»Wo warst du denn so lange, verehrte Schwiegermutter?«, erkundigte sich Kurt Traubnitz und schob ihr den Stuhl zurecht.

»Überall und nirgends«, lachte sie. »Erst habe ich mir in Hagensee ein Sommerkleid gekauft, dann bin ich noch nach Stürzing gefahren.«

»Nach Stürzing? Das ist ja bald an der Ostsee, Mutter, und was wolltest du da?«

»Meiner kleinen Anka eine Freude machen. Hat sie nicht heute ihren ersten Schultag hinter sich?«

»Doch hoffentlich keine Schultüte, Schwiegermama! Aus dem Alter ist Anka doch längst heraus.«

»Etwas viel, viel Schöneres.«

Sie stocherte auf ihrem Teller herum und nahm gelassen hin, dass sie sie alle voller Spannung ansahen.

Anka hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl aus. Sie trat hinter ihre geliebte Omi.

»Hast du es denn dabei?«, schmeichelte sie.

»Aber du bekommst es erst, wenn du endlich erzählt hast, wie der erste Schultag in Loberg verlief, Anka«, mahnte Onkel Kurt scherzhaft.

Margaret schob ihren Teller von sich, drehte sich zu ihrer Enkelin um und zog sie auf ihren Schoß.

»Prima war’s, Omi!«

»Und du wirst morgen auch gern wieder hingehen?«

Anka nickte eifrig.

»Dann ist der erste Schritt getan!«, lobte die Omi. »Und bald wirst du dich auch mit anderen Kindern befreunden, deine Spielgefährten aus Buenos Aires nicht mehr

vermissen und auch ohne deine Zofe Carmen zurechtkommen? Stimmt’s?«

»Ja«, antwortete Anka. »Und was hast du nun für mich gekauft?«

»Gekauft? Nichts. Aber ich habe in Erfahrung gebracht, wo du Reitunterricht bekommen kannst. In Stürzing!«, verriet sie triumphierend und schenkte den überraschten Gesichtern am Tisch keinerlei Beachtung. »Zweimal wöchentlich kannst du dort reiten. Und ich fahre dich jedes Mal hin, mein Schätzchen!«

Tessa erstarrte. Beate ließ ihre Gabel sinken, Kurt schmunzelte, bemühte sich dann aber um den nötigen Ernst.

»Aber ich kann doch reiten, Omi! Besser als alle anderen Kinder in Buenos Aires!«, wunderte Anka sich.

»Deine Einwände kannst du dir sparen, Anka«, sagte Tante Tessa scharf. »Du wirst dieses Angebot nicht annehmen. Wir alle haben auf das Reitvergnügen verzichten müssen, um den Betrieb hier wieder rentabel werden zu lassen.« Dann wandte sie sich Beate zu. »Du bist doch hoffentlich auch meiner Meinung, Beate?«

Beate schwankte. Sie wollte keine neuerlichen Auseinandersetzungen. Das würde nur wieder böses Blut geben.

»Wir«, fuhr Tessa beschwörend fort, »sind natürlich auch nie irgendwohin kutschiert worden, um Unterricht zu bekommen. Höchstens zur Schule, weil es damals den Bus noch nicht gab.«

Kurt Traubnitz räusperte sich. Erstens hielt er diese Debatte im Beisein des Personals für reichlich unpassend, zweitens hatte er den völlig verstörten Gesichtsausdruck des Kindes bemerkt und empfand Mitleid mit der Kleinen.

»Wenn es in Ankas Schulklasse andere Kinder gibt, die nach Stürzing zum Reiten fahren, sollten wir ihr den Spaß gönnen. Schließlich meint Margaret es doch nur gut.«

»Ich bin dagegen«, sagte Beate leise, erhob sich und trat zu ihrer Tochter. Sie nahm sie behutsam in die Arme und führte sie aus der Küche.

Margaret sah den beiden verstört nach.

»Beate ist erziehungsberechtigt, Mutter. Sie wird entscheiden, was für Anka gut ist.«

»Ich habe Beate einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet«, fügte Kurt ruhig hinzu. »Du darfst nicht vergessen, Tessa, dass du und Beate in bedeutend schlechteren Verhältnissen aufgewachsen seid. Wenn Anka so gern reitet, sollten wir nicht so kleinlich sein. Zu bedenken bleibt nur, ob sie auch Spaß daran hat und sie diese Sonderbehandlung unter ihren Mitschülern nicht als Außenseiterin abstempelt.«

»Ja, ja, so ist es!«, bemerkte die alte Senta zu aller Überraschung. »Wer von den Kindern in der Umgebung kann denn schon Reitunterricht nehmen? Sie steigen auf eins der wenigen Pferde, die es noch gibt. Damit hat es sich.«

Margaret erhob sich nun ebenfalls. Ihr war die Verbitterung anzusehen.

»Anka ist mein Enkelkind. Und es sieht ganz so aus, als würde es mein einziges bleiben. Solange ich diese Reitstunden bezahle, geht das keinen etwas an. Ich habe ein Recht dazu, meiner Enkelin eine Freude zu machen. Sie hat ihr Reitkostüm ja mitgebracht. Es ist ganz reizend und wird ihr noch eine Zeit lang passen.«

Tessa lachte leise. Es klang ziemlich unangenehm. »Ich habe es gesehen, Mutter. Eine rote Hose, ein schwarzes Samtjäckchen und ein Käppi. Die Hose ist brauchbar, sie schmutzt nur schnell.« Sie schaute in die Runde, bemerkte Tonis Grinsen und lachte lauter. »Wenn Ottmar seine Tochter so sehen könnte, er würde sich vor Grausen schütteln.«

Margaret verließ nun ebenfalls die Küche. Der alte Karl schlurfte wortlos zum Eisschrank und holte sich ein Bier. Und weil Toni enorm viel zum Mittagessen verdrücken konnte, nahm er sich eine zweite Portion.

Kurt beobachtete das ungewöhnliche Treiben am gemeinsamen Mittagstisch mit wachsendem Unbehagen. Auf das Kompott konnte er verzichten.

»Meine Frau und ich trinken noch einen Kaffee, Senta«, entschied er und hob die Tafel auf. »Servieren sie ihn bitte drüben im Esszimmer.«

Wenn Tessa sich nicht völlig bloßstellen wollte, musste sie ihm jetzt folgen. Und da sie wusste, was sie sich selbst und der Stellung ihres Mannes schuldig war, betraten sie zwei Minuten später gemeinsam das Esszimmer. Sie sah ihn lange schweigend an. Und auch Kurt fand nicht gleich die passenden Worte, denn innerlich kochte er vor Wut. Nicht

unbedingt, weil es zu dieser peinlichen Auseinandersetzung gekommen war, sondern weil Tessa jetzt bereits zum zweitenmal eine Äußerung über Ottmar Hillmer gemacht hatte.

Dass Ottmar, der ihm nie begegnet war, ein gut aussehender Mann gewesen sein musste, das ahnte Kurt. Auch er hatte das Foto im Silberrahmen neben Ankas Bettchen inzwischen gesehen. Woher aber nahm seine Frau die Sicherheit, ein solches Urteil über den verstorbenen Vater von Anka zu fällen?

»Wie gut hast du Ankas Vater eigentlich gekannt?«, fragte er jetzt.

Tessas Augen verdunkelten sich leicht.

»Gut genug, um zu wissen, dass er über eine gesunde Auffassung verfügte. Mein Schwager war ein kluger Mann, Kurt. Er hasste alles Übertriebene. Darum fügte er sich damals ja auch so gut in unsere Familie ein. Du hättest ihn sehen sollen, wie er gleich am ersten Tag die Ärmel hochkrempelte und mit zupackte. Dabei kam er als junger, noch unbekannter Geologe hierher. Aber er war so gescheit! Und so liebenswürdig!«

Ihre Augen funkelten, so heftig geriet sie ins Schwärmen. Und während Kurt seine Frau noch erstaunt ansah, stieg ein leiser Verdacht in ihm auf. In den sechs Jahren seit ihrer ersten Begegnung hatte sie sich nie zu einem so leidenschaftlichen Bekenntnis hinreißen lassen. Nicht mal an dem Tag, als er sie bat, seine Frau zu werden und ihr versichert hatte, wie sehr er sie liebe.