Heimwärts über das Eis - Gunilla Linn Persson - E-Book

Heimwärts über das Eis E-Book

Gunilla Linn Persson

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Beschreibung

Heimwärts über das Eis erzählt zart und berührend von der zweiten ersten Liebe, von Schuld und Reue, von Entfremdung und Versöhnung – inmitten der herrschaftlichen Weite des Meeres, der anmutigen Landschaft der schwedischen Schären und des schimmernden Glanzes einer Welt, die nach einem langen Winter wieder zum Leben erwacht. Erste Frühlingsboten in den Schären: Kälte und Eis weichen nur zögerlich, doch die täglich höher steigende Sonne lässt den Frühling auf Hustrun, einer der nördlichsten Inseln im Stockholmer Schärengarten, schon erahnen. Ellinor Ingman hat hier ihr ganzes Leben verbracht. Außer ihr und ihrem alten Vater leben fast keine Familien mehr auf der Insel. Es ist ein ruhiges, oft einsames Dasein, doch Ellinor liebt die Insel und das Meer, ihre Eiderenten und ihren kleinen Garten. Als Herrman Engström jetzt nach über dreißig Jahren plötzlich wieder vor ihr steht, ihre einstige große Liebe, gerät ihre Welt aus den Fugen. Die alten Gefühle drängen sich auf. Und mit ihnen die quälende Frage: Warum ging er damals einfach fort? Die Antwort birgt eine alte, unausgesprochene Geschichte, die immer zwischen ihnen stand. Die weit zurückreicht in den Winter 1914, als ein schreckliches Unglück über die Insel hereinbrach und ein verheerender Schneesturm das Leben der Familien dort für Generationen veränderte … Im sanften Licht des herannahenden Frühlings beginnen die Schatten der Vergangenheit nun langsam zu weichen – und Ellinor und Herrman bekommen eine zweite Chance, für ihre Liebe zu kämpfen.

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Erste Frühlingsboten in den Schären: Kälte und Eis weichen nur zögerlich, doch die täglich höher steigende Sonne lässt den Frühling auf Hustrun, einer der nördlichsten Inseln im Stockholmer Schärengarten, schon erahnen.

 Ellinor Ingman hat hier ihr ganzes Leben verbracht. Außer ihr und ihrem alten Vater leben fast keine Familien mehr auf der Insel. Es ist ein ruhiges, oft einsames Dasein, doch Ellinor liebt die Insel und das Meer, ihre Eiderenten und ihren kleinen Garten. Als Herrman Engström jetzt nach über dreißig Jahren plötzlich wieder vor ihr steht, ihre einstige große Liebe, gerät ihre Welt aus den Fugen. Die alten Gefühle brechen hervor. Und mit ihnen die quälende Frage: Warum ging er damals einfach fort? Die Antwort birgt eine alte, unausgesprochene Geschichte, die immer zwischen ihnen stand. Die weit zurückreicht in den Winter 1914, als ein schreckliches Unglück über die Insel hereinbrach und ein verheerender Schneesturm das Leben der Familien dort für Generationen veränderte …

 Im sanften Licht des herannahenden Frühlings beginnen die Schatten der Vergangenheit nun langsam zu weichen – und Ellinor und Herrman bekommen eine zweite Chance, für ihre Liebe zu kämpfen.

Gunilla Linn Persson

HEIMWÄRTSÜBERDAS EIS

Roman

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Hemåt över isenbei Wahlström & Widstrand, Stockholm. All rights reserved

Der Insel Verlag dankt dem Schwedischen Kunstrat für die Förderung der Übersetzung.

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4487.

Copyright © Gunilla Linn Persson 2015

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016

Quellennachweise für die im Text zitierten Gedichte am Ende des Bandes.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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In Erinnerung an meinen Bruder, Dozent Gunnar Persson,

»Den russischen Prinzen«, Norröra

und

Das Laubfeuer, heut hab ich's entfacht!

TEIL I

AN DEN MAST GEBUNDEN

Das Universum ist Gottes Gehirn, dachte Ellinor, als sie aufwachte.

Es war ein dunkler Morgen in den Schären, und für einen Moment schien alles glasklar. Sie war schlaftrunken, etwas benommen, ihr Haar zerzaust, doch in diesem kurzen Augenblick war es ihr, als hätte sie das Geheimnis des Universums erfasst.

Die Küche war altmodisch eingerichtet, als stünde die Zeit hier schon seit Langem still. Ein Holzherd, ein Spülbecken aus Zink, alte orange und blau gemusterte Tapeten, blau lackierte Holztruhen – und dazwischen ein moderner Kühlschrank in Avocadogrün.

Als um fünf vor sechs der Seewetterbericht im Radio lief, dachte Ellinor schon nicht mehr an das Universum, sondern horchte stattdessen auf die Meldungen der nächstgelegenen Wetterstation in den Svenska Högarna.

Ellinor Ingman war fünfundfünfzig Jahre alt und vollkommen unprätentiös, wenn man einmal von dem Lidschatten absah, von dem sie sich jedes Jahr ein Döschen gönnte. Würde sie nur die geringste Anstrengung unternehmen, etwas mehr als nur Lidschatten von Dior, Farbe Mauve, aufzutragen, sie wäre eine äußerst attraktive Frau. Doch wozu der Aufwand? Seife, Wasser, ein Haargummi für das lange dunkle Haar und eine einfache Fettsalbe mussten im Alltag genügen.

Sie hievte sich aus dem Küchensofa, das ihr als Bett diente, und ging, leicht hinkend, durch den Raum.

Der Seewetterbericht warnte vor Eisbildung.

Ellinor rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie war kaum in ihre Allwetterstiefel und einen dicken Wollpullover geschlüpft, da vernahm sie ein Klopfen gegen die Zimmerdecke, drei Mal. Sie griff nach einem Besenstiel und klopfte zurück – ein Morsesystem innerhalb des Hauses.

Aus der Feuerholztruhe nahm sie ein trockenes Scheit und schnitzte Kerben für zwei Flügel hinein, wie es hier auf Hustrun Brauch war. Jede Insel hatte ihre eigenen Gepflogenheiten. Nachdem der Holzengel seine Flügel in Form von sich aufrollendem Zunder bekommen hatte, zündete Ellinor ihn mit einem Streichholz an, warf ihn in den Ofen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ein Seufzer, der ins Nichts verflog.

Sie streckte sich. In einer Fensternische lag ein tönerner Vogel, so klein, dass er in eine Hand passte. Für einen Kuckuck war die Schwanzfeder ungewöhnlich lang. Es war kein gebrannter Ton, fremde Hände hatten ihn vor langer Zeit geknetet und geformt.

Elinor mochte den Vogel, auch wenn sie sich nicht mehr entsinnen konnte, wo sie ihn herhatte; die Erinnerung war wie ausgelöscht. Als sie den Vogel fest mit der Hand umfasste, stahl sich eine Träne in ihren Augenwinkel. Aber nur eine. Immer nur eine. Ein Tropfen Erinnerung – zu wenig für eine vollständige Geschichte. Für Tränen war keine Zeit, und wozu sollten sie überhaupt gut sein? Für jene, die an den Mast gebunden waren, war eine Träne am Tag mehr als genug.

Ellinor Ingman, die Frau auf der Insel, im Jahr 2013. Noch nicht einmal ein Gnadenjahr.

1914

Februar. In einer Scheune mit dünnen Bretterwänden wird zum Tanz aufgespielt. Rund zwanzig junge Leute haben sich eingefunden, sie wirbeln umher, mal Junge mit Mädchen, mal Mädchen mit Mädchen. Die Mädchen tragen schwarze Röcke und haben sich geblümte Tücher um die Schultern gelegt, ihre Zöpfe sind lang und dick, mit eingeflochtenen Bändern. Bänder, die sie während der langen, winterlichen Dämmerstunden bestickt haben. Die Burschen tragen Lodenhosen, weiße Hemden, Westen und um den Hals gebundene Vierecktücher. Der Duft von Lavendel erfüllt den Raum.

Das Spiel einer Geige und einer Ziehharmonika ist zu hören, und alles sehnt sich nach einem langsamen Tanz zu Kristallen den fina, einem der schönsten Lieder über die Jungfrau Maria, das die gottesfürchtigen jungen Leute kennen.

Kyra Ingman löst sich aus der Menge und blickt durch ein kleines Fenster aus mundgeblasenem, von Luftbläschen durchzogenem Glas. Sie haucht gegen die Scheibe, die von etlichen Eisblumen überzogen ist, und reibt sie mit der Handfläche blank, um besser sehen zu können. Schon im nächsten Moment ruft sie durch die Musik: »Werner, schau, es schneit!«

DIE SCHWEBENDEN

Ein Düsenjet zog einen dicken weißen Strich quer über den Himmel und schnitt wie ein scharfes Messer durch die Wolken.

Vor Hustrun spaltete sich das Eis, die Schollen trieben rasch und lautlos auseinander, wie aufgestemmt von einer unsichtbaren Hand.

Im Flugzeug saß ein Mann, dessen feingliedrige linke Hand einen kratzenden Kohlestrich über ein grobkörniges weißes Blatt Papier zog. Er hielt die Hand in einem seltsamen Winkel. Allmählich wurde der Strich zu einer Rundung und verwandelte sich, ohne dass der Mann den Stift auch nur ein einziges Mal absetzte, in einen Vogel. Eine längliche Taube, die amerikanische Wandertaube. Die Letzte ihrer Art. Martha. Der Mann hob seine Hand und zeichnete die Konturen der Taube mit dem Finger in die Luft.

Ellinor Ingman hatte sich einen warmen Mantel übergeworfen, maulwurfbraun und so abgewetzt, dass an manchen Stellen das Futter durchschimmerte. Als sie eine Hand in die Tasche steckte, fand sie eine kegelförmige Samenkapsel von Türkischem Mohn, die sie wohl im Vorjahr versäumt hatte zu setzen. Sie öffnete die Hand, stieß die Tür auf und trat hinaus. Schnappte nach Atem, als ihr der letzte Rest der Nachtkälte entgegenschlug.

Sie ging zur Wäscheleine, die zwischen zwei knorrigen Apfelbäumen aufgespannt war. Ingrid-Marie und Gravensteiner. Zwar brachten die Bäume kaum noch Früchte, doch für eine Wäscheleine taugten sie allemal. Ellinor nahm ein weißes, froststeifes Bettlaken von der Leine. Es war Mitte März, und am Boden vermischten sich gräulich-schmutzige Schneehaufen mit dem frisch aus der Erde sprießenden Grün.

Ellinor strich mit der Hand über das hübsch gestickte Monogramm. Alle ihre Laken waren mit Initialen versehen, E I und A I, dieses hier jedoch mit einer altmodischen Stickerei – K I. Ihre Finger verharrten eine Weile auf den Buchstaben. Das Laken hatte einmal Kyra Ingman gehört, die es höchstselbst für ihre Aussteuertruhe bestickt hatte.

Ellinors Hand war kräftig und sehnig, Ringe trug sie keine. Sie flüsterte, ganz still zu sich selbst: Kyra, Kyra, Kyra. Ingman, Ingman, Ingman.

Die Bettlaken auf der Leine glichen großen Eisschollen, die knisterten, als Ellinor sie herunternahm.

Der Mann, dessen Hand mit einem einzigen Kohlestrich einen Vogel aufs Papier zu bringen vermochte, hieß Herrman Engström. Geboren auf Hustrun, irgendwo in seinen Fünfzigern, weder besonders alt noch jung. Sein Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt, und er fuhr sich häufig mit den Fingern durchs windzerzauste aschblonde Haar.

Der Mann, der auf dem Platz neben ihm saß, fragte: »Sie zeichnen Vögel, stimmt's?«

»Den einen oder anderen habe ich schon gezeichnet, ja«, gab Herrman zur Antwort.

»Ausgezeichnet. Sie könnten sich damit ihre Brötchen verdienen …«

Herrman kniff seine graugrünen Augen zusammen, sein Lächeln war so schief wie ein alter Zaun. Weiße Zähne blitzten hervor. Die traurige Geschichte der amerikanischen Wandertaube schoss ihm durch den Kopf. Früher einmal hatte es Milliarden ihrer Art gegeben. Wenn sie sich in die Lüfte schwang, verwandelte sie sich in eine wahre Flut aus Flügeln. Sie war wie eine Sonnenfinsternis und wurde gejagt, mit Schüssen und Scheppern, mit Steinen und Schwefelrauch, mit Schreien und Sirenen. Sie wurde verspeist, die Abfälle verrotteten, und aus Milliarden Tauben wurden Millionen, wurden Tausende, wurden Hunderte, bis eines Tages nur noch Martha übrig war. Sie starb 1944 in einem Käfig in Cincinnati. Was hatte sie Böses getan? Sich von Eicheln und Nüssen ernährt … ihr Leben als Taube gelebt?

Zurück im Haus, war Ellinor in ein Paar abgenutzte Wrangler-Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt mit Aufdruck geschlüpft: Patti Smith' Piss Factory. Ihr Haar war am Hinterkopf zu einem nachlässigen Knoten zusammengebunden, ein paar einzelne Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht.

Sie machte sich an die Frühstücksvorbereitungen, nahm einen großen, mehlbestäubten Brotlaib und schnitt mit einem ratschenden Geräusch zwei dicke Scheiben ab. Dem Schneidebrett war deutlich anzusehen, dass es schon seit vielen Jahren in Gebrauch war. Dann holte sie den Käse, ein dicker Klotz. Auf einer Insel ohne Festlandverbindung kaufte man stets groß und viel ein; die Vorräte mussten schließlich eine Zeitlang reichen.

Als Nächstes holte sie die Butter, die über Nacht draußen in der Kälte gestanden hatte. Ellinor kaufte immer Kilopakete. Sie schmierte die Butter auf die Brote, hobelte ein paar dicke Scheiben vom Käse ab und griff dann nach einem Glas mit selbstgeschriebenem Etikett: »Walderdbeermarmelade vom Hof der Schwarzen Henne«, darunter eine winzige Zeichnung des schwarzen Federviehs.

In der Zwischenzeit hatte auf dem Herd ein großes, rosafarbenes Ei gekocht. Sie setzte es in einen Eierbecher, der geformt war wie ein gelber Hahn, dann nahm sie ein Wasserglas und schüttete einen Fingerbreit Whiskey ein. Four Roses. Darauf ein paar Tropfen ihres Geheimelixiers, ein Extrakt aus drei Kräutern, und einen Eiswürfel, aus dessen Mitte eine winzige blaue Blume hervorschimmerte. Zu guter Letzt ein großer Becher schwarzer Kaffee. Dann griff Ellinor nach einem Tablett, das mit einer Weltkarte bedruckt war, von der jedoch schon ganze Erdteile verschwunden waren, weggeschrubbt von der Spülbürste.

Während all dieser Vorbereitungen dachte Ellinor an rein gar nichts. Es war jeden Morgen dasselbe Lied. Die Vormittage reihten sich aneinander wie die Perlen an einem Rosenkranz.

Ave Maria!

Ellinor pustete eine hartnäckige Strähne, die ihr ständig über die Augen fiel, aus dem Gesicht. Sie hatte ihre grauen Strähnen gezählt, es waren zwölf. Die Menopause hatte sie bereits vor einigen Jahren hinter sich gebracht, Kinder hatte sie nie bekommen. Ab und an nähte sie Stoffpuppen für ein Kinderheim in Rumänien, sie wusste ja, wie es war, ohne Mutter aufzuwachsen. Hier auf der Insel war es das Inselmütterchen gewesen, von der sie Liebe und Trost erfahren hatte, und sie hatte Ellinor auch das Puppennähen beigebracht. Sie hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, dem Kinderheim einen Besuch abzustatten und die Kinder zu fragen, welche Namen sie den Puppen gegeben hatten. Doch dafür war sie zu tief auf der Insel verwurzelt. Wie ein Baum.

Sie nahm das Frühstückstablett und balancierte es routiniert vor sich her. Der Eiswürfel mit der erquicklichen Blume hatte zu schmelzen begonnen, die Butterbrote waren mehr als üppig belegt, und das Ei wackelte in seinem pompösen Becher vor sich hin.

Sie ging an einem Zimmer vorbei, dessen kleine Fenster ungewöhnlich weit oben eingelassen waren, wie in einer Kajüte. Auf den Fensterbänken standen Töpfe mit Sprösslingen von rotem Basilikum, gelben Tomaten und roter Paprika. Mit ein bisschen Hühnermist und einem grünen Daumen würden die Pflanzen sicherlich auch dieses Jahr gedeihen. Ein paar ausrangierte, gegen die Südwand gelehnte Innenfenster gaben für gewöhnlich ein gutes Gewächshaus ab.

Ellinor stieg die schmale, steile Treppe ins Obergeschoss hinauf. An der rechten Wand hingen alte, eingerahmte Fotografien; Schwarzweißportraits ernst dreinblickender Männer, Frauen und Kinder. Nur auf einem Bild lächelte eine junge Frau. Kyra Ingman. Als eine der Stufen knarrte, trat Ellinor, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren, das lose Dielenbrett beherzt fest.

Das Klopfen war aus dem Zimmer gleich links von der Treppe gekommen. Auch rechts ging ein Zimmer ab, doch dessen Tür war stets verschlossen. Bruchstücke eines Gedichts von Edith Södergran kamen Ellinor in den Sinn: »Der Schlüssel zu allen Geheimnissen liegt im Gras am Himbeerhügel.«

Aber wo lag der Schlüssel zum verschlossenen Zimmer?

Da klopfte es wieder. Das Tablett in Ellinors Hand erbebte.

»Rettung naht«, rief Ellinor und streckte unwillkürlich den Rücken durch. Dann sackte sie wieder in sich zusammen und schleppte sich vorwärts, das Tablett auf dem linken Arm balancierend, während sie mit der rechten Hand die Tür öffnete.

1914

Die große Scheune mit den dünnen Bretterwänden ist noch immer von Musik erfüllt. Es ist der vierzehnte Februar. Bisher war der Winter mild, doch die Eisdecke hat sich in den Schären weit genug ausgebreitet, dass die Jugendlichen von Hustrun bis hierher nach Tasslan kommen und sich zum Tanz versammeln konnten.

Die Burschen von Hustrun stehen dicht gedrängt beieinander. Es ist düster in der Scheune, alles mutet schwarzweiß an, mit grauen Nuancen. Die geblümten Tücher haben ihre Farben eingebüßt, die schwarzen Röcke der Mädchen hängen gerade herunter, und die jungen Männer zupfen ihre Westen zurecht. Werner Engström legt einen Arm um Kyra Ingmans Taille, kaum merklich, damit die anderen nichts mitbekommen, und Kyras Lippen umspielt ein geheimnisvolles Lächeln. Sie sind zu siebt von Hustrun hergekommen; fünf Mädchen und zwei Burschen.

Kyra flüstert: »Es ist so schrecklich dunkel heute Abend, und dann dieser Schnee. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine solche Dunkelheit gesehen zu haben.«

Werner knufft sie leicht in die Seite. »Es ist spät«, antwortet er mit fester Stimme, »aber der Weg ist abgesteckt, und bis nach Hustrun ist es nur ein Kilometer. Fast könnte man seine Schiffermütze von hier bis nach Hause werfen!«

Alles lacht. Werner setzt seine Mütze ab und lässt sie durch die Luft wirbeln.

»Wir tanzen nach Hause«, lacht er triumphierend und fischt einen kleinen Kompass aus der Tasche, den er vor ein paar Jahren zur Konfirmation bekommen hat. Der Kompass ist sein ganzer Stolz. Kyra sieht Werner an und nickt zustimmend, während er weiter schwadroniert.

»Solange wir wissen, wo Norden ist, finden wir nach Hause. Das wird ein Kinderspiel!«

Trotz allem ist ihr bange ums Herz. »Die Dunkelheit ist so seltsam«, flüstert sie, doch ihre Worte ertrinken in der Musik. 

Dann eine letzte Drehung. Kyra spürt Werners Kraft und seine Freude. Wozu die unnützen Sorgen?, denkt sie. Stampf lieber den Takt! Schweb einen Augenblick!

Doch schon ist der Augenblick vorbei, die Musik verstummt, und die Musikanten packen ihre Instrumente ein. Kyra legt ihr Tuch zu einem Dreieck und bindet es sich um. Ein Gefühl der Verlorenheit macht sich breit: Ist alles vorbei? Jetzt schon? Bis zum nächsten Tanz dauert es womöglich ein ganzes Jahr. Doch es hilft alles nichts. Jetzt geht es heimwärts.

***

Nach der Landung in Arlanda wartete Herrman Engström mit seiner kleinen Tasche an der Gepäckausgabe. Als das Band schließlich losruckelte, suchte sein Blick eifrig nach seinen Koffern. Gerade als er seine Staffelei herunterhievte, trat der Mann, der im Flugzeug neben ihm gesessen hatte, neugierig näher. Er war so ein Typ mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen und lässig schlenderndem Gang. Bestimmt ein Vertreter. Er setzte ein künstliches Lächeln auf und sagte: »Sie könnten wirklich etwas aus dieser Vogelsache machen. Make a living, verstehen Sie?«

Herrman öffnete sein Handgepäck und zog ein dickes Buch heraus. Ein Prachtstück. Es hieß Die Schwebenden, und auf dem Umschlag war ein Flamingo abgebildet. Der Mann blickte ihn mit großen Augen an.

Herrman drückte ihm das Buch in die Hand, dann hielt er Ausschau nach seinem restlichen Gepäck.

Als Ellinor mit dem linken Fuß die alte Kassettentür aufstieß, verlor sie für einen Moment das Gleichgewicht. Ein beißender Alter-Mann-Geruch schlug ihr entgegen, doch an den war sie gewöhnt; ausatmen, nicht einatmen. Im Zimmer war es schummerig, viel zu viele Möbel standen herum, und mitten in diesem heillosen Durcheinander hockte ihr Vater Algot in seinem altmodischen Rollstuhl mit dem hölzernen Sitzrahmen. Er war jetzt ein alter Mann, und was früher einmal stark gewesen war, war nun gebrechlich. Seine Beine trugen ihn kaum mehr. Mit einer Hand stützte er sich auf einer alten Flinte ab. Ebenjener Flinte, mit der er gegen den Fußboden hämmerte, Ellinors Zimmerdecke, um seine Morsesignale auszusenden. Er war ein weißhaariger, sauertöpfischer Greis, schroff wie Sandpapier, doch mit wachem und klarem Blick. Eisblaue Augen. Sein Zimmer nannte er »die Kommandobrücke«.

»Guten Morgen, Käpt'n.« Ellinor stellte das Tablett auf einem kleinen Beistelltisch ab.

»Du wirst doch nicht etwa meine Mixtur vergessen haben, Ellie? Ich schwöre auf diese Tropfen. Vielleicht schaffen sie es, diese alten Halunken wieder zum Zappeln zu bringen!«

Er klopfte sich auf die mehr oder minder unbrauchbaren Beine. Früher hatten sie ihn übers Eis getragen oder zu seinem Boot, gar bis ans »Ende der Welt«, wie eine Landzunge der Insel genannt wurde.

Ellinor zeigte auf das rosafarbene Ei. »Genau vier Minuten und fünfzehn Sekunden.«

»Nur ein Brot mit Marmelade?« Algot musterte das Tablett mit kritischer Miene und zog die Stirn kraus.

»Du musst auch was Vernünftiges essen, Papa. Außerdem soll die Marmelade noch eine Weile reichen. Ich kann erst im Sommer wieder frische Walderdbeeren auf Kålskär pflücken gehen. Seltsam, dass sonst noch niemand die Stelle entdeckt hat.«

»Wer fährt auch schon raus bis nach Kålskär?« Algot blickte sie aufrichtig verdutzt an.

»Ich tue das. Haben wir heute eine Tour?«

»Jaa, irgendein Herr Man, hab den Namen über Funk nicht richtig verstanden.«

»Du solltest dir vielleicht ein Hörgerät zulegen«, antwortete Ellinor.

»Wozu?« Der Alte blinzelte sie an.

»Um wie viel Uhr?«

»Um zehn Uhr am Dampfschiffsanleger auf Tasslan. Im Übrigen funktioniert mein Gehör ganz ausgezeichnet, Ellie. Wehe, du behauptest das Gegenteil! Sind die Tiere schon versorgt?«

»Um die kümmere ich mich nach deinem Frühstück, Papa. Wie immer.«

»Jaja. Im Übrigen hat die Tour irgendwas mit Vögeln zu tun. Ein Herr Man und Vögel. Da kommen sicher ein paar Fahrten zusammen, Ellielein. Kleinvieh macht auch Mist!«

»Erinnerst du dich, wie ich als Kind immer so getan hab, als wäre ich ein Vogel?« Ellinor lachte.

»Du sahst dabei aus wie eine angeschossene Krähe.«

»Ich war eine Eiderente. Da fällt mir ein: Bevor der Sommer kommt, muss ich noch nach den Eidernestern sehen.«

»So ein überflüssiger Humbug«, schnitt der Alte ihr das Wort ab.

»Jaja, wie du meinst«, erwiderte Ellinor.

Wo die Eiderenten brüteten, war ihr wohlbehütetes Geheimnis.

Herrman Engström war ein breitschultriger, muskulöser Mann mit markanten Gesichtszügen. Seine Bewegungen waren geschmeidig, fast so, als würde er nicht gehen, sondern schweben. Doch jetzt musste er stehen, in der Schlange vor dem Informationsschalter der Fluggesellschaft, und die Menschenmenge lavierte um ihn herum wie um eine Boje.

Der Großteil seines Gepäcks war abhandengekommen. All das, was er, der sich mit Expeditionen in freier Wildbahn doch bestens auskannte, so sorgfältig vorbereitet hatte. Warme Sportunterwäsche aus Merinowolle, Instant-Brühe, schützende Kleidung, Handschuhe und Mütze, Trockenfleisch und -fisch – alles war verschollen. Die Frau vor ihm ratterte gerade eine Tirade über irgendeinen Hut herunter, und Herrman hatte nicht übel Lust, sie zu verscheuchen. Die macht ja ein Buhei um diesen Hut, als würde er einem allmächtigen Zauberer gehören, dachte er bei sich.

Schließlich war er an der Reihe.

»Es geht um einen großen Rucksack und eine Reisetasche. Vielleicht sind die beim Umsteigen in Nizza nicht richtig umgeladen worden? Ich komme aus Labrador, Kanada, und bin auf dem Weg auf eine Insel an der Menschengrenze.«

»An der Menschengrenze?«

»Ach, vergessen Sie's. In der Reisetasche befinden sich ein paar Kilo Aquarellfarben von Lefranc & Bourgeois, die besten auf dem Markt. Außerdem Lebensmittel, Unterwäsche und eine Windjacke.«

»Na, so was!« Die Dame setzte eine verständnisvolle Miene auf. »Ich bin untröstlich, aber hin und wieder kommt so etwas vor. Dann wollen wir mal sehen. Dürfte ich bitte einen Blick auf Ihr Ticket werfen?«

»Ich bin per Anhalter unterwegs. Wollen Sie vielleicht meinen Daumen sehen? Ich komme vom magnetischen Nordpol.«

»Ich glaube nicht, dass uns das jetzt weiterhilft«, sagte die Dame geduldig.

»Zum Teufel!«, platzte Herrman heraus.

»Ich versichere Ihnen, wir tun alles, was in unserer Macht steht«, antwortete die Dame ungerührt. »Wenn Sie bitte dieses Formular ausfüllen. In welchem Hotel werden Sie übernachten?«

»Hotel? Ich fahre nach Hustrun raus, in die Schären.«

DIESE VERMALEDEITEN ERINNERUNGEN, SIE SIND GEGEN MICH

Während des Frühstücks verspürte Käpt'n Algot, wie er scherzhaft genannt wurde, eine gewisse Besorgnis, wenn nicht gar ein tiefes Unbehagen. War das etwa Herrman Engström, der zurück auf die Insel kam? Es hatte da einen lästigen Briefwechsel gegeben, den Algot bereute – zumindest ein bisschen, denn er könnte jetzt zu einem Problem werden. Jener Brief, in dem er Herrman seinerzeit mitgeteilt hatte, Ellinor wohne in Frankreich, zusammen mit einem Franzosen, der mit einem einzigen Strich eine Kirche mitsamt Wetterhahn zeichnen könne. Das war natürlich nicht besonders nett gewesen. Andererseits hatte es nicht den Anschein gemacht, als ob Ellinor Herrman seit seiner Abreise auch nur einen Moment lang vermisst hätte. Sie war hier bei ihrem Vater und mit ihren Aufgaben glücklich.

Unterdessen war Ellinor in ein paar hübsche Gummistiefel der Marke Le Chameau gestiegen – das waren die besten. Und immer noch wie neu, obwohl sie die Stiefel schon vor sieben Jahren gekauft hatte. Ihr Vater hatte sie damals geradezu lächerlich teuer gefunden; zu der Zeit hatten sie noch ein gemeinsames Konto gehabt. Ihren fünfzigsten Geburtstag hatte Ellinor dann mit Wachteleiern und einem eigenen Konto begangen. Wenn etwas lächerlich war, dann, dass sie so lange damit gewartet hatte.

Jetzt ging sie hinaus, bis zum Hühnerstall waren es genau zwölf Schritte. Im Arm hielt sie einen Topf mit frisch gekochten Spaghetti. Kaum hatte sie die Klappe geöffnet, trippelten die Hühner auch schon hinaus, eines nach dem anderen, und blinzelten dem neuen Tag entgegen. Es waren schwarze Hühner, Orpingtons, eine schwere Rasse, und mittendrin ein gelber Orpington-Hahn, dessen Federkleid fast orange leuchtete und den sie deshalb Apfelsine getauft hatte. Als Küken hatte er das Sexen überlebt und war als Gluckhenne eingekauft worden. Gelbe Orpingtons waren bekanntlich gute Brüter, doch dieses Exemplar hatte sich schon früh reichlich seltsam benommen. Als Apfelsine eines Tages zu krähen anfing, wusste man auch warum.

Ein Hahn im Hühnerstall – er durfte leben.

Alles hatte eine Geschichte. Ihr bescheidenes Heim, all die Orte auf der Insel, im Grunde nicht mehr als verstreute Punkte auf einer Landkarte, für Ellinor jedoch die ganze Wirklichkeit.

Und jetzt stand sie da, im Hühnergehege, und war doch in Gedanken – wie so oft – woanders. Während die Hühner sich um sie herumscharten, sah Ellinor vor ihrem inneren Auge einen Feurigen Perlmutterfalter. Jenen bräunlichen, recht scheuen Schmetterling mit schwarz getupften Flügeloberseiten, dessen Raupen sich von Veilchen ernährten. War der Falter erst geschlüpft, lebte er von Disteln. Von Veilchen zu Disteln, dachte Ellinor, wie sie so mit dem Kübel in der Hand dastand, und die eifrig gackernden Hühner um sie herumscharwenzelten.

Veilchen. Disteln. Dazu fiel ihr ein Zitat von Strindberg ein: »Diese vermaledeiten Erinnerungen, sie sind gegen mich.« Ellinor lachte auf und kippte das Futter auf den gefrorenen Boden. Die Hühner gurrten ihre Gurgellaute, und Apfelsine postierte sich in der Mitte und verteilte das Futter in alle Richtungen.

Diese vermaledeiten Erinnerungen!

Strindberg hatte eine Zeitlang in den Schären gelebt, eine Episode in seinem Leben, der er auch in seinem Werk Rechnung getragen hatte. Den Einheimischen allerdings hatten seine Schilderungen gehörig missfallen, sodass Strindberg ihnen nicht mehr willkommen war. Wie man wohl heute über die Schären schreiben würde?, überlegte Ellinor. Die Schären, die ihre Mutter umgebracht hatten. Aber nicht abrupt wie durch einen Stich oder einen Schuss, nein, schleichend und schmirgelnd, kräftezehrend, zäh und klebrig und ohne einen Täter.

Hertha Ulendorff.

Es war ein Unglück, dass die junge Hertha die Sommerferien mit ihren Eltern ausgerechnet auf Hustrun hatte verbringen müssen. Ein Schärensommer sollte der Familie Erholung und Freude bescheren, denn Hertha war ein kränkliches, verträumtes Kind, und manchmal konnte man sogar hören, wie sie mit sich selbst redete. Zumindest flüsterte sie. Eine frische Brise und wogende Wellen würden ihr sicher guttun, hatte man sich gedacht.

Die Ulendorffs waren Auslandsdeutsche, doch Hertha verstieß gegen das ungeschriebene Gesetz und zog dem deutschen Pflichtbewusstsein das weitaus sanfter wirkende französische Flair vor – Bonmots. Und trotzdem: Aus Veilchen wurden Disteln.

Draußen auf den Klippen wuchsen wilde Stiefmütterchen, und fast überall in den Felsspalten erblühten wahre Blumenbeete. Aber selbst dort wucherten mannshohe Disteln.

»Das schmeckt euch, was?«, sagte Ellinor zu den Hühnern. »Und unser braver Apfelsine verteilt das Essen!«

Um das Gehege herum war ein Netz gespannt, doch jetzt öffnete Ellinor das Gatter und ließ die Hühner ins Freie. Nur zum Herbst hin hielt sie das Gehege verschlossen, um die Hühner vor den gerade flügge gewordenen Hühnerhabichten zu schützen, die allerdings nicht selten bei ihrer Jagd versagten. Sie rauften sich mit den Hühnern, und Ellinor hatte schon einige lädierte Habichte aufpäppeln und sie in einer Voliere überwintern lassen müssen. Sie bekamen Hackfleisch und Eigelb zu fressen, und für gewöhnlich erholten sie sich so gut, dass sie sie im Frühling wieder freilassen konnte. Kurioserweise machte es den Anschein, als hätten die Vögel ein winziges Glockenspiel im Kopf, ein leise klingendes Glöckchen, das außer Ellinor jedoch niemand zu hören schien. Hatten die anderen einfach weniger Erfahrung mit Habichten? Ellinor taufte sämtliche Habichte auf den Namen Ewert. In diesem Winter kümmerte sie sich um Ewert den Siebzehnten. Das klang fast majestätisch! Auch er hatte ein Glöckchen im Kopf. Vielleicht spielten ja alle Hühnerhabichte, die dank Ellinor noch am Leben waren, zusammen eine kleine Melodie. Sie hatte in einem Vogelbuch geblättert, um mehr über dieses Phänomen herauszufinden, doch seltsamerweise fand sich nirgends ein Wort über das Glockenspiel.

Das Wetter war launisch, und die Bucht war von einer Eisdecke überzogen. Sie würde heute in der Fahrrinne fahren müssen. Herr Man. Ein merkwürdiger Name. Wer mochte das sein?

Sie ging die vierzig Schritte zur Scheune hinüber, die zugleich als Stall diente. Früher war der Putz an den Außenwänden weiß gewesen, doch jetzt war er grau und verwittert, von Rissen durchzogen und mit Moos und feuchten Flecken übersät.

Es gab so viel, das getan werden müsste! So viel »man müsste« und »man sollte mal«. Und seit Algot außer Gefecht gesetzt war, musste Ellinor sich allein um Algots Schärentaxi kümmern. Sie hatte schon früh begonnen, ihm dort auszuhelfen, wie bei allem, was zu Hause anfiel. Ihre Mutter war nie besonders nützlich gewesen. Sie war wie ein verirrter Perlmutterfalter, auf der Suche nach seinem Sumpf-Veilchen.

Ellinor hatte sich kaum der Stalltür genähert, da gab das Pferd auch schon sein vertrautes Wiehern von sich. Edison. Ein isabellfarbener Ardenner mit mittelhohem Widerrist. Ramses, der schwarze Kater, schmiegte sich um Ellinors Beine, als sie in den dunklen Stall trat.

Einige verirrte Sonnenstrahlen fielen durch das bleiumfasste, halbmondförmige Fenster.

Der stattliche Hengst trabte ungeduldig auf der Stelle. Ellinor betrat die Box, wo Edison mit einem ledernen Halsriemen festgebunden war. Kurz drückte sie ihren Menschenkörper gegen den massigen Leib des Pferdes, so, wie sie es immer tat. Manchmal kam es ihr vor, als erwiderte er ihre Berührung.

Es war an der Zeit, auf die Koppel zu gehen. Sie schnappte sich mit der einen Hand einen Strohballen, mit der anderen band sie Edison los. Als er einen Schritt zurückwich, strich sie ihm über die Mähne. Er gehorchte ihr blind. Sechshundert Kilo Kraft, die sich von ihrer Hand auf der Mähne leiten ließen.

»Heute wird ein schöner Tag«, sagte Ellinor. »Wir gehen auf die Koppel am Strand, ein bisschen Seegras tut dir bestimmt gut. An einigen Stellen ist der Schnee schon geschmolzen.«

Edison schnaubte.

Sie machten sich auf den Weg zur Salzwiese, langsam, denn Ellinor hinkte stark. Sie passierten ein kleines Grab, auf dem sieben Steine lagen, so unbeständig wie die lose sitzenden Zähne der Zeit. Es gab auch eine kleine Kapelle, aber keinen Glockenturm.

Der Hengst trottete gemächlich neben Ellinor her, und der Strohballen schlug ihr gegen das gesunde Bein. Als sie einen flüchtigen Blick auf die Gräber warf, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie musste an ein Gedicht aus Málaga denken. Irgendein Estrada Soundso hatte ein Verzeichnis über die Grausamkeit von Edelsteinen verfasst. Ellinor entsann sich einiger Zeilen über den Granat. Nach dem Tod des Mädchens, das er geliebt hatte, küsste der Philosoph und Dichter Lorenzo Romano fünf Jahre lang (bemessen am Maß der sogenannten großen Sehnsucht) die hautfarben schimmernde, kühle Oberfläche eines Granats. Auf gewisse Weise weckten diese Zeilen ein so tiefes Gefühl in Ellinor, wie es nur Gedichte vermögen. Bemessen am Maß der großen Sehnsucht.

Herrman Engström saß in einem Taxi und war auf dem Weg zum Schiffsanleger von Tasslan. Die Straße war ein alter Kuhpfad, der sich durch die Schärenlandschaft von Roslagen schlängelte. Hinter der Sjuhundra-Kirche in Husby bog das Taxi scharf nach links ab und fuhr über eine Brücke, danach eine Weile über eine Schnellstraße. Dann ging es eine kleine, schmale Straße entlang und hinter dem Penningby-Schloss scharf nach links gen Küste. Früher einmal waren die Inseln dem Schloss unterstellt gewesen, doch dann wurden die Schärenbewohner Herren über ihren eigenen Besitz. Auch Herren über sich selbst?

Bis nach Hustrun hatte Herrman noch zwei Fährüberfahrten vor sich, und von Tasslan aus würde er ein Taxiboot nehmen müssen. Hier draußen in den Schären stellte das Leben andere Anforderungen, fernab der gewohnten Zivilisation.

Er betrachtete seine Hände. Er war auf dem Weg nach Hause. Ein seltsamer Gedanke.

Nach Hause …

Schon seit einer halben Ewigkeit war er nicht mehr hier gewesen. Vor vielen Jahren hatte er sich in die große, weite Welt aufgemacht und war seither in gewisser Weise ein ewig Reisender geblieben; reisend mit den Vögeln, seit über dreißig Jahren. Und trotzdem rüttelte die Rückkehr ein Gefühl von Heimat in ihm wach. Die Fahrt führte ihn zu wohlbekannten Kurven, Erhebungen, Windungen – und jetzt passierten sie eine Bucht, in der früher ein treues Schwanenpaar gelebt hatte. Ob es sein großes Nest weitervererbt hatte? Und da, der Wald mit den hohen Tannen, wo früher immer Seeadler gebrütet hatten. Herrman hatte gehört, dass sie eine Zeitlang mit Wild gefüttert worden waren, um die Bestandsdichte zu erhöhen.

Nach Hause …

Sein Zuhause, das war inzwischen Labrador, allerdings hatte er seine Wurzeln weder vergessen noch gekappt. Er erinnerte sich gut an die Insel, die runde Bucht, in der er als Kind immer schwimmen war, die zahlreichen seichten Tümpel, in denen er Froschlarven gesammelt und sie in Einmachgläser mit trübem Wasser gesteckt hatte. Auch den einen oder anderen Salamander hatte er entdeckt. Salamander. Als Kind hatte das Wort in seinen Ohren geradezu magisch geklungen. Wie Zauberei: Sim Salamander!

Ob Ellinor womöglich zurückgekehrt war?

Nein, sie war fort. Ausgeflogen.

Seine große Jugendliebe. Schon vor geraumer Zeit hatte sie einen Franzosen kennengelernt. Bestimmt hatte sie Kinder und Kindeskinder, die Ça va? sagten. Kleine Frösche. Er lächelte in sich hinein. Dass der Gedanke an Ellinor ihn noch immer zum Lächeln brachte. Ellinor, die er so mühsam und sorgfältig vergessen hatte. Wie schön sie gewesen war.

Offenbar wurde die Überfahrt immer noch von Algots Schärentaxi bestellt. Der alte Mistkerl musste inzwischen mindestens so alt sein wie Methusalem. Unkraut vergeht nicht, dachte Herrman, nicht ohne bitteren Beigeschmack.

Ellinor …

Jeune fille au chapeau fleuri de marguerites. Eine Skulptur von Rodin, die der jungen Ellinor bis aufs Haar glich. Und genauso kannte er sie: als jeune fille.

Das Taxi fuhr an einem kleinen Hof in Roslagen vorbei, vor dem jede Menge alte Schrottkarren standen. Ich kehre heim, um einen Schlussstrich zu ziehen, dachte Herrman.

Ich werde verkaufen. Ich verkaufe unser Land. Mit allem, was dazugehört, samt dem »Ende der Welt« und dem »Kap der Guten Hoffnung«, wie es dort auf Hustrun heißt.

Ellinor stand in ihrem Freilandkeller, es roch nach Erde, die Luft war feucht und kühl. Die gewölbte Decke erinnerte an eine Sakristei. Die Heiligtümer bestanden aus einem Haufen Kartoffeln der Sorte »Blauer Schwede« sowie Möhren einer alten Sorte namens »Großmutter Smålands gute Karotte«, die besonders süß und saftig schmeckte. Außerdem gab es herrliche, große Kohlköpfe und mehrere Regale voller Weckgläser mit Marmelade. »Walderdbeermarmelade vom Hof der Schwarzen Henne«. Die Walderdbeeren hatte sie auf Kålskär gepflückt, einer kleinen Ausflugsinsel vor Åland, die Hagebutten für die Hagebuttenmarmelade hier auf Hustrun, wo reichlich Kartoffelrosen wuchsen. Ehe sie die Marmelade einkochte, trocknete Ellinor die Hagebutten, das verlieh ihnen eine besondere Süße. Es gab auch Stachelbeermarmelade. Zudem Gläser mit Gelee von roten und schwarzen Johannisbeeren und einen Sack mit Muschelschalen für die Hühner. Blaue Glasflaschen mit dem Saft von Wildhimbeeren, die sie am Hang beim Kahlschlag geerntet hatte. Sie hatte gern ein paar Flaschen vorrätig, wenn im Frühling die ersten Wochenendgäste kamen. Und mit ihnen die Kinder, die Ellinor so oft zu Hause besuchten.

Eigentlich hatte Ellinor nicht viel für Kinder übrig, aber dafür konnten die Kinder sie gut leiden. Sie mochten diese ganz eigene Welt, in der Ellinor lebte. Und vielleicht auch Ellinor selbst, ihre Strenge. Bei Ellinor fiel stets etwas an, wobei sie ihr helfen durften. Hier war alles so echt; die Tiere, die Düfte, die Eier, einfach alles. Ebenjene Welt, in der ihre Mutter sich so unwohl gefühlt hatte. Hertha mit ihren feinen Tischmanieren und Vokabeln, ihrem Bon appétit! oder nur Bon ap!, als ob jeder verstünde, was das bedeuten sollte. Une femme fatale in Gummistiefeln, die ihrer Tochter rote Schleifchen ins Haar band, für die sie dann gehänselt wurde. Die Welt des Film noir, dafür hatte Hertha geschwärmt. Was war schon die Gehässigkeit von ein paar Inselkindern gegen Jean-Paul Belmondos Lächeln?

Die Ehe zwischen ihrem Vater Algot, dem Kerl aus den Schären, seinerzeit ein guter Tänzer, der ebenso fröhlich wie verschroben und miesepetrig sein konnte, und Hertha Ulendorff, schön und zerbrechlich wie eine Eierschale, war nicht gerade glücklich gewesen. Das erste Kind kam ohne Umschweife, Ellinor. Dann noch ein Kind, Ellinors kleiner Bruder Elvin. Ein Unfall. Wann immer Ellinor einen Fuß in den Freilandkeller setzte, musste sie unweigerlich an ihre Mutter denken. An das Ungeheuerliche, das sie getan hatte, als sie ins Meer gegangen war. Ellinor versuchte zu vergessen, jeden Tag ihres Lebens versuchte sie zu vergessen, doch auch das wirbelte ihre Erinnerungen auf.

Im letzten Herbst hatte sie allerhand Pilze eingelegt. Es gab ein ganzes Regal voller Fichtenreizker, von denen man allerdings nicht zu viele essen durfte, sonst wurde man trübsinnig. Außerdem Trompetenpfifferlinge von den Tümpeln im Inselinneren sowie Gemeine Riesenschirmlinge, die so gut nach Mandel schmeckten und perfekt zu Fleisch passten. Manchmal, wenn der Pilz noch frisch war, briet sie einen ganzen Hut und aß ihn wie ein Omelett. Natürlich nur dann, wenn sie zwei gepflückt hatte, denn der erste war für ihren Vater bestimmt.

Die Hexe Hu.

Und schon war die Erinnerung wieder da. Die Initialen ihrer Mutter – H U –, jene zwei Buchstaben, mit denen Herthas Bettlaken bestickt war, das sie mit auf die Insel gebracht hatte. Im Inselmund verwandelten sie sich in einen Scherz über die »Hexe Hu«. Hertha war dabei nicht zum Lachen zumute, sie war verletzt. Irgendwann verebbte der Scherz jedoch wieder von selbst.

Über Ellinor machte sich niemand lustig. Jedenfalls jetzt nicht mehr.

Die Insel Hustrun lag weit draußen in den äußeren Schären, knapp vor der Verbreitungsgrenze des Geißklee-Bläulings, ein kleiner blauer Schmetterling mit verschwommenen schwarzen Flügelrändern. Weil die Larven Licht und Sonnenröschen mochten, hatte Ellinor eine Reihe Sonnenröschen ausgesät, deren Blüten sich dem Licht zuwandten und der Sonne zunickten wie ein kleines Mädchen mit einem Hut aus Margeriten.

Sie nahm ein Glas Hagebuttenmarmelade vom Regal, während ihr der Geruch feuchter Erde in die Nase stieg. Dann verließ sie den Freilandkeller, ganz vorsichtig, um nicht auf einer Eispfütze auszurutschen, im Arm das Marmeladenglas und den leeren Topf fürs Hühnerfutter. Noch bis vor Kurzem hatte ihr treuer Hund namens Kumpel sie überallhin begleitet, und sie trug sich mit dem Gedanken, wieder einen anzuschaffen, einen Welpen, einen rot-weißen Setter wie Kumpel, aber »ein Tier bringt so viele Verpflichtungen mit sich«, lächelte sie in sich hinein.

Außerdem hatte sie einen Kater, Ramses, der ins Haus durfte, wenn ihm danach war, der aber die meiste Zeit durch Wald und Flur stromerte.

Ellinor hoffte, dass das Schicksal ihrer Mutter sie eines Tages loslassen und ihr keinen Schmerz mehr zufügen würde. Doch die Tür, die ihre Mutter durch ihren Selbstmord geöffnet hatte, die Tür zum ewigen Nichts, ging immer wieder auf. Ein ums andere Mal schlug Ellinor sie zu, doch jedes Mal sprang sie aufs Neue auf.

Belle de jour.

Ein Tagfalter.

Das war ihre Mutter.

Hier draußen im Meer war ihre Mutter verrückt geworden. Sie hatte sich mithilfe von ein paar Plastiktüten voller Steine ertränkt. Und niemand hatte etwas geahnt.

Hätte sie schweigen und ihr Leid erdulden sollen?

Damals, als es geschah, war Ellinor zehn Jahre alt. Jetzt fühlte sich die Erinnerung an wie eine Eispfütze in ihrem Innern, ein Fleck, der immer glatt war. Glatteis, Gischteis – und wieder war sie darauf ausgerutscht.

Die schöne Hertha Ulendorff hatte ihre Tage auf Hustrun unter dem Namen Hexe Hu gefristet. Ein Dasein, als hätte man sie mit schwarzer Farbe übermalt. Als hätte der verschwommene schwarze Rand auf dem Schmetterlingsflügel sich über das Blau ergossen.

Die allmorgendlichen Pflichten. Zuallerletzt kümmerte Ellinor sich um sich selbst. Machte Feuer im Ofen, zog den Stecker vom Radio heraus und stöpselte stattdessen einen kleinen CD-Spieler ein. Sie spielte eine CD der Sängerin Laleh, die ihr beim Schlussverkauf in die Hände gefallen war. Ein Lied über das Meer. Mit ihrer vollen und weichen Altstimme sang Ellinor leise mit: »Er sagte: Ich sah dich wandern. Jeden Abend denkst du laut und winkst. Er sagte: Ich bin ein Blauwal und bring dich von hier fort.«

Ihren Kaffee trank sie am liebsten nach alter Sitte. Dafür goss sie ein wenig Kaffee in eine Untertasse, steckte sich einen Zuckerwürfel in den Mund und schlürfte den Kaffee durch den Zucker hindurch. Dann warf sie ein Holzscheit in den Ofen, einen gelben der Marke AGA, der seinerzeit so modern gewesen war wie ein Astronaut auf dem Mond, setzte sich an den Küchentisch und begann zu schreiben. Mit Bleistift auf rauem Papier, so wie jeden Morgen.

Sie schrieb:

Papa!

Ich bin deine endlosen Lappalien und deine ausgespiene Verbitterung leid.

Ellie

Kritisch überflog sie die Zeilen und begriff einmal mehr, dass sie diesen Brief unmöglich an Postmeister Algot im Obergeschoss abschicken konnte. Es ging einfach nicht.

Womöglich meinte sie es gar nicht so. Nur ein bisschen, manchmal, in jenen flüchtigen Augenblicken des Überdrusses, der Müdigkeit und der Sehnsucht nach einem Blauwal.

Sie schnaufte kurz. Knüllte dann das Papier zusammen und schleuderte es ins Feuer. Die Flammen fauchten kurz auf, dann war es wieder vorbei.

ES IST SO KALT, DIE WORTE WERDEN ZU EIS

1914

Die sieben jungen Tänzer von Hustrun machen sich auf den Weg heimwärts über das Eis. Es ist nicht weit, einen Kilometer vielleicht, doch es rieseln dicke, flache Schneeflocken vom Himmel, der noch schwärzer ist als schwarz. Ein sanfter Wind erfasst die Flocken und wirbelt sie durch die Lüfte.

Kyra Ingman sorgt sich am meisten. »Was, wenn der Wind zunimmt?«

Werner Engström legt einen Arm um ihre zarten Schultern, beschützend und zärtlich. »Die Flocken sind schon jetzt so groß wie Fäustlinge, da nimmt der Wind nicht mehr zu.« Und weiter: »Außerdem haben Vater und ich gestern den Weg markiert, damit wir vom Tanz heil nach Hause kommen.«

In seiner Stimme schwingt ein gewisser Stolz mit. Er ist stolz auf all die Wacholderbüsche, die sie geschlagen haben, auf die Löcher, die sie ins Eis gebohrt haben, darauf, dass sie das Richtige getan haben. Denn wenn man hier draußen in den Schären lebt, müssen die Dinge stets auf die rechte Weise erledigt werden, hier, wo man den Elementen vollkommen ausgeliefert ist, so nah an der Grenze dessen, was ein Mensch auszuhalten und zu bewältigen vermag. Das Fischen, das Auswerfen und Einholen der Netze, das Abkochen der Seeskorpione für die Hühner, das Filetieren der Fische für die Sommergäste, das Einlegen der Strömlinge, weil man sonst so gut wie nichts für ein Kilo Strömlinge bekommt. Vergebene Mühen kann sich hier niemand leisten. Ja, so ist das Leben auf Hustrun, wo alles auf die rechte Weise zugehen muss, und wenn man tanzen geht, dann wird vorher der Weg abgesteckt, denn Wetter bleibt Wetter und wird manchmal zu Unwetter. Alle zwei Schritte wird drei Mal ein Strahlstock ins Eis gerammt, und in die Löcher werden Wacholdersträucher gesteckt.

Die sieben jungen Leute sind die Dunkelheit nicht gewohnt, für gewöhnlich schlafen sie um diese Zeit. Werner, der Älteste, geht vorneweg. Er holt seinen Kompass hervor, den er ganz fest unter dem Fäustling umfasst hält. Auch ein Ring aus Blech und Emaille liegt in seiner Hand, doch den versteckt er schnell. Kyra soll ihn bekommen, aber jetzt noch nicht. Die Jugendlichen drängen sich so dicht aneinander wie Tauben in der Luft. Werner wendet sich um und sagt mit fester Stimme: »Keine Angst. Ich hab ja den Kompass. Wenn wir dem abgesteckten Weg folgen, können wir schon bald das Licht von unserem Küchenfenster sehen.«

Dann klettert der kleine, unverzagte Trupp über den Schneewall, der sich ein Stück abseits vom Ufer aufgetürmt hat. Die Mädchen raffen ihre Röcke und treten ganz vorsichtig mit ihren Knöpfstiefeln auf. Die Burschen machen große Schritte. Hinein in die Finsternis, hinein in den Sturm.

Keiner von ihnen hat Angst, zumindest zeigt es niemand. Immer dichter stieben die Schneeflocken durch die Luft, doch das Schlimmste ist, dass sie bereits kein Land mehr sehen, wenn sie sich umdrehen, obwohl es nur wenige Meter entfernt ist.

Kyra erinnert sich an die Strophe eines alten Gedichts, das sie irgendwo aufgeschnappt hat:

Ist's wahr, ich hab geliebt

Drei ganze Tage lang,

Und werde lieben noch drei mehr,

Wenn es hält, das schöne Wetter.

Ja, wenn das Wetter sich hält, werden sie es über das Eis bis nach Hause schaffen.

Aber hat der Wind nicht längst zugenommen?

Haben die Flocken, die so groß wie Fäustlinge sind, nicht aufgehört zu tanzen, um jetzt wie Pfeile vom Himmel zu donnern? Kyra ballt in ihrer Manteltasche die Hand zu einer bangen Faust. Nimmt drei routinierte Schritte auf dem glatten Eis und versucht, sich mit Gedanken an ihre Brauttruhe zu beruhigen. Das handgewebte Leinenlaken, die breite Spitze, die sie in den Dämmerstunden geklöppelt hat. Das Nadeletui. Die kleine Seife mit Lavendelduft. Das alles wird sie mitbringen, wenn die beiden zu »sie und er« werden – zu Kyra und Werner. Ingman und Engström. Schon bald werden sie wieder zu Hause sein auf Hustrun. Was könnte ihnen schon zustoßen? Gewiss, das Wetter spielt verrückt, aber noch können sie die Wacholdersträucher ausmachen, zumindest stellenweise. Sie werden heimkehren, und Kyra wird sich umsonst Sorgen gemacht haben. Und in der Brauttruhe liegen ein Brautlaken und eine Lavendelseife und ein Nadeletui. Klingt das nicht verheißungsvoll?

Mit einem Mal wird es kalt. Eisig kalt, inmitten des Schneesturms. So bitterkalt, dass die Worte zu Eis werden. Worte, die Kyra sagen möchte, übers Umkehren, doch sie gefrieren ihr auf der Zunge. Sie hakt sich bei Werner unter, denn im Geheimen sind sie längst ein Paar. Solange sie zu zweit sind, ist die Nacht weniger gefährlich, diese Nacht, die so kalt ist, dass die Worte zu Eis werden.

***

Die roten Steine hatte Hertha am Västernäsörn geholt.

Sie hatte alles gründlich geplant. Heimlich trug sie die Steine nach Hause, türmte sie zu einem Haufen auf, und womöglich dachte sie im Stillen, jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Anleger.

Was hatte sie angetrieben?

Was hatte sie fortgetrieben?