Heinz und sein Herrl - Eva Woska-Nimmervoll - E-Book

Heinz und sein Herrl E-Book

Eva Woska-Nimmervoll

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Beschreibung

Heinz und sein Herrl leben ein ruhiges und beschauliches Leben im Wiener Gemeindebau. Sie drehen ihre Runden um den Block, sonst passiert nicht viel. Doch eines Tages kommt es zu einem Intermezzo mit dem Nachbarn, der immer schon was gegen Heinz hatte. Ein Wort gibt das andere, der Nachbar fällt auf den Boden und stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Ist etwa das Herrl schuld an seinem Tod? Der Vorfall bringt so einiges ins Wanken. Heinz und sein Herrl müssen raus aus ihrer Komfortzone, Hilfe holen, zur Aussage aufs Revier. Dabei treffen sie nicht nur alte Bekannte und Liebschaften, sondern bekommen auch Hilfe von einer interessanten Frau namens Magritta. Und als sie auch noch Drohbriefe erhalten, steht die Welt von Heinz und seinem Herrl endgültig Kopf. Eva Woska-Nimmervoll führt ihre Figuren mit großer Leichtigkeit und einem Gespür für Alltagskomik durch den Roman. Dabei baut sie aus der Wiener Verschrobenheit, dem Prekären und Abgründigen mancher Lebensentwürfe ein liebevolles Porträt des Gemeindebaus. "Heinz weiß nicht, dass der Nachbar ihn Scheißköter nennt. Heinz hat, im Gegensatz zu den meisten anderen Hunden, keine besonders gute Menschenkenntnis. Mein Hund ist jemand, der alle, unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft, gleichermaßen wertschätzt. Heinz wäre ein guter Papst."

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Eva Woska-Nimmervoll

Heinzund seinHerrl

Roman

Skizziert im April 2014 im Atelier des Landes NÖ in Paliano.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01167-9

Copyright © 2019 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer

Unter Verwendung zweier Grafiken von shutterstock.com/Kudryashka (Hund) und rvkia (Hintergrund)

Lektorat: Senta Wagner

Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, typic.at

Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen,sondern was wir sind.

Fernando Pessoa, »Das Buch der Unruhedes Hilfsbuchhalters Bernardo Soares«

Inhalt

Der Nachbar

Der Besen

Frida

Magritta

Das Haar

Der Verdacht

Goldenes Wienerherz

Sigrid

Irene

Die Aussage

Die Neunziger

Leobersdorf

Guarana

Das Oaschloch

Der Sheriff

Die Übergabe

Wienergrün

Drei Monate später

Der Nachbar

Es ist schön, einen Hund zu haben, der Heinz heißt. Mein Nachbar nennt ihn Scheißköter. Mein Hund tut niemand was. Er ist einfach nur Hund und schnuppert, frisst, scheißt und schläft. Der Nachbar knurrt, wenn Heinz und ich im Stiegenhaus an ihm vorbeigehen. Ich muss spazieren gehen, weil Heinz ein Hund ist und Hunde das brauchen. An Ritualen hanteln wir uns durch den Tag. Wir gehen in der Früh raus, kurz. Wir gehen abends raus, länger, aber nicht weit weg. Zum Arbeitsamt fahre ich mit der Tramway, da nehme ich Heinz nicht mit. Auch beim Supermarkt und bei Doktor Lovac müsste er vor der Tür warten, darum bleibt er allein zu Hause.

Nein, das ist kein Zähnefletschen. Heinz lacht, wenn er sich freut. Man versteht uns gern falsch. Mit anderen Hunden kommt Heinz sehr gut zurecht. Zu seinen Freunden zählen zwei Hunde aus unserem Block, die sich untereinander nicht verstehen. Heinz jagt gern die kleine gelbliche Katze, die manchmal im Hof auftaucht, bis jetzt wurde noch niemand verletzt.

Ich laufe mit einem kleinen Plastiksackerl in der rechten Hand hinter Heinz her durch den Hof. Er hat keine Lust, vor meinen Augen aufs Klo zu gehen, und schlägt Haken auf dem Rasen. Eigentlich dürfte Heinz dort nicht herumlaufen, eine große Tafel zeigt ein Bild mit einem durchgestrichenen Hund. Der Hund darf nicht in die Sandkiste der Kinder machen, er muss an der Leine bleiben und in den Öffis braucht er zusätzlich einen Beißkorb. Ich habe den Beißkorb immer mit, aber ich verwende ihn nicht. Heinz beißt niemand, er geht fremden Menschen aus dem Weg. Heinz steckt seine Nase in ein Blumenbeet. Er wedelt mit dem Schwanz und sagt: »Wuff, wuff.« Vielleicht hat er etwas gefunden, von dem er denkt, es könnte mich interessieren.

Der Nachbar hat eine Glatze, auf der sich das Sonnenlicht spiegelt. Die Furchen in seinem Gesicht sind Täler in einer kargen Landschaft. Eine Warze triumphiert über dem linken Auge. Er geht über den Hof und sein Oberkörper wiegt sich bei jedem Schritt hin und her; ein schwerfälliger Schiffsmast, der sich von einer Seite auf die andere neigt. Der Nachbar sieht aus wie jemand, der sich oft erfolglos am Sack kratzt. Manchmal höre ich durch ein offenes Fenster bis in den Hof, wie er schreit. Dann und wann schreit eine Frau zurück. Vielleicht ist es seine Frau oder die Tochter, selbst schon Mutter, die auf Besuch ist. Jetzt geht die Tochter mit dem Nachbar ins Haus, an der Hand ihr Kind undefinierbaren Geschlechts. Ich bilde mir ein, dass es seit Jahren nicht mehr gewachsen ist. Sie gehen an mir vorbei, es riecht nach Alkohol. Ist es der Nachbar? Oder seine Tochter? Die Frau des Nachbarn ist faltig und grau wie ein altes Ausreibtuch, oft ausgewrungen, nicht mehr aufnahmefähig, im Kübel zu Hause. Sie hängt über dem Fensterbrett und lässt ihren Blick auf den Hof fallen.

Ich habe einen Termin bei Doktor Lovac und bringe Heinz vorher zurück in die Wohnung. Daheim fällt mir ein, dass ich morgen Waschtag habe. Bis Mittag darf ich die Waschmaschine im Keller benutzen. Die getrocknete Wäsche vom letzten Mal ist noch da; sie bildet einen Appellberg. Er schreit: Zusammenlegen! Bügeln! Anziehen! Ich gehorche nicht. Der Berg schmollt und sagt nichts mehr.

Die Ordination von Doktor Lovac ist um die Ecke. Die Ärztin tastet meinen Bauch ab und erklärt, sie ist sich sicher, dass ich noch immer keinen Krebs habe. Ich glaube ihr nicht. Ich glaube, dass der Krebs verschwindet, wenn sie das sagt. Doktor Lovac denkt bestimmt, ich interessiere mich für sie und habe deshalb immer Krebs. Hätte ich keinen Krebs, würde ich mich von ihr fernhalten. Damit ich sie nicht gefährde. Ich bin nicht gewalttätig, aber trotzdem eine Gefahr für die Menschen. Und sie für mich. Das kann ich aber so nicht sagen, das würde sie nicht verstehen.

»Und wie geht es Ihnen mit Ihren Zuständen?«, fragt sie.

»Geht so. Es sind nur immer die vielen Menschen.«

Sie nickt. Ich will über meine Zustände nicht mehr sprechen. Soll sie ruhig glauben, dass ich nicht richtig im Kopf bin. Ich darf Menschen nicht zu nahekommen und sie mir nicht, das ist eine Tatsache. Tatsachen werden nicht weniger, wenn man über sie spricht. Oder wenn niemand sie glaubt.

Sie sieht mir in die Augen und sagt, ich soll mich im Kriseninterventionszentrum melden, bei Doktor Schwarz, und mich auf sie berufen. Dort brauche ich mich nicht anzumelden und auch nichts zu bezahlen.

»Schauen wir mal, ob wir so weiterkommen.«

Sie schreibt etwas auf einen Zettel. »Wenn Sie da nicht hingehen, kann ich nichts mehr für Sie tun. Das ist Ihnen klar, oder?«

Ich sacke zusammen und starre auf den Boden. Doktor Lovac seufzt.

»Ich verstehe Sie ja. Aber Sie müssen auch aktiv werden.«

Ich bin aktiv: Die Tramway fährt mich zum Arbeitsamt beim Floridsdorfer Bahnhof. Dort warte ich stehend. Alle Sitzplätze im Wartebereich sind besetzt. Eine fahlblonde Frau mit zwei kleinen Kindern braucht vier der fünf Sessel. Schweißausbruch. Es gibt nichts, wo man die Jacke aufhängen kann. Wer nicht arbeitet und keine Steuern zahlt, hat kein Recht, sich zu beschweren. Weder über eine fehlende Garderobe noch über eine unfreundliche Behandlung noch über zu spät überwiesene Bezüge. Manche tun es trotzdem. Ich höre sie durch die Türen jammern, klagen, betteln, toben. Antworten höre ich keine. Viele gehen geduckt hinaus, aus Angst vor Vorwürfen.

Früher habe ich gern Menschen beobachtet. Ich hätte vielleicht beim Wachdienst arbeiten können. Aber jetzt bin ich schon damit überfordert, mich selbst zu beobachten. Ich lehne mich aktiv an den Automaten, der Jobs ausspuckt. Ich tippe nichts ein. Es käme sowieso nichts raus. Für mich, so wie es mir geht, gibt es keinen Job. Schon lange nicht mehr. Ich bin vorübergehend nicht vermittelbar.

Frau Bauer sagt, sie weiß nicht, was sie mit mir tun soll.

»Haben Sie noch immer diese Zustände?«

Ich falte den Befund der Ärztin auseinander.

»Sie wissen aber, dass das nicht mehr lange so geht. Mit dieser Regierung …«

Sie sieht mich bekümmert an. Ich will sie trösten und sage ihr, sie soll sich keine Sorgen machen, das wird schon wieder. Sie fragt mich, ob ich noch meinen Hund habe. Ich nicke. »Das ist gut, ja.« Sie lächelt wieder und gibt mir einen neuen Termin. Dann gehe ich hinaus, raus aus dem Gebäude, so schnell ich kann. Ich dränge mich zwischen den Rauchenden vor dem Eingang durch, nicht wie auf der Flucht, sondern als müsste ich dringend wo hin, als wäre ich der eine, auf den irgendwo ein Job wartet und nicht umgekehrt.

Der Besen

In unserem Hof sehe ich den Nachbar um die Ecke biegen und denke, es könnte besser sein, Heinz an die Leine zu nehmen. Heinz weiß nicht, dass der Nachbar ihn Scheißköter nennt. Heinz hat, im Gegensatz zu den meisten anderen Hunden, keine besonders gute Menschenkenntnis. Mein Hund ist jemand, der alle, unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft, gleichermaßen wertschätzt. Heinz wäre ein guter Papst. Heinz läuft auf den Nachbar zu, vielleicht, um ihn zu segnen.

»Heinz! Gehst her!«, rufe ich.

Der Nachbar dreht sich um, langsam: »Wie reden Sie mit mir?«

Instinktiv schnappe ich den Besen, der an der Hausmauer lehnt, und halte ihn schützend vor mich. Dass der Nachbar auch Heinz heißt, hatte ich vergessen. Heinz springt an Heinz hoch. Der Nachbar schüttelt meinen Hund ab, eine Schuhsohle wird sichtbar und tritt ihn auf den Rasen. Die Unterseite von meinem Hund dreht sich nach oben. Heinz, der Hund, jault auf. Der Besenstiel bohrt sich in die Rippen des Nachbarn. Heinz, der Nachbar, jault auf. Ich lasse den Besen fallen. Der Nachbar fällt mit einem schleifenden Geräusch. Es staubt. Die Schuhsohle, die getreten hat, ragt gen Himmel. Haarige weiße Unterschenkel über schwarzen Socken werden sichtbar. Was ist gerade passiert?

Es pocht in mir, der Kopf wird mir zu eng, während ich mich über Heinz beuge. Ich huste. Es hallt durch den Hof. Jetzt nur keine Ohnmacht. Hinter mir Schritte aus dem Stiegenhaus durch die offene Haustür. Ein holpriger Rhythmus, ein stolpernder Takt aus vielen Füßen. Eine junge Stimme ruft: »Was hat der Opa?«

Ich drehe mich um. Das Kind steht an der Haustür, geblendet von der Sonne, die sich auf einmal zeigt. Es kneift die Augen zusammen und hält eine Hand über die Stirn. Schauen, was passiert ist. Dahinter die Tochter des Nachbarn, ebenso verkniffen, obwohl noch keine Sonne im Gesicht. Strähnig hängen ihr Haare über die Wangen. Bald wird sie auch eine Warze bekommen wie ihr Vater. Sie ist außer Atem. Das Kind, blass und hellhaarig, deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seinen keuchenden Opa. Der zappelt wie Kafkas Käfer, einen Schuh hat er verloren. Der liegt, fast wie hingestellt, auf dem Rasen, auf den Hunde nicht dürfen, auf dem mein Hund jetzt aber zitternd hockt. Ich hebe ihn auf. Er wimmert leise. So sieht er sonst nur zu Silvester aus, wenn Feuerwerkskörper krachen. Auch der Nachbar wimmert. Er hat die Augen zu und wendet den Kopf nach links und rechts. Seine Hände hat er auf die Rippen gelegt, an die Stelle, in die der Besen sich gebohrt hat.

Mir ist nach Weinen zumute. Quietschen von oben. Es hallt durch den Hof. Man weiß nicht, wo genau es quietscht. Fenster werden geöffnet, überall erscheinen Gesichter, der ganze Gemeindebau schaut. Vom anderen Ende des Hofes schreit ein dunkler Typ: »Brauchen Sie Hilfe? Ich komme.« Die Blicke der Nachbarschaft wenden sich ihm zu.

Der Ehering des Nachbarn glänzt in der Sonne, zwischen aufgeschürften Stellen an seiner Hand. Der Besen liegt noch schräg über dem Weg. Ich stelle den zitternden Hund neben den Rasen, das Zittern geht auf mich über. Ich gehe zum anderen Heinz. Dessen Tochter und Enkelkind bilden eine Wand des Vorwurfs in meine Richtung. »Herr … Heinz«, höre ich mich rufen. Wie heißt er eigentlich noch? »Herr Heinz!« Er hört auf, den Kopf hin und her zu drehen, und wendet ihn mir zu. Seine Augen öffnen sich ein wenig. Seine Schläfe ist blutig, ein bisschen Dreck klebt auch darauf. Die Glatze glänzt nicht mehr. Ich beuge mich hinunter, werfe einen Schatten über sein Gesicht.

»Warum haben Sie auch meinen Hund getreten?«

Ich halte ihm meine Hand hin, um ihm aufzuhelfen, er aber drückt seine weiter auf die Rippen und schließt wieder die Augen. Was, wenn er jetzt stirbt? Mein Hund jault wieder und humpelt weg. Wahrscheinlich hat er Angst, dass alles von vorne beginnt. Der Nachbar spricht noch immer nicht, auch seine Verwandtschaft schweigt. Er schnappt nach Luft. Die Frau des Nachbarn ist aus dem Haus getreten mit einem feuchten Handtuch und einer Schachtel Wundpflaster. Sie sieht mich nicht an, schubst mich zur Seite und ich stolpere Richtung Rasen. Der dunkle Typ kommt auf uns zu. Er ist jung. An ihm ist alles dunkel: seine Haare, seine Augen, seine Haut. Er hat auch eine dunkle Tasche mit. Nur sein Hemd ist weiß. Die Frau des Nachbarn lässt das feuchte Handtuch sinken. Er kniet sich neben den Nachbar, spricht ihn an, will wissen, was ihm weh tut, ob er Luft bekommt, ob er sich bewegen kann. Von oben eine Stimme: »Ich hab alles gesehen!« Ich schaue zu den oberen Fenstern; da ist niemand.

Mein Hund fasst wieder Vertrauen. Er humpelt zu dem Typ und schnuppert an seinen Schuhen. Er wedelt sogar ein bisschen mit dem Schwanz. Vielleicht ist alles nicht so schlimm. Ich fühle mich schwach, will mich hinlegen. Die Stimme von oben schreit nach der Polizei.

Wir stehen im Wohnzimmer des Nachbarn. Mein Hund hat aufgehört zu humpeln. Er schlürft Wasser aus einem hellgrünen Tupperware-Geschirr. Dabei schiebt er es im Vorzimmer herum und macht den Bodenbelag nass. Die Tochter des Nachbarn heißt Yvonne. Sie arbeitet beim Ströck am Bahnhof Floridsdorf, erzählt sie und schenkt noch Obstler in die kleinen Gläser. Hamid, der junge dunkle Typ, winkt wieder ab. Der Obstler brennt angenehm.

Die Nachbarin riecht nach verschwitztem Synthetikkleid, ein bisschen wie Mama. Sie greift an mir vorbei nach einem der kleinen Gläser und reicht es dem Nachbar, der auf seinem Sofa liegt. Aus dem Augenwinkel sieht er staubig, faltig und klein aus. Sein kurzärmeliges Hemd hat Schweißflecken. Ich traue mich nicht, ihn direkt anzusehen. Hamid hat ihm ein Pflaster auf die Hand geklebt. Und eins an die Schläfe. Auch sein Bein war blutig, Hamid hat es verbunden. Und seinen Oberkörper abgetastet. Der Nachbar hat die Augen wieder zugekniffen und gewimmert. »Das wird schon wieder«, hat Hamid gesagt, zum Nachbar und zu uns. Wir glauben Hamid. Er studiert im 11. Semester Medizin, hat er gesagt.

Die Nachmittagssonne scheint durch die Vorhänge ins Wohnzimmer der Nachbarn. Yvonne hat jetzt rote Wangen. Ihr altersloses Kind knotzt mit halb offenem Mund neben seinem Opa auf einem Polstersessel und wischt auf einem Handy herum. »Am Jonas-Platz hast das ärgste G’sindel«, höre ich Yvonne sagen und Hamid nickt. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und lehnt am Türrahmen. Ich halte mich am Obstler fest. Yvonne schaut jetzt auch zu mir, sie wartet wohl darauf, dass ich ebenfalls nicke. Also bewege ich den Kopf. Immerhin hat sie die zwei Polizisten vorhin weggeschickt, die jemand gerufen hat. »Ein blöder kleiner Unfall«, hat sie gesagt. »Mein Vater ist gestolpert, nix passiert.« Dazu hat sie die Tür weit aufgerissen, damit die Polizisten sehen, dass nichts passiert ist und alle zustimmend nicken. Die Polizisten haben auf Hamid gedeutet und uns gefragt, wer das ist. »Vorname Hamid, Nachname Malik – soll ich es buchstabieren?«, hat Hamid gefragt. Die Polizisten haben den Kopf geschüttelt und sind gegangen.

Sie braucht keine Kieberer da, hat Yvonne nachher gesagt, ihr Ex war einer und für gar nichts gut. Vielleicht hätte mich der Nachbar gern angezeigt. Der ist aber noch unter Schock gestanden. Und seine Frau auch. Ich schlängle mich am Sofa vorbei zum Fenster und schiebe den Vorhang ein wenig zur Seite. Der Hof, so nah. Meine Wohnung ist zwei Stockwerke weiter oben, da sieht man alles viel kleiner. Der Besen quer über dem Weg, als wollte er ihn absperren. Die alte Rössler aus der Dreierstiege stupst ihn mit ihrem Stock an, vielleicht, um zu sehen, ob er noch lebt. Sie schüttelt ihr rot-grau geflecktes Haar und macht einen Bogen um den Besen über den Rasen. Dort versucht die kleine gelbliche Katze, etwas zu fangen. Was, kann man nicht einmal von hier aus erkennen. Heinz sieht mich an wie immer und drückt dann die Augen zu.

Wir gehen hinauf in unsere Wohnung. Meine Beine fühlen sich gummiartig an. Ein müdes Gefühl staut sich in meinen Kopf. Es ist warm, die Wohnung stickig. Ich öffne das Fenster zum Hof und lasse Wind hereinwehen. Es riecht nach Haschisch, jemand hustet hinter einem anderen offenen Fenster. Das Brummen von Autos in der Ferne. Der Coloniakübel wird mit einem scharrenden Geräusch geöffnet. Aus dem Hof hallt ein Fußballspiel, alle gewinnen.

Ich sticke ein Gedicht von Fernando Pessoa in ein altes Stück Stoff und dazu Menschen und Tränen rundherum. Für eine Träne brauche ich fast eine Viertelstunde. Jeden Tag sitze ich mit der Stickerei im Wohnzimmer und habe Angst, dass das Bild fertig wird und ich irgendeine Entscheidung treffen muss. Meine Mutter hat mir gezeigt, wie man stickt. Jetzt ist sie tot und ich kann sie nicht fragen, wie man damit aufhört.

Frida

Kaum in der U-Bahn muss ich aufs Klo. Das war schon immer so. Heinz sieht mich besorgt an. Die U6 ist ihm unsympathisch. Sie riecht nach Kochsalat und angedauten Zwiebeln. Ich halte die Luft an. Der Zettel mit der Adresse vom Kriseninterventionszentrum wartet in meiner Faust darauf, dass ich ihn entknülle. Ich weiß ihn auswendig, aber zur Sicherheit.

Neunter Bezirk. Ich weiß, wo ich raus und mit welcher Tramway ich weiterfahren muss. Ich setze mich auf einen Fensterplatz und starre die Scheibe an, statt durch sie hindurch. Meine zweite Hand umklammert die Hundeleine. Kein Sitzplatz in der Tramway. Schubsen, Husten, Drängeln, immer dasselbe. Als wären dort immer dieselben Leute, seit Jahrzehnten, wenn ich Tramway fahre. Zu viele Menschen jedes Mal. Heinz senkt den Kopf zwischen die Hosenbeine.

Bei der nächsten Haltestelle muss ich raus. Auf einmal kann ich mich nicht mehr bewegen, nur noch mit den Augen rollen. Ich will um Hilfe schreien. Mein Herz rast. Atme ich noch? Festgeklebt, eingefroren, angewachsen. Panik. Bei der Endstation rempelt mich jemand an, die Starre löst sich, ich spüre meine Atmung wieder.

Schottentor. Hier wollte ich gar nicht hin. Die Sonne scheint stechend, wie vor einem Gewitter. Es wird über den Ring gegangen. Menschen demonstrieren für ein neues Gesetz gegen Tierquälerei, tragen selbst gebastelte Schilder, Transparente. Viele Hunde sind dabei. Es wird gekläfft und trotzig geschaut. Von Mensch wie Tier. Heinz wittert das Rudel. Er zieht mich in die Menge hinein. Sprechchöre. Ich verstehe nur »Mör-der«. Wir bewegen uns im Kreis mit Transparenten auf Beinen und Mädchen mit Spaghetti-Trägerleibchen. Ihre Tiere gehen ruhig neben ihnen her. Zu meiner Rechten ein Schäferhund, hinter uns zwei drahtige Gebilde mit großen Augen, nicht angeleint. Heinz grinst sie an. Sie machen fast synchron einen Sprung zurück. Hundeballett. Ich versuche, am Rand zu bleiben. Ein paar dicke alte Leute drücken mich in die Mitte, Heinz verschwindet, die Leine spannt sich. Ohne hätte er mich längst verloren. Ich stolpere. Hinter mir sagt eine Stimme: »Du, pass auf.« Die Leine hängt durch, Heinz ist wieder bei Knie. Von unten Schweißwärme, von hinten wieder die Stimme: »Du, geh weiter!« Ich drehe mich um. Ein altersloser Bierfahnenträger mit Augen wie ein frisch geborenes Kalb. Ob er weiß, warum er da ist? Er hört nicht auf zu atmen, ich drehe mich weg und mein Nacken wird feucht. Mit seinem Oberkörper presst er mich in die weiche Frau vor mir, in dunkle Haare, die an ihrer Schulter kleben und nach Marillen riechen oder Pfirsichen. Ein einzelnes Haar hängt auf ihrem Leibchen. Mein Herz klopft laut. Ich befreie meine Hand aus der Enge zwischen ihr und mir und nehme ihr einzelnes Haar zwischen zwei Finger, ohne sie zu berühren. Dann stecke ich die Hand in die Jackentasche, drücke das Haar in ein Taschentuch darin. Jetzt muss ich hier raus. Von hinten ein Schubs, der mich wieder in die weiche Frau drückt. Ich bekomme keine Luft mehr. Heinz zieht schon wieder. Die weiche Frau bleibt stehen und fährt herum. Ihr Gesicht ist Funkeln, Zucken, Unruhe. Augenbrauen, die über der Nase fast zusammenwachsen. Frida Kahlo ohne Schmuck. Ich will mich entschuldigen, sage: »Ich …« Die Leine zieht und zieht, der Griff rutscht mir aus der Hand. Frida Kahlo kneift die Augen zusammen. Ich rufe: »Heinz!« Der Hund ist weg, mir wird schlecht.

Ich kann mich drehen, ohne mich zu bewegen, der Himmel ist weiß wie im Winter, schräg weisen die Bäume zu ihm hinauf, Menschen und Hunde mit verzogenen Gesichtern schauen auf mich herunter. Sie sollen gehen, mich in Ruhe lassen. Es riecht nach Leder und nach Klo. »Geht’s wieder?«, fragt Frida Kahlo von oben, mit der Hand klatscht sie auf meine Wangen, einmal rechts, einmal links. Zwischen ihren Trägern wölbt es sich, sie hat keinen BH an. Die Hundeschnauze an meiner Hand erkenne ich unter Tausenden. Heinz schleckt mich zurück ins Leben. Die Sprechblase, die aus meinem Mund kommt, ist leer. Frida Kahlo sagt, dass ich kurz bewusstlos war, dass sie Krankenschwester ist und ich keine Angst zu haben brauche. Sie streichelt ein wuscheliges Tier mit offenem Maul, das mich ansieht und dabei metronomartig mit dem Schwanz wedelt. Sie packt mich am Arm und zieht meinen Oberkörper hoch, bis ich sitze. Dann drückt sie mir eine Wasserflasche an den Mund. Ich mache ihn auf. Weil sie Krankenschwester ist und ich keine Angst zu haben brauche. Das Wasser hat dieselbe Temperatur wie mein Mund. Ich schlucke. Ihre nachtfarbenen Augen sind auf meine Lippen gerichtet. Jetzt sehe ich, dass sie doch Schmuck trägt: ein Piercing am rechten Ohr. Ich drücke mich mit einer Hand vom Boden ab und stehe auf. Ich bin größer als sie, aber nicht viel. Mir ist noch immer schwindelig. Heinz bedrängt mich. Die Leine hat sich um seine Vorderpfoten gewickelt; er ist gefesselt und kann nicht mehr gehen. Dümmlich humpelt er von einer Pfote auf die andere. Dabei klappert der Griff der Leine auf dem Asphalt.

»Ist das Ihrer?«, fragt Frida Kahlo. Ich nicke und bücke mich, um Heinz zu befreien. »Er heißt Heinz.« Das wuschelige Tier schnuppert an uns und wedelt weiter. Heinz schnuppert und wedelt zurück. Der kalbsäugige Bierfahnenträger ist nicht mehr da. Nur Frida Kahlo sieht mich noch an. Sie lächelt unter ihren Augenbrauen hervor. Miteinander weitergehen? Nebeneinander, vielleicht berühren, vielleicht gemeinsam etwas trinken. Ich erkenne am Ende des Tages den Anfang von etwas. Ich gebe ihr die Hand und muss husten. »Ich. Muss. Jetzt. Sofort. Hier. Raus«, sage ich zwischen Einatmen und Aushusten. Aus ihrem Lächeln wird ein Strich. Jetzt hat sie ein Parallelgesicht, bestehend aus einer Linie Augenbrauen und einer Linie Mund. Von irgendwo nimmt sie einen Stift und schreibt etwas auf das Etikett der Flasche. Sie sagt: »Passen Sie auf sich auf!«, und steckt mir die Flasche zu. Ich lasse mich weiterziehen von Heinz. Im Gehen wende ich mich noch einmal Frida Kahlo zu und hebe die Wasserflasche zum Gruß. Sie hat sich bereits umgedreht. Der Fluss an Tierfreunden saugt sie ein und schwappt über sie hinweg.

Graue Wolken hängen auf meinen Ärmeln, auf meiner Hose, ich klopfe sie in die Luft zurück. Diffuse Schmerzen vom Sturz in Hüfte und Beinen. Der Hustenreiz lässt nach. Heinz blinzelt und gähnt. Ich schließe meine Faust um das Taschentuch, in das ich ihr Haar eingewickelt habe. Frida soll in Ruhe weiterleben können.

Kriseninterventionszentrum? Ich kann dort jetzt nicht hingehen, fühle mich nicht reif für noch mehr Kontakt mit Fremden. So durcheinander, wie ich bin, kann ich nicht zuhören und nichts erklären. Mein Puls rast noch immer. Ich fahre morgen hin, wenn ich mich beruhigt habe. Oder übermorgen. Oder irgendwann. Ich rieche Stress unter meiner Jacke.

In der U-Bahn sind wir wieder normale Passagiere. Ich nicke ein und träume von Kälberaugen. Im Stiegenhaus fällt mir der Nachbar wieder ein. Wie er gegangen ist. Wie er sich aufgeregt hat. Wie er Heinz getreten hat. Ich versuche mich zu erinnern, ob mein Hund ihm etwas getan hat. Vielleicht ist er ja als Kind gebissen worden? Oder hasst er alle Tiere? Solche wie den Nachbar gibt es überall. Ich kenne sie. Sie werfen vor, sie tragen nach. Sie machen ein schlechtes Gewissen. Sie verbieten anderen zu reden, zu denken, zu atmen. Sie wissen alles und alles besser, sie sind lauter und sie treten als Erste.

Daheim hänge ich meine Jacke auf. Sie stinkt nach allem möglichen, erinnert an die Demo, Übelkeit steigt in mir auf. Ich werde sie waschen müssen. In der Tasche das Haar von Frida Kahlo im Taschentuch. Ich wickle es aus, versuche an ihm zu riechen. Leider ohne Erfolg.

Ich habe ein paar Büschel von Haaren in verschiedenen Längen und Farben, gekrauste Schamhaare und Achselhaare, nur von Frauen. Sie sind in Glasphiolen mit Namenskärtchen daran, aufbewahrt in einer kleinen schwarz lackierten Holztruhe. Gesammelt in früherer Zeit. Einer aufregenden Zeit, in der Frauen eine Rolle spielten. Alles war ein Spiel. Aber damals wusste ich Schwarz von Weiß zu unterscheiden. Heute bewege ich mich innerhalb von Grautönen. Die Zustände machen mich zum Spielball, ich rolle übers Feld, statt zu springen oder zu ziehen.

»Du Perversling«, höre ich Sabine 1999 sagen. Sie lachte. Mit gespreizten Beinen lag sie vor mir auf ihrem Bett und ließ mich mit einer Nagelschere eine Locke ihrer Schamhaare abschneiden. »Macht dich das geil? Oder verkaufst du die dann teuer?«

Ich würde kein einziges dieser Haare je verkaufen. Sie sind Teil meiner Welt. Ohne sie wäre meine Erinnerung nur eine beliebige Variante, die Vergangenheit zu deuten, ein subjektiver Eindruck, unbewiesen, ungültig. Die Haare der Frauen sind der Anker zu ihrer Existenz in meinem Leben. Sie helfen mir, Träume von Realität zu unterscheiden.

Das einzelne lange Haar von Frida ist schwer zu archivieren. Bis ich weiß, wie ich es aufheben kann, klebe ich es im Badezimmer an die Fliesen neben dem Waschbecken.

In der anderen Tasche der Jacke die Wasserflasche, auf dem Etikett steht: [email protected]. Daneben hat sie ein rundes Gesicht gezeichnet, das lächelt. Ich erahne Zärtlichkeit in dieser Zeichnung.