Heimliche Sehnsucht - Pia Engström - E-Book

Heimliche Sehnsucht E-Book

Pia Engström

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Beschreibung

Die Mittsommernacht ist nicht mehr fern, als Linnea ins schwedische Dalarna fährt - zu ihrem Mann Kristian. Sie will ihn um die Scheidung bitten. Doch jedem Ende wohnt der Zauber eines Anfangs inne, und die Mittsommerliebe folgt ihren eigenen Gesetzen.

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Seitenzahl: 209

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Pia Engström

Mittsommergeheimnis – Heimliche Sehnsucht

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH

Originalausgabe

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-86278-969-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

1. KAPITEL

Der Tag stand von Anfang an unter einem schlechten Stern.

Mit vollem Tempo preschte der Geländewagen den unbefestigten Weg entlang, vorbei an weiten grünen Wiesen, saftigen Rapsfeldern und dem Fluss Lillälv, der sich wie ein silbernes Band durch ganz Dvägersdal zog, einem kleinen Örtchen in der mittelschwedischen Provinz Dalarna. Die Sonne strahlte am beinahe wolkenlosen Himmel, und der Wind, der von den Bergen her kam, sorgte dafür, dass es trotzdem nicht zu warm wurde.

Kristian Västarsand liebte die schwedische Landschaft über alles, vor allem jetzt im Frühling, wenn nach einem scheinbar endlosen, eisigen Winter die ersten Blumen und Obstbäume blühten und die Tage endlich länger wurden.

Doch an diesem Vormittag nahm er das alles nicht einmal am Rande wahr.

“Nej!”, schrie er aufgebracht in die Freisprechanlage seines Handys. “Sag ihrem Manager, dass ich dafür keineswegs Verständnis habe. Wir hatten eine Vereinbarung! Wo sollen wir denn jetzt so schnell Ersatz herbekommen?”

Wütend beendete er das Gespräch und brachte den Wagen so heftig zum Stehen, dass die Bremsen quietschten und der Staub unter den Rädern aufwirbelte. Dann stellte er den Motor ab und fuhr sich mit der Hand durch sein welliges dunkelbraunes Haar.

Heute war eindeutig nicht sein Tag. Schon beim Aufstehen hatte er gespürt, dass es Probleme geben würde. Prompt war dann auch so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte: Erst gab es Schwierigkeiten mit einer eigentlich schon fest zugesagten Baugenehmigung, dann hatte sein Wagen nach einer Ortsbesichtigung in Rättvik einen Platten gehabt – und jetzt kam, auf dem Weg zurück nach Hause, auch noch die Absage von Svenja Normansson.

Kristian seufzte. Vor knapp fünfeinhalb Jahren hatte er Vildmarksäventyr gegründet – eine Agentur, die “Urlaub in der heimischen Wildnis” anbot. Das Projekt war aus der Not heraus entstanden. Weil sein Leben zu diesem Zeitpunkt in Trümmern lag und er nicht mehr so weitermachen wollte wie bisher.

Und um jemandem zu beweisen, dass er mehr war als ein idealistischer Träumer.

Linnea.

Wut packte ihn, wie immer, wenn er an sie dachte. Im Grunde trug sie auch die Schuld daran, dass nun schon seit Wochen nichts mehr richtig rund lief bei ihm. Seit dem Tag, an dem er diesen unsäglichen Brief erhalten hatte.

Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten. Fast sechs Jahre lang hatte er nichts von ihr gehört, und dann plötzlich brachte sie sich wieder in Erinnerung. Jedoch nicht, um sich zu entschuldigen, o nein! Auf so einen Gedanken kam eine Frau wie Linnea überhaupt nicht. Es ging ihr nur um …

Er schüttelte den Kopf. Es wäre falsch, sich weiter damit zu belasten. Er hatte angemessen auf das Schreiben reagiert, und jetzt gab es Wichtigeres in seinem Leben, um das er sich kümmern musste.

Als er Vildmarksäventyr damals gründete, hatte er nicht zu hoffen gewagt, einmal so großen Erfolg mit der Agentur zu haben. Doch schnell zeichnete sich ab, dass er eine Marktlücke entdeckt hatte, und heute nahmen sein Angebot nicht nur immer mehr abenteuerlustige Skandinavier in Anspruch, es kamen auch regelmäßig Buchungen aus dem europäischen Ausland.

Und genau aus diesem Grund hatte er sich nun zu einer umfangreichen und kostspieligen Werbemaßnahme entschlossen: Um seine Agentur in ganz Europa bekannt zu machen, hatte er ein erfolgreiches schwedisches Model engagiert, sich beim “Urlaub in der heimischen Wildnis” von einem Fotografen begleiten zu lassen. Svenja Normansson sollte potenziellen Gästen auf anschauliche Weise näher bringen, wie durch Vildmarksäventyr organisierte Ferien abliefen und welche Vorteile sie boten. Anschließend würden entsprechende Erlebnisberichte mit zahlreichen Fotos in vielen europäischen Zeitschriften und Urlaubskatalogen erscheinen.

So weit der Plan – doch leider entwickelte die Realität sich vollkommen anders als erwartet. Womit er wieder beim eigentlichen Thema war.

Kristian unterdrückte einen Fluch. Die Kampagne stand kurz vor dem Beginn, alle Vorbereitungen waren getroffen – entsprechend groß war der Schock gewesen, als sein Mitarbeiter Lasse ihm soeben telefonisch die Hiobsbotschaft überbracht hatte, dass Svenja Normansson sich aufgrund eines überraschenden Engagements in den USA nicht imstande sah, ihren Verpflichtungen nachzukommen.

Sie ließ einfach ihren Vertrag platzen!

Kristian kochte vor Wut. Keine Frage, dass dieses Verhalten Konsequenzen für das Model nach sich ziehen würde. Der Vertrag, den er mit ihr geschlossen hatte, sah für einen solchen Fall eindeutig entsprechende Konventionalstrafen vor.

Doch das brachte ihn im Moment auch nicht weiter. Viel wichtiger war jetzt die Frage, wie er auf die Schnelle einen angemessenen Ersatz finden sollte. Immerhin fand das erste Shooting schon morgen statt!

Er griff zum Zündschlüssel, um den Motor wieder anzulassen, hielt dann aber inne, als sein Blick nach Osten fiel. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wo er während des Telefonats mit Lasse angehalten hatte: ganz in der Nähe von Linneas Elternhaus.

Es lag am Fuße des Hangs, auf dem die Straße nach Dvägersdal entlangführte, am Rande eines Birkenwäldchens. Nur ein einziger schmaler Weg führte hinunter zu dem in rotbraunem Falun getünchten Holzhaus. Und gerade als Kristian den Blick wieder abwenden wollte, sah er einen ihm unbekannten Kombi auf das Haus zufahren.

Er wusste selbst nicht, warum er sich überhaupt dafür interessierte, aber unwillkürlich fragte er sich, um wen es sich bei dem Ankömmling handeln könnte. Stina Eklund besaß kein Auto und lebte seit dem Weggang ihrer Tochter und dem Tod ihres zweiten Mannes sehr zurückgezogen. Nur die geistig leicht zurückgebliebene Malin kam zwei Mal die Woche, um ihr bei den Hausarbeiten zur Hand zu gehen und sich um den Garten zu kümmern.

Jetzt ging die Tür des Wagens auf, und eine Frau stieg aus.

Kristian kniff die Augen zusammen. Nein, das konnte nicht sein. Das war doch …

Hastig griff er zu seinem Fernglas, das auf dem Beifahrersitz lag und das er aus beruflichen Gründen immer dabeihatte. Er hielt es an die Augen und sah die Besucherin jetzt in voller Größe, jedoch nur von hinten, da sie ihm den Rücken zukehrte. Sie war nicht sehr groß und ausgesprochen zierlich, und ihr haselnussbraunes Haar reichte ihr bis zu den Schultern.

Fast wie … Kristian schüttelte den Kopf. Kein Zweifel, zumindest von hinten sah sie Linnea zum Verwechseln ähnlich.

Aber das konnte nicht sein! Sie würde es doch nicht wagen, persönlich …

Er nahm das Fernglas herunter und schloss für einen Moment die Augen. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Plötzlich sah er sich, wie er als junger Bursche abends heimlich Steinchen an Linneas Fenster warf. Oder als er sie zum ersten Mal küsste. Auch ihre erste gemeinsame Nacht kam ihm unweigerlich in den Sinn. Damals war er …

Er hielt inne. Das waren die guten Erinnerungen. Doch leider gab es noch mehr schlechte. Wie hatte er nur jemals so dumm sein können, auf Linnea hereinzufallen?

Wütend öffnete er die Augen wieder. Da bemerkte er, dass Linneas Doppelgängerin sich langsam umdrehte.

Sofort hielt er das Fernglas wieder an seine Augen und betrachtete das Gesicht der Frau näher. Sah die großen graublauen Augen, die von dichten dunklen Wimpern beschattet wurden. Die fein geschnittenen Züge. Die kleinen Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichneten, wenn sie lächelte oder emotional angespannt war.

Überrascht schnappte er nach Luft, als ihm mit einem Schlag klar wurde, dass er es keineswegs mit einer Person zu tun hatte, die Linnea einfach nur ähnelte.

Nein, dort unten stand sie selbst: Linnea – seine Ehefrau.

Das Haus meiner Kindheit, dachte Linnea und atmete tief durch.

Sie stand neben ihrem Mietwagen, mit dem sie am Morgen nach einem langen Flug aus London und einer Nacht im einzigen Hotel zwischen Mora und Dvägersdal aus losgefahren war. Mit einer Hand schirmte sie nun die Augen ab, während sie sich einmal um die eigene Achse drehte. Was sie sah, ließ melancholische Gefühle in ihr aufsteigen.

An diesem Ort war sie aufgewachsen, am Fuße der Berge, deren schroffe Gipfel geradewegs bis in den Himmel zu reichen schienen. Ringsum erstreckten sich tiefgrüne Wälder, nur durchbrochen von einer düster wirkenden Felsformation aus schwarzgrauem Granit, die wie ein mahnender Finger in die Höhe ragte.

Trollfjällen – der Trollfelsen.

Viele Legenden rankten sich um diesen Ort. So sollten Trolle kleine Kinder entführen und sie zu sich in den Berg hineinziehen, um sie nie wieder in die Freiheit zu entlassen. Linnea wusste, dass es so etwas nicht geben konnte. Aber daran, dass irgendetwas mit diesem Berg nicht stimmte, zweifelte sie auch nicht. Nicht seit …

Sie atmete tief durch und zwang sich, den Blick abzuwenden. Der Trollfelsen erinnerte sie an Dinge, über die sie besser nicht nachdenken sollte. Stattdessen betrachtete sie nun den Vorgarten ihrer Mutter, der in der rauen Natur, von der er umgeben war, wie ein kleines Paradies wirkte. Hier gediehen bunte Frühlingsblumen in allen Farben des Regenbogens. Leuchtend gelbe Narzissen wetteiferten mit violettem Rittersporn und purpurnem Eisenhut, und auch die Apfelbäume standen in voller Blüte.

Im Schatten einer knorrigen Eiche stand eine Bank, die Linneas Vater einst aus den Überresten eines vom Blitz getroffenen Baumes gezimmert hatte. Wie oft hatte er an lauen Sommerabenden so dort gesessen: Seine alte Meerschaumpfeife im Mundwinkel, in der einen Hand ein Schnitzmesser, in der anderen einen Scheit Holz, aus dem er in stundenlanger Arbeit eine kleine Tierfigur, ein Schiff oder ein Flugzeug zauberte.

Schließlich blieb ihr Blick erneut an dem Haus hängen, in dem sie so viele glückliche Jahre verbracht hatte und vor dem sie jetzt wieder stand.

Sie seufzte versonnen. Nie würde sie die ersten Jahre ihrer Kindheit vergessen. Wie unbeschwert damals noch alles gewesen war! In hübschen Kleidern und mit Zöpfen im Haar war sie über die Wiesen gelaufen, hatte Blumen gepflückt und bunte Kränze daraus gemacht. Das Herumtoben mit ihren Freundinnen Finja und Hanna gehörte ebenso zu ihrem Tagesprogramm wie das Spielen mit ihrem geliebten Hund Kalle, und auf den alljährlichen Dorffesten hatte sie sich stets mit so vielen Leckereien vollgestopft, dass ihr hinterher immer ganz schlecht gewesen war.

All das würde sie auf ewig mit diesem Haus in Verbindung bringen. Gleichzeitig war es jedoch auch das Haus, das sie Jahre später im Zorn verlassen hatte.

Sie trat ein paar Schritte näher und sah es sich genauer an. Viel hatte sich nicht verändert. Die falunrot getünchte Fassade und die weißen Fensterläden konnten einen neuen Anstrich vertragen, und ein paar Dachschindeln waren lose, doch davon abgesehen schien es sich in einem recht guten Zustand zu befinden. Vermutlich hatten sich nach Ludvigs Tod ein paar Männer aus dem Ort der Aufgabe angenommen, es vor dem langsamen Verfall zu bewahren. Nachbarschaftshilfe war in Dvägersdal offenbar noch immer eine Selbstverständlichkeit, ganz anders als in der Stadt, wo jeder sich selbst am nächsten stand.

Sie schaute sich weiter um und entdeckte unter dem Dachfirst das kleine Vogelhäuschen, das sie vor so vielen Jahren zusammen mit ihrem Vater gebaut und angebracht hatte.

Überwältigt von den Emotionen, die plötzlich auf sie einstürzten, hielt Linnea den Atem an. Das alles lag so lang zurück, dass es ihr fast wie ein Traum vorkam. Wie aus weiter Ferne schienen plötzlich vertraute Geräusche an ihr Ohr zu dringen, und Bilder aus der Gegenwart vermischten sich mit denen aus der Vergangenheit: Sie hörte fröhliches Kinderlachen, die Stimmen ihrer Freundinnen, die schöne Lieder sangen, während sie sich Hand in Hand im Kreis drehten. Sie sah ihre Mutter, die mit einem Blech Äppelpej, dessen Duft Linnea selbst jetzt noch riechen konnte, aus dem Haus trat, und nicht zuletzt erkannte sie auch ihren Vater, der Pfeife rauchend auf der alten Bank unter der Eiche saß, das Schnitzmesser in der Hand.

Pappa … Linnea spürte, wie ihre Augen feucht wurden, als sie an ihn dachte. Nur so wenige Jahre hatte sie mit ihm verbringen dürfen. Wenn er an jenem Tag doch nur das Haus nicht verlassen hätte … Wahrscheinlich wäre dann alles anders gekommen, und …

Der Klingelton ihres Handy, das im Wagen auf dem Beifahrersitz lag, riss sie aus ihren Gedanken. Sie sammelte sich einen Moment, dann ging sie die paar Schritte zurück und griff durchs offene Fenster.

Sie nahm das Gespräch an, ohne zuvor aufs Display zu schauen.

“Da bist du ja, Darling”, sagte Miles. “Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht. Du wolltest doch anrufen, wenn du Dvägersdal erreicht hast. Bist du noch unterwegs?”

Sie atmete tief durch. Miles Banning war der Sohn ihres Verlegers – und der Mann, den sie bald heiraten würde. “Ich bin gerade eben angekommen”, erklärte sie. “Der Weg hierher war weiter, als ich es in Erinnerung hatte.”

“Tja, sechs Jahre sind eine lange Zeit, da vergisst man schon mal so einiges.” Er lachte. “Was denkst du, wann wirst du die nötigen Genehmigungen für unsere Hochzeit in Schweden zusammenhaben?”

“Das kann ich im Moment noch nicht so genau sagen”, erwiderte sie ausweichend. Miles glaubte, dass sie nach Schweden gefahren war, um alles für ihre Hochzeit, die in einigen Monaten auf besonderen Wunsch ihres zukünftigen Schwiegervaters in Linneas Heimat stattfinden sollte, vorzubereiten.

Er konnte ja nicht ahnen, dass sie in Wahrheit hier war, um eine Katastrophe abzuwenden.

Doch sofort regte sich ihr schlechtes Gewissen. Miles war ein guter Mann, und er liebte sie – doch sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihn zu belügen.

Stellst du dir so den Start in eine perfekte Ehe vor?

2. KAPITEL

Linnea stockte der Atem.

Als Kristian sich zu ihr umdrehte, wusste sie mit einem Mal wieder, warum sie sich damals in ihn verliebt hatte. Und nicht nur sie …

Die vergangenen sechs Jahre waren anscheinend spurlos an ihm vorübergegangen. Wenn überhaupt, dann hatten sie ihn nur noch anziehender gemacht. Sein athletischer Körperbau legte Zeugnis dafür ab, dass er seine Tage nicht hinter dem Schreibtisch sitzend verbrachte. Er war schon immer ein sehr aktiver Mann gewesen, der es liebte, sich in der freien Natur aufzuhalten. Ob es sich um Rafting oder Freeclimbing handelte, Kristian hatte sich für alles begeistert, solange er dabei nur an der frischen Luft sein konnte. Sogar das Drachenfliegen hatte er ausprobiert – etwas, bei dem allein der Gedanke Linnea schwindelig werden ließ.

Doch im Moment war es viel mehr der Anblick seines gestählten Oberkörpers, der genau diese Wirkung auf sie ausübte.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und zwang sich, ihm stattdessen ins Gesicht zu schauen. Jedoch nur, um festzustellen dass es immer noch die Macht besaß, ihr Herz höher schlagen zu lassen. Gleichzeitig war da jedoch auch ein Ausdruck von Wut und Hass in seinen Zügen, und zornig funkelte er sie an.

Unvermittelt trat sie einen Schritt zurück. Sie fragte sich, ob es wirklich klug von ihr gewesen war, einfach ohne Vorankündigung hier aufzutauchen. Doch rasch verwarf sie diesen Gedanken wieder. Welchen Grund sollte Kristian schon haben, wütend auf sie zu sein? Nach allem, was er ihr angetan hatte!

Sie räusperte sich. “Wie ich gehört habe, hast du aufgehört, als Fremdenführer zu arbeiten, und dir selbst etwas aufgebaut. Bist Unternehmer geworden. Das freut mich für dich, Kristian.”

Er verzog keine Miene. “Sag bloß, das hat sich bis zu dir herumgesprochen?”

“Nun, auch wenn es dich überrascht, aber die eine oder andere Verbindung nach Schweden habe ich schon noch. Ich bin ja schließlich nicht …”

“Spar dir die Mühe”, fiel er ihr ins Wort. “Ich sage Nein!”

Irritiert sah sie ihn an. “Nein? Wozu?”

“Denkst du, ich weiß nicht, weshalb du hier bist?” Er kam einen Schritt näher auf sie zu, und sie glaubte die Hitze, die von ihm ausging, auf ihrer Haut zu spüren. Sie schloss die Augen, um die irritierenden Gefühle zu verscheuchen, die er in ihr auslöste, doch sie erreichte genau das Gegenteil.

Die Vergangenheit schien sich mit der Gegenwart zu vermischen, als ihr sein männlicher Duft in die Nase stieg. Sie hatte nie vergessen können, wie es war, von ihm geliebt zu werden, und mit einem Mal stiegen die Erinnerungen in ihr auf, so lebhaft und plastisch, dass sie meinte, seine heißen Küsse und leidenschaftlichen Berührungen tatsächlich wieder zu spüren.

Erschrocken über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Was tat sie hier eigentlich? Wie konnte sie an so etwas auch nur denken? Das alles war viele Jahre her, und sie hatte abgeschlossen damit. Ihr Herz gehörte heute einem anderen Mann, das sollte sie nie vergessen!

“Nach dem Schreiben, das du bekommen hast, wirst du dir wohl denken können, warum ich nach Schweden gekommen bin!”, erwiderte sie bemüht schroff, konnte jedoch ein leichtes Beben in ihrer Stimme nicht verhindern. “Warum hast du Widerspruch eingelegt, Kristian?”

“Ich wüsste nicht, warum ich mich dir gegenüber rechtfertigen sollte”, entgegnete er schulterzuckend. “Davon abgesehen halte ich mich an geltende Gesetze. Wenn du damit nicht einverstanden bist, kann sich dein Rechtsanwalt gern mit meinem in Verbindung setzen.”

Es fiel Linnea nicht leicht, die Beherrschung zu wahren, doch sie wusste, dass Kristian es genau darauf anlegte. Und das Schlimmste daran war, dass er sich rein rechtlich betrachtet leider in einer Grauzone bewegte – darüber, wie sein Verhalten moralisch zu werten war, wollte sie sich lieber gar nicht auslassen.

Fest stand nur, dass sie die Scheidung bereits im vergangenen Jahr von London aus eingereicht hatte. Doch aufgrund einer rechtlichen Sonderregelung erlangte eine solche Scheidung, die im Ausland beantragt wurde, in Schweden erst dann Gültigkeit, wenn diese dort offiziell anerkannt worden war.

Linnea war dies erst bei den ersten Planungen für die Hochzeit mit Miles aufgefallen, die auf Wunsch seines Vaters unbedingt in Schweden stattfinden sollte. Natürlich hatte sie sofort die Anerkennung der Scheidung beantragt – doch Kristian hatte Widerspruch eingelegt.

Sicher, früher oder später würde ihre Trennung auch in Schweden offiziell werden, daran konnte nicht einmal er etwas ändern. Doch er war durchaus in der Lage, das gesamte Verfahren in die Länge zu ziehen – und zwar so sehr, dass deshalb sogar die geplante Hochzeit ins Wasser zu fallen drohte.

Um genau dies zu verhindern, war Linnea nun nach Schweden gekommen. Sie wollte versuchen, sich gütlich mit Kristian zu einigen. Und deshalb durfte sie sich auch nicht von ihm provozieren lassen, ganz gleich, wie dreist und unverschämt sie sein Verhalten auch finden mochte.

“Sei doch vernünftig”, versuchte sie es daher im Guten. “Du weißt selbst, dass du die Scheidung letzten Endes ja doch nicht verhindern kannst.”

“Das mag sein – aber du erwartest hoffentlich nicht, dass ich es dir leicht machen werde!”

Linnea spürte, wie ihre Selbstbeherrschung zu bröckeln begann, doch noch hatte sie sich im Griff. Wie konnte Kristian es wagen, ihr Steine in den Weg legen zu wollen? Nach allem, was er ihr angetan hatte?

Aber was hatte sie erwartet? Etwa eine Entschuldigung? Nein, sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie auf ein Eingeständnis seiner Schuld ewig warten konnte. Umso mehr ärgerte sie sich über seine Weigerung, in die Scheidung einzuwilligen. Wenigstens das war er ihr schuldig!

“Willst du mir nicht endlich verraten, warum du nach all den Jahren plötzlich so wild darauf bist, dich von mir scheiden zu lassen?” Er trat noch näher auf sie zu, und sein herb-männlicher Duft stieg ihr in die Nase. “Hast du dich neu verliebt?”

Heiße Wut kochte in Linnea hoch. Was bildete Kristian sich eigentlich ein? “Ich wüsste nicht, was dich das anginge!”, fuhr sie ihn aufgebracht an. “Du hast kein Recht, dich in meine Privatsachen einzumischen!”

“Das habe ich auch keineswegs vor. Zu deiner Information: Ich habe dich schon vor langer Zeit aus meinem Leben gestrichen!”

“Ich dich ebenfalls”, bekräftigte sie heiser.

“Schön, dass wir uns wenigstens darin einig sind.” Mit durchdringendem Blick trat er jetzt noch einen Schritt auf sie zu. Um wenigstens etwas Abstand zu wahren, legte sie beide Hände auf seinen athletischen Oberkörper – ein Fehler, wie sie gleich darauf feststellte, als sie seine nackte Haut an ihren Handflächen spürte. Sie blickte auf und glaubte flüchtig, ein boshaftes Aufleuchten in seinen dunklen Augen zu entdecken. Doch gleichzeitig spielte ein Lächeln um seine Mundwinkel. “Vielleicht sollten wir da ansetzen und erkunden, was wir nach all den Jahren sonst noch gemeinsam haben?” Er hob ihr Kinn an und blickte ihr tief in die Augen. “Im Bett hatten wir jedenfalls immer sehr viele Gemeinsamkeiten, min älskling.”

Mein Schatz! Es verschlug ihr für einen Moment die Sprache, nach fast sechs Jahren von ihm mit dieser vertrauten Koseform angeredet zu werden. Im nächsten Moment erschauderte sie unwillkürlich, als er ihr mit dem Finger fast zärtlich über die Wange strich und es in ihrem Bauch verdächtig zu kribbeln begann.

O nein, bitte nicht!

Doch es gab keinen Zweifel. Ihr Körper sprach eine eindeutige Sprache und reagierte ganz unmissverständlich auf Kristians Berührung. Und das, obwohl sie doch allen Grund hatte, diesen Mann zu hassen!

Wie ist das nur möglich? fragte sie sich und spürte, wie Verzweiflung in ihr aufstieg, während sie wie gebannt in seine dunklen Augen blickte. Die knisternde erotische Spannung zwischen ihnen war beinahe greifbar.

“Das ist lange vorbei”, entgegnete sie hastig. Und das ist deine Schuld, schon vergessen? Hättest du nicht …

“Aber vergessen hast du es anscheinend nicht, min älskling.” Er betrachtete sie lächelnd. “Nein, das hast du nicht. Wie könntest du auch?”

Linnea stutzte. Täuschte sie sich oder begehrte er sie noch immer? Fast fühlte sie sich angesichts dieses Gedankens geschmeichelt, doch dann hielt sie sich vor Augen, wie gleichgültig und gefühllos er alles abtat, was in der Vergangenheit vorgefallen war. Kein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns. Aber wieso sollte er auch darüber sprechen? Er konnte schließlich nicht ahnen, was sie gesehen hatte.

“Ich bin nicht dein Schatz, verstanden?” Brüsk stieß sie ihn von sich und blickte ihn herausfordernd an. “Also, was ist jetzt? Willigst du in die Scheidung ein oder nicht?”

Er wandte sich um, nahm einen Holzscheit vom Boden auf und stellte ihn auf den Hackklotz. Als er sich herunterbeugte, um nach der Axt zu greifen, kam Linnea nicht umhin, seine perfekt geformte Kehrseite zu bewundern, worüber sie sich im nächsten Augenblick gleich wieder ärgerte. Wie konnte es nur sein, dass sie ihn immer noch anziehend fand? Sie wusste doch am besten, was für ein hinterhältiger Schuft er war!

Er hob die Axt und ließ das Blatt in den Holzblock fahren. Dann sagte er, ohne sich noch einmal umzublicken: “Nein, auf gar keinen Fall.”

“Mistkerl!”, schleuderte sie ihm aufgebracht entgegen.

Doch Kristian reagierte überhaupt nicht. Ungerührt fuhr er damit fort, Holzscheite zu zerteilen. Als Linnea klar wurde, dass er sie auch weiterhin ignorieren würde, unerdrückte sie einen wütenden Schrei, wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte davon.

Kristian hörte, wie sich ihre Schritte entfernten, und hielt den Atem an. Zum Glück gehörte er nicht zu den Menschen, die leicht die Beherrschung verloren, denn sonst hätte er angesichts Linneas Dreistigkeit sicher nicht so ruhig bleiben können.

Was ihn jedoch wirklich ärgerte, war die Tatsache, dass er sich in gewisser Weise noch immer zu ihr hingezogen zu fühlen schien. Der Anblick ihrer großen blaugrauen Augen, die Art, wie sie ihr schulterlanges haselnussbraunes Haar zurückstrich, die Grübchen, die sich auf ihren Wangen gebildet hatten und die von ihrer inneren Anspannung herrührten … Das alles und noch viel mehr beschwor längst vergessen geglaubte Erinnerungen in ihm herauf.

Er hob das Beil.

Hör auf …

Der Schlag zerteilte den Holzscheit vor ihm in zwei akkurate Teile.

… an sie …

Ein weiterer, wütender Axthieb folgte. Splitter flogen durch die Luft.

… zu denken!

Er ließ die Axt sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die traurigen Überreste des Holzblocks waren allenfalls noch zum Anfeuern des Kamins zu gebrauchen. Mit einem frustrierten Seufzen fegte er sie zur Seite.

An alldem war nur Linnea schuld! Ihre plötzliche Rückkehr in sein Leben hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber sie brauchte nicht zu glauben, dass er es ihr so leicht machen würde.

Natürlich wusste er, dass es keinen Sinn hatte, sich ewig einer Scheidung entgegenzustellen. Irgendwann würde er sich fügen müssen. Zudem hatten sie sich inzwischen sechs Jahre nicht gesehen, und nach dem, wie Linnea ihn damals behandelt hatte, sollte er froh sein, endlich einen Schlussstrich unter diese ganze unselige Farce setzen zu können. Was hätte er denn schon davon, sie noch lange hinzuhalten?

Er schüttelte den Kopf. Nein, es wäre auch für ihn das Beste, diese Ehe endlich abzuhaken – mit allen Konsequenzen.

Doch das ging nicht, ohne es Linnea zumindest ansatzweise heimzuzahlen. Sie sollte sehen, was sie damals so leichtfertig aufgegeben hatte. Er würde ihr das zeigen, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Und wenn sie aus ganzem Herzen bereute, ihm all das angetan zu haben, dann würde er sie zum Teufel jagen.

Sie sollte am eigenen Leib spüren, was es bedeutete, ausrangiert zu werden. Er wollte, dass sie dieselbe Demütigung erlebte, die auch ihm damals zuteilgeworden war. Und wenn sie schon einmal hier war, dann konnte sie ihm auch gleich in ganz anderer Hinsicht behilflich sein.

Der Gedanke war ihm eben ganz spontan gekommen. Zumindest in beruflicher Hinsicht brauchte er zurzeit nämlich dringender denn je eine Frau. Eine Frau, die weitaus schöner war als das schwedische Model, das er für viel Geld engagiert hatte.

Ja, diese Qualität hatte er immer ganz besonders an Linnea geschätzt. Jetzt konnte sie ihre Schönheit noch einmal für ihn einsetzen – ein letztes Mal.

Und verdammt noch mal, sie schuldete es ihm!

Linnea saß in ihrem Wagen und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie war so zittrig, dass sie unmöglich sofort losfahren konnte. Unglaublich, dass Kristian nach all den Jahren noch immer die Macht besaß, sie so die Fassung verlieren zu lassen. Er hatte ja keine Ahnung, welch eine Katastrophe seine Weigerung, in die Scheidung einzuwilligen, nach sich ziehen würde!