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Ist Heimat ein Ort zum Wohlfühlen, oder eine Last, die man niemals los wird? Ist Heimat dort, wo man herkommt, oder dort, wo man hin will? Ist Heimat eine Haltung, oder ein Gefühl? Wenn die Heimat so unerträglich wird, dass man sie verlassen will, ist sie dann noch Heimat? Und wie viel Heimat bleibt in mir, wenn diese sich in Luft auflöst? Walter Wegmann aus Dessau hadert von Kindheit an mit dem Begriff Heimat. Er ist ein Freigeist - keine optimale Eigenschaft in der DDR-Diktatur. Von der Staatsmacht misstrauisch beäugt, findet er sich nur mühsam zurecht im Arbeiter und Bauernstaat. Als im Frühjahr 1989 ruchbar wird, dass der Eiserne Vorhang in Ungarn löchrig wird, überredet Walter seine Frau zur Flucht. Es wird eine irre Fahrt ins Ungewisse! Endlich im Westen angekommen, zeigt auch die neue Heimat ihre Tücken. Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sind die Wunden der deutschen Teilung noch immer nicht verheilt. Aber auch die Versäumnisse im Vereinigungsprozess wirken noch immer nach. Dieser Roman ist ein Versuch, zu verstehen, warum die Annäherung auch nach so langer Zeit so schwierig ist.
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Seitenzahl: 576
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ernst R. Schaffer, geboren 1957 in Mautern, entbehrungsreiche Kindheit auf dem Lande. Bücher waren das erste Fenster zur großen, weiten Welt. Wechselt nach abgebrochener Handelsschule ins Metall-Handwerk. Arbeitet nach der Ausbildung als Industrieanlagenbauer in Europa, Afrika und Asien. Wird in den 1980er Jahren im Weserbergland sesshaft. Nach den „Montagejahren“ fast ohne Freizeit rücken die Bücher wieder in den Fokus. Erste zaghafte Schreibversuche, Fernstudium „Kreatives Schreiben und Journalismus“, erste Lesungen in den späten 80er Jahren. Hat seit 2006 fünf Bücher veröffentlicht. Arbeitet als freier Mitarbeiter für eine Tageszeitung.
Ich wusste nicht, dass er aus dem Osten kam. Am Biertisch erzählte er mir seine Flucht aus der DDR. Ich fragte nach, er erzählte mir aus seinem Leben in Ostdeutschland. Schnell wurde klar: Die Geschichte dieses Mannes steht für so viele andere Menschen, sie erhellt die Zeit des Kalten Krieges, der Wiedervereinigung und deren Folgen. Wir trafen uns mehrmals, Walter Wegmann, der seinen richtigen Namen nicht öffentlich machen will, vertraute mir seine Geschichte an und gab mir alle Freiheiten, die realen Erlebnisse, wie auch die Personen und die Handlung künstlerisch zu verändern und mit Phantasie anzureichern. Diese Freiheiten habe ich reichlich genutzt.
Um ein Gespür für das Leben in der DDR zu bekommen, habe ich unzählige Bücher gelesen, Zeitungsartikel durchforstet, Fernsehfilme und –dokumentation studiert und mit etlichen ehemaligen DDR-Bürgern gesprochen. Auch eigenes Erleben aus mehreren Reisen in die DDR konnte ich nutzen – ein homogenes Gebilde „DDR“ ergab sich trotz aller Mühe nicht, offenbar hat jeder seine eigene Vorstellung von diesem untergegangenen Land. Deshalb bitte ich Sie um Verständnis, wenn meine Beschreibungen sich nicht mit ihrem DDR-Bild decken.
Um ein vielschichtiges Panorama zu zeichnen, erzähle ich überwiegend aus den Blickwinkeln der Protagonisten. Und selbst die Stellen, an denen der auktoriale Erzähler deutlich wird, zeigen nicht meine persönliche Meinung, diese manchmal provokanten Äußerungen sollen lediglich Denkanstöße sein.
Die Westdeutschen sind mit den Fakten und Begriffen der ehemaligen DDR nicht sonderlich vertraut, vor allem bei jungen Menschen stelle ich immer wieder solche Wissenslücken fest. Um Ihnen ein umständliches Nachforschen zu ersparen, finden Sie am Ende des Buches ein Glossar.
Kapitel 1
Heimat Ost: Dessau, DDR
Familie Wegmann –
Kindheit –
Viererbande –
Übergänge –
Ferien in Syrien –
Der geplatzte Traum –
Freie Deutsche Jugend –
Ausflug nach Berlin –
Anna Katharina Schlünz –
Heimat –
Ein unglaubliches Jahr –
Ein unerhörter Vorschlag
Kapitel 2
Heimatwechsel
Von der Absicht zum Entschluss –
Der Reporter –
Auf Nimmerwiedersehen –
Der Michlwirt –
Von Budapest zum Eisernen Vorhang –
Die Qual der Wahl –
Der letzte Schritt –
Im Land des Lächelns –
Geschafft?
Kapitel 3
Heimat West: Holzminden, BRD
Viel Glück –
Neustart in Holzminden –
An die Arbeit –
Endlich frei –
1990 –
Ossis, Wessis und die zehn Gebote der Marktwirtschaft –
Alles wankt –
Der Weg zur Einheit –
Der Ball ist rund –
Reisen bildet –
Noch viel zu lernen –
Der sterbende Staat –
Ein Schnäppchen für noch mehr Freiheit –
Osten, Westen und irgendwas dazwischen –
Weihnachten 1990 –
Alltag –
Sich neu erfinden –
Der lange Arm der Stasi –
Leben und Kunst –
Urlaub statt Reisen –
Ein letzter Versuch –
Das Ende der Geschichte –
Pilar
Im Grunde war das Leben gut, nur die große Schwester nervte. Tanja Wegmann war kaum zwei Jahre älter als Walter, degradierte ihn aber gerne und ständig zum kleinen Bruder. Wie oft hatte er sich einen großen Bruder gewünscht, der ihn beschützen, zu dem er aufblicken konnte! Noch besser wäre natürlich ein kleiner Bruder, dann wäre Walter nach Vati der zweite Chef im Hause gewesen. Aber wenn schon kleiner, dann könnte es auch wieder eine Schwester sein, die wahrscheinlich noch leichter handzuhaben wäre als ein kleiner Bruder. Sinnlose Träumerei das Ganze, Tanja war da und nutzte ihren geringen Altersvorsprung gehörig aus. Aber ach, sie hatten doch auch ihre schönen Zeiten miteinander, er und „Tanne“, wie sie genannt hatte als er ihren Namen noch nicht aussprechen konnte. So nennt er sie heute noch. All dem geschwisterlichen Gezänk zum Trotz – sobald sie vor die Tür gingen, waren sie „die Wegmanns“, die sich halfen und stützten, wenn es nötig war. Die Ruppigkeiten in der Schule, die es auch im Musterland des Sozialismus gab, waren zu zweit leichter zu ertragen. Auf dem Schulhof hatten alle Respekt vor Tanja. Walter wusste lange nicht, woraus Tanne ihre Stärke schöpfte, ihre Sicherheit, ihr Selbstvertrauen. Alles in allem hatte die große Schwester also auch ihre guten Seiten.
Am schönsten war das Leben um Weihnachten herum. Zwar hielt die Obrigkeit der Deutschen Demokratischen Republik wenig von Religion und behielt die Kirchen stets eifersüchtig im Blick: Aufgeklärte Sozialisten sollten keinen Zimmermann aus Nazareth verehren, sondern einen Dachdecker aus Neunkirchen! Doch Weihnachten war mehr als Religion und Glaube, Weihnachten war das Fest der Familie, Weihnachten war eine kleine Verschnaufpause am Ende des Jahres. An Weihnachten trat der Staat für ein paar Tage hinter das Privatleben zurück. An Weihnachten gingen sogar Leute in die Kirche, die mit dem Christentum gar nichts am Hut hatten. Die Familie Wegmann beispielsweise maß dem Glauben ans Überirdische kaum noch Bedeutung zu, sie verschrieb sich ganz dem Aufbau einer gerechten und friedlichen Welt – und das im Hier und Jetzt und nicht erst im Jenseits. Viktor Wegmann behauptete gerne, die Hoffnung auf überirdische Hilfe verführe zur Untätigkeit. Seinen Kindern schilderte er das Gleichnis vom Esel, dem der Kutscher eine Möhre vor dem Maul baumeln lässt: mit jedem Schritt glaubt der Esel, er bekäme nun endlich die Möhre und mit jedem Schritt entferne sie sich gleichzeitig. „Glaubt nur an Versprechen, die auch erfüllbar sind“, schärfte er ihnen ein. An Weihnachten allerdings führten auch Viktor und Elisabeth Wegmann ihre Kinder die Johannisstraße entlang zur gleichnamigen Kirche, um den Kleinen ein wenig Glanz und Zauber zu bieten. Kinder brauchen ein bisschen Magie. An der Freude der Kleinen erwärmten sich die Eltern. Und wenn dann Pastor Alfred Radehoff und sein fantastischer Chor mit „Stille Nacht, heilige Nacht“ die Johanniskirche ausfüllten, gab sich Mutter Elisabeth mit glasigen Augen einer übersinnlichen Rührung hin, während Vater Viktor seine Ergriffenheit lieber dem Kunstgenuss zuschrieb. Zu Hause sangen sie dann „Leise rieselt der Schnee“ und „Es sind die Lichter angezündet“.
„Mutti, hat dieses Lied wirklich ein Engel geschrieben?“ Tanja antwortete für Mutti: „Die Dichterin Erika Engel hat das Gedicht geschrieben, Blödmann, richtige Engel gibt es nicht.“ Woher wusste Tanne immer alles? Ja nun, wenn Engel und Christkind Kinderkram waren, so wollte auch Walter nichts mehr damit zu tun haben, die Geschenke waren von Vati und Mutti genauso viel wert. Walter strahlte, als er seine ersehnte Eisenbahn auspackte, und zwar nicht die gewöhnliche, wie Kai eine hatte, sondern die tolle „Piko“. Tanja funktionierte ihre Geschenke kurzerhand um, sie nahm die Sonneberger Puppen mit chirurgischer Präzision auseinander um ihr Innenleben zu erforschen. Die sezierten Püppchen festigten schon früh ihren Entschluss, Ärztin zu werden. Im Jahr darauf gab es einen Arztkoffer. Tanja heilte auch die Puppen ihrer Freundinnen. Ja gut, einige überlebten die Behandlung nicht, und wurden stilecht beerdigt. Mehrere Freundschaften gingen an ihrem Ehrgeiz zugrunde. Walter bekam sein schönstes Weihnachtsgeschenk im Alter von zehn Jahren: einen Globus mit Drehgestell, der die Länder der Welt farbig voneinander trennte. So viele Länder! Manche wohlklingend, manche beinah unaussprechlich. Manche mit gutem, und manche mit schlechtem Ruf. Und der winzige Fleck mit Namen Deutschland war gerade mal groß genug für zwei Kürzeln: DDR und BRD. So richtig interessant wurde es, wenn er das Innenlicht anknipste; dann verschwanden sämtliche Grenzen und die Gebirgs- und Meeresreliefs wurden sichtbar. Die ganze Erde – alles eins! Vati sagte, die Wissenschaften, die sich mit der Erde befassten, nenne man Geografie und Geologie, und somit stand auch sein Berufswunsch fest: Er würde später als Geologe die Erde erforschen – die ganze, und nicht nur den sozialistischen Teil davon. Die Mutter strich ihm über die Haare und verschwieg ihm, wie schwierig so ein kühner Wunsch werden könne. Elisabeth und Viktor achteten stets darauf, dass die Geschenke den Kopf ertüchtigten, der Kopf war immer wichtig in der Familie Wegmann. Egal, wozu das Geld sonst noch reichte, Bücher gab es an Weihnachten immer. Hatte jedes die seinen durchgelesen, so tauschten die Kinder, auch wenn Walter für die Mädchenbücher oft nur Spott übrig hatte. Die Abenteuer von Alfons Zitterbacke allerdings mochten alle Kinder in der DDR. Alfons, der so arglos durchs Leben stolperte, berührte auch die Wegmann-Kinder. Zitterbackes Botschaft: „Und ist das Leben oft auch schwierig, es lohnt sich immer, durchzuhalten.“ Und schwierig war das Leben, das spürte man bis in die Geborgenheit der Familie hinein.
Neben den Büchern brachte das Christkind immer auch Spiele. Darüber konnten dann auch die so unterschiedlichen Geschwister Wegmann ganze graue Wintertage lang die Köppe zusammenstecken. Halma und Dame, Mühle und Schach. Brettspiele waren spannend und anstrengend, Kartenspiele waren spannend und lustig. Schwarzer Peter und Mau Mau. Später dann Doppelkopf und 66. Noch später brachte ihnen Vati das Skatdreschen bei. Das war einen ganzen Winter lang das Schönste überhaupt: Am Sonntagvormittag mit Vati Skat kloppen und Mutti machte den Braten zurecht. Nach dem Essen gingen sie in den Stadtpark oder durch den Georgengarten, während Mutti die Küche aufräumte. Vati war Ingenieur, Mutti war Lehrerin. Und Köchin. Und Putzfrau. Und Mutter. Das sozialistische Ideal. Leider wurden die Skat-Sonntage schon bald seltener, weil Vati immer öfter verreisen musste. Er arbeitete im SKET, im Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann, dort leitete er die Abteilung Zementanlagenbau in Dessau. Die sozialistischen Bruderländer arbeiteten damals so gut es ging Hand in Hand, jedes Land steuerte nach Talent und Geografie seinen Beitrag zur Vollendung des Sozialismus bei: Wein und Ikarus-Busse aus Ungarn, Weizen und Dacia-Autos aus Rumänien, Waffen, Moskwitsch und Wodka aus der Sowjetunion. Und die deutsche Ingenieurskunst fügte sich prächtig in den Aufbau der Zukunft. Deshalb wurden die von Viktor Wegmann und seinen Leuten immer weiter entwickelten Zementfabriken in viele befreundete Staaten exportiert. Als Chef musste er oft die Montage an den Zielorten begleiten. Das SKET war eines der industriellen Aushängeschilder der DDR, und einer der vielen Beweise für die Überlegenheit des Sozialismus. Viktor Wegmann war also ein wichtiger und einflussreicher Mann. Walter ahnte von der Bedeutung des Vaters lange nichts. Im Sozialismus gab es kein Oben und kein Unten, im Sozialismus waren alle oben, jeder war wichtig. Vati musste also in die Tschechoslowakei oder nach Rumänien, nach Leningrad oder nach Kiew, nach Baku oder nach Taschkent. Die Vatilosen Wochen fand Walter in früher Kindheit sehr bedrückend, ohne Vati fürchtete er sich. Denn er spürte früh: Die Welt draußen vor der Tür unterschied erheblich von der gemütlichen Wohnung. Diese Außenwelt war genau betrachtet eine Überwelt, die für ein Kind nicht zu fassen war und verschiedene Namen trug: Vati nannte sie manchmal Staat, andermal Regierung, Tante Vera sprach von der Partei, und wenn Onkel Hilmar feierlich die Deutsche Demokratische Republik erwähnte, schwebten diese Begriffe so „ungeheuer oben“ wie die Wolken in Brechts Gedicht. Noch weiter oben waren nur noch die Sterne und das Christkind, falls es vielleicht doch eines gab. Diese Überwelt verlangte ein bestimmtes Verhalten, das merkten die Kinder schon früh an der Sprache der Eltern, die in der Außenwelt einen merkwürdig zurückhaltenden Ton anschlugen. Mit den Leuten draußen wurde über das Wetter geredet, über den Sport oder was für den nächsten Subbotnik geplant war. Manchmal sprachen sie auch über Politik. Politik schien etwas Ähnliches zu sein wie das Wetter: sie wirkte von oben auf die Menschen ein und man konnte nichts dagegen machen. Und wie das Wetter, war die Politik freundlich und klar, wenn sie aus dem Osten kam, aus dem Westen aber kamen Regen, Sturm und Gewitter. Doch selbst über die sonnige Politik des Ostens sprach man sehr vorsichtig, draußen vor der Tür. Und wenn die Außenwelt zu ihnen in die Wohnung kam, sprachen die Eltern auch in diesem Ton. Vati brachte häufig Leute mit zum Essen. Leute vom Kombinat, Kunden aus dem In-und Ausland. Sprachen sie über die Arbeit, klang das einigermaßen normal. Doch saßen immer auch andere dazwischen, die noch wichtiger schienen, sie sprachen vom Sozialismus, vom Fortschritt und anderen Dingen aus der Überwelt. Die Gespräche mit diesen Leuten waren kalt und vorsichtig. Nach solchen Arbeitsessen schienen die Eltern auf unerklärliche Weise erleichtert. Tanja und Walter lernten diese Vorsicht gegenüber der Außenwelt so nebenher, wie sie das Laufen und das Sprechen gelernt haben. Nur mit Oma Anneliese und mit Tante Vera sprach Vati normal, aber auch nur, wenn Onkel Hilmar nicht dabei war. Muttis Eltern dagegen waren schon lange tot. Autounfall mit Fahrerflucht, so hieß es. Glücklicherweise schaffte es Oma Anneliese locker, die drei fehlenden Großelternteile wettzumachen. Besonders gut ersetzte sie ihren Mann durch dessen eigenen Mythos. Opa Karl war der Held, der Familienheilige. Opa Karl war Kommunist gewesen, er konnte gar nicht anders. Karl Wegmann war sieben Jahre alt gewesen, als er den Vater im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Er war acht, als der Krieg zu Ende war. Das alte Deutschland war zusammengebrochen, der Kaiser ausgebüchst. Und das neue Deutschland stritt um den besten Weg in die Zukunft, anstatt Hunger und Elend zu bekämpfen. Dabei machten die Russen gerade vor, wie es besser ginge: Lenin installierte das neue System der Gerechtigkeit. Das wollte Karl Wegmann auch für das am Boden liegende Deutschland haben. Dafür kämpfte er. Dafür steckte er Prügel von allen Seiten ein. Dafür ging er ins Gefängnis. Dafür haben die Nazis ihn schließlich ins KZ geschafft und umgebracht. Der aufrechte Karl Wegmann wurde in einem Atemzug mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Ernst Thälmann genannt. Opa Karl war in Moskau gewesen, er hatte also die neue, gerechte Welt gesehen! Aus Stolz und Dankbarkeit verpasste er seinen Zwillingen Namen, die sowohl im Deutschen, wie auch im Russischen gebräuchlich waren: Vera und Viktor! Oma Anneliese verstand wenig vom Sozialismus und noch weniger vom Kommunismus, aber viel vom Leben und noch mehr von der Gerechtigkeit. Sie trug den Glauben ihres ermordeten Mannes ungeprüft weiter und vermittelte den Kindern das Bild des Säulenheiligen. Wie vor ihnen Karl, wuchsen auch Viktor und Vera ohne Vater auf. Aber während der eine im Ersten Weltkrieg einen sinnlosen Tod gestorben war, wirkte Karl als Märtyrer weiter. Deshalb fehlte Viktor und Vera nur dessen physische Präsenz, geistig strahlte Vater Karl weit ins Leben seiner Nachkommen hinein. Die junge Witwe und ihre Zwillinge machten sich nach dem Krieg begeistert daran, den sozialistischen deutschen Staat mit aufzubauen. Oma Anneliese vertraute der neuen Führung blind. Die Roten haben die Mörder ihres Mannes besiegt, die Roten waren die Guten. Unter der roten Führung konnten die bettelarmen Halbwaisen Vera eine Verwaltungslaufbahn einschlagen und Viktor Maschinenbau studieren. Das war Gerechtigkeit! Viktor studierte in Wismar und in Leningrad. Das Proletarierkind arbeitete sich hoch und sah was von der Welt, das war Gerechtigkeit! Und wie viele andere Akademiker entwickelte auch Viktor einen kritischen Blick. Mit zunehmendem Alter sah er, dass die Weisheit der Führung sehr allgemein gehalten war und in der Praxis nicht immer voll durchschlug. Und wenn seine Kinder als Thälmannpioniere mit rotem Halstuch und später in ihren blauen FDJ-Hemden am Ersten Mai und zu den Jahrestagen der Staatsgründung aus vollem Halse sangen: „Die Partei hat immer Recht…“, so ertappte sich Viktor manchmal bei dem ketzerischen Gedanken: Ja, leider! In seine Arbeit ließ er sich ungern reinreden, die beleidigten Funktionäre nannten das Renitenz und stellten ihn unter besondere Beobachtung. Neben seiner fachliche Kompetenz schützte ihn auch die geistige Aura des Karl Wegmann: gegen den Sohn des großen Kommunisten gab es eine gewisse Beißhemmung. Doch verfuhr man auch in seinem Fall nach Lenins Wort: „Vertrauen ist schlecht, Kontrolle ist besser“. Deshalb kamen zu den Abendessen nicht nur Herren vom SKET oder Kunden, es saßen immer auch Gäste mit am Tisch, die Vati nicht eingeladen hatte, die er aber auch nicht ausladen konnte. „Staat und Partei wollen schließlich auch im Bilde sein, wenn es um unseren Fortschritt geht.“ Das war aber nur die halbe Unwahrheit. Denn auch Elisabeth Wegmann stand im Fokus der Obrigkeit. Ihre Eltern waren zwar im Jenseits, aber nicht so tot, wie die Enkelkinder glaubten, sie waren nur jenseits des Eisernen Vorhangs. Sie waren kurz vor dem Mauerbau in den Westen geflohen. Die junge Elisabeth war ihres geliebten Viktors wegen freiwillig in der DDR geblieben. Das dämpfte das professionelle Misstrauen der Staatssicherheit leider kaum. Längst hatten sie herausgefunden, dass die Eltern der Tochter unter falschen Namen und Adressen schrieben und Weihnachtspäckchen schickten. Das Ministerium für Staatssicherheit dachte in solchen Fällen wie Mediziner: bei Kontakt besteht immer Infektionsgefahr! Und so achteten die uneingeladenen Gäste immer auch darauf, ob die Mutti, oder gar die ganze Familie sich Westbazillen eingefangen hätten. Viktor Wegmann litt unter dem Misstrauen des Staates. Er war doch ein überzeugter Sozialist, verdammt noch mal! Merkte die argwöhnische Staatssicherheit nicht, wie sie ihn und andere zur Verstellung zwangen, wo es eigentlich nichts zu verstellen gab? Vertrauen ist schlecht, Kontrolle ist besser? Auch große Männer können sich irren, aber wenn der große Mann Wladimir Iljitsch Lenin heißt, darf man das nicht mehr aussprechen. Tanja und Walter spürten immer, wenn die Stasi mit am Tisch saß. Dann waren sie ganz die Wegmanns: eine Wagenburg, in die keiner eindringen konnte. Tanja lernte früh, was die neugierigen Gäste hören wollten und was sie keineswegs hören durften. Sie knuffte Walter, wenn nötig, ehe der wieder arglos was von sich gab, das nicht für fremde Ohren bestimmt war.
In der Schule knufften sie ihn auch und narrten ihn und er wusste nicht, warum? Er war ein Wegmann, darum. Vaters Fußstapfen waren schon sehr groß, aber Opa Karls waren gigantisch. Man erwartete nichts weniger von ihm, als da hineinzuwachsen, die Lehrerschaft war stolz, einen Vogel aus diesem Nest unterrichten zu dürfen. Ständig wiesen sie auf das leuchtende Vorbild Karl Wegmann hin. Für die Mitschüler war das Beifall von der falschen Seite: Der sollte sich bloß nicht einbilden, was Besseres zu sein, so wie seine hochnäsige Schwester, das musste man ihm frühzeitig klarmachen. Bei jeder Gelegenheit verspotteten sie ihn. „Alter Walter“, Spitzbart“, oder „Walter schützt vor Torheit nicht!“ Diesen Spruch hatten die Kinder irgendwo aufgeschnappt. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende verlor – altersschwach und machtbesoffen – langsam den Blick für die Realität. Man musste dem bekannten Sprichwort nur ein „W“ voranstellen und traf damit Ulbrichts wachsende Weltfremdheit auf den Punkt. Die Grundschüler verstanden natürlich nicht, was sie da sagten, sie wollten damit bloß den Eliteschnösel ärgern. Walter hätte nur zu gerne die Vorschusslorbeeren der Lehrer gegen die Anerkennung seiner Mitschüler eingetauscht. Also versuchte er, dem Lob der Lehrer durch Zurückhaltung und Verweigerung zu entgehen. Das verärgerte zwar zunehmend die Lehrer, versöhnte die Mitschüler aber kaum, so nahm er schon früh zwischen allen Stühlen Platz. Bald steigerten sie den Spitzbart zum Ziegenbart: Dass die Zeit eines Politikers abgelaufen ist, erkennt man zuweilen schon auf den Schulhöfen. Als Walter Ulbricht von Erich Honecker entmachtet wurde, verballhornten sie auf dem Schulhof abermals seinen Namen: „Jetzt ist der Walter weg, Mann!“ Walter Wegmann verstand wieder nicht, was ihm da um die Ohren gehauen wurde. Immerhin verriet ihm sein Vater nun, dass er tatsächlich nach Walter Ulbricht benannt worden war. Dann musste Ulbricht doch ein großer Mann gewesen sein, oder nicht? Ja, sicher doch. Und warum musste der dann gehen? „Weil alles seine Zeit hat, mein Sohn. Und jetzt ist eben Honecker der Beste.“
Dieser Gedanke behagte Walter gar nicht. Im SKET war sein Vater der Beste. Konnte der nun auch einfach so ausgetauscht werden? Und was dann? Zerbrach dann seine heile Welt? Warum musste das alles so schwierig sein?
„Vati, heiße ich jetzt Erich?“ Der Vater lächelte milde, „Nein, nein, du bist und bleibst unser Walter!“ Nun, wenn Vati lächelte und er Walter bleiben durfte, war alles vielleicht gar nicht so schlimm.
Gleich und gleich gesellt sich gern – das gilt auch für Außenseiter und Pechvögel. Und besonders für Pechvögel, die zu Außenseitern werden. Kai Pollrich, der Sohn vom Bäcker gegenüber schien ein ähnliches Talent wie Walter zu haben, die Blicke des misstrauischen Staates schon in früher Kindheit auf sich zu lenken. Bäcker Pollrich in der Johannisstraße war als einer der wenigen Selbstständigen in Dessau der Partei ein Dorn im Auge, aber als lokaler Versorger unverzichtbar. Man gab den wenigen privaten Kleinunternehmern durch Auflagen immer wieder zu verstehen, wer im Lande das Sagen hatte und behielt sie stets im Blick. Klar, dass auch die Kinder der Kapitalisten nicht sonderlich angesehen waren und der kleine Kai litt darunter. Kai versuchte, sich beliebt zu machen. Die Lehrer nutzten das, um tiefer in die Familie Pollrich hineinzuhorchen. Kai erzählte brühwarm, wenn der Vater geflucht hatte, welche Steine ihm „die da oben“ schon wieder in den Weg gelegt hätten. Zu Hause bekam er für seine Unvorsichtigkeit noch eine Ohrfeige obendrauf. So verkrampfte und verstockte der Junge, was ihn wiederum verdächtig machte. Zusammen flohen Walter und Kai vor den strengen Augen des Staates in ihre eigene Kinderwelt. Wenn Walter vom Balkon aus pfiff, flog kurze Zeit später auf der anderen Seite der Johannisstraße über der Backstube das Dachgaubenfenster auf und Kai winkte rüber. Dann stürmten beide die Treppen runter und stromerten durch die Straßen. Die 60er und 70er Jahre waren die Baujahre, auch in der DDR. Auferstanden aus Ruinen … man nahm die erste Zeile der Hymne wörtlich. Eine Kriegsruine nach der anderen verschwand. In Dessau waren 80 Prozent der Gebäude im 2. Weltkrieg zerstört worden. Aus Kriegsschutt und Baugruben wuchsen nun glatte, moderne Plattenbauten, „Wohnscheiben“ genannt. Die Baugruben und Baustellen waren wie Abenteuerspielplätze, auch Walter und Kai patschten in den Pfützen herum, gruben sich durch den Abraum und bauten kleine Burgen aus Schutt und Erde. An den Wochenenden waren selbst die Baumaschinen nicht vor Kindern sicher. Eine riesige, umgekippte und halb kaputte Kabelrolle aus Holz wurde zum Unterschlupf, Sandhaufen lockten und die Förderbänder der Dachdecker dienten als Klettergerüste. Eines Tages hatten übermütige Jungs eines dieser Förderbänder beschädigt, da gab es schwer Ärger. Die Polizei machte sich nicht die Mühe, genauer nach den Übeltätern zu forschen, sie fing bei den üblichen Verdächtigen an. Walter und Kai war nichts nachzuweisen, aber verdächtig blieben sie als Außenseiter immer. Ab nun war es allen Kindern strikt verboten, sich auf den Baustellen aufzuhalten. Nun trieben sie sich im Stadtpark rum, planschten im Springbrunnen, den man „Zuckerhut“ nannte, weil seine Fontänen einen weißen Kegel bildeten. Bäume und Büsche im Park boten kleine Verstecke, in die man sich zurückziehen konnte. Sie bestiegen den „Zentauren“ eine überlebensgroße Skulptur des Pferdemenschen, der eine nackte Frau auf dem Rücken trug. Sie setzten sich auf die Schultern des Dichters Wilhelm Müller, einer der vielen großen Söhne Dessaus. Dann zogen sie zur Mulde runter, wo es aber kaum auszuhalten war. Der Fluss trug geduldig die Abwässer der Bitterfelder Chemiebuden an Dessau vorbei in die Elbe. Braune Schaumkronen und bestialischer Gestank trieben die Jungs weiter, durch die sogenannte Wasserstadt zum Diepold, einem Teich, dessen Buschwerk am Südufer Schutz versprach und auch vereinzelt Fische beherbergte. Sie bauten aus morschen Brettern ein Floß, ließen das Ding zu Wasser und soffen damit ab. Als sie tropfnass nach Hause kamen, schimpften Anna Pollrich und Elisabeth Wegmann ihre Söhne aus, verschwiegen aber den Vätern das missglückte Abenteuer. Ein andermal fingen Walter und Kai am Rehsumpf in der Nähe der maroden Badeanstalt eine Rotfeder, machten ein Feuer und brieten den Fisch. Die aufmerksame Volkspolizei erwischte sie dabei, diesen Fehltritt konnten die Mütter nicht mehr verheimlichen. Der Polizist wies darauf hin, dass offenes Feuer verboten sei, und Wilderei ein Verbrechen. Mit Blick auf den großen Namen beließ man es bei einer Verwarnung. Der Vater verhängte zwei Wochen Hausarrest, Kai bekam vom strengen Bäckermeister ordentlich Dresche und vier Wochen Stubenarrest aufgebrummt, „Wie blöd kann man sein, du solltest doch wissen, dass die uns auf‘m Kieker haben …“ Zeit zum Lesen, Zeit zum Träumen. Walter durchforstete Vaters Bücherschrank, der hinter der sozialistischen Pflichtlektüre so manche Schätze barg, die teilweise noch von Opa Karl stammten und alle Wirren der Zeit überstanden hatten: zehn Bände Karl May; Die Schatzinsel, Robinson Crusoe, Tom Sawyer, Lederstrumpf und andere ewige Klassiker. Einige dieser Werke galten mittlerweile als bedenklich, sie waren in Weltgegenden angesiedelt, die als imperialistisch galten, faschistisch oder dekadent. Was auch immer das bedeutete, es hörte sich sehr schlimm an. Komisch, dass in den Büchern nichts davon zu spüren war! Ach, wie gerne hätte Walter all diese gefährlichen Gegenden bereist.
Nachdem sie ihre Strafe abgesessen hatten, erweiterten sie ihren Radius. Den Rest dieses Jahres und den ganzen nächsten Sommer lang war der Georgengarten ihr bevorzugtes Revier. In dieser Zeit stieß Walters Cousin Richard Hanschitz dazu. Tante Vera und Onkel Hilmar zogen von „der Bruchbude“, wie Hilmar das Haus in der Amalienstraße nannte, in die schicke neue „Scheibe Nord“, ein Laubengang-Haus zwischen Rathaus und Wilhelm-Pieck-Straße. Hilmar Hanschitz hatte einst Maurer gelernt. Der Sozialismus ermöglichte ihm einen raschen Aufstieg: Fachabitur und Studium. Danach war er gleich im Stadtbauamt untergekommen und saß und damit an der Quelle. Er riet auch seinem Schwager, endlich aus dem „Protzbau“ in der Johannisstraße auszuziehen, „Ich kann dir eine schicke Neubauwohnung zuweisen lassen…“, aber Wegmanns blieben in dem Haus aus der Gründerzeit mit seinen klotzigen Schmiedeeisen an den Balkonen. Viktor fasste den Gleichheitsgedanken nicht so eng wie sein Schwager, ihm schien es nichts auszumachen, dass solche Häuser Ausdruck von Ungleichheit waren. Schwager Hilmar speiste er mit Bescheidenheit ab, „Wir kommen zurecht hier drin, vergib die schönen neuen Wohnungen lieber an junge Leute, die sie dringender brauchen.“ Hanschitz‘ wohnten nun in Wegmanns Nähe. Wollte Walter früher seinen Cousin Richard besuchen, musste er meilenweit laufen, in die Ecke Dessaus, wo nix los war. Zumindest nichts für Kinder. Dort hatten sie oft stundenlang nur auf der Brücke gestanden und den Zügen nachgesehen. Oder sie ließen die Beine zwischen dem Geländer durchbaumeln und wetteiferten, wer am weitesten Richtung Gärungsscheune, spucken konnte, dem heruntergekommenen Gebäude des VEB Gärungschemie, das vor dem Krieg als Zuckerfabrik gedient hatte. Die Nazis hatten darin das KZ-Gas Zyklon-B hergestellt, nun produzierte man dort Prima Sprit, reinen Alkohol, der auch zur privaten Herstellung von Likören und anderen Genüssen erhältlich war. Wenn sie sich umdrehten, sahen sie auf die Schultheiß-Brauerei. Wenn es an allem mangelte in der DDR – Alkohol war immer da. Richard und Walter ahnten in diesem Alter wenig von all diesen Merkwürdigkeiten. Sie verstanden sich seit dem Babyalter blind. Hilmar Hanschitz allerdings hielt den Kontakt zur Familie Wegmann so knapp wie möglich. Er machte zwar auch Karriere, blieb aber tief im Inneren eifersüchtig auf die Intelligenz seines Schwagers und dessen Stellung; Hilmar fühlte sich auch im Schatten seines übermächtigen Schwiegervaters ein wenig zu klein geraten. Er hätte seine Stellung auch lieber seinen Fähigkeiten verdankt, als seiner Parteitreue. Hilmars Minderwertigkeitsgefühl lechzte nach Fehlern bei den Wegmanns. Walters „Eskapaden“ und „Sperenzchen“ waren ihm stets ein willkommener Anlass, Schwager und Schwägerin auf bessere Erziehung zu drängen und gleichzeitig Richard von Walter fern zu halten. Nun wohnten sie zwar endlich in einem der sozialistischen Vorzeigeprojekte, aber auch zu nah an Wegmanns, um die Freundschaft der Cousins zu unterbinden. Von nun an schob Hilmar alle Vergehen Richards auf den Einfluss des „kleinen Anarchisten“, wie er Walter oft nannte. Auch Richard war nämlich ein Sonderling. Hochbegabt wie Tanja und renitent wie Walter. Er lernte schnell und mühelos, zeigte aber nicht den geringsten Ehrgeiz, seine Talente zu nutzen. Hilmar Hanschitz grübelte lange, woher der Junge seine Faulheit hatte. Von den Eltern nicht, denn beide taten alles, um möglichst weit voran zu kommen. Vermutlich war der Staat zu lasch. Die soziale Rundumversorgung machte das Volk offensichtlich bequem. Hilmar versuchte, dem Jungen klarzumachen, dass alle ihren Beitrag leisten mussten. Und wenn nicht freiwillig, dann eben durch Zwang. Bei seinem Söhnchen Richard allerdings half auch der Zwang nicht. Trotz des Verbotes rannte er mit Walter und dem Bäckerjungen zum Georgengarten, der in seiner fürstlichen Ordnung doch etwas langweilig war, und darum weiter in den Beckerbruch, wo einst Johann Georg von Anhalt-Dessau die Architekten und Gestalter zu mehr Naturnähe angehalten hatte. Die sozialistische Führung, die ohnehin nicht viel vom ganzen Fürstenzeugs hielt, überließ die Natur dann weitgehend sich selbst. Der Park verbuschte allmählich, der Viereckteich wuchs zu und drohte zu verlanden. Hier, in ihrem „Urwald“ spürten die spielenden Jungs keinen Zwang mehr – weder den elterlichen, noch den sozialistischen. Hier waren sie die drei Musketiere. Hier wurde Richard zu Löwenherz, Kai zu Schrippe und Walter zu Ziege. Löwenherz, Schrippe und Ziege dehnten ihr Revier nun sukzessive aus. Von der Ruinenbrücke, den Wallwitzsee entlang bis zur Burg, vom Vasenhaus bis zum Leopoldshafen. Vom einstigen Kornhaus, wo seit 1930 ein Restaurant im Bauhaus-Stil stand, blickten sie vom Deich runter auf die Elbe, die um das Unterluch einen großen Bogen macht, um bei Ziebigk der Stadt Dessau noch kurz guten Tag zu sagen. Träge aber stetig trug der Fluss ihre Kinderträume mit sich fort an die Mündung und weit darüber hinaus in die Nordsee.
Am heißesten Tag des Sommers, als selbst dem vor Übermut sprühenden Löwenherz vor Hitze nichts Besseres einfiel, als zur Elbe zu gehen und die Füße reinzuhalten, da sahen sie auf dem Elbdamm einen etwa gleichaltrigen Jungen sitzen, der versonnen auf das Wasser starrte, als erwarte er eine Antwort vom Fluss. Sie erkannten sofort den Außenseiter in ihm. Löwenherz sprach ihn an: „Sei gegrüßt! Was machst du hier?“ Der Junge reagierte schroff und abweisend. „Hä? Was wollt ihr denn von mir?“
„Nüscht, wieso.“
„Na wenn ihr nüscht von mir wollt, warum quatscht ihr mich dann an?“
„Wir haben nur gedacht, du sitzt hier so alleine rum, vielleicht willst du ja mit uns spielen.“
„Spielen? Was denn spielen?“ Er sagte das, als wäre Spielen das Ungewöhnlichste für einen Jungen von neun Jahren. Die drei Musketiere sahen sich verwundert an. Ziege schlug vor, „Na, ja, irgendwas unternehmen eben, die Entepolente ärgern, zum Beispiel.“
„Entepolente? Was soll das denn sein?“
„Na die Wasserpolizei, Mann. Die Polente für die Ente, Wortspiel, Mann.“ „Ach so. Und die wollt ihr ärgern? Dann kommt ihr in den Knast.“
„Nur wenn man sich erwischen lässt“, sagte Löwenherz keck. Der Junge senkte den Kopf, „Ich geh nicht in den Knast, da ist mein Vater schon.“
„Was hat er denn ausgefressen?“, fragte Schrippe erschrocken, „Hat er einen umgebracht?“
„Quatsch, er konnte die Klappe nicht halten. Er hat gesagt, die ganze DDR sei ein Scheißladen. Jetzt sitzt er in Bautzen und meiner Mama machen sie das Leben schwer. Und mir auch. Dauernd hacken sie auf mir rum, in der Schule, beim Sport. Ich hab jetzt aufgehört mit Fußball, die können mich mal. Und ihr könnt mich auch mal. Veräppelt eure Wasserpolizei alleine.“ Die drei setzten sich zu dem Jungen.
„Wie heißt du denn?“ fragte Walter.
„Christoph.“
„Und weiter?“
„Wieso willst’n das wissen?“
„Na, du könntest ja bei uns mitmachen.“
„Polente ärgern? Nee danke.“
„Ach, das machen wir nur ab und zu. Meistens rennen wir nur im Beckerbruch rum. Da ist keiner, da können wir in Ruhe Indianer spielen.“
„Da hinten bin ich auch manchmal.“
„Und wie heißt du weiter?“
„Kolberg.“
„Christoph Kolberg. Das klingt schon fast wie Christoph Kolumbus. Willst du unser Kolumbus sein. Der da ist Löwenherz, weil er Richard heißt, verstehste? Der hier ist Schrippe, weil sein Vater Bäcker ist, und ich bin Ziege. Wegen dem Ziegenbart.“
„Hä? Du hast ja noch gar keen Bart“.
„Ich heiße Walter, wie der Ziegenbart Ulbricht, hast du‘s jetzt?“
„Ach so, ihr seid so ganz Witzige.“ Richard sah ihm lange in die Augen. „Überleg’s dir, ob du bei uns mitmachen willst, dann kommste einfach. Wir sind fast jeden Tag im Beckerbruch.“
Die drei standen auf und rannten zur Elbe runter. „Arme Sau“, meinte Löwenherz, als sie außer Hörweite waren. Walter zeigte Verständnis, „Kein Wunder, dass er sich nix traut, wenn der Alte sitzt“.
Kai darauf, „Das kenn‘ ich, meinen Alten lassen sie auch nicht in Ruhe. Wenn der wüsste, was wir oft so treiben, würde der mich einsperren.“
„Tut er ja oft genug“, lachte Walter, „dein Bautzen heißt Hausarrest.“
Unten am Flussufer zogen sich Schuhe und Strümpfe von den Füßen und patschten in der Elbe rum. Immer wieder schielten sie zu dem stillen Jungen hoch, der ihr Treiben ausdruckslos verfolgte. Vielleicht aus Übermut, vielleicht, um den Träumer doch noch zum Mitmachen zu begeistern, zogen sie sich aus und tobten nackig im Flachen des Elbogens, planschten, spritzten sich gegenseitig nass und kreischten, wie sonst nur in der Badeanstalt im Rehsumpf. Als sie wieder auf die Deichkrone sahen, war Christoph Kolberg verschwunden. Sie ließen sich von der Sonne trocknen, streiften sie sich ihre Klamotten über und stromerten wortkarg die Kornhausstraße lang zur Puschkinallee Richtung Zentrum. Der Weg erschien ihnen viel weiter als durch den Park. Zwischen den Häusern war rein gar nichts los. Nur Autos, Mopeds, Fahrräder und Fußgänger, alle irgendein Ziel im Blick. Die Zweitaktmotoren knatterten hysterisch und stanken gewaltig. Die Straßen atmeten die Langeweile des Alltags. Walter versuchte, ihr Schweigen zu durchbrechen, „He, wir kennen jetzt einen, dessen Vater im Knast sitzt!“ Richard zügelte ihn sogleich, „Behalt das bloß für dich. Wenn das unsere Alten spitzkriegen … du kennst sie ja.“
„Ja klar. Ich mein‘ ja nur. Is schon krass, der Vater im Knast.“ Richard zog die Augenbrauen zusammen, in seinem Kopf ratterte es: „Vielleicht wollen sie genau das?“, überlegte er und folgerte weiter, „wir sollen immer Angst haben. Die Angst soll uns brav machen. Ich hab keine Angst!“
„Aber in den Knast willst du auch nicht“, meinte Schrippe.
„Bin doch nicht doof! Aber vor lauter Angst brav werden möchte ich schon gar nicht.“
„Ich hab schon Angst“, meinte Schrippe.
„Ich auch“, sagte Walter, „aber nur in der Schule oder hier auf der Straße – oder wenn wieder so komische Leute bei uns zu Hause sitzen.“
Drei Tage später saß Christoph am halb verlandeten Viereckteich. Walter entdeckte ihn zuerst. „Kolumbus, da bist du ja!“
„Ja, soll ich wieder gehen?“ ‚Was für ‘ne Mimose‘, dachte Richard und besänftigte ihn. „Quatsch, komm mit uns. Was machst du denn immer so, hier im Park?“
„Nichts. Muss man immer was machen?“
„Muss man nicht, wir können einfach nur rumlaufen und gucken, komm, wir zeigen dir was.“
Sie rannten zur Ruinenbrücke. „Kennst du die schon?“ Natürlich kannte der sie. Richard glaubte, irgendwas sagen zu müssen, „Das Ding wurde schon als Ruine gebaut, das musst du dir mal vorstellen. Da ist nie einer drüber gegangen.“ Stimmt, die Ruinenbrücke war nur ein Symbol der Vergänglichkeit. Solch fürstliche Dekadenz war der DDR suspekt, ihr Ziel war der Aufbau des Dauerhaften, nicht die Huldigung des Vergänglichen. Das alles kümmerte die Jungs wenig, sie kletterten auf der Brückenruine herum, bis jeder einen angenehmen Platz hatte und schauten den Libellen zu, die kreuz und quer übers Wasser schwirrten. Diesen schillernden Minihubschraubern schien die Hitze nichts auszumachen. Die drei Musketiere fragten ihren neuen Freund aus und zwischendurch klatschte der eine oder andere nach einer Mücke. „Wofür genau sitzt dein Alter?“ „Na, Republikflucht, oder wie das heißt. Vadder wollte raus!“ Christophs Vater war Busfahrer gewesen. Wie viele andere hatte er im Jahre 68 den Prager Frühling im Westfernsehen gesehen. Und wie viele andere hatte er auf Dubčeks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gehofft. Als dann russische Panzer diese letzten Hoffnungen kaputtwalzten, verlor Rolf Kolberg jeden Glauben an ein besseres, freieres Leben. Ein, zwei Jahre noch überwog die Angst vor der Staatsmacht, aber irgendwann konnte er seinen Unmut nicht länger verbergen. Immer öfter eckte er an, immer größer wurde der Druck auf ihn. Bis er keine andere Lösung mehr sah, als einen Ausreiseantrag zu stellen. Abgelehnt, natürlich, also bereitete Rolf Kolberg die Flucht für seine Familie vor. Frau und Kind wussten nichts davon. „Wir fahren in Urlaub nach Boltenhagen“, hatte der Vater gesagt. Sie fuhren aber weiter. An einer Bucht namens Dassower See machte Rolf sein Faltboot klar und wollte die Familie nach Travemünde rudern. Sie waren gerade ins Boot gestiegen, als die Grenzsoldaten aus dem Gebüsch sprangen und sie festsetzten. Mutter und Kind wurden ausgequetscht und nach Hause gefahren, den Vater sah Christoph nicht mehr. Die Mutter arbeitete in der Gärungsscheune. Weil ihr bisschen Lohn immer zu knapp war, machte sie zusätzlich noch Reinigungsarbeiten. Alkohol war ein begehrtes Tauschobjekt. Die Reinigungsfrauen saugten die letzten Pfützen aus den Destillationskesseln mit Schwämmen auf und pressten den Inhalt aus. Dabei kam noch genug zusammen, um manchen Sonntagsbraten dafür einzutauschen. Das war riskant, denn Kolbergs standen unter besonderer Beobachtung. Kolumbus‘ Leben war kein einfaches und man sah ihm das deutlich an.
„Aber jetzt hast du ja uns“, versuchte Walter ihn zu trösten und Schrippe stellte fest: „Wir sind jetzt keine drei Musketiere mehr, was sind wir denn jetzt?“ „Jetzt sind wir die Viererbande“, beschloss Löwenherz. Kolumbus wunderte sich: „Viererbande, wie kommst‘n auf so was?“ „Die gibt’s in China. Hab ich im Westfernsehen gesehen. Schau ich immer, wenn meine Alten nicht da sind. Die Viererbande will die Regierung absägen, glaub ich.“ „Sind das nicht auch Kommunisten, die Chinesen?“ fragte Kai. „Ja sicher“, sagte Ziege und Richard rollte die Augen über Kais Unwissen. Kai darauf: „Aber wenn die eine kommunistische Regierung absägen wollen, dann … und wenn wir uns jetzt Viererbande nennen, dann … dann haben die uns bald am Arsch.“
„Nur wenn du so dumm bist und das weitererzählst. Was keiner weiß, macht keinen heiß, klar?“ „Klar, Viererbande!“ Sie klatschten sich gegenseitig ab, jeder mit jedem und mit jedem Klatsch hieß es: „Viererbande!“ Als das beschlossen war, dösten sie eine Weile in der Sonne wie Eidechsen, regungslos, bis wieder eine Mücke zu erledigen war. Dann platze Kolumbus heraus: „Ich weiß jetzt, wie wir die Wasserpolente, äh, die Entenpolizei ärgern können.“ „Na, wie denn?“ „Kommt mit, ich zeig’s euch.“
Den Leopoldshafen hatte einst Fürst Leopold von Anhalt Dessau am Unterluch-Bogen der Elbe graben lassen, um dort eine Werft zu errichten. Als man später am unteren Ende des Bogens den Industriehafen Roßlau baute, verlor die kleine Werft ihre Bedeutung, in der DDR diente der Leopoldshafen der Wasserpolizei als Standort. Dort waren auch Start- und Zielpunkt des internationalen Motorbootrennens, das jeden Sommer im Elbbogen stattfand. Kolumbus hatte gesehen, dass die Vorbereitungen liefen, er führte seine neuen Freunde zum Damm, der den kleinen Hafen von der Elbe trennte. Dort stand eine Baracke, unter deren Vordach jede Menge Fässer gelagert waren: „Das ist der Sprit für die Rennboote“ wusste Kolumbus, „die Fässchen rollen wir jetzt schön in den Hafen runter, dann haben die faulen Säcke von der Ente-Polente endlich was zu tun.“ Ziege meinte: „Los, worauf warten wir?“ Schrippe schwankte zwischen Lust und Angst und ehe Löwenherz seinen Senf dazugeben konnte, gellte ein schriller Pfiff vom Ausguck der „Ente-Polente“. Ein Polizist, hatte die Viererbande erspäht und schlug Alarm. Sie stoben davon, purzelten zum Elbufer runter und rannten im Schutz des Dammes auf die Büsche zu, die den sogenannten Streitheger bedeckten, rannten, so schnell sie konnten zum Wallwitzsee und versteckten sich im halb verfallenen Turm der Wallwitzburg. Wo einst die Fürsten den Ausblick auf Elbe und Roßlau genossen hatten, stank es nun nach Urin und Scheiße. Sie hielten es nicht lange aus, zogen weiter bis zum Fasanenteich, kletterten auf einen Baum und harrten dort zwei Stunden aus. Dann erst waren sie sicher, dass die Ente-Polente die Verfolgung aufgegeben hatte. Löwenherz dachte voraus. Sie hatten schon zu viel Dreck am Stecken, als das man sie nicht verdächtigen würde. „Hört zu: Wenn sie uns fragen, dann waren wir heute an der Mulde, klar?“ Die anderen nickten, nur Schrippe meinte, „Wir haben ja gar nichts gemacht, oder? Wir wollten uns nur umgucken, ob schon Motorboote da sind. Sie wissen ja nicht, was wir vorhatten.“ „Gute Idee, Kleiner“, meinte Löwenherz. Mit zitternden Knien kletterten sie vom Baum. Kolumbus begleitete sie noch bis zur Ruinenbrücke und ging dann Richtung Georgenallee. Er wohnte nicht weit von hier in der Saalestraße. Löwenherz hämmerte seinen Freunden noch einmal ein: „Wir wollten nur Boote gucken…“, aber die befürchteten Folgen ihres missglückten Streiches blieben aus: Der wachhabende Polizist hatte nur gelacht, als die Vier wie in ein Wespennest getreten davonstoben.
Am folgenden Wochenende war das Kornhaus-Ufer voller Menschen, die mit Begeisterung das Bootsrennen verfolgten, sogar das Fernsehen war da. Und mittendrin die Viererbande. Sie stießen sich mit Blick auf den Schuppen verschwörerisch die Ellbogen in die Seiten. Die Treibstofffässer im Hafenbecken wären ihr größter Streich geworden. Missglückt oder nicht, egal, Kolumbus hatte eine tolle Idee zum Einstand gehabt. Nun waren sie die Viererbande, die nicht aus Angst brav werden wollte. Brüllend feuerten sie die schnittigen Rennboote an, die durch den Elbbogen flitzten und ihre Bugwellen ans Ufer drückten. In diesem Jahr gewann ein Italiener das Rennen. Westliche Ausländer waren immer wichtig für die angestrebte Weltgeltung des Landes. Nach Lesart der BRD war die DDR weder ein eigener Staat und schon gar keine eigene Nation. Aber hatten nicht die Weltfestspiele der Jugend und Studenten die Internationalität und Offenheit des Landes gezeigt? Die Modernität? Die Lockerheit? Bewies nicht der Auftritt der schwarzen amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis den Freiheits- und Friedenswillen der DDR? Der Schauspieler und Sänger Dean Reed war ein Jahr zuvor von Colorado, USA, in die DDR gezogen und machte hier als Elvis des Ostens Karriere! Brauchte es noch mehr Beweise für die Attraktivität des Landes? Bitte, das Bootsrennen war der nächste! Das Nachkriegsgrau verschwand allmählich, der Ruinenstaub verzog sich, die Welt wurde auch im Osten bunter: „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“, sang Nina Hagen und wurde berühmt mit diesem Lied, das die neue Buntheit feierte. Das Schnellbootrennen zeigte zudem, dass man sich genau wie der Westen leisten konnte, zum bloßen Vergnügen Ressourcen zu verschwenden. Und der Sieger aus Italien brachte auch noch das Flair des Südens und Dolce Vita nach Dessau. Wer im oder vor dem Kornhaus einen Platz ergattern konnte, gab sich mit Sonnenbrille den Chic der großen weiten Welt. Es wurde getrunken und gelacht. Es herrschte ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wenn auch nur einen Sonntag lang. Und nicht nur die Viererbande dachte: Ach, wie schön, so könnte es bleiben.
Noch wochenlang träumte Dessau diesem Sonntag hinterher, auch die Viererbande. Sie hockten auf der Ruinenbrücke und erzählten sich, was sie gerade lasen. Walter borgte die alte Ausgabe von Tom Sawyer und Huckleberry Finn reihum. Richard las ihnen daraus laut vor. Richard hatte ein untrügliches Gespür für Texte und verstand es, seine Freunde in das Buch hinein zu führen. Sie träumten sich die Elbe zum Mississippi um – aber die DDR weigerte sich im noch Traume, ein kleines Amerika zu werden. Walter offenbarte ein Geheimnis: Er hatte an Thomas Sawyer einen Brief geschrieben, hatte sich im Atlas einen Ort am Mississippi ausgesucht, eine Straße erfunden und den Brief abgeschickt. Und siehe da, der Brief war wiedergekommen, weil der Adressat nicht gefunden werden konnte. So hatte er seinen ersten Brief aus dem Ausland erhalten. Mit Stempel aus den USA! Das war sein heimliches Hobby geworden. Er dachte sich Namen und Adressen in der ganzen Welt aus und schickte Briefe da hin. Einige davon bekam wieder. Weil er meist die Post holte, fiel das lange nicht auf. Diese Briefe reisten stellvertretend für ihn über den Globus und die fremden Stempel darauf bewiesen, dass es Amerika, Schweden oder Spanien wirklich gab und nicht nur in Büchern. Bis ein aufmerksamer Postbeamter der Mutter Bescheid gab. Nach sieben Briefen war wieder Schluss mit Post aus der großen, weiten Welt.
Irgendwann ging auch dieser Sommer zu Ende. Weil Christoph Kolberg wegen wiederholten Fehlverhaltens von seiner Ziebigker Schule verwiesen wurde, ging die Viererbande nun komplett in die Polytechnische Oberschule „Sophie Nagel“ in der Chaponstraße. Die POS stand im Ruf, auch mit schwierigen Fällen klar zu kommen. Es war auch die Schule, an der Elisabeth Wegmann unterrichtete. Tanja und Walter waren allerdings nie in ihrer Klasse, sie wollte nicht in den Verdacht der Vorteilnahme kommen. Tanja marschierte vom ersten Schultag an zielstrebig auf den Doktortitel zu. Sie hatte die zweite Klasse übersprungen und wechselte als Hochbegabte ein Jahr früher als üblich in die Erweiterte Oberschule. Die EOS ersetzte in der DDR das Gymnasium und bereitete die Schüler auf ein Studium vor. Die EOS in der Friedrich-Naumann-Straße trug den klingenden Namen „Philanthropinum“, nach Basedows „Schule der Menschenfreundlichkeit“. Walter dagegen verbaute sich diesen Weg und damit auch den zum Studium der Geologie. Zu viele Einträge im „Muttiheft“. Und das, obwohl der Schulleiter, Genosse Schildhauer nicht alles im offiziellen Sündenregister festhielt, stattdessen die Mutter des Öfteren bat, in dieser oder jener Angelegenheit mit ihrem Söhnchen ein ernstes Wort zu reden. „Ich schätze sie als Kollegin sehr“, betonte er immer wieder, „und habe auch Respekt vor der Leistung der Familie Wegmann für den Sozialismus, doch sie müssen einsehen, dass Walters Verhalten mich geradezu zwingt, Maßnahmen zu ergreifen.“ Elisabeth seufzte, „Mein Gott, das sind Kinder, und die machen eben manchmal Blödsinn.“ Genosse Schildhauer war anderer Meinung: „Sozialistische Kinder sollten eben keinen Blödsinn machen und dass es anders geht, beweist doch am besten ihre eigene Tochter. Ein Musterbeispiel an Ehrgeiz und Disziplin. Sie wissen also, wie es geht, warum nur lassen Sie dem Jungen so viel durchgehen? Warum lassen sie nicht Vernunft vor Mutterliebe walten? Ich habe ja immer noch die Hoffnung, Genossin Wegmann, dass sich Walters Renitenz mit der Pubertät auswächst, ich kenne Beispiele genug. Wenn er soweit ist, kann ihr Sohn immer noch aufholen und was Gescheites werden. Leisten Sie also Ihren Beitrag dazu, liebe Kollegin.“
Elisabeth wusste es besser. Wer erst mal im Fadenkreuz der Institutionen stand, kam da schwer wieder raus. Abweichler wie ihren Walter, oder auch ihren Neffen Richard ließ man nur hochkommen, wenn sie sich völlig geläutert und absolut loyal gaben. Solche Katharsis war weder von Walter, noch von Richard zu erwarten. Die prominente Herkunft verhinderte günstigstenfalls schlimmere Folgen, mehr nicht. Abweichler hatten meist ein anstrengendes Leben vor sich. Die vom Staat Aufgegebenen hatten in der Regel nur noch zwei Funktionen: Drecksarbeit leisten und ein abschreckende Beispiel für die Anderen zu sein. Elisabeth ahnte, dass ihre Liebe und Fürsorge den Sohn nicht ewig schützen konnte.
Christoph Kolberg war es gewohnt: der wortkarge Eigenbrötler wurde auch an der neuen Schule rasch zum Paria. Doch in der POS „Sophie Nagel“ war er nicht der Einzige. Zu viert im Abseits, das war schon erträglicher. Und auch allgemein veränderte sich einiges nach den Weltjugendspielen, das Land schien tatsächlich ein klein wenig lockerer zu werden. Die Haare der älteren Jungs wuchsen bis auf die Schultern, die Hosen wurden oben enger und hatten unterhalb der Knie einen weiten Schlag. Und mit der Kleidung veränderte sich auch die Haltung. Die Mutigen erlaubten sich eine provokante Lässigkeit mit hochgezogenen Schultern und breiter Brust. Die DDR hatte sich seit ihrer Gründung massiv um den Nachwuchs bemüht, man wollte die Große Idee früh in die Köpfe pflanzen. Man schuf Organisationen wie die Thälmann-Pioniere und führte die Freie Deutsche Jugend mit neuer Ausrichtung wieder ein. Man organisierte Freizeit und Bildung und hielt das junge Volk gesund durch Sport. All diesen Mühen zum Trotze waren die Mitgliederzahlen der Jugendorganisationen in den 60er Jahren dramatisch eingebrochen. Ziegenbart Ulbricht und sein damaliger FDJ-Führer Erich Honecker hatten mit einer ersten Lockerungswelle entgegen gesteuert. Sie stellten 1964 ein Deutschlandtreffen auf die Beine und gründeten nur für diese Veranstaltung den Radiosender DT64, der Beat, Rock und Pop spielte. Twist wurde der Tanz des Jahres 1964. Die Mitgliederzahlen besserten sich und DT64 war so erfolgreich, dass man es bestehen ließ. Die Jugend atmete auf. Und dann traten die Rolling Stones in Westberlin auf! Das aufgeheizte Publikum haute die Waldbühne in Stücke, die Polizei lieferte sich heiße Gefechte mit den jungen Leuten. Die DDR-Führung fürchtete ein Übergreifen solcher Ausschweifungen und nahm alle Lockerungen wieder zurück. Die Band „Sputniks“ wurde aufgelöst, die „Butlers“ verboten. Andere Gruppen wurden zum Wehrdienst eingezogen. Ziegenbart Ulbricht meckerte: „Wir müssen nicht jeden amerikanischen Dreck übernehmen.“ Ein Lehrer der POS „Sophie Nagel“ griff gar auf dem Schulhof symbolträchtig zur Schere und schnitt einem Gammler die langen Haare vor aller Augen ab. Als Ersatz für die subversive Westmusik bot man der Jugend die Gruppe „Oktober-Klub“ an. Keiner wollte diesen Kitsch hören. Auch vom eigens kreierten Tanz namens Lipsi wollten die jungen Leute nichts wissen. Das juckte die Staatsführung lange Zeit nicht. Erst nach dem Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker („Walter schützt vor Torheit nicht“, aber „Erich währt am längsten“) wagte man erneut eine Lockerung. Selbst die bis dato verpönten Blue-Jeans bot man der Jugend an. Der VEB Bekleidungswerk in Güstrow produzierte Boxer-Jeans, schön und gut, aber richtige Jeans kamen eben aus dem Westen. Der Staat traf den Geschmack seiner jungen Leute einfach nicht und blieb misstrauisch. Das Rebellentum in Jeanshosen wurde von Partei und Stasi mit strengen Blicken begleitet.
Die Viererbande wuchs langsam aus der kindlichen Abenteuer- und Indianerwelt des Georgengartens heraus, für eine Weile wurde der Sport interessant. Der Staat nannte seine Spitzensportler „Diplomaten in Uniform“, mit dem Sport ließ sich internationales Ansehen verdienen und nationaler Zusammenhalt herstellen. Vor allem für die jungen Leute waren die Olympiasieger und Weltmeister Helden und Vorbilder, denn durch den Sport konnte man einen Namen bekommen, ein Gesicht: Renate Stecher, Roland Matthes, Katharina Witt, Peter Ducke, Jürgen Sparwasser, Täve Schur und viele andere haben gezeigt, dass auch der Sozialismus nicht ohne den Einzelmenschen auskam. Die großen Namen standen für die Hoffnung, als Individuum wahrgenommen zu werden. Der Weg zur Unsterblichkeit aber war steinig, jeder Sportlehrer wollte aus seinen Schülern Olympiasieger machen. Diese Härte, dieser verbissene, humorlose Ehrgeiz, das war nichts für unsere vier Rebellen.
Die Stadt rückte nun in den Fokus, besonders die Plätze, an denen die Mädchen in kurzen Röcken Bein zeigten. Auf dem Schulhof überließ man die Rangeleien und Rempeleien den jüngeren Jahrgängen, man gab sich erwachsen und entspannt, um den Mädels zu imponieren. Im Sommer zog es sie raus nach Dessau Ost. Zwischen Mildensee und dem Munitionslager lockte die „Große Adria“ zum Badevergnügen, ein stattlicher Kiesteich mit Holzsteg, Aussichtsturm und Strandkörben. Wasser und Sand, Bikinis und flotte Musik ließen erahnen, was Sommer und Süden bedeuten konnten, ließen erfahren, dass Leben nicht nur aus Pflichten bestehen musste, ließen erleben, dass man nicht nur Teil eines großen Plans, sondern auch noch Mensch war. Ein junger Mensch, mit Sehnsüchten und Träumen. Weil nur Richard und Walter Fahrräder besaßen, konnten sie selten zusammen zur Adria fahren, sie wechselten sich ab. An Ferientagen gingen sie zusammen in aller Frühe zu Fuß los, sechseinhalb Kilometer, die sich lohnten. An einem Tag wurden sie gar zu Statisten einer Folge der Serie Polizeiruf 110. Die Vier mussten über den Holzsteg laufen, während Oberleutnant Peter Fuchs und seine Kollegin Leutnant Vera Arndt im Sand nach Spuren suchten. Es war aufregend, die Superstars Peter Borgelt und Sigrid Göhler leibhaftig zu sehen, ja mit ihnen zusammenzuarbeiten! Allein die Aura des Filmteams – dieses Nebeneinander von Chaos und Perfektion faszinierte sie. Danach fühlten sie sich beim Fernsehen immer wie Experten, sie haben schließlich gesehen, wie es hinter den Kulissen zugeht.
Auch Musik wurde immer wichtiger. Die Musik war ein Fenster, durch das frische Luft hereinkam. In der DDR schossen neue Bands aus dem Boden, die dem neuen Lebensgefühl Ausdruck verleihen wollten. Stilistisch gab es alles zwischen gefälligem Pop und aufmüpfigem Rock, der Staats- und Parteiführung gefiel’s nicht sonderlich, den Jugendlichen umso mehr. So sehr, dass die Führung es nicht mehr ignorieren konnte. Wollte Ulbricht noch „den Westen überholen, ohne ihn einzuholen“, wäre der anfangs etwas realistischere Honecker mit dem Einholen oder auch nur Aufholen schon hochzufrieden gewesen. Außer im Sport hinkte man dem Westen überall hinterher. Daraus resultierte ein trotziges: Das-Können-Wir-Auch! - und das beschränkte sich nicht auf Technik, Wirtschaft und Wohlstand, das schlich sich auch in der Unterhaltung ein: Pop und Rock? Können wir auch, Karat, Silly, City und die Puhdys brauchen sich nicht zu verstecken. Tatort? Können wir auch, heißt bei uns eben Polizeiruf 110. Traumschiff? Die DDR-Serie „Zur See“ gab es schon vier Jahre früher. Die Aktuelle Kamera ging ganze fünf Tage vor der Tagesschau auf Sendung, was für ein Triumpf! Selbst um die Erstveröffentlichung des Sandmännchens war ein erbitterter Klassenkampf entbrannt, den die DDR mit zwei Wochen Vorsprung gewann. So entstand eine epigonale Trotzkultur, die Erstaunliches hervorbrachte und vielfach auch im Westen Gefallen fand. „Am Fenster“ von City wurde zur gesamtdeutschen Jugendhymne. Karats „Über sieben Brücken musst du gehen“ machte Peter Maffay in der BRD zum Superstar und Wolfgang Lipperts „Erna kommt“, verhalf Hugo Egon Balder im Westen zu erster, bescheidener Bekanntheit.
Richard Hanschitz warf sein „Löwenherz“ ab und wollte nun Ritschie genannt werden. Er lenkte die Viererbande aus der DDR-Kultur hin zur Westszene. BAP, Udo Lindenberg und „Ton, Steine, Scherben“ reizten ihn. Noch heller strahlten Namen wie Bob Dylan, Eric Clapton und Bob Marley. Der aufsässige Sound der „Doors“ elektrisierte Ritschie, er übersetzte sich Texte selbst. Und als er in einem Westsender sah, wie Pete Townshend von „The Who“ mit seiner Gitarre Lautsprecherboxen zertrümmerte, explodierte auch in ihm etwas, in Gedanken zerschlug er alles, was ihm missfiel. Während solcher Aggressionsschübe war er kaum ansprechbar und seine Augen flackerten wild. Auch die anderen drei legten sich neue, englische Spitznamen zu, aber Walt (gesprochen: Wolt) und Keith passten nicht zu ihren Trägern und perlten rasch wieder ab. Chris klang ohnehin westlich genug. Als ihre Haare die Schultern erreichten, fühlten sie sich stark genug, dem Genörgel der Eltern und Lehrer zu widerstehen. Wenn es im Musikladen in der Wilhelm-Pieck-Straße limitierte Auflagen von Westschallplatten gab, bildete sich sofort eine lange Schlange. Gut, Schlangen gab es vor jedem Laden, man stellte sich an, egal, was es gab. Viele gingen immer mit dem „Hoffnungsbeutel“ aus dem Hause, Stofftaschen für den Fall, dass man irgendwo irgendwas ergattern konnte. Was man selber nicht brauchte, konnte man gut tauschen. Die DDR-Wirtschaft war eher eine Tausch- als eine Geldwirtschaft. Ritschie tauschte sein Fahrrad gegen eine überschaubare Plattensammlung. Hilmar Hanschitz tobte. Der Herr Sohn verschwende nicht nur Geld, sondern vor allem sein Talent. Er verrate damit das Vermächtnis seines Großvaters, Sohnemännchen betrüge den Staat und verbaue sich schließlich selbst die Zukunft. Dieser Vorwurf hing schon jahrelang in der Luft. Richard war nämlich nicht bloß hochbegabt, er war ein Genie! Jedenfalls in den Augen seiner Mutter, die Großes mit ihm vorhatte. Im Alter von 5 Jahren konnte er schon passabel Lesen und Schreiben. Im Alter von 7 Jahren las er den Wälzer „Der stille Don“ von Michail Scholochow. Im selben Jahr, da wohnten sie noch in der Bruchbude in der Amalienstraße, schleppten ihn seine Eltern zu einem Konzert im Kristallpalast in der Zerbster Straße. Hilmar Hanschitz machte sich nicht viel aus klassischer Musik, doch als Genosse in führender Position in der Stadtverwaltung musste er zeigen, dass Kultur und Kommunismus einander nicht ausschlossen. Und man traf dort Leute, die ein Weiterkommen befördern konnten. Es gab Beethovens 5. Klavierkonzert. Richard verliebte sich derart in das Adagio, dass er sagte: Das will ich auch können. Mutter Vera brachte ihn zum Klavierunterricht. Die Lehrerin bescheinigte dem Jungen großes Talent, er übte mit Eifer und machte rasch enorme Fortschritte. Als er aber merkte, dass die ehrgeizige Mutti sich schon in seinem künftigen Ruhm als Starpianist sonnen wollte, verweigerte er sich. Dieser innere Widerwille wurde fortan sein Markenzeichen: wann immer er von irgendjemanden irgendwo hin gedrängt wurde, verweigerte er sich. Keine vorteilhafte Eigenschaft in einer Diktatur.
Was war denn bloß mit den Enkelkindern des großen Karl Wegmann los, fragten sich die Verantwortlichen. Lief da in der Erziehung etwas schief? Elisabeth Wegmann blieb als Tochter von Republikflüchtlingen zwar verdächtig aber bislang auch völlig unauffällig. Die heimliche Korrespondenz mit ihren Eltern in Hamburg wurde genau beobachtet und als harmlos eingestuft. Auch beruflich war ihr kaum mehr vorzuwerfen, als ideologische Zurückhaltung. Viktor Wegmann war als Industrieführer eine Stütze des Systems. Fachlich unschlagbar, wenngleich auch er ideologisch etwas faul. Im Hause Wegmann hätte man mehr Leidenschaft für die große Sache erwarten können. Glücklicherweise funktionierte Tochter Tanja perfekt. Wie viele Ärzte hatten die DDR schon verlassen? Man brauchte dringend Nachwuchs, um den ständigen Aderlass auszugleichen, da kam eine strebsame Wegmann gerade recht. Und Richards Eltern hatten sich erst recht nichts vorzuwerfen. Hilmar, mittlerweile Stadtbauamtsleiter und überzeugtes Parteimitglied und Vera Hanschitz, eine lupenreine Kommunistin, zuverlässige Sekretärin der SED-Kreisleitung und FDJ-Leiterin. Warum missrieten gerade die beiden Jungs derart? Wenn es an den Eltern nicht lag, wurde doch mal wieder zu deutlich, dass der Staat so weit wie möglich ins Volk hineinregieren musste, um das Land auf Kurs zu halten. Man musste den Abweichlern die Grenzen aufzeigen und sie an ihre Pflichten erinnern. Man versuchte es mit den bewährten Mitteln: Drohung, Manchmal reichte es schon, den Jugendwerkhof nur zu erwähnen, um einen Widerspenstigen zu zähmen. Die anderen Methoden – Stigmatisierung und Ausgrenzung, verloren langsam an Wirkung. Wir Menschen suchen ja immer den Vergleich. Wenn du der einzige Sonderling bist, suchst du die Ursachen natürlich bei dir. Wenn die Abweichler aber mehr und mehr werden, schwinden Zweifel und Angst, gleichzeitig wird die Gegenseite unsicher. Die langen Haare, die Jeanshosen mit den breiten Gürteln waren Dornen in den Augen der Lehrerschaft. Ihre neue, kraftstrotzende Haltung war purer Frevel. Die älteren und die fanatischen Lehrer reagierten mit Härte, die jüngeren und die milderen mit schlecht verborgener Unsicherheit. Sie erkannten, dass sie den Veränderungen wenig entgegenzusetzen hatten. Denn ihre Macht stand oder wackelte mit der obersten Führung. Wenn man oben die Zügel schleifen ließ, war unten schwer gegen zu halten. Die DDR-Jugend erreichte in den 70er Jahren einen Grad an Freiheit, wie man es in Diktaturen selten erlebt.
Dennoch konnte Walter die Sommerferien 1978 nicht so recht genießen. Das Toben in der Großen Adria, oder rumhängen im Stadtpark, Musik hören, ja toll – aber was war schon der Badeteich gegen den Kaukasus, was war Dessau gegen Tbilisi! Denn Schwesterchen Tanja weilte in Georgien. Sie – nur sie – durfte Vati in den Kaukasus begleiten, der dort eine Zementfabrik errichtete. Mit jedem Ferientag schien ihm Georgien großartiger und Deutschland gewöhnlicher.
Aber was hieß schon Deutschland?
Deutschland war ein schwieriger Begriff geworden in der DDR. Der Staat nannte sich immer noch „Deutsche Demokratische Republik“ aber das Deutsche rückte immer mehr in den Hintergrund. Die SED-Führung hatte nämlich die Wiedervereinigung auf Eis gelegt, es galt jetzt, den Sozialismus erst in den Stammländern zu verfestigen und so überlegen zu machen, bis die BRD irgendwann von sich aus den Anschluss suchte. Bis dahin war man lieber sozialistisch, als deutsch. Deutsch zu sein hieß ja auch, Verantwortung für die Nazi-Scheiße zu übernehmen, und das überließ man gerne der Schwester BRD. Ganz abstreifen konnte man das Deutschtum aber nie. Die „Freie Deutsche Jugend“ war einer der zaghaften Versuche, sich als Nation zu präsentieren. Die blauen Hemden, die hübschen Halstücher, die inbrünstig gesungenen Lieder, die Gemeinschaft – es hatte schon Kraft und Schwung, das Ganze, dem hatte sich auch der kleine Walter Wegmann früher kaum entziehen können, auch er war anfangs fröhlich mitmarschiert und hat Loblieder auf die weise Führung gesungen. Doch schon das überbetonte Freie Deutsche Jugend wies darauf hin, dass es daneben noch eine unfreie geben musste. Und die gab es denn auch – in der BRD, so sagte man, wo die FDJ schon 1951 verboten worden war! Deutschland war zerrissen, das lernte man früh. Eine zerrissene Heimat ist aber keines Kindes Ideal. Und eine halbe auch nicht so recht. Die Nation als Heimat blieb also problematisch. Walter hoffte, dies komplizierte Gefüge irgendwann in der Zukunft zu verstehen. Überhaupt schien alles auf die Zukunft ausgerichtet. Die Gegenwart war ein einziges Opfer für eine bessere Zukunft. Das ist schwer zu begreifen für ein Kind, das nur in seiner Gegenwart lebt und fühlt. Was juckte Walter ein strahlender Kommunismus, der in Zukunft die ganze Welt beglücken würde, wenn jetzt die große Schwester den Vater nach Tbilisi begleiten durfte und er zu Hause bleiben musste. Aber Vati hatte keine Wahl gehabt: „Ich wollte ja euch beide mitnehmen, aber du hast zu oft Blödsinn gemacht. Man will dein schlechtes Benehmen nicht noch belohnen, hieß es. Reiß‘ dich halt mal zusammen und bau keinen Mist mehr, dann kommst du nächstes Jahr mit.“