Helden des Olymp 1: Der verschwundene Halbgott - Rick Riordan - E-Book
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Helden des Olymp 1: Der verschwundene Halbgott E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Sieben Teenager im Kampf gegen Riesen, Zyklopen und römische Götter  In dem Moment, als der 15-jährige Jason Grace in einem Schulbus aufwacht, erinnert er sich an gar nichts mehr – nicht an seine besten Freunde Piper und Leo und schon gar nicht an die Tatsache, dass er ein mächtiger Halbgott ist, nämlich der Sohn des Jupiter! Viel Zeit, um diesen Schock zu verdauen bleibt ihm nicht. Zusammen mit Piper und Leo wird er ins Camp Half-Blood gebracht, wo er seine wahre Bestimmung erfährt: Laut Prophezeiung gehört er zu den legendären sieben Halbgöttern, die den Olymp vor dem Untergang bewahren sollen. Doch dazu müssen sie sich gegen die Erdgöttin Gaia behaupten. Mithilfe eines mechanischen Drachen begeben sich die Freunde auf eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse. Helden des Olymp: die Fortsetzung der Jugendbuch-Bestsellerserie 'Percy Jackson'  Nachdem Jason ohne Erinnerung auf einer Klassenfahrt aufwacht, überschlagen sich die Ereignisse: Als Sohn des Jupiter zählt er zu den sieben legendären Halbgöttern, die den Olymp gegen die Urgöttin Gaia und ihre Gefolgschaft verteidigen sollen. Doch nur, wenn sich die römischen und die griechischen Halbgötter zusammenschließen können sie den Kampf gegen Gaia aufnehmen.  "Helden des Olymp" ist eine fünfteilige Fantasy-Buchreihe rund um die jugendlichen Halbgötter Jason, Piper, Leo, Percy, Annabeth, Hazel und Frank. Der spannende Mix aus Action, Witz und Mythologie begeistert Jung und Alt. ***Griechische Götter in der Gegenwart: actionreich, wild und urkomisch – für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der griechisch-römischen Mythologie*** 

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Seitenzahl: 746

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Rick Riordan: Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Jason erinnert sich an gar nichts – nicht einmal an seine besten Freunde Piper und Leo. Und was hat er in Camp Half-Blood zu suchen, wo angeblich nur Kinder von griechischen Göttern aufgenommen werden? Zu allem Überfluss gehören die drei Freunde laut Prophezeiung zu den legendären sieben Halbgöttern, die den Olymp vor dem Untergang bewahren sollen. Kein Problem – Leo treibt einen mechanischen Drachen als Transportmittel auf und los geht’s! Und dann gilt es auch noch einen seit längerem verschwundenen Halbgott zu finden, einen gewissen Percy Jackson …

Alle Bände der »Helden des Olymp«-Serie: Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Helden des Olymp – Das Haus des Hades (Band 4) Helden des Olymp – Das Blut des Olymp (Band 5)

Wohin soll es gehen?

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Für Haley und Patrick, die die Geschichten immer als Erste hören.

I

Jason

Jasons Tag war auch schon vor dem elektrischen Schlag mies gewesen.

Er erwachte auf dem hintersten Sitz in einem Schulbus, wusste nicht, wo er war, und hielt die Hand eines Mädchens, das er nicht kannte. Das war allerdings noch nicht das Miese an diesem Tag. Das Mädchen sah super aus, aber Jason hatte keine Ahnung, wer sie war oder was er hier eigentlich machte. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und versuchte zu denken.

Ein paar Dutzend andere Jugendliche fläzten sich auf den Sitzen vor ihm, hörten Musik auf ihren iPods, quatschten oder schliefen. Alle schienen in seinem Alter zu sein … fünfzehn? Sechzehn? Also, das war jetzt wirklich unheimlich. Er wusste nicht, wie alt er war.

Der Bus rumpelte über eine huckelige Straße. Vor den Fenstern rollte unter einem strahlend blauen Himmel die Wüste vorbei. Jason war ziemlich sicher, dass er nicht in der Wüste wohnte. Er versuchte zurückzudenken … Das Letzte, woran er sich erinnerte …

Das Mädchen drückte seine Hand. »Jason, alles in Ordnung bei dir?«

Sie trug verschossene Jeans, Wanderstiefel und eine dicke Fleecejacke. Ihre schokoladenbraunen Haare waren unregelmäßig und fransig geschnitten und an den Seiten hatte sie dünne geflochtene Zöpfe. Sie war ungeschminkt, als ob sie versuchte, nicht aufzufallen, was ihr aber nicht gelang. Sie war ganz einfach hübsch. Ihre Augen schienen ständig ihre Farbe zu wechseln wie ein Kaleidoskop – braun, blau und grün.

Jason ließ ihre Hand los. »Äh, ich weiß nicht …«

Vorn im Bus brüllte ein Lehrer: »Alles klar, ihr Zuckerpüppchen, herhören!« Der Typ war offenbar so eine Art Mannschaftstrainer. Seine Baseballmütze hatte er tief in die Stirn gezogen, so dass nur seine stechenden Augen zu sehen waren. Er hatte einen dünnen Kinnbart und ein übellauniges Gesicht, als ob er etwas Verschimmeltes gegessen hätte. Seine kräftigen Arme und seine Brust drohten das hellorange Polohemd zu sprengen. Seine Trainingshose aus Nylon und seine Nikes waren von makellosem Weiß. Um seinen Hals hing eine Trillerpfeife und am Gürtel war ein Megafon befestigt. Er hätte ganz schön beängstigend ausgesehen, wenn er größer als eins fünfzig gewesen wäre. Als er in den Mittelgang trat, rief einer der Jugendlichen: »Aufstehen, Trainer Hedge!«

»Das habe ich gehört!« Der Trainer suchte den Bus nach dem Übeltäter ab. Aber dann fiel sein Blick auf Jason und er runzelte noch mehr die Stirn.

Jason lief es kalt den Rücken hinunter. Er war sicher, der Trainer wusste, dass er hier nichts zu suchen hatte. Er würde Jason nach vorn rufen, von ihm eine Erklärung dafür verlangen, was er hier in diesem Bus verloren hatte – und Jason würde keine Ahnung haben, was er sagen sollte.

Aber Trainer Hedge wandte sich wieder ab und räusperte sich. »Wir sind in fünf Minuten da! Bleibt bei eurem Partner. Verliert eure Aufgabenliste nicht. Und wenn einer von euch süßen kleinen Zuckerpüppchen auf diesem Ausflug irgendwelchen Ärger macht, schicke ich euch persönlich zu Fuß zur Schule zurück.«

Er hob einen Baseballschläger und machte eine Bewegung, als wolle er einen Home-Run schlagen.

Jason sah seine Sitznachbarin an. »Darf der so mit uns reden?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Tut er immer. Das hier ist schließlich die Wüstenschule. ›Wo die Kids die Tiere sind.‹«

Sie sagte das wie einen altbekannten Witz, über den sie schon tausendmal gemeinsam gelacht hatten.

»Das ist irgendein Missverständnis«, sagte Jason. »Ich gehöre hier gar nicht hin.«

Der Junge vor ihm drehte sich um und lachte. »Aber klar doch, Jason. Wir sind hier alle Justizirrtümer. Ich bin nicht sechsmal durchgebrannt. Piper hat keinen BMW geklaut.«

Das Mädchen lief rot an. »Ich habe dieses Auto nicht gestohlen, Leo.«

»Ach ja, hab ich ganz vergessen, Piper. Wie hast du das noch genannt? Du hast den Autohändler ›überredet‹, es dir zu leihen?« Er hob die Augenbrauen und sah Jason an, als wollte er sagen, kaufst du ihr das etwa ab?

Leo sah aus wie ein Weihnachtswichtel aus Südamerika, mit schwarzen Locken, spitzen Ohren, einem fröhlichen Babygesicht und einem verschlagenen Lächeln, das sofort verriet, dass man diesem Typen keine Streichhölzer oder scharfe Gegenstände anvertrauen durfte. Seine langen geschickten Finger konnten einfach nicht stillhalten – sie trommelten auf dem Sitz, schoben seine Haare hinter die Ohren oder machten sich an den Knöpfen seiner Militärjacke zu schaffen. Entweder war der Junge von Natur aus hyper oder er hatte genug Zucker und Koffein eingeworfen, um einem Wasserbüffel einen Herzinfarkt zu verpassen.

»Wie auch immer«, sagte Leo, »ich hoffe, du hast die Aufgabenliste, aus meiner habe ich nämlich schon vor Tagen Papierflieger gemacht. Warum glotzt du mich so an? Hat schon wieder jemand auf meinem Gesicht gemalt?«

»Ich kenne dich nicht«, sagte Jason.

»Klar doch«, sagte Leo mit aasigem Grinsen. »Ich bin nicht dein bester Freund. Ich bin sein fieser Klon.«

»Leo Valdez«, schrie Trainer Hedge von vorne. »Probleme dahinten?«

Leo zwinkerte Jason zu. »Pass mal auf.« Er drehte sich nach vorn um. »Tut mir leid, Trainer Hedge. Ich konnte Sie nicht richtig hören. Würden Sie bitte Ihr Megafon benutzen?«

Trainer Hedge grunzte und schien sich über diesen Vorwand zu freuen. Er löste das Megafon von seinem Gürtel und erteilte weiter Anweisungen, aber seine Stimme klang jetzt wie die von Darth Vader. Die Schüler prusteten los. Der Trainer machte noch einen Versuch, aber nun blökte das Megafon: »Die Kuh sagt muuuuh!«

Die Schüler wieherten vor Lachen und der Trainer knallte das Megafon auf den Sitz. »Valdez!«

Piper unterdrückte ein Kichern. »Mein Gott, Leo, wie machst du das?«

Leo schüttelte einen winzigen Phillips-Schraubenzieher aus seinem Ärmel. »Ich bin eben etwas ganz Besonderes.«

»Leute, jetzt mal im Ernst«, sagt Jason flehend. »Was mache ich hier? Wohin fahren wir?«

Piper runzelte die Stirn. »Jason, soll das ein Witz sein?«

»Nein! Ich habe keine Ahnung.«

»Klar doch, der macht Witze«, sagte Leo. »Er will mir eins auswischen, wegen des Rasierschaums auf dem Wackelpudding.«

Jason starrte ihn verständnislos an.

»Nein, ich glaube, er meint es ernst.« Piper versuchte wieder, seine Hand zu nehmen, aber er zog sie weg.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin nicht – ich kann nicht …«

»Das reicht!«, schrie Trainer Hedge von vorn. »Die hintere Reihe hat sich soeben angeboten, nach dem Essen aufzuräumen.«

Die anderen im Bus jubelten.

»Jetzt bin ich aber schockiert«, murmelte Leo.

Aber Piper sah weiterhin Jason an und schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie verletzt oder besorgt sein sollte. »Hast du dir irgendwo den Kopf gestoßen oder so was? Du weißt wirklich nicht, wer wir sind?«

Jason zuckte hilflos mit den Schultern. »Es ist sogar noch schlimmer. Ich weiß nicht, wer ich bin.«

Der Bus hielt vor einem roten stuckverzierten Gebäudekomplex, der aussah wie ein Museum und einfach mitten im Nirgendwo stand. Vielleicht war es das ja auch: das Nationalmuseum von Nirgendwo, dachte Jason. Ein kalter Wind fegte durch die Wüste. Jason hatte nicht besonders auf seine Kleidung geachtet, aber die war bei Weitem nicht warm genug. Jeans und Turnschuhe, ein lila T-Shirt und eine dünne schwarze Windjacke.

»Also ein Schnellkurs für den Mann mit dem Gedächtnisverlust«, sagte Leo in einem hilfsbereiten Tonfall, der Jason annehmen ließ, dass er ihm nicht die geringste Hilfe sein würde. »Wir gehen auf die ›Wüstenschule‹«, Leo machte mit den Fingern Anführungszeichen. »Das bedeutet, wir sind ›böse‹ Kinder. Deine Familie oder das Gericht oder wer auch immer haben beschlossen, dass du zu viel Ärger machst, und deshalb haben sie dich in dieses reizende Gefängnis – ich meine ›Internat‹ – in Armpit, Nevada verfrachtet, wo du wertvollen Naturkram lernst, wie pro Tag zehn Meilen durch die Kakteen zu rennen und aus Gänseblümchen Mützen zu flechten. Und als besonderen Leckerbissen gibt es ›Bildungsausflüge‹ mit Trainer Hedge, der mit einem Baseballschläger für Ordnung sorgt. Dämmert es dir jetzt wieder?«

»Nein.« Jason sah die anderen im Bus nachdenklich an. Etwa zwanzig Jungs, halb so viele Mädchen. Sie sahen allesamt nicht aus wie hartgesottene Kriminelle, aber er hätte gern gewusst, was sie angestellt hatten, um auf eine Schule für jugendliche Delinquenten geschickt zu werden – und er fragte sich auch, wie er zu ihnen geraten war.

Leo verdrehte die Augen. »Du willst das also voll ausreizen, was? Okay, wir drei sind in diesem Halbjahr neu hergekommen. Wir sind total unzertrennlich. Du tust alles, was ich dir sage, gibst mir immer deinen Nachtisch und übernimmst alle meine Aufgaben …«

»Leo!«, fauchte Piper.

»Schön. Vergiss den letzen Satz. Aber wir sind wirklich Freunde. Na ja, Piper ist sogar ein bisschen mehr, seit ein paar Wochen …«

»Leo, hör auf!« Pipers Gesicht rötete sich. Jason spürte, dass auch sein Gesicht glühte. Er würde sich doch erinnern, wenn er mit einem Mädchen wie Piper zusammen gewesen wäre.

»Er hat sein Gedächtnis verloren oder so was«, sagte Piper. »Wir müssen irgendwem Bescheid sagen.«

Leo schnaubte. »Wem denn, Trainer Hedge? Der würde versuchen, Jason mit einem Schlag auf den Kopf zu kurieren.«

Der Trainer stand vor der Gruppe, kläffte Befehle und blies in seine Trillerpfeife, damit alle in Reih und Glied stehenblieben, aber ab und zu schaute er wieder Jason an und runzelte die Stirn.

»Leo, Jason braucht Hilfe«, beharrte Piper. »Er hat eine Gehirnerschütterung oder …«

»Yo, Piper.« Einer der anderen Jungen blieb zurück, um sich ihnen anzuschließen, als die Gruppe das Museum ansteuerte. Er quetschte sich zwischen Jason und Piper und stieß Leo zu Boden. »Rede nicht mit diesen Verlierern. Ich bin dein Partner, vergiss das nicht.«

Der neue Typ hatte dunkle, im Superman-Stil geschnittene Haare, eine tiefe Bräune und so weiße Zähne, dass die eigentlich ein Warnschild gebraucht hätten: NICHT DIREKT AUF DIE ZÄHNE STARREN. ERBLINDUNGSGEFAHR.

»Hau ab, Dylan«, murrte Piper. »Ich hab nicht darum gebeten, mit dir zusammenzuarbeiten.«

»Sei doch nicht so. Heute ist dein Glückstag!« Dylan hakte sich bei ihr ein und zog sie ins Museum. Piper schaute sich ein letztes Mal um, als wollte sie um Hilfe rufen.

Leo stand auf und klopfte sich den Staub ab. »Ich hasse diesen Kerl.« Er bot Jason seinen Arm, als wollten auch sie zusammen durch den Museumseingang tänzeln. »Ich bin Dylan. Ich bin so cool, ich würde mich am liebsten selbst daten, aber ich weiß nicht, wie! Möchtest du mich stattdessen daten? Du hast ja vielleicht ein Glück!«

»Leo«, sagte Jason. »Du bist echt merkwürdig.«

»Ja, das sagst du mir immer wieder«, Leo grinste. »Aber wenn du dich sowieso nicht an mich erinnern kannst, dann kann ich alle meine alten Witze noch mal reißen. Jetzt komm!«

Wenn das hier sein bester Freund war, dann musste er ganz schön am Boden sein, fand Jason. Aber er folgte Leo ins Museum.

Sie gingen durch das Gebäude und blieben ab und zu stehen, damit Trainer Hedge ihnen mit seinem Megafon einen Vortrag halten konnte, wobei er abwechselnd wie ein Sith-Lord klang oder unsinnige Behauptungen blökte wie »Das Schwein sagt oink«.

Leo zog immer wieder Schraubenmuttern, Bolzen und Pfeifenreiniger aus den Taschen seiner Armeejacke und setzte sie zu irgendwas zusammen, als ob er seine Hände die ganze Zeit beschäftigen müsste.

Jason war zu sehr mit anderen Gedanken beschäftigt, um sich auf die Ausstellungsstücke zu konzentrieren, aber sie hatten alle mit dem Grand Canyon und dem Hualapai-Volk zu tun, dem das Museum gehörte.

Einige Mädchen sahen immer wieder zu Dylan und Piper hinüber und feixten. Jason ging davon aus, dass diese Mädchen die angesagte Clique bildeten. Sie trugen identische Jeans und rosa Tops und genug Make-up für eine Halloween-Party.

»He, Piper, gehört diese Bude hier deinem Stamm?«, sagte eine von ihnen. »Kommst du umsonst rein, wenn du einen Regentanz aufführst?«

Die anderen Mädchen lachten. Sogar Pipers sogenannter Partner Dylan unterdrückte ein Lächeln. Pipers Hände waren in ihrer Fleecejacke verborgen, aber Jason hatte das Gefühl, dass sie die Fäuste ballte.

»Mein Vater ist Cherokee«, sagte sie. »Nicht Hualapai. Aber man braucht natürlich ein paar Gehirnzellen, um den Unterschied zu kapieren, Isabel.« Isabel riss in gespielter Überraschung die Augen auf und sah aus wie eine schminksüchtige Eule. »Ach, tut mir leid. War vielleicht deine Mutter aus diesem Stamm? Ach, richtig. Deine Mutter hast du ja nie kennengelernt!«

Piper wollte sich auf sie stürzen, aber ehe es zu einem Kampf kommen konnte, bellte Trainer Hedge: »Das reicht dahinten. Benehmt euch, oder ich hole meinen Baseballschläger raus.«

Die Gruppe schlurfte weiter zum nächsten Ausstellungsstück, aber die Mädchen riefen Piper immer wieder kleine Kommentare zu.

»Nett, mal wieder im Reservat zu sein?«, säuselte die eine. »Ihr Dad ist vermutlich zu betrunken, um zu arbeiten«, sagte eine andere mit aufgesetztem Mitgefühl. »Nur deshalb ist sie Kleptomanin geworden.«

Piper achtete nicht auf sie, aber Jason hätte ihnen gern eine reingehauen. Er erinnerte sich zwar nicht an Piper und wusste nicht einmal, wer er selbst war, aber dass er Leute hasste, die andere schikanierten, das wusste er.

Leo packte seinen Arm. »Ganz ruhig bleiben. Piper will nicht, dass wir ihre Schlachten ausfechten. Abgesehen davon – wenn diese Mädels die Wahrheit über ihren Dad herausfänden, würden sie alle vor ihr auf den Knien liegen und kreischen ›Wir sind deiner nicht würdig!‹.«

»Warum? Was ist denn mit ihrem Dad?«

Leo lachte ungläubig. »Kein Witz? Du weißt wirklich nicht mehr, dass der Dad deiner Freundin …«

»Hör mal, ich wünschte, ich wüsste es noch, aber ich kann mich ja nicht mal an sie erinnern, von ihrem Dad ganz zu schweigen.«

Leo stieß einen Pfiff aus. »Wenn du es sagst. Wir müssen reden, wenn wir wieder im Wohnheim sind.«

Sie erreichten das andere Ende der Ausstellungshalle, wo große Glastüren auf eine Terrasse führten.

»Alles klar, ihr Zuckerpüppchen«, verkündete Trainer Hedge. »Ihr werdet jetzt den Grand Canyon sehen. Versucht, ihn nicht kaputt zu machen. Die Plattform kann das Gewicht von siebzig Jumbojets tragen, ihr Fliegengewichte seid darauf also wohl sicher. Wenn möglich, versucht, euch nicht gegenseitig über die Kante zu schubsen, das würde mir ziemlich viel Papierkram bescheren.«

Der Trainer öffnete die Türen und alle liefen nach draußen. Vor ihnen erstreckte sich der Grand Canyon, live und höchstpersönlich. Über den Abgrund ragte ein hufeisenförmiger Gehsteig aus Glas, der voll und ganz durchsichtig war.

»Mann«, sagte Leo. »Einfach krass.«

Jason musste zustimmen. Trotz seines Gedächtnisverlusts und des Gefühls, dass er hier nichts zu suchen hatte, war er beeindruckt.

Der Canyon war größer und weiter, als man irgendeinem Bild entnehmen könnte. Sie waren so hoch oben, dass unter ihren Füßen Vögel kreisten. Über hundertfünfzig Meter unter ihnen schlängelte sich ein Fluss über den Boden des Canyons. Sturmwolken hatten sich über ihnen zusammengeballt, während sie im Museum gewesen waren, und warfen Schatten, die aussahen wie wütende Gesichter, auf die Felsen. So weit Jason sehen konnte, schnitten rote und graue Schluchten durch die Wüste, als sei irgendein durchgeknallter Gott mit einem Messer Amok gelaufen.

Jason verspürte einen stechenden Schmerz hinter seinen Augen. Ein durchgeknallter Gott … Wie war er auf diesen Gedanken gekommen? Er hatte das Gefühl, sich etwas Wichtigem zu nähern – etwas, über das er Bescheid wissen müsste. Außerdem hatte er das unverkennbare Gefühl, in Gefahr zu schweben.

»Alles in Ordnung?«, fragte Leo. »Du kotzt hier nicht über das Geländer, oder? Dann hätte ich doch meinen Fotoapparat mitbringen sollen.«

Jason klammerte sich an das Geländer. Er zitterte und schwitzte, aber das hatte nichts mit Höhenangst zu tun. Er kniff die Augen zusammen und der Schmerz dahinter ließ nach.

»Mir geht’s gut«, brachte er heraus. »Einfach nur Kopfschmerzen.«

Über ihnen grollte Donner. Ein kalter Wind hätte ihn fast umgeworfen.

»Das kann doch nicht normal sein.« Leo schaute aus zusammengekniffenen Augen zu den Wolken hoch. »Das Gewitter hängt genau über uns, aber sonst ist überall Ruhe. Komisch, was?«

Jason schaute hoch und sah, dass Leo Recht hatte. Ein dunkler Kreis aus Wolken machte sich über dem Aussichtspunkt breit, während der restliche Himmel in allen Richtungen klar und blau war. Jason hatte ein mieses Gefühl dabei.

»Los, ihr Zuckerpüppchen!«, rief Trainer Hedge. Er schaute stirnrunzelnd zum Gewitter hoch, als ob das auch ihm Sorgen bereitete. »Wir müssen das hier vielleicht abbrechen, also macht euch an die Arbeit. Nicht vergessen, vollständige Sätze.«

Das Gewitter grummelte und Jasons Kopf tat wieder weh. Er wusste nicht, warum, aber er griff in die Tasche seiner Jeans und zog eine Münze heraus – ein rundes Goldstück von der Größe eines halben Dollars, aber dicker und nicht so glatt. Auf der einen Seite war das Bild einer Kriegsaxt eingestanzt, auf der anderen irgendein Typ mit einem Lorbeerkranz. Die Inschrift lautete so ungefähr IVLIVS.

»Meine Fresse, ist das Gold?«, fragte Leo. »Das hast du mir vorenthalten.«

Jason steckte die Münze wieder ein und fragte sich, woher sie wohl kam und warum er das Gefühl hatte, dass er sie bald brauchen würde. »Ach, nicht der Rede wert«, sagte er. »Einfach eine Münze.«

Leo zuckte mit den Schultern. Vielleicht mussten seine Gedanken ebenso in Bewegung bleiben wie seine Hände. »Na los«, sagte er. »Wer sich als Erster traut, über das Geländer zu spucken.«

Sie gaben sich keine große Mühe mit ihren Arbeitsblättern. Zum einen war Jason zu sehr vom Sturm und seinen eigenen verwirrten Gedanken abgelenkt, zum anderen hatte er keine Ahnung, wie er »drei hier zu sehende Sedimentschichten« benennen oder »zwei Beispiele für Erosion« beschreiben sollte.

Leo war auch keine Hilfe. Er war damit beschäftigt, aus Pfeifenreinigern einen Hubschrauber zu bauen.

»Mal testen.« Er ließ den Hubschrauber starten. Jason rechnete damit, dass der sofort abstürzen würde, aber die Pfeifenreinigerrotoren drehten sich wirklich. Der kleine Hubschrauber schaffte den halben Canyon, dann verlor er Hubkraft und schoss in Spiralen ins Leere hinab.

»Wie hast du das denn gemacht?«, fragte Jason.

Leo zuckte mit den Schultern. »Wäre besser geworden, wenn ich ein paar Gummibänder hätte.«

»Jetzt mal im Ernst«, sagte Jason. »Sind wir Freunde?«

»Soweit ich weiß, schon.«

»Ganz sicher? Wann haben wir uns kennengelernt? Worüber haben wir gesprochen?«

»Das war …«, Leo runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe ADHD, Mann. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich an Details erinnere.«

»Aber ich kann mich überhaupt nicht an dich erinnern. Ich kann mich an niemanden hier erinnern. Was, wenn …«

»Du Recht hast und alle anderen Unrecht?«, fragte Leo. »Du glaubst, dass du hier heute Morgen einfach so aufgetaucht bist und dass wir alle gefälschte Erinnerungen an dich haben?«

Eine leise Stimme in Jasons Kopf sagte: Genau das glaube ich.

Aber es hörte sich verrückt an. Alle anderen hier schienen seine Anwesenheit für selbstverständlich zu halten. Alle verhielten sich, als gehöre er ganz normal in diese Klasse – außer Trainer Hedge.

»Halt mal«, Jason reichte Leo das Arbeitsblatt. »Ich bin gleich wieder da.«

Ehe Leo protestieren konnte, lief Jason auch schon über den Gehsteig.

Ihre Gruppe war ganz allein hier. Vielleicht war es zu früh für Touristen, oder das seltsame Wetter hatte sie abgeschreckt. Die Jugendlichen hatten sich in Paaren über den Gehsteig verteilt. Die meisten rissen Witze oder quatschten. Einige Jungen warfen Münzen über das Geländer. Etwa fünfzehn Meter weiter versuchte Piper, ihr Arbeitsblatt auszufüllen, aber ihr blöder Partner Dylan grabbelte sie immer wieder an, legte ihr die Hand auf die Schulter und schenkte ihr sein blendend weißes Lächeln. Sie stieß ihn weg und als sie Jason sah, schaute sie ihn mit einem Blick an, der sagte: Erwürg diesen Kerl für mich.

Jason bedeutete ihr, Geduld zu haben. Er ging weiter zu Trainer Hedge, der sich auf seinen Baseballschläger stützte und die Sturmwolken betrachtete.

»Warst du das?«, fragte ihn der Trainer.

Jason trat einen Schritt zurück. »Was denn?« Es klang, als habe der Trainer soeben gefragt, ob Jason das Gewitter heraufbeschworen hätte.

Trainer Hedge starrte ihn wütend an, seine stechenden kleinen Augen funkelten unter dem Mützenschirm. »Komm mir ja nicht mit solchen Spielchen, Kleiner. Was machst du hier und warum ruinierst du mir meinen Job?«

»Sie meinen … Sie kennen mich nicht?«, fragte Jason. »Ich bin keiner Ihrer Schüler?«

Hedge schnaubte. »Seh dich heute zum allerersten Mal.«

Vor Erleichterung hätte Jason fast geweint. Wenigstens wurde er nicht verrückt. Er war wirklich am falschen Ort. »Hören Sie, Sir, ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Ich bin einfach im Schulbus aufgewacht. Ich weiß nur, dass ich nicht hier sein sollte.«

»Da hast du verdammt Recht.« Hedges raue Stimme senkte sich zu einem Murmeln, als teile er mit Jason ein Geheimnis. »Du hast den Nebel ganz schön im Griff, Kleiner, wenn du all diesen Leuten weismachen kannst, dass sie dich kennen, aber mich kannst du nicht an der Nase herumführen. Ich rieche jetzt schon seit Tagen Monster. Ich wusste, dass wir einen Infiltrator unter uns haben, aber du riechst nicht wie ein Ungeheuer. Du riechst wie ein Halbblut. Also – wer bist du und woher kommst du?«

Das meiste davon, was der Trainer sagte, ergab keinen Sinn, aber Jason beschloss, ehrlich zu antworten. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe keinerlei Erinnerung. Sie müssen mir helfen.«

Trainer Hedge sah ihm ins Gesicht und schien zu versuchen, Jasons Gedanken zu lesen.

»Na großartig«, murmelte Hedge. »Du sagst die Wahrheit.«

»Natürlich tu ich das. Aber was sagen Sie da über Monster und Halbblute? Sind das Codewörter oder so?«

Hedge kniff die Augen zusammen. Ein Teil von Jason fragte sich, ob dieser Typ einfach verrückt war, aber der andere Teil wusste es besser.

»Hör mal, Kleiner«, sagte Hedge. »Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nur, was du bist, und das bedeutet Ärger. Jetzt muss ich drei von euch beschützen und nicht nur zwei. Bist du nun die Sonderlieferung oder nicht?«

»Worüber reden Sie?«

Hedge schaute zum Gewitter hoch. Die Wolken wurden dicker und dunkler und hingen jetzt direkt über dem Gehsteig.

»Heute Morgen«, sagte Hedge, »kam eine Nachricht aus dem Camp. Sie sagen, dass ein Bergungskommando unterwegs ist. Sie sollen eine Sonderlieferung aufsammeln, aber sie wollten keine Details verraten. Ich dachte also, in Ordnung. Die beiden, die ich beobachte, sind verdammt mächtig, älter als die meisten anderen. Ich weiß, dass sie verfolgt werden. Ich kann in der Gruppe ein Monster riechen. Ich vermute, deshalb wollen sie sie jetzt unbedingt ins Camp holen. Aber dann tauchst du aus dem Nirgendwo auf. Also, bist du die Sonderlieferung?«

Der Schmerz hinter Jasons Augen tobte jetzt schlimmer denn je. Halbblute. Camp. Monster. Er wusste noch immer nicht, worüber Hedge da redete, aber diese Wörter ließen sein Gehirn geradezu erstarren – als ob es versuchte, Zugang zu Informationen zu erlangen, die da sein sollten, aber nicht da waren.

Er stolperte und Trainer Hedge fing ihn auf. Für einen so kleinen Typen hatte der Trainer stählerne Hände. »Vorsicht, Zuckerpüppchen. Du hast also dein Gedächtnis verloren, was? In Ordnung. Dann werde ich dich eben auch beschützen müssen, bis das Team eintrifft. Und danach kann der Direktor die Sache klären.«

»Welcher Direktor?«, fragte Jason. »Was für ein Camp?«

»Verhalt dich einfach unauffällig. Die Verstärkung müsste bald eintreffen. Hoffentlich passiert vorher nichts …«

Über ihnen zuckten die Blitze. Der Wind wurde zum Sturm. Arbeitsblätter flogen in den Grand Canyon und der ganze Gehsteig bebte. Die Schüler schrien, stolperten umher und klammerten sich ans Geländer.

»Ich sollte etwas sagen«, knurrte Hedge. Er brüllte in sein Megafon: »Alle ins Haus! Die Kuh sagt muuuh! Runter vom Gehsteig!«

»Haben Sie nicht gesagt, dass dieses Ding hier stabil ist?«, brüllte Jason durch den Wind.

»Unter normalen Umständen«, erwiderte Hedge. »Aber das hier sind keine. Also los!«

II

Jason

Der Sturm wurde zu einem Mini-Hurrikan. Windhosen näherten sich dem Gehsteig wie die Tentakel einer riesigen Monsterqualle.

Die Jugendlichen schrien auf und rannten auf das Museum zu. Der Wind entriss ihnen ihre Notizbücher, Jacken, Mützen und Rucksäcke. Jason rutschte über den glitschigen Boden.

Leo verlor das Gleichgewicht und wäre fast über das Geländer gefallen, aber Jason packte ihn an der Jacke und riss ihn zurück.

»Danke, Mann!,« schrie Leo.

»Los, los, los!«, rief Trainer Hedge.

Piper und Dylan hielten die Türen auf und winkten die anderen ins Haus. Pipers Fleecejacke flatterte im Wind und ihre dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht. Jason dachte, sie müsse doch frieren, aber sie sah ruhig und zuversichtlich aus – sie sagte den anderen immer wieder, alles würde gut werden, und dirigierte sie ins Haus.

Jason, Leo und Trainer Hedge liefen auf die Türen zu, aber es war, wie durch Treibsand zu laufen. Der Wind schien mit ihnen zu kämpfen, sie zurückzustoßen.

Dylan und Piper schoben noch einen Schüler ins Haus, dann rutschten ihnen die Türen aus der Hand, knallten zu und riegelten den Gehsteig ab.

Piper riss an der Klinke. Die anderen hämmerten von drinnen gegen die Glastüren, aber die schienen sich verklemmt zu haben.

»Dylan, Hilfe!«, rief Piper.

Dylan stand mit einem idiotischen Grinsen und flatterndem Sporttrikot da, als ob er den Sturm plötzlich genoss.

»Tut mir leid, Piper«, sagte er. »Genug geholfen.«

Er machte eine Handbewegung und Piper wurde nach hinten geschleudert, knallte gegen die Türen und rutschte auf den Gehsteig.

»Piper!« Jason wollte losstürzen, aber der Wind war gegen ihn und Trainer Hedge stieß ihn zurück.

»Lassen Sie mich los!«, sagte Jason.

»Jason, Leo, bleibt hinter mir«, befahl Hedge. »Das ist mein Kampf. Ich hätte wissen müssen, dass das unser Monster ist.«

»Was?«, fragte Leo. Ein entflogenes Arbeitsblatt schlug ihm ins Gesicht, aber er wischte es beiseite. »Was für ein Monster?«

Dem Trainer wurde die Mütze vom Kopf gefegt und aus seinen Locken ragten zwei Stummel hervor – wie die Beulen, die Figuren in Comics kriegen, wenn ihnen auf den Kopf geschlagen wird. Er hob seinen Baseballschläger – aber der war kein normaler Baseballschläger mehr. Irgendwie hatte er sich in eine grobe Astkeule verwandelt, sogar Zweige und Blätter waren noch dran.

Dylan grinste ihn auf diese wahnwitzig glückliche Weise an. »Ach, kommen Sie schon, Trainer. Soll der Knabe mich doch angreifen. Sie werden sowieso langsam zu alt für so was. Sind Sie nicht deshalb in diese blöde Schule in Pension geschickt worden? Ich bin schon das ganze Schuljahr in Ihrem Team und Sie haben es nicht mal gemerkt. Sie haben Ihre Witterung verloren, Opa.«

Der Trainer stieß ein wütendes Geräusch aus, wie ein blökendes Tier. »Das reicht, Zuckerpüppchen. Du bist erledigt.«

»Glauben Sie etwa, Sie können drei Halbblute auf einmal beschützen, alter Mann?«, lachte Dylan. »Viel Glück.«

Dylan zeigte auf Leo und eine Windhose bildete sich um ihn. Leo fiel vom Gehsteig, als wäre er hinuntergestoßen worden. Irgendwie schaffte er es, sich in der Luft umzudrehen, und knallte seitwärts gegen die Wand des Canyons, glitt ab und suchte verzweifelt nach etwas, woran er sich festhalten könnte. Endlich packte er eine dünne Felskante an die fünfzehn Meter unter dem Gehsteig und hing dort an den Fingerspitzen.

»Hilfe«, schrie er nach oben. »Seil, bitte! Bungeeseil! Irgendwas!«

Trainer Hedge fluchte und warf Jason seine Keule zu. »Ich weiß nicht, wer du bist, Kleiner, aber ich hoffe, du bist gut. Halt mir dieses Ding vom Leib«, er wies mit dem Daumen auf Dylan, »und ich hole Leo.«

»Wie denn?«, fragte Jason. »Wollen Sie fliegen?«

»Nicht fliegen. Klettern.« Hedge streifte die Schuhe ab und Jason hätte fast einen Herzschlag erlitten. Der Trainer hatte keine Füße. Er hatte Hufe – Ziegenhufe. Was bedeutete, dass diese Dinger auf seinem Kopf keine Beulen waren, ging Jason auf. Sondern Hörner.

»Sie sind ein Faun«, sagte Jason.

»Ein Satyr!«, fauchte Hedge. »Faune sind römisch. Aber darüber reden wir später.«

Hedge sprang über das Geländer. Er segelte auf die Wand des Canyons zu und traf mit den Hufen auf. Dann jagte er mit unvorstellbarer Geschicklichkeit die Felswand hinab, fand Halt an Senken und Vorsprüngen, die nicht größer waren als Briefmarken, und wich Wirbelwinden aus, die ihn angriffen, während er sich auf Leo zuarbeitete.

»Ist das nicht reizend?«, Dylan wandte sich Jason zu. »Jetzt bist du an der Reihe, Junge.«

Jason warf die Keule. Das schien bei diesen starken Winden eigentlich keinen Sinn zu haben, aber sie flog genau auf Dylan zu, änderte sogar die Richtung, als er ausweichen wollte, und knallte so fest gegen seinen Kopf, dass er in die Knie ging.

Piper war nicht so benommen, wie sie aussah. Ihre Finger schlossen sich um die Keule, als die auf sie zurollte, aber ehe sie zuschlagen konnte, richtete Dylan sich auf. Blut – goldenes Blut – sickerte aus seiner Stirn.

»Netter Versuch, Junge.« Er sah Jason wütend an. »Aber du musst besser werden.«

Der Gehsteig bebte. Haarrisse zeigten sich im Glas. Im Museum hörten die anderen auf, gegen die Türen zu hämmern. Sie wichen zurück und sahen voller Entsetzen zu.

Dylans Körper löste sich in Rauch auf, als ob seine Moleküle zerfielen. Er hatte noch dasselbe Gesicht, dasselbe strahlend weiße Lächeln, aber seine ganze Gestalt bestand plötzlich aus wirbelndem schwarzen Dampf, seine Augen waren wie elektrische Funken in einer lebenden Sturmwolke. Er breitete schwarze rauchige Flügel aus. Wenn Engel auch böse sein könnten, entschied Jason, dann würden sie genau so aussehen.

»Du bist ein Ventus«,sagte Jason, obwohl er keine Ahnung hatte, woher er dieses Wort kannte. »Ein Sturmgeist.«

Dylans Lachen klang wie ein Tornado, der ein Dach von einem Haus reißt. »Ich bin froh, dass ich gewartet habe, Halbgott. Von Leo und Piper weiß ich seit Wochen. Hätte sie jederzeit umbringen können. Aber meine Herrin hat gesagt, dass noch ein dritter kommt – jemand ganz Besonderes. Sie wird mich für deinen Tod fürstlich belohnen!«

Zwei weitere Windhosen landeten auf beiden Seiten Dylans und verwandelten sich in Venti – gespenstische junge Männer mit rauchigen Flügeln und Augen, aus denen Blitze schossen.

Piper blieb liegen und spielte die Ohnmächtige, ihre Hand umklammerte noch immer die Keule. Ihr Gesicht war bleich, aber sie schaute Jason mit entschiedener Miene an und er begriff die Mitteilung: Lenk du sie ab. Ich schlage ihnen von hinten das Gehirn zu Brei.

Hübsch, klug und gewalttätig. Jason wünschte, er könnte sich daran erinnern, dass sie seine Freundin war.

Er ballte die Fäuste und machte sich bereit zum Angriff, kam aber nicht mehr dazu.

Dylan hob die Hand, Bögen aus Elektrizität spannten sich zwischen seinen Fingern und trafen Jasons Brust.

Peng! Jason fand sich auf dem Rücken liegend wieder. Sein Mund schmeckte wie brennende Alufolie. Er hob den Kopf und sah, dass seine Kleider rauchten. Der Blitz war mitten durch seinen Körper gejagt und hatte ihm den linken Schuh weggefegt. Seine Zehen waren rußgeschwärzt.

Die Sturmgeister lachten. Die Winde tobten. Piper schrie trotzig auf, aber alles klang blechern und wie aus weiter Ferne.

Aus dem Augenwinkel sah Jason, wie Trainer Hedge mit Leo auf dem Rücken die Felswand hochkletterte. Piper war aufgesprungen und schwenkte verzweifelt die Keule, um die beiden neuen Sturmgeister abzuwehren, aber die spielten nur mit ihr. Die Keule durchschnitt ihre Körper, als ob sie gar nicht vorhanden wären. Und Dylan, ein dunkler geflügelter Tornado mit Augen, hing über Jason in der Luft.

»Halt«, krächzte Jason. Er kam schwankend auf die Beine und war nicht sicher, wer überraschter war, er oder die Sturmgeister.

»Wieso lebst du noch?« Dylans Gestalt flackerte. »Das war genug Blitz, um zwanzig zu erledigen!«

»Jetzt bin ich dran«, sagte Jason.

Er griff in die Tasche und zog die Goldmünze hervor. Dann ließ er seine Instinkte die Führung übernehmen und warf die Münze in die Luft, als hätte er das schon tausendmal gemacht. Er fing sie mit der Handfläche auf und hielt plötzlich ein Schwert in der Hand – eine brutal scharfe zweischneidige Waffe. Der geriffelte Griff passte perfekt in seine Hand und das ganze Schwert war aus Gold – Griff, Heft und Klinge.

Dylan fauchte und wich zurück. Er sah seine beiden Kumpel an und schrie: »Los! Bringt ihn um!«

Die anderen Sturmgeister schienen sich über diesen Befehl nicht gerade zu freuen, aber sie flogen auf Jason zu, wobei ihre Finger vor Elektrizität knisterten.

Jason griff den ersten Geist an. Die Klinge fuhr durch ihn hindurch und die rauchige Gestalt löste sich auf. Der zweite Geist ließ einen Blitzstrahl los, aber Jasons Klinge fing ihn ab. Jason trat vor – ein rascher Hieb und der zweite Sturmgeist zerstob zu goldenem Pulver.

Dylan heulte vor Zorn auf. Er schaute nach unten, als erwarte er, dass seine Kumpels wieder ihre alte Form annehmen würden, aber der Goldstaub wurde vom Winde verweht. »Unmöglich. Wer bist du bloß, Halbblut?«

Piper war so verblüfft, dass sie ihre Keule fallenließ. »Jason, wie …?«

Dann sprang Trainer Hedge wieder auf den Glassteig und ließ Leo wie einen Sack Mehl zu Boden plumpsen.

»Geister, fürchtet mich«, brüllte Hedge und zeigte die Muskeln an seinen kurzen Armen. Dann schaute er sich um und sah, dass nur noch Dylan dastand.

»Verflucht, Knabe!«, fauchte er Jason an. »Hast du mir nichts übrig gelassen? Ich liebe Herausforderungen!«

Leo kam auf die Beine und rang nach Atem. Er sah total gedemütigt aus, seine Hände bluteten, weil er sich so fest am Fels angeklammert hatte. »Also wirklich, Trainer Superziege, was Sie auch sein mögen – ich bin eben in den verflixten Grand Canyon gefallen. Hören Sie mir auf mit Herausforderungen!«

Dylan zischte sie an, aber Jason konnte Angst in seinen Augen sehen. »Ihr habt keine Ahnung, wie viele Feinde ihr geweckt habt, Halbblute. Meine Herrin wird alle Halbgötter vernichten. Diesen Krieg könnt ihr nicht gewinnen.«

Über ihnen schien der Sturm zu explodieren. Die Risse im Glassteig wurden größer. Regen strömte auf sie herab und Jason musste in die Hocke gehen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Ein Loch öffnete sich in den Wolken, ein wirbelnder Trichter in Schwarz und Silber.

»Die Herrin ruft mich zurück!«, schrie Dylan beseelt. »Und du, Halbgott, kommst mit mir!«

Er stürzte auf Jason zu, aber Piper griff das Monster von hinten an. Obwohl Dylan aus Rauch bestand, konnte Piper ihn irgendwie fassen. Beide gingen zappelnd zu Boden. Leo, Jason und der Trainer stürzten vor, um Piper zu helfen, aber der Geist schrie vor Zorn. Er ließ einen Sturmwind los, der sie alle nach hinten schleuderte. Jason und Trainer Hedge landeten auf dem Hinterteil und Jasons Schwert rutschte über das Glas. Leo knallte mit dem Hinterkopf auf und kippte zur Seite, benommen und stöhnend. Piper kam am schlechtesten weg. Sie wurde von Dylans Rücken geschleudert und traf das Geländer, rutschte hinüber und hing an einer Hand über dem Abgrund.

Jason rannte zu ihr, aber Dylan schrie: »Ich gebe mich mit dem hier zufrieden!«

Er packte Leos Arm und fing an, aufzusteigen, wobei er den halb bewusstlosen Leo hinter sich herzog. Die Windhose wirbelte immer schneller um sich selbst und zog sie wie ein Staubsauger nach oben.

»Hilfe!«, brüllte Piper. »Helft mir!«

Dann ließ sie los und schrie im Fallen.

»Jason, los!«, rief Hedge. »Rette sie!«

Der Trainer stürzte sich mit energischem Ziegen-Fu auf den Geist – er trat mit den Hufen zu und befreite Leo aus seinem Griff. Leo fiel zu Boden, aber Dylan packte stattdessen den Trainer am Arm. Hedge versuchte, ihn mit dem Kopf zu rammen, trat ihn und nannte ihn ein Zuckerpüppchen. Sie stiegen in die Luft auf und wurden immer schneller.

Trainer Hedge brüllte noch einmal: »Rette sie! Ich hab den hier im Griff!« Dann jagten Satyr und Sturmgeist in den Wolkentrichter und waren verschwunden.

Sie retten?, dachte Jason. Sie ist verloren!

Aber wieder trugen seine Instinkte den Sieg davon. Er rannte zum Geländer, dachte, ich bin wahnsinnig, und sprang hinüber.

Jason hatte keine Höhenangst. Er hatte Angst davor, auf dem Boden des Canyons hundertfünfzig Meter unter ihm zerschmettert zu werden. Es kam ihm so vor, als hätte er dann nichts geleistet, außer zusammen mit Piper zu sterben, aber er presste die Arme an den Leib und warf sich mit dem Kopf zuerst nach unten. Die Wände des Canyons jagten vorüber wie ein Film im Zeitraffer. Sein Gesicht schien ihm vom Kopf geschält zu werden.

Gleich darauf hatte er die wild um sich schlagende Piper eingeholt. Er packte ihre Taille, schloss die Augen und wartete auf den Tod. Piper schrie. Der Wind pfiff in Jasons Ohren. Er fragte sich, wie das Sterben sich wohl anfühlen würde. Nicht so besonders toll, glaubte er. Er wünschte sich, das sie aus irgendeinem Grund niemals unten ankommen würden.

Plötzlich legte sich der Wind. Pipers Schrei verwandelte sich in ein ersticktes Keuchen. Jason dachte einen Moment, sie wären schon tot, hatte aber keinen Aufprall gespürt.

»J-Jason«, brachte Piper heraus.

Er öffnete die Augen. Sie fielen nicht mehr. Sie schwebten in der Luft, mehr als dreißig Meter über dem Fluss.

Er presste Piper an sich und sie drehte sich so, dass sie ihn umarmte. Nase an Nase schwebten sie dahin. Ihr Herz hämmerte dermaßen, dass Jason es durch die Kleider spüren konnte.

Ihr Atem roch nach Zimt. »Wie hast du …«

»Hab ich nicht«, sagte er. »Ich glaube, ich wüsste es, wenn ich fliegen könnte …«

Aber dann dachte er: Ich weiß ja nicht mal, wer ich bin.

Er stellte sich vor, nach oben zu steigen. Piper schrie auf, als sie einige Meter höher schossen. Sie schwebten eigentlich nicht direkt, fiel Jason auf. Er konnte Druck unter den Füßen spüren, als balancierten sie oben auf einem Geysir.

»Die Luft trägt uns«, sagte er.

»Na, dann sag ihr, sie soll uns noch besser tragen. Hol uns hier raus!«

Jason sah nach unten. Am leichtesten wäre es, sich sanft auf den Boden des Canyons sinken zu lassen. Dann schaute er auf. Der Regen hatte aufgehört. Die Gewitterwolken sahen nicht mehr so schlimm aus, aber es grollte und blitzte noch. Es war nicht sicher, dass die Monster wirklich verschwunden waren. Er hatte keine Ahnung, was Trainer Hedge passiert war. Und er hatte den fast bewusstlosen Leo oben zurückgelassen.

»Wir müssen ihnen helfen«, sagte Piper, die seine Gedanken gelesen zu haben schien. »Kannst du …«

»Mal sehen.« Jason dachte »hoch« und sofort schossen sie himmelwärts.

Die Tatsache, dass er auf den Winden ritt, hätte er unter anderen Umständen vielleicht super gefunden, aber er stand zu sehr unter Schock. Sowie sie auf dem Gehsteig gelandet waren, rannten sie zu Leo.

Piper drehte Leo um und der stöhnte. Seine Armeejacke war vom Regen durchnässt und seine Locken glitzerten golden, weil er sich im Monsterstaub gewälzt hatte. Aber immerhin war er nicht tot.

»Blöde … hässliche … Ziege«, murmelte er.

»Wo ist er denn?«, fragte Piper.

Leo zeigte geradewegs nach oben. »Ist nicht wieder runtergekommen. Bitte, sagt mir nicht, dass er mir das Leben gerettet hat.«

»Zweimal«, sagte Jason.

Leo stöhnte noch lauter. »Was ist passiert? Der Tornadotyp, das goldene Schwert … ich bin mit dem Kopf aufgeknallt. Das ist es doch, oder? Ich halluziniere.«

Jason hatte das Schwert ganz vergessen. Er ging zu der Stelle, wo es lag, und hob es hoch. Die Schneide war perfekt ausbalanciert. Aus einem Impuls heraus drehte er das Schwert schwungvoll in der Hand. Es schrumpfte wieder zur Münze und landete auf seiner Handfläche.

»Da haben wir’s«, sagte Leo. »Einwandfrei Halluzinationen.«

Piper zitterte in ihrer vom Regen durchtränkten Kleidung. »Jason, diese Dinger …«

»Venti«, sagte er. »Sturmgeister.«

»Genau. Du hast ausgesehen, als ob … du sie schon einmal gesehen hättest. Wer bist du nur?«

Er schüttelte den Kopf. »Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu sagen. Ich weiß es nicht.«

Der Sturm legte sich. Die anderen Wüstenschüler starrten voller Entsetzen durch die Glastüren. Inzwischen machten sich Sicherheitsleute an den Schlössern zu schaffen, schienen aber keinen Erfolg zu haben.

»Trainer Hedge hat gesagt, er müsste drei Leute beschützen«, fiel es Jason jetzt ein. »Ich glaube, er hat uns gemeint.«

»Und dieses Ding, in das Dylan sich verwandelt hat …« Piper schauderte es. »Großer Gott, ich kann nicht fassen, dass es auf mich eingeschlagen hat. Wie hat er uns genannt … Halbgötter?«

Leo lag auf dem Rücken und starrte zum Himmel hoch. Er schien nicht so dringend aufstehen zu wollen. »Halb sehe ich ja ein«, sagte er. »Aber besonders göttlich komme ich mir nicht vor. Fühlt ihr euch etwa göttlich?«

Sie hörten ein Knacken, wie von brechenden Zweigen, und die Risse im Glas wurden noch größer.

»Wir müssen hier weg«, sagte Jason. »Vielleicht könnten wir …«

»Ooohhh-kay«, fiel Leo ihm ins Wort. »Schau mal nach oben und sag mir, ob das fliegende Pferde sind.«

Zuerst dachte Jason, Leo sei wirklich zu fest mit dem Kopf aufgeknallt. Dann sah er einen dunklen Schatten, der von Osten her auf sie zuflog – zu langsam für ein Flugzeug, zu groß für einen Vogel. Als er näher kam, erkannte er zwei geflügelte Tiere, grau, vierbeinig und genau wie Pferde – nur hatte jedes eine Spannweite von sechs Metern. Und sie zogen eine bunt angemalte Schachtel auf zwei Rädern: einen Streitwagen.

»Verstärkung«, sagte er. »Hedge hat gesagt, dass ein Bergungskommando zu uns unterwegs ist.«

»Ein Bergungskommando?« Leo kam mit Mühe auf die Füße. »Das klingt nach Bergwanderung.«

»Und wieso wollen die uns bergen?«, fragte Piper.

Jason sah zu, wie der Wagen am anderen Ende des Gehsteiges landete. Die Pferde legten die Flügel an und trabten nervös über das Glas, als ob sie spürten, dass es jeden Moment brechen könnte. Im Wagen standen zwei Teenager – eine große Blondine, vielleicht etwas älter als Jason, und ein Muskelprotz mit rasiertem Kopf und einem Gesicht wie ein Haufen Backsteine. Beide trugen Jeans und orangefarbene T-Shirts und hatten Schilde über dem Rücken hängen. Das Mädchen sprang vom Wagen, noch ehe der zum Stillstand gekommen war. Sie zog ein Messer und rannte auf Jason und die anderen zu, während der Muskelprotz die Pferde zum Stehen brachte.

»Wo ist er?«, wollte das Mädchen wissen. Ihre grauen Augen waren wütend und ein wenig verwirrend.

»Wo ist wer?«, fragte Jason.

Sie runzelte die Stirn, als sei diese Antwort einfach eine Frechheit. Dann drehte sie sich zu Leo und Piper um. »Was ist mit Gleeson? Wo ist euer Beschützer, Gleeson Hedge?«

Der Trainer hieß mit Vornamen also Gleeson? Jason hätte gelacht, wenn der Morgen nicht so seltsam und beängstigend gewesen wäre. Gleeson Hedge: Fußballtrainer, Ziegenmann und Beschützer von Halbgöttern. Klar. Warum auch nicht?

Leo räusperte sich. »Er wurde entführt, von … Tornadodingern.«

»Venti«, sagte Jason. »Sturmgeister.«

Die Blondine hob eine Augenbraue. »Du meinst Anemoi Thuellai?So heißen die auf Griechisch. Wer bist du und was ist passiert?«

Jason gab sich alle Mühe mit seiner Erklärung, obwohl es ihm schwerfiel, diesem bohrenden grauen Blick standzuhalten. Als er seine Geschichte ungefähr zur Hälfte erzählt hatte, kam der Muskelprotz vom Wagen herüber. Er stand da, glotzte sie wütend an und hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. Auf dem Bizeps hatte er ein Regenbogen-Tattoo, was Jason ein wenig ungewöhnlich fand.

Als Jason seine Geschichte beendet hatte, sah die Blondine nicht gerade glücklich aus. »Nein, nein, nein! Sie hat mir doch gesagt, dass er hier ist. Sie hat mir gesagt, dass ich hier die Antwort finden würde.«

»Annabeth«, grunzte der Kahlkopf. »Sieh dir das mal an.« Er zeigte auf Jasons Füße.

Jason hatte es ganz vergessen, aber ihm fehlte noch immer der linke Schuh, der vom Blitz weggerissen worden war. Sein nackter Fuß fühlte sich unversehrt an, sah aber aus wie ein Stück Kohle.

»Der Typ mit dem einen Schuh«, sagte der kahle Kerl. »Er ist die Antwort.«

»Nein, Butch«, wehrte das Mädchen ab. »Das kann er nicht sein. Ich bin betrogen worden.« Sie starrte wütend den Himmel an, als ob der etwas verbrochen hatte. »Was willst du denn noch?«, schrie sie. »Was hast du mit ihm gemacht?«

Der Gehsteig bebte und die Pferde wieherten ängstlich.

»Annabeth«, sagte der kahle Kerl, Butch. »Wir müssen weg hier. Wir bringen die drei ins Camp und sehen dann weiter. Die Sturmgeister könnten zurückkommen.«

Annabeth schäumte noch einen Moment vor Wut. »Schön.« Sie schaute Jason vorwurfsvoll an. »Wir klären das später.«

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Wagen zu.

Piper schüttelte den Kopf. »Was ist denn in die gefahren? Und was ist hier eigentlich los?«

»Ja, echt«, sagte Leo.

»Wir müssen euch hier wegschaffen«, sagte Butch. »Ich erkläre das unterwegs.«

»Mit der gehe ich nirgendwohin.« Jason zeigte auf die Blondine. »Sie sieht aus, als ob sie mich umbringen will.«

Butch zögerte. »Annabeth ist in Ordnung. Du musst das verstehen. Sie hatte eine Vision, die ihr gesagt hat, sie sollte herkommen und einen Typen mit einem Schuh suchen. Das sollte die Lösung für ihr Problem sein.«

»Was denn für ein Problem?«

»Sie sucht einen aus unserem Camp, der seit drei Tagen verschwunden ist«, sagte Butch. »Sie ist fast wahnsinnig vor Sorge. Sie hatte gehofft, dass er hier ist.«

»Wer denn?«, fragte Jason.

»Ihr Freund«, sagte Butch. »Ein Typ namens Percy Jackson.«

III

Piper

Nach diesem Morgen voller Sturmgeister, Ziegenmänner und fliegender Liebster hätte Piper eigentlich verrückt werden müssen. Aber sie hatte einfach nur Angst.

Es geht los, dachte sie. Genau wie mein Traum vorausgesagt hat.

Sie stand mit Leo und Jason hinten im Wagen, während der kahle Kerl, Butch, die Zügel hielt, und die Blondine, Annabeth, ein Navigationsgerät aus Bronze bediente. Sie erhoben sich über den Grand Canyon und wandten sich nach Osten, wobei eiskalter Wind durch Pipers Jacke fuhr. Hinter ihnen sammelten sich weitere Gewitterwolken.

Der Wagen schlingerte und wackelte. Hinten war er offen und es gab keine Sicherheitsgurte, so dass Piper sich fragte, ob Jason sie wohl wieder fangen würde, wenn sie stürzte. Das war der verstörendste Teil des Morgens gewesen – nicht, dass Jason fliegen konnte, sondern dass er sie in den Armen gehalten hatte, ohne eine Ahnung, wer sie eigentlich war.

Das ganze Halbjahr hatte sie auf diese Beziehung hingearbeitet, hatte versucht, Jason dazu zu bringen, sie nicht nur als gute Freundin zu sehen. Endlich hatte sie den Dussel dazu gebracht, sie zu küssen. Die vergangenen Wochen waren die besten in ihrem Leben gewesen. Aber dann, vor drei Nächten, hatte der Traum alles ruiniert – diese entsetzliche Stimme mit dieser entsetzlichen Nachricht. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Jason.

Und jetzt hatte sie nicht einmal mehr ihn. Es war so, als hätte jemand sein Gedächtnis ausradiert und sie müsste wieder ganz von vorne anfangen. Sie hätte schreien mögen. Jason stand direkt neben ihr: diese himmelblauen Augen, die kurz geschnittenen blonden Haare, diese süße kleine Narbe auf seiner Oberlippe. Sein Gesicht war freundlich und sanft, aber immer ein wenig traurig. Und er starrte immerzu den Horizont an und bemerkte sie nicht einmal.

Leo nervte derweil wie immer. »Mann, ist das cool!« Er spuckte eine Pegasusfeder aus. »Wohin fliegen wir eigentlich?«

»An einen sicheren Ort«, sagte Annabeth. »Den einzigen sicheren Ort für Leute wie uns. Camp Half-Blood.«

»Half-Blood?« Piper war sofort auf der Hut. Sie hasste dieses Wort. Sie war schon zu oft Halbblut genannt worden – halb Cherokee, halb weiß –, und das war nie als Kompliment gemeint. »Ist das irgendein mieser Witz?«

»Sie meint, dass wir Halbgötter sind«, sagte Jason. »Halb Gott, halb sterblich.«

Annabeth schaute sich um. »Du weißt ja offenbar ganz schön viel, Jason. Aber du hast Recht, wir sind Halbgötter. Meine Mom ist Athene, die Göttin der Weisheit. Butch hier ist ein Sohn der Iris, der Göttin des Regenbogens.«

Leo hätte sich fast verschluckt. »Deine Mom ist die Göttin des Regenbogens?«

»Hast du ein Problem damit?«, fragte Butch.

»Nicht doch«, sagte Leo. »Regenbogen. Absolut macho.«

»Butch ist unser bester Wagenlenker«, sagte Annabeth. »Er kann großartig mit den Pegasi umgehen.«

»Regenbogenponys«, murmelte Leo.

»Ich schmeiß dich gleich aus dem Wagen«, warnte Butch.

»Halbgötter«, sagte Piper. »Du meinst, ihr glaubt, ihr … ihr meint, wir …«

Ein Blitz leuchtete auf. Der Wagen bebte und Jason schrie: »Das linke Rad brennt!«

Piper wich zurück. Das Rad brannte wirklich, weiße Flammen züngelten an der Seite des Wagens empor.

Der Wind brüllte. Piper schaute sich um und sah dunkle Gestalten, die sich in den Wolken formten, und neue Sturmgeister wirbelten auf den Wagen zu – nur sahen diese eher aus wie Pferde als wie Engel.

Sie wollte fragen: »Warum sind sie …«

»Anemoi nehmen unterschiedliche Gestalten an«, sagte Annabeth. »Manchmal von Menschen, manchmal von Hengsten, kommt darauf an, wie chaotisch sie sind. Haltet euch fest. Das wird jetzt heftig.«

Butch ließ die Zügel knallen, die Pegasi jagten los und der Wagen schien sich aufzulösen. Pipers Magen kroch in ihre Kehle hoch. Sie sah nur noch schwarz, und als ihr Blick wieder normal wurde, waren sie an einem ganz anderen Ort.

Ein kalter grauer Ozean erstreckte sich links von ihnen. Zur Rechten zogen sich verschneite Felder, Straßen und Wälder dahin. Unmittelbar unter ihnen lag ein grünes Tal, wie eine Insel des Frühlings, eingerahmt auf drei Seiten von verschneiten Hügeln und im Norden vom Wasser. Piper konnte eine Gruppe von Gebäuden erkennen, die wie antike griechische Tempel aussahen, ein großes blaues Herrenhaus, Fußballplätze, einen See und eine Kletterwand, die zu brennen schien. Aber ehe sie all das verdauen konnte, lösten sich die Räder und der Wagen fiel vom Himmel.

Annabeth und Butch versuchten, die Kontrolle zu behalten. Die Pegasi gaben sich alle Mühe, um den Wagen in der Luft zu halten, schienen aber durch ihren wilden Spurt erschöpft zu sein, und den Wagen und das Gewicht von fünf Menschen zu tragen war einfach zu viel.

»Der See!«, schrie Annabeth. »Steuer auf den See zu!«

Piper erinnerte sich an etwas, das ihr Dad ihr einmal erzählt hatte, nämlich dass es ebenso schlimm ist, aus großer Höhe auf Wasser aufzuprallen wie auf Zement.

Und dann – BUMM!

Der größte Schock war die Kälte. Sie war unter Wasser und so verwirrt, dass sie nicht mehr wusste, wo oben war.

Sie konnte gerade noch denken: Das wäre aber ein blödsinniger Tod, da tauchten in dem grünen trüben Wasser Gesichter auf – Mädchen mit langen schwarzen Haaren und leuchtenden gelben Augen. Sie lächelten sie an, packten ihre Schultern und zogen sie hoch.

Sie warfen sie keuchend und zitternd ans Ufer. In ihrer Nähe stand Butch im Wasser und schnitt die Pegasi aus dem zerrissenen Geschirr. Zum Glück sahen die Pferde unversehrt aus, aber sie schlugen wild mit den Flügeln und bespritzten alles um sich herum mit Wasser. Jason, Leo und Annabeth waren schon an Land, umringt von lauter Teenagern, die ihnen Decken reichten und Fragen stellten. Jemand nahm Pipers Arme und half ihr auf die Füße. Offenbar fielen hier ständig Leute in den See, denn etliche Campinsassen kamen mit riesigen Entlaubungsgeräten aus Bronze und bliesen Piper mit heißer Luft an, und nach ungefähr zwei Sekunden waren ihre Kleider trocken.

Mindestens zwanzig Campinsassen drängten sich um sie herum – die jüngsten vielleicht neun, die ältesten im College-Alter, achtzehn oder neunzehn – und alle trugen orangefarbene T-Shirts, wie Annabeth. Piper sah wieder zum Wasser und fand gleich unter der Wasseroberfläche diese seltsamen Mädchen, ihre Haare trieben in der Strömung. Sie winkten munter und verschwanden dann in der Tiefe. Eine Sekunde darauf wurden die Überreste des Wagens aus dem See geworfen und landeten mit feuchtem Krachen in der Nähe.

»Annabeth!« Ein Junge mit Bogen und Köcher auf dem Rücken drängte sich durch die Menge. »Ich habe gesagt, du könntest die Karre leihen, nicht verschrotten.«

»Will, es tut mir leid«, Annabeth seufzte. »Ich werde den Wagen reparieren lassen, versprochen.«

Will musterte seinen zerbrochenen Wagen mit düsterer Miene. Dann sah er Piper, Leo und Jason an. »Sind sie das? Viel älter als dreizehn. Warum sind sie nicht längst schon anerkannt worden?«

»Anerkannt?«, fragte Leo.

Ehe Annabeth das erklären konnte, fragte Will: »Irgendeine Spur von Percy?«

»Nein«, gab Annabeth zu.

Die Campinsassen murmelten untereinander. Piper hatte keine Ahnung, wer dieser Percy sein mochte, aber sein Verschwinden schien eine große Sache zu sein.

Dann trat ein anderes Mädchen vor – groß, asiatisch, dunkle Haare in vielen Zöpfen, jede Menge Schmuck und perfektes Make-up. Irgendwie schaffte sie es, in Jeans und orangefarbenem T-Shirt glamourös auszusehen. Sie schaute kurz Leo an, richtete dann ihren Blick auf Jason, als könne der ihrer Aufmerksamkeit wert sein, und verzog bei Pipers Anblick die Lippen, als wäre die ein schimmeliger Burrito, den sie gerade aus einer Mülltonne gefischt hatte. Piper kannte solche Mädchen. Sie hatte in der Wüstenschule mit vielen von dieser Sorte zu tun gehabt, wie auch an jeder anderen blöden Schule, auf die ihr Vater sie geschickt hatte. Piper wusste sofort, dass sie Feindinnen sein würden.

»Na«, sagte das Mädchen. »Ich hoffe, sie lohnen die Mühe.«

Leo schnaubte. »Vielen Dank. Was sind wir, eure neuen Haustiere?«

»Also jetzt mal im Ernst«, sagte Jason. »Wie wäre es mit ein paar Antworten, ehe ihr uns aburteilt – wo sind wir, warum sind wir hier, wie lange müssen wir bleiben?«

Piper hatte dieselben Fragen, aber eine Welle der Sorge spülte über sie hinweg. Die Mühe lohnen. Wenn die von ihrem Traum wüssten … sie hatten ja keine Ahnung …

»Jason«, sagte Annabeth. »Ich verspreche dir, dass wir deine Fragen beantworten werden. Und Drew«, sie blickte das Glamourmädchen stirnrunzelnd an, »alle Halbgötter verdienen es, gerettet zu werden. Aber ich muss zugeben, dieser Ausflug hat nicht das gebracht, was ich gehofft hatte.«

»Hör mal«, sagte Piper. »Wir haben nicht darum gebeten, hergeholt zu werden.«

Drew schnaubte. »Und niemand will dich hier haben, Herzchen. Sehen deine Haare immer aus wie ein toter Dachs?«

Piper trat vor, um ihr eine zu scheuern, aber Annabeth sagte: »Piper, halt.«

Piper hielt inne. Sie hatte keine Angst vor Drew, aber Annabeth wollte sie auf keinen Fall zur Feindin haben.

»Wir müssen dafür sorgen, dass die Neuen sich willkommen fühlen«, sagte Annabeth mit einem weiteren vielsagenden Blick auf Drew. »Sie kriegen jeder einen persönlichen Betreuer, der sie durch das Camp führt. Hoffentlich werden sie heute Abend am Lagerfeuer anerkannt.«

»Könnte mir jemand verraten, was anerkennen bedeutet?«, fragte Piper.

Plötzlich schnappten alle nach Luft. Die Campinsassen wichen zurück. Zuerst glaubte Piper, etwas verbrochen zu haben. Dann sah sie, dass alle Gesichter in einem seltsamen Licht badeten, als hätte hinter ihr jemand eine Lampe eingeschaltet. Sie fuhr herum und vergaß fast das Atmen.

Über Leos Kopf schwebte ein loderndes holografisches Bild – ein feuriger Hammer.

»Das«, sagte Annabeth, »ist Anerkennen.«

»Was habe ich getan?« Leo wich zum See zurück. Dann schaute er auf und wimmerte. »Brennen meine Haare?« Er zog den Kopf ein, aber das Symbol folgte ihm, es hüpfte auf und ab und hin und her, und es sah aus, als versuche Leo, mit dem Kopf eine Flammenschrift zu verfassen.

»Das kann nicht gut sein«, murmelte Butch. »Der Fluch …«

»Butch, halt die Klappe«, sagte Annabeth. »Leo, du bist soeben anerkannt worden.«

»Von einem Gott«, fiel Jason ihr ins Wort. »Das ist das Symbol des Vulkan, oder nicht?«

Alle starrten ihn an.

»Jason«, fragte Annabeth vorsichtig, »woher weißt du das?«

»Keine Ahnung.«

»Vulkan?«, fragte Leo. »Ich fand Star Trek nicht mal gut. Worüber redet ihr hier eigentlich?«

»Vulkan ist der römische Name des Hephaistos«, sagte Annabeth. »Das ist der Gott der Schmiede und des Feuers.«

Der feurige Hammer verblasste, aber Leo schlug noch immer in die Luft, als fürchte er, der Hammer könne ihn weiter verfolgen. »Der Gott wovon? Wer?«

Annabeth drehte sich zu dem Typen mit dem Bogen um. »Will, würdest du Leo mitnehmen, ihn rumführen? Stell ihn seinen Mitbewohnern aus Hütte 9 vor.«

»Klar doch, Annabeth.«

»Was ist Hütte 9?«, fragte Leo. »Ich bin kein Vulkanier!«

»Reg dich ab, Mr. Spock, ich werde alles erklären.« Will legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn zu einer der Hütten.

Annabeth sah jetzt wieder Jason an. Normalerweise konnte Piper es nicht leiden, wenn andere Mädchen ihren Freund anstarrten, aber Annabeth schien es egal zu sein, dass er so gut aussah. Sie betrachtete ihn eher wie einen komplizierten Bauplan. Endlich sagte sie: »Streck den Arm aus.«

Piper sah plötzlich, was Annabeth betrachtete, und ihre Augen weiteten sich.

Jason hatte nach seinem Bad im See seine Windjacke ausgezogen, seine Arme waren jetzt nackt und auf der Innenseite seines rechten Unterarms befand sich eine Tätowierung. Wieso hatte Piper die noch nie bemerkt? Sie hatte Jasons Arme eine Million Mal angesehen. Die Tätowierung konnte nicht einfach so aufgetaucht sein. Aber sie war dunkel und deutlich, nicht zu übersehen: ein Dutzend gerade Striche, wie ein Barcode, und darüber ein Adler mit den Buchstaben SPQR.

»Das Zeichen habe ich noch nie gesehen!«, sagte Annabeth. »Woher hast du das?«

Jason schüttelte den Kopf. »Ich habe es wirklich langsam satt, mich zu wiederholen, aber ich weiß es nicht.«

Die anderen Campbewohner drängten sich näher heran, um Jasons Tätowierung anzusehen. Das Zeichen schien sie ziemlich zu beunruhigen – fast wie eine Kriegserklärung.

»Das sieht aus wie in deine Haut eingebrannt«, stellte Annabeth fest.

»Das ist es ja auch«, sagte Jason. Dann zuckte er zusammen, als verspürte er einen plötzlichen Kopfschmerz. »Ich meine … das glaube ich. Ich weiß es nicht mehr.«

Niemand sagte etwas. Es war deutlich, dass die Campinsassen Annabeth als ihre Anführerin betrachteten. Sie warteten auf ihr Urteil.

»Er muss sofort zu Chiron«, entschied Annabeth. »Drew, würdest du …«

»Aber klar doch.« Drew schob ihren Arm unter Jasons. »Hier lang, Süßer. Ich stell dich unserem Direktor vor. Das ist … ein interessanter Typ.« Sie sah Piper triumphierend an und führte Jason auf das große blaue Haus auf der Anhöhe zu.

Die Menge strömte auseinander, und am Ende waren nur noch Annabeth und Piper übrig.

»Wer ist Chiron?«, fragte Piper. »Ist Jason irgendwie in Gefahr?«

Annabeth zögerte. »Gute Frage, Piper. Komm jetzt. Ich führe dich herum. Wir müssen reden.«

IV

Piper

Piper merkte bald, dass Annabeth nicht richtig bei der Sache war.

Sie redete über all die aufregenden Dinge, die das Camp zu bieten hatte – magisches Bogenschießen, Pegasusreiten, die Lavamauer, Kämpfe gegen Monster – aber ihr war keinerlei Begeisterung anzusehen, als sei sie in Gedanken anderswo. Sie zeigte Piper den an den Seiten offenen Speisepavillon, der auf den Long Island Sound schaute. (Ja, Long Island in New York, so weit waren sie mit dem Wagen geflogen.) Annabeth erklärte, dass Camp Half-Blood vor allem im Sommer genutzt werde, manche blieben aber das ganze Jahr dort, und in letzter Zeit seien so viele dazugekommen, dass das Camp immer überfüllt sei, sogar im Winter.

Piper hätte gern gewusst, wer das Camp leitete und woher sie erfahren hatten, dass Piper und ihre Freunde hierher gehörten. Sie fragte sich, ob sie das ganze Jahr bleiben musste und ob sie in den Sportarten gut war. Ob man sich vor den Monsterkämpfen drücken konnte? Eine Million Fragen wirbelten durch ihren Kopf, aber angesichts von Annabeths Stimmung beschloss sie, den Mund zu halten.

Als sie auf einen Hügel am Rand des Camps stiegen, drehte Piper sich um und hatte einen umwerfenden Blick über das Tal – ein breiter Waldstreifen im Nordwesten, ein wunderschöner Strand, der Bach, der See, üppige grüne Wiesen und die vielen Hütten. Letztere waren arrangiert wie ein griechisches Omega, Ω, mit einem Halbkreis aus Hütten um eine grüne Rasenfläche in der Mitte sowie zwei Flügeln an beiden Seiten. Piper zählte zwanzig Hütten. Eine leuchtete golden, eine andere silbern. Auf einem Dach wuchs Gras. Eine weitere war knallrot und hatte mit Stacheldraht bespannte Schützengräben. Eine Hütte war schwarz und vor dem Eingang loderten grüne Fackeln.

Und all das wirkte wie eine ganz andere Welt als die verschneiten Hütten und Wiesen draußen.

»Das Tal ist vor sterblichen Augen geschützt«, sagte Annabeth. »Wie du siehst, ist auch das Wetter magisch kontrolliert. Jede Hütte stellt eine griechische Gottheit dar – und dort können die Kinder dieser Gottheit wohnen.«

Sie sah Piper an, um festzustellen, wie Piper mit dieser Mitteilung fertig würde.

»Du meinst, meine Mom war eine Göttin?«

Annabeth nickte. »Du nimmst das ungeheuer gelassen auf.«

Piper konnte ihr nicht sagen, warum. Sie konnte nicht sagen, dass sich nun einige der seltsamen Gefühle bestätigten, die sie seit Jahren hatte, Diskussionen, die sie mit ihrem Vater darüber geführt hatte, warum es im Haus kein Foto von Mom gab, und warum er ihr niemals genau sagen wollte, wie oder warum ihre Mom sie verlassen hatte. Aber vor allem dachte sie an den Traum, der sie gewarnt hatte, dass das hier passieren würde. Bald werden sie dich finden, Halbgöttin, hatte die Stimme gedröhnt. Und dann musst du unseren Anweisungen folgen. Tu, was wir dir sagen, dann wird dein Vater vielleicht überleben.

Piper holte zitternd Atem. »Nach diesem Morgen ist das irgendwie leichter zu glauben. Und wer ist nun meine Mom?«