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Rick Riordan

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Beschreibung

Als Percy aus tiefem Schlaf erwacht, erinnert er sich an nichts – außer an den Namen eines Mädchens, Annabeth. Ständig wird er von Monstern angegriffen, die immer wieder vom Tod auferstehen. Als er sich in ein Camp für römische Halbgötter rettet, hat er keine Zeit mehr dazu, herumzurätseln, wer er ist: Mit seinen neuen Freunden Hazel und Frank muss er Thanatos, den Totengott, aus seiner Gefangenschaft befreien, um die Grenze zwischen Tod und Leben wieder zu stabilisieren. Und ihre abenteuerliche Reise führt sie bis ins Eis von Alaska … Alle Bände der »Helden«-Serie: Die Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Die Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Die Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Die Helden des Olymp – Das Haus des Hades (Band 4) Die Helden des Olymp – Das Blut des Olymp (Band 5)

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Rick Riordan: Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Als Percy aus tiefem Schlaf erwacht, erinnert er sich an nichts – außer an den Namen eines Mädchens, Annabeth. Ständig wird er von Monstern angegriffen, die immer wieder vom Tod auferstehen. Als er sich in ein Camp für römische Halbgötter rettet, hat er keine Zeit mehr dazu, herumzurätseln, wer er ist: Mit seinen neuen Freunden Hazel und Frank muss er Thanatos, den Totengott, aus seiner Gefangenschaft befreien, um die Grenze zwischen Tod und Leben wieder zu stabilisieren. Und ihre abenteuerliche Reise führt sie bis ins Eis von Alaska …

Alle Bände der »Helden des Olymp«-Serie: Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Helden des Olymp – Das Haus des Hades (Band 4) Helden des Olymp – Das Blut des Olymp (Band 5)

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Für Becky, die meinen Zufluchtsort in Neu-Rom teilt.

I

Percy

Die Damen mit den Schlangenhaaren gingen Percy langsam auf den Geist.

Sie hätten schon vor drei Tagen sterben müssen, als er im Schnäppchenmarkt im Napa Valley eine Kiste Bowlingkugeln über ihnen ausgekippt hatte. Sie hätten vor zwei Tagen sterben müssen, als er sie in Martinez mit einem Streifenwagen überfahren hatte. Sie hätten spätestens an diesem Morgen sterben müssen, als er ihnen im Tilden-Nationalpark die Köpfe abgehackt hatte.

Aber egal, wie oft Percy sie umbrachte und zusah, wie sie zu Staub zerfielen, immer wieder entstanden sie neu, wie tückische Wollmäuse. Er konnte ihnen offenbar nicht einmal davonlaufen.

Er kam oben auf dem Hügel an und schnappte nach Luft. Wie lange mochte es her sein, dass er sie zuletzt umgebracht hatte? Vielleicht zwei Stunden. Länger blieben sie niemals tot.

An den vergangenen Tagen hatte er kaum geschlafen. Er hatte gegessen, was immer er sich zusammenschnorren konnte – Gummibärchen aus einem Automaten, altbackene Bagels, sogar einen Burrito von einem Jack-in-the-Crack-Imbiss, was sein persönlicher Tiefpunkt war. Seine Kleider waren zerfetzt, angesengt und voller Monsterschleim.

Er hatte nur deshalb so lange überlebt, weil die beiden Damen mit den Schlangenhaaren – sie nannten sich Gorgonen – ihn offenbar auch nicht töten konnten. Ihre Krallen hinterließen keine Spuren in seiner Haut. Ihre Zähne brachen ab, wenn sie ihn zu beißen versuchten. Aber Percy war fast am Ende seiner Kräfte. Bald würde er vor Erschöpfung zusammenbrechen und dann – er war zwar nicht leicht umzubringen, aber er war ziemlich sicher, dass die Gorgonen dann eine Möglichkeit finden würden.

Wohin sollte er fliehen?

Er schaute sich um. Unter anderen Umständen hätte er den Ausblick durchaus genossen. Auf seiner linken Seite zogen sich goldene Hügel ins Binnenland, getupft mit Seen, Wäldern und hier und da mit Rinderherden. Auf seiner rechten Seite erstreckten sich die Ebenen von Berkeley und Oakland nach Westen – ein riesiges Schachbrett aus Wohnorten, mit mehreren Millionen von Menschen, die vermutlich keine Lust hatten, sich ihren Morgen von zwei Monstern und einem verdreckten Halbgott verderben zu lassen.

Weiter im Westen funkelte die San Francisco Bay unter einem silbrigen Dunst. Dahinter hatte eine Nebelwand fast ganz San Francisco verschluckt und nur die Spitzen der Wolkenkratzer und die Türme der Golden Gate Bridge waren noch zu sehen.

Eine unbestimmte Traurigkeit drückte auf Percys Brust. Aus irgendeinem Grund war er sicher, dass er schon einmal in San Francisco gewesen war. Diese Stadt hatte irgendetwas mit Annabeth zu tun – dem einzigen Menschen aus seiner Vergangenheit, an den er sich erinnern konnte. Seine Erinnerung an sie war frustrierend vage. Die Wölfin hatte versprochen, dass er sie wiedersehen und sein Gedächtnis zurückerhalten würde – falls er auf dieser Reise Erfolg hätte.

Sollte er versuchen, die Bucht zu durchqueren?

Es wirkte verlockend. Er konnte die Kraft des Ozeans gleich hinter dem Horizont spüren. Wasser belebte ihn immer wieder neu. Salzwasser war das Beste. Das war ihm zwei Tage zuvor aufgegangen, als er in der Meerenge von Carquinez ein Seeungeheuer erwürgt hatte. Wenn er die Bucht erreichte, wäre er vielleicht zu einem letzten Gefecht in der Lage. Vielleicht könnte er die Gorgonen sogar ertränken. Aber das Ufer war mindestens drei Kilometer entfernt; er würde eine ganze Stadt durchqueren müssen. Und er zögerte noch aus einem anderen Grund. Die Wölfin Lupa hatte ihn gelehrt, seine Sinne zu schärfen, den Instinkten zu vertrauen, die ihn nach Süden geführt hatten. Und im Moment prickelte seine private Radaranlage wie verrückt. Das Ende seiner Reise stand bevor – es wirkte geradezu zum Greifen nah. Aber wie sollte das möglich sein? Auf diesem Hügel hier gab es doch nichts.

Der Wind änderte seine Richtung. Percy nahm stinkenden Reptiliengeruch wahr. Etwa hundert Meter den Hang hinunter wanderte raschelnd etwas durch den Wald – ließ Zweige brechen, zertrampelte Blätter, zischte.

Gorgonen.

Zum millionsten Mal wünschte Percy, ihre Nasen wären nicht ganz so gut. Immer hatten sie behauptet, ihn riechen zu können, weil er ein Halbgott war – der Halbblutsohn irgendeines alten römischen Gottes. Percy hatte versucht, sich im Schlamm zu wälzen, durch Bäche zu platschen, er hatte sogar Duftsticks in der Tasche herumgetragen, um wie ein neues Auto zu riechen – aber offenbar war Halbgottgestank nicht zu überdecken.

Er kletterte zur Westseite des Hügels hinüber. Es war zu steil, um dort hinunterzusteigen. Der Hang fiel fast dreißig Meter ab, genau auf das Dach eines in die Felswand eingebauten Wohnkomplexes. Fast zwanzig Meter darunter tauchte unten aus dem Hügel eine Autobahn auf und schlängelte sich nach Berkeley weiter.

Großartig. Vom Hügel führte nur ein Weg nach unten. Er hatte es geschafft, sich in die Enge treiben zu lassen.

Percy starrte den Strom von Autos an, die nach Westen in Richtung San Francisco gespült wurden, und wünschte, er säße in einem davon. Dann wurde ihm klar, dass die Autobahn durch den Hügel führte. Es musste einen Tunnel geben … und zwar zum Greifen nahe.

Sein innerer Radar drehte durch. Er war eben doch am richtigen Ort, nur zu hoch oben. Er musste sich den Tunnel genauer ansehen. Er musste einen Weg zur Autobahn da unten finden – und zwar ganz schnell.

Er streifte seinen Rucksack ab. Im Schnäppchenmarkt hatte er sich eine Menge Vorräte eingesteckt: ein tragbares GPS, Isolierband, Superkleber, eine Wasserflasche, eine Isomatte, ein flauschiges Pandabär Pillow Pet (bekannt aus Funk und Fernsehen) und ein Schweizer Armeemesser. Aber nichts davon könnte als Fallschirm oder Rodelbrett dienen.

Damit blieben ihm zwei Möglichkeiten: dreißig Meter tief in den Tod zu springen oder sich hier oben dem Kampf zu stellen. Keine dieser Möglichkeiten klang auch nur im Geringsten verlockend.

Er fluchte und zog seinen Kugelschreiber aus der Tasche.

Der Kugelschreiber sah nicht gerade beeindruckend aus, sondern wie ein einfaches billiges Ding, aber wenn Percy die Kappe herunterdrehte, wuchs er zu einem leuchtenden Bronzeschwert heran. Die Klinge war perfekt austariert. Der Ledergriff passte sich seiner Hand an, als wäre er für sie entworfen worden. Am Heft entlang war ein altgriechisches Wort eingraviert, das Percy aus irgendwelchen Gründen verstand: Anaklysmos – Springflut.

Nach seiner ersten Nacht im Wolfshaus war er mit diesem Schwert erwacht – vor zwei Monaten? Mehr? Er wusste es nicht mehr. Er hatte sich auf dem Innenhof eines ausgebrannten Hauses mitten im Wald wiedergefunden, gekleidet in Shorts, ein oranges T-Shirt und ein ledernes Halsband mit vielen seltsamen Tonperlen. Springflut hatte in seiner Hand gelegen. Percy hatte keine Ahnung gehabt, wie er dorthin gelangt war, und er hatte nur eine äußerst vage Vorstellung davon, wer er überhaupt war. Er war barfuß, verfroren und verwirrt gewesen. Und dann waren die Wölfe gekommen …

Eine vertraute Stimme gleich neben ihm riss ihn zurück in die Gegenwart: »Da bist du ja!«

Percy taumelte von der Gorgo fort und wäre fast über die Hügelkante gefallen.

Es war die Lächelnde – Beano.

Na gut, sie hieß in Wirklichkeit gar nicht Beano. Zumindest, soweit Percy das feststellen konnte, denn er war Legastheniker und alle Wörter wurden durcheinandergeschüttelt, wenn er zu lesen versuchte. Als er die Gorgo am Eingang zum Schnäppchenmarkt zum ersten Mal gesehen hatte, trug sie einen riesigen grünen Anstecker mit der Aufschrift »Willkommen. Ich bin STHENO!«, und er hatte daraus »Beano« gelesen.

Sie trug noch immer die grüne Angestelltenweste des Schnäppchenmarktes über einem geblümten Kleid. Wenn man nur ihren Körper ansah, konnte man sie für irgendeine rundliche alte Oma halten. Bis man nach unten blickte und ihre Hühnerfüße entdeckte. Oder nach oben schaute und die Wildschweinhauer aus ihren Mundwinkeln ragen sah. Ihre Augen leuchteten rot und ihre Haare waren ein wimmelndes Nest aus hellgrünen Schlangen.

Und das Allerschrecklichste an ihr? Sie hielt noch immer das silberne Tablett mit den Gratiskostproben in der Hand: mit knusprigem Käse überbackene Würstchen. Das Tablett war verbeult, weil sie Percy so oft damit getroffen hatte, aber die kleinen Kostproben sahen unversehrt aus. Stheno schleppte sie einfach immer weiter mit durch Kalifornien, um Percy einen Imbiss anbieten zu können, ehe sie ihn tötete. Percy wusste nicht, warum sie das tat, aber wenn er jemals eine Rüstung brauchte, würde er sie aus Würstchen mit knusprigem Käse herstellen lassen. Die waren offenbar unzerstörbar.

»Mal kosten?«, bot Stheno an.

Percy wehrte sie mit dem Schwert ab. »Wo ist deine Schwester?«

»Ach, steck das Schwert weg«, sagte Stheno tadelnd. »Du weißt doch jetzt, dass nicht einmal himmlische Bronze uns auf Dauer töten kann. Nimm dir ein Würstchen. Die sind diese Woche im Sonderangebot und ich möchte dich wirklich nicht gern auf nüchternen Magen umbringen.«

»Stheno!« Die zweite Gorgo tauchte so plötzlich an Percys rechter Seite auf, dass er gar nicht mehr reagieren konnte. Zum Glück war sie zu sehr damit beschäftigt, ihre Schwester wütend anzustarren, um besonders auf ihn zu achten. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich anschleichen und ihn umbringen!« Sthenos Lächeln verschwand. »Aber, Euryale …« Sie sprach den Namen so aus, dass er sich auf Muriel reimte. »Kann ich ihm nicht zuerst eine Kostprobe geben?«

»Nein, du Idiotin!« Euryale drehte sich zu Percy um und bleckte die Hauzähne.

Abgesehen von ihren Haaren, die ein Nest aus Korallenschlangen waren anstelle von grünen Vipern, sah sie genauso aus wie ihre Schwester. Ihre Weste vom Schnäppchenmarkt, ihr geblümtes Kleid, sogar ihre Hauzähne waren voller »50% Rabatt«-Aufkleber. Auf ihrem Namensschild stand: »Hallo, ich heiße STIRB, DU HALBGOTT-ABSCHAUM!«

»Du hast uns eine ziemlich gute Jagd geliefert, Percy Jackson«, sagte Euryale. »Aber jetzt sitzt du in der Falle und wir werden uns rächen.«

»Die Würstchen kosten nur 2,99«, fügte Stheno hilfsbereit hinzu. »Lebensmittelabteilung, Gang 3.«

Euryale fauchte: »Stheno, der Schnäppchenmarkt war nur Tarnung! Du darfst hier nicht ganz verblöden! Also stell das alberne Tablett ab und hilf mir, diesen Halbgott umzubringen. Oder hast du vergessen, dass er Medusa zu Staub zerfetzt hat?«

Percy wich zurück. Noch zwei Zentimeter und er würde ins Nichts fallen. »Bitte, die Damen, das haben wir doch schon besprochen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich diese Medusa umgebracht habe. Ich erinnere mich an nichts. Können wir nicht einfach einen Waffenstillstand vereinbaren und über die Sonderangebote dieser Woche plaudern?«

Stheno sah ihre Schwester schmollend an, dabei war Schmollen mit riesigen Bronzehauern gar nicht leicht. »Können wir?«

»Nein!« Euryales Augen bohrten sich in Percys. »Es ist mir egal, woran du dich erinnern kannst, Sohn des Meeresgottes. Ich kann an dir Medusas Blut riechen. Es ist schwach, schon mehrere Jahre alt, aber du warst der Letzte, der sie besiegt hat. Und sie ist noch immer nicht aus dem Tartarus zurückgekehrt. Das ist deine Schuld!«

Percy begriff das nicht ganz. Diese ganze Sache mit dem »Sterben und dann aus dem Tartarus Zurückkehren« machte ihm Kopfschmerzen. Genauso wie die Vorstellung, dass sein Kugelschreiber sich in ein Schwert verwandeln und dass Monster sich mit etwas tarnen konnten, das sie Nebel nannten, oder dass Percy der Sohn eines mit Muscheln besetzten Gottes von vor fünftausend Jahren sein sollte. Aber er glaubte diese Dinge. Auch wenn sein Gedächtnis ausgelöscht war, wusste er, dass er ein Halbgott war, so wie er wusste, dass er Percy Jackson hieß. Schon bei seinem allerersten Gespräch mit Lupa der Wölfin hatte er akzeptiert, dass diese verrückte konfuse Welt von Göttern und Monstern seine Wirklichkeit war. Was ihm ganz schön auf die Nerven ging.

»Ich schlage vor, wir werten das als unentschieden«, sagte er. »Ich kann euch nicht umbringen. Ihr könnt mich nicht umbringen. Wenn ihr die Schwestern der Medusa seid – und ich meine die Medusa, die Leute in Stein verwandeln kann –, müsste ich jetzt nicht schon längst versteinert sein?«

»Helden!«, sagte Euryale angewidert. »Immer müssen sie darauf herumreiten, genau wie unsere Mutter. ›Warum könnt ihr die Leute nicht einfach in Stein verwandeln? Eure Schwester kann Leute in Stein verwandeln!‹ Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, mein Junge! Das war Medusas persönlicher Fluch. Sie war die Widerlichste in der Familie. Sie hatte solches Glück!«

Stheno sah verletzt aus. »Mutter hat gesagt, ich sei die Widerlichste.«

»Klappe!«, fauchte Euryale. »Und was dich angeht, Percy Jackson, gut, du trägst den Fluch des Achilles. Das macht es ein wenig schwieriger, dich umzubringen. Aber keine Sorge. Wir finden schon eine Möglichkeit.«

»Was für ein Fluch?«

»Der des Achilles«, sagte Stheno fröhlich. »Ach, war der wunderbar! Wurde als Kind in den Fluss Styx getaucht, weißt du, deshalb war er unverletzlich, bis auf eine winzige Stelle an seiner Ferse. Das ist dir auch passiert, mein Lieber. Offenbar hat irgendwer dich in den Styx getunkt und deine Haut eisenhart gemacht. Aber keine Sorge. Helden wie du haben immer eine schwache Stelle. Die brauchen wir nur zu finden und dann können wir dich umbringen. Meinst du nicht auch, das wird wunderbar? Nimm doch ein Würstchen.«

Percy versuchte nachzudenken. Er konnte sich an kein Bad im Styx erinnern. Aber er erinnerte sich ja ohnehin an gar nichts. Seine Haut fühlte sich zwar nicht an wie Eisen, aber das wäre immerhin eine Erklärung, warum er so lange gegen die Gorgonen durchgehalten hatte.

Wenn er einfach vom Berg fiele … würde er überleben? Er wollte das nicht riskieren – nicht ohne etwas, das den Sturz verlangsamte, oder ein Rodelbrett oder …

Er sah sich Sthenos großes Silbertablett mit den Gratisproben an.

Hmmmmm …

»Na, überlegst du es dir noch mal?«, fragte Stheno. »Sehr klug, mein Lieber. Ich habe ein wenig Gorgonenblut dazugegeben, deshalb wird dein Tod rasch und schmerzlos sein.«

Percys Kehle schnürte sich zusammen. »Du hast den Würstchen dein Blut beigemischt?«

»Nur ein bisschen.« Stheno lächelte. »Ich habe nur kurz in meinen Arm gepikst, aber es ist süß, dass du so besorgt bist. Blut aus unserer rechten Seite kann alles heilen, weißt du, aber Blut aus unserer linken könnte …«

»Du Vollidiotin!«, kreischte Euryale. »Du darfst ihm das nicht verraten. Er isst doch nichts, wenn du ihm sagst, dass alles vergiftet ist.«

Stheno machte ein verblüfftes Gesicht. »Nicht? Aber ich habe doch gesagt, dass es schnell und schmerzlos sein wird.«

»Auch egal.« Euryales Fingernägel wurden zu Krallen. »Wir bringen ihn auf die harte Weise um – wir zerfetzen ihn einfach, bis wir die schwache Stelle finden. Wenn wir Percy Jackson erst besiegt haben, sind wir berühmter als Medusa. Und unsere Beschützerin wird uns fürstlich belohnen.«

Percy griff nach seinem Schwert. Jetzt musste er jede Bewegung genau planen … einige Sekunden der Verwirrung, mit der linken Hand das Tablett packen …

Lass sie weiterreden, dachte er.

»Ehe ihr mich in Fetzen reißt«, sagte er. »Wer ist diese Beschützerin, die du da erwähnt hast?«

Euryale fauchte. »Die Göttin Gaia natürlich! Die uns aus der Vergessenheit zurückgeholt hat. Du wirst nicht lange genug leben, um sie kennenzulernen, aber deine Freunde da unten werden sich ihrem Zorn bald stellen müssen. Schon jetzt marschieren ihre Armeen nach Süden. Beim Fest der Fortuna wird sie erwachen und die Halbgötter vernichten wie … wie …«

»Wie die alten Preise im Schnäppchenmarkt«, schlug Stheno vor.

»Gah!« Euryale stürzte auf ihre Schwester zu. Percy nutzte die Gelegenheit. Er schnappte sich Sthenos Tablett, warf mit vergifteten Würstchen um sich, traf mit Springflut Euryales Taille und zerhieb sie in zwei Teile.

Er hob das Tablett und Stheno sah sich ihrem eigenen fettigen Spiegelbild gegenüber.

»Medusa«, schrie sie.

Ihre Schwester Euryale zerfiel zu Staub, setzte sich aber schon wieder zusammen, wie ein Schneemann, der das Schmelzen umkehrt.

»Stheno, du Närrin!«, gurgelte sie, als ihr halb fertiges Gesicht sich aus dem Staubhaufen erhob. »Das ist doch dein eigenes Spiegelbild! Halt ihn fest!«

Percy knallte das Metalltablett auf Sthenos Kopf und sie verlor das Bewusstsein.

Percy schob sich das Tablett unter den Hintern, sandte ein stummes Gebet zu egal welchem römischen Gott, der für blöde Schlittennummern zuständig war, und sprang in den Abgrund.

II

Percy

Das Problem dabei, mit fünfzig Stundenkilometern auf einem Imbisstablett bergab zu jagen, ist folgendes: Wenn dir erst auf halber Strecke aufgeht, dass es keine gute Idee war, dann ist es zu spät.

Percy verpasste um Haaresbreite einen Baum, prallte gegen einen Steinquader und drehte sich einmal um sich selbst, während er auf die Autobahn zujagte. Das blöde Tablett hatte nämlich kein Lenkrad.

Er hörte die Gorgonenschwestern kreischen und sah für einen Moment oben auf dem Hügel Euryales Korallenschlangenhaare, aber er hatte keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Das Dach des Wohnhauses unten ragte auf wie der Bug eines Schlachtschiffes. Frontalkollision in zehn, neun, acht …

Er konnte seitwärts ausweichen und brach sich beim Aufprall deshalb nicht die Beine. Das Tablett rutschte über das Dach und segelte durch die Luft weiter. Es schoss in die eine Richtung, Percy in die andere.

Als er auf die Autobahn zufiel, sah er vor seinem inneren Auge ein furchtbares Bild: Sein Körper knallte auf die Windschutzscheibe eines Geländewagens und ein genervter Pendler versuchte, ihn mit den Scheibenwischern zu entfernen. »Blöder Sechzehnjähriger, fällt einfach vom Himmel. Ich komme zu spät!«

Wundersamerweise blies ein Windstoß ihn zur Seite – gerade weit genug, um die Autobahn zu verpassen und in ein Gebüsch zu krachen. Es war nicht gerade eine sanfte Landung, aber es war besser als Asphalt.

Percy stöhnte. Er wäre gern liegengeblieben und ohnmächtig geworden, musste aber weiter.

Mühsam kam er auf die Beine. Seine Hände waren zerkratzt, aber er schien keine Knochen gebrochen zu haben. Er trug noch immer seinen Rucksack. Irgendwo auf der Schlittenpartie hatte er sein Schwert verloren, aber Percy wusste, bald würde es in Gestalt des Kugelschreibers wieder in seiner Tasche auftauchen. Das gehörte zu seiner Magie.

Er schaute den Hügel hoch. Es war so gut wie unmöglich, die Gorgonen zu übersehen, mit ihren knallbunten Schlangenhaaren und ihren hellgrünen Westen aus dem Schnäppchenmarkt. Sie kletterten den Hang hinab, wobei sie sich langsamer bewegten als Percy, aber mit sehr viel mehr Kontrolle. Diese Hühnerfüße waren sicher nicht besonders gut zum Klettern geeignet. Percy ging davon aus, dass ihm vielleicht fünf Minuten blieben, bis sie ihn eingeholt hätten.

Gleich neben ihm trennte ein Maschendrahtzaun die Autobahn von einer Wohngegend mit verschlungenen Straßen, gemütlichen Häusern und hohen Eukalyptusbäumen. Der Zaun sollte die Leute wohl davon abhalten, auf die Autobahn zu laufen und Unsinn anzustellen – zum Beispiel auf Imbisstabletts auf die Überholspur zu rodeln –, aber im Maschendraht gab es riesige Löcher. Percy konnte problemlos in das Wohnviertel hinüberklettern. Vielleicht könnte er dort einen Wagen finden und nach Westen zum Ozean fahren. Er stahl nicht gern Autos, aber in den vergangenen Wochen hatte er in Situationen, in denen es um Leben und Tod gegangen war, mehrmals Autos »ausgeborgt«, einmal sogar einen Streifenwagen. Er hatte sie jedes Mal zurückbringen wollen, aber sie hatten nie lange überlebt. Er schaute nach Osten. Wie er vermutet hatte, durchschnitt die Autobahn etwa hundert Meter weiter ein Felsmassiv. Zwei Tunneleingänge, für jede Verkehrsrichtung eine, starrten ihn an wie Augenhöhlen in einem riesigen Schädel. In der Mitte, wo die Nase hingehört hätte, ragte eine Zementmauer aus dem Hang hervor, mit einer Metalltür, wie der Eingang zu einem Bunker.

Es könnte ein Wartungstunnel sein. Das dachten die Sterblichen vermutlich, wenn ihnen die Tür überhaupt auffiel. Aber sie konnten ja auch nicht durch den Nebel sehen. Percy wusste, dass die Tür nicht nur eine Tür war.

Zwei Jugendliche in Rüstung flankierten den Eingang. Sie trugen eine bizarre Mischung aus römischen Helmen mit Rosshaarbusch, Brustpanzern, Schwertscheiden, blauen Jeans, lila T-Shirts und weißen Turnschuhen. Der Wachtposten auf der rechten Seite sah wie ein Mädchen aus, auch wenn das wegen der Rüstung nicht genau zu sehen war. Der Typ links war ziemlich kräftig und hatte auf dem Rücken einen Bogen und einen Köcher. Beide Jugendliche hatten lange Stöcke mit Speerspitzen aus Eisen, wie altmodische Harpunen.

Percys innerer Radar schrillte wie besessen. Nach so vielen schrecklichen Tagen hatte er endlich sein Ziel erreicht. Sein Instinkt sagte ihm, wenn er diese Tür hinter sich bringen könnte, würde er vielleicht zum ersten Mal, seit die Wölfe ihn nach Süden geschickt hatten, in Sicherheit sein.

Warum also hatte er solche Angst?

Weiter oben am Hügel kletterten die Gorgonen über das Dach des Wohnkomplexes. Noch drei Minuten – oder weniger.

Ein Teil von Percy wollte zu der Tür im Hügel rennen. Er müsste zum Mittelstreifen der Autobahn laufen, aber es wäre nur ein kurzer Sprint. Er könnte es schaffen, ehe die Gorgonen ihn erreichten.

Ein Teil von ihm wollte nach Westen zum Ozean. Da würde er am sichersten sein. Dort war seine Kraft am größten. Diese römischen Wachtposten an der Tür machten ihn nervös. Etwas in ihm mahnte: Das ist nicht mein Territorium. Das ist gefährlich.

»Du hast natürlich Recht«, sagte neben ihm eine Stimme.

Percy fuhr zusammen. Zuerst dachte er, Beano habe sich wieder anschleichen können, aber die alte Frau, die im Gebüsch saß, war noch abstoßender als eine Gorgo. Sie sah aus wie eine Hippiefrau, die vor vielleicht vierzig Jahren mit einem Tritt an den Straßenrand befördert worden war und seither Müll und Lumpen gesammelt hatte. Sie trug ein Kleid, das aus Batikstoff, zerrissenen Steppdecken und Plastiktüten gemacht war. Ihr wilder Haarschopf war graubraun, wie der Schaum auf Malzbier, und mit einem Stirnband mit dem Friedenszeichen zurückgebunden. Warzen und Muttermale bedeckten ihr Gesicht. Als sie lächelte, zeigte sie genau drei Zähne.

»Das ist kein Wartungstunnel«, teilte sie ihm mit. »Das ist der Eingang zum Camp.«

Percy jagte es eiskalt das Rückgrat entlang. Camp. Ja, daher kam er. Aus einem Camp. Vielleicht war er hier zu Hause. Vielleicht war Annabeth in der Nähe.

Aber es kam ihm irgendwie nicht richtig vor.

Die Gorgonen standen noch immer auf dem Dach des Wohnkomplexes. Dann kreischte Stheno glücklich auf und zeigte in Percys Richtung.

Die alte Hippiefrau hob die Augenbrauen. »Die Zeit läuft, Kind. Du musst dich entscheiden.«

»Wer sind Sie?«, fragte Percy, obwohl er gar nicht sicher war, dass er das wissen wollte. Das Letzte, was er brauchte, war eine weitere harmlose Sterbliche, die sich als Monster entpuppte.

»Ach, du kannst mich Juni nennen.« Die Augen der alten Frau funkelten, als ob sie einen großartigen Witz gemacht hätte. »Es ist doch Juni, oder? Sie haben den Monat nach mir benannt.«

»Okay … hören Sie mal, ich muss weiter. Da kommen zwei Gorgonen. Ich will nicht, dass die Ihnen etwas tun.«

Juni presste die Hände aufs Herz. »Wie niedlich. Aber das ist Teil deiner Entscheidung.«

»Meiner Entscheidung …« Percy schaute nervös zum Hügel hinüber. Die Gorgonen hatten ihre grünen Westen abgelegt. An ihren Rücken öffneten sich Flügel – kleine Fledermausflügel, die wie Messing funkelten.

Seit wann hatten sie denn Flügel? Vielleicht waren die ja nur zur Zierde da. Vielleicht waren sie zu klein, um eine Gorgo in die Luft zu heben. Dann sprangen die beiden Schwestern von dem Wohnhaus und kamen auf ihn zugefegt.

Großartig. Einfach großartig.

»Ja, deine Entscheidung«, sagte Juni, als ob sie es überhaupt nicht eilig hätte. »Du könntest mich hier den Gorgonen überlassen und zum Ozean fliehen. Du würdest unversehrt hingelangen, das garantiere ich dir. Die Gorgonen würden mich nur zu gern angreifen und dich laufen lassen. Im Meer würde dich kein Monster mehr belästigen. Du könntest ein neues Leben beginnen, uralt werden und dir in der Zukunft sehr viel Schmerz und Elend ersparen.«

Percy war ziemlich sicher, dass die zweite Möglichkeit ihm nicht gefallen würde. »Oder?«

»Oder du könntest für eine alte Frau eine gute Tat begehen«, sagte sie. »Und mich ins Camp tragen.«

»Sie tragen?« Percy hoffte, dass die alte Frau einen Witz machte. Aber Juni hob ihre Röcke auf und zeigte ihm ihre geschwollenen lila Füße.

»Ich kann nicht allein hingehen«, sagte sie. »Trag mich ins Camp – über die Autobahn, durch den Tunnel und über den Fluss.«

Percy wusste nicht, welchen Fluss sie meinte, aber es klang nicht gerade einfach. Juni sah ziemlich schwer aus.

Die Gorgonen waren jetzt nur noch fünfzig Meter entfernt – sie kamen lässig auf ihn zugeschwebt, als wüssten sie, dass die Jagd fast zu Ende war.

Percy sah die alte Frau an. »Und ich soll Sie ins Camp tragen, weil …?«

»Weil es nett von dir wäre«, sagte sie. »Und wenn du es nicht tust, werden die Götter sterben, die Welt, wie wir sie kennen, wird vergehen, und alle aus deinem alten Leben werden vernichtet. Natürlich würdest du dich nicht an sie erinnern, deshalb spielt es wohl keine Rolle. Du wärest auf dem Meeresgrund in Sicherheit.«

Percy schluckte. Die Gorgonen kreischten vor Lachen, als sie zum Gnadenstoß herbeijagten.

»Wenn ich ins Camp gehe«, sagte er, »bekomme ich dann mein Gedächtnis zurück?«

Die Gorgonen kreisten jetzt direkt über ihnen. Vermutlich sahen sie sich die alte Frau an und versuchten herauszufinden, wer diese neue Mitspielerin war, ehe sie zuschlugen.

»Nach und nach«, sagte Juni. »Aber sei gewarnt, du wirst vieles opfern! Du wirst den Fluch des Achilles verlieren. Du wirst Schmerz, Elend und Verluste erleiden, wie du sie noch nie erlebt hast. Aber vielleicht hast du eine Chance, deine alten Freunde und deine Familie zu retten, dein altes Leben zurückzugewinnen.«

»Was ist mit den Wachtposten an der Tür?«, fragte Percy.

Juni lächelte. »Ach, die lassen dich rein. Den beiden kannst du vertrauen. Also, was sagst du? Hilfst du einer wehrlosen alten Frau?«

Percy bezweifelte, dass Juni wehrlos war. Schlimmstenfalls war das hier eine Falle. Bestenfalls war es eine Art Test.

Percy hasste Tests. Seit er sein Gedächtnis verloren hatte, war sein ganzes Leben ein einziges riesiges Formular, das er ausfüllen sollte. Er war aus … Er kam sich vor wie … und wenn die Monster ihn fingen, würde er …

Dann dachte er an Annabeth, den einzigen Teil seines alten Lebens, an den er sich sicher erinnerte. Er musste sie einfach finden.

»Ich trage Sie hin.« Er hob die alte Frau auf.

Sie wog weniger, als er erwartet hatte. Percy versuchte, ihren Mundgeruch und die schwieligen Hände, die sich an seinen Hals klammerten, zu ignorieren. Er überquerte die erste Fahrspur. Ein Fahrer hupte. Ein anderer schrie etwas, das der Wind mit sich davontrug. Die meisten wichen einfach aus und sahen genervt aus, als ob sie dauernd mit verlotterten Teenagern zu tun hätten, die alte Hippiefrauen über die Autobahn von Berkeley trugen.

Ein Schatten fiel auf ihn. Schadenfroh rief Stheno: »Kluger Junge! Hast eine Göttin zum Tragen gefunden, was?«

Eine Göttin?

Juni gackerte vor Vergnügen und murmelte »ups«, als ein Auto sie fast umgebracht hätte.

Irgendwo auf seiner Linken kreischte Euryale: »Hol sie! Zwei Preise sind besser als einer!«

Percy rannte über die restlichen Fahrspuren. Irgendwie schaffte er es, lebend den Mittelstreifen zu erreichen. Er sah, wie die Gorgonen zum Sturzflug ansetzten und wie die Autos auswichen, als die Monster über ihnen vorüberzischten. Er hätte gern gewusst, was die Sterblichen durch den Nebel sahen – riesige Pelikane? Vom Kurs abgekommene Drachenflieger? Die Wölfin Lupa hatte ihm gesagt, dass sterbliche Gehirne so ungefähr alles glaubten – nur nicht die Wahrheit.

Percy rannte auf die Tür im Hang zu. Juni wurde bei jedem Schritt schwerer. Percys Herz hämmerte. Seine Rippen schmerzten.

Einer der Wachtposten schrie etwas. Der Typ mit dem Bogen legte einen Pfeil an. Percy brüllte: »Warte!«

Aber der Junge zielte nicht auf ihn. Der Pfeil flog über Percys Kopf und eine Gorgo heulte vor Schmerz auf. Das Mädchen hob den Speer und winkte Percy hektisch zu, um ihn anzutreiben.

Zwanzig Meter bis zur Tür. Zehn Meter.

»Hab ihn!«, kreischte Euryale. Percy fuhr herum, als ein Pfeil ihre Stirn traf. Euryale fiel auf die Überholspur. Ein Lastwagen erfasste sie und schleifte sie hundert Meter weiter mit, aber sie kletterte einfach über das Führerhaus, zog sich den Pfeil aus dem Kopf und stieg wieder in die Luft.

Percy hatte die Tür erreicht. »Danke«, sagte er zu den Wachtposen. »Guter Schuss.«

»Der hätte sie aber umbringen sollen!«, sagte der Bogenschütze verärgert.

»Willkommen in meiner Welt«, murmelte Percy.

»Frank«, sagte das Mädchen. »Bring ihn schnell rein. Das sind Gorgonen.«

»Gorgonen?« Die Stimme des Bogenschützen wurde schrill. Es war schwer, unter dem Helm irgendwas zu erkennen, aber er sah kräftig aus wie ein Ringer und war vielleicht vierzehn oder fünfzehn. »Kann die Tür sie aufhalten?«

Juni kicherte in Percys Armen. »Nein, kann sie nicht. Vorwärts, Percy Jackson. Durch den Tunnel, über den Fluss.«

»Percy Jackson?« Der weibliche Wachtposten hatte eine dunklere Haut und unter ihrem Helm lugten Locken hervor. Sie schien jünger zu sein als Frank – vielleicht dreizehn. Ihre Schwertscheide reichte ihr fast bis zum Knöchel. Aber sie hörte sich an, als ob sie hier das Kommando hätte. »Okay, du bist offenbar ein Halbgott. Aber wer ist die …?« Sie schaute kurz zu Juni hinüber. »Egal. Rein mit dir. Ich halte sie auf.«

»Hazel«, sagte der Junge. »Sei nicht verrückt!«

»Los!«, befahl sie.

Frank fluchte in einer anderen Sprache – ob das Latein war? – und öffnete die Tür. »Dann kommt.«

Percy folgte ihm, er stolperte unter der Last der alten Frau, die eindeutig immer schwerer wurde. Er wusste nicht, ob diese Hazel die Gorgonen allein abwehren könnte, aber er war zu erschöpft, um zu widersprechen.

Der Tunnel zog sich durch massiven Fels und war ungefähr so breit und hoch wie ein Schulkorridor. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein typischer Wartungstunnel, mit Kabeln, Warnschildern und Sicherungskästen an den Wänden und mit Drahtgittern geschützten Glühbirnen an der Decke. Als sie tiefer in den Berg vordrangen, wich der Zementboden Mosaikfliesen. Die Lampen wurden zu Binsenfackeln, die brannten, aber nicht rauchten. Einige hundert Meter vor sich sah Percy ein Viereck aus Tageslicht.

Die alte Frau war jetzt schwerer als ein Haufen Sandsäcke. Percys Arme zitterten vor Anstrengung. Juni murmelte ein Lied auf Latein, wie ein Schlaflied, aber das half Percy nicht gerade beim Konzentrieren.

Hinter ihnen hallten die Stimmen der Gorgonen im Tunnel wider. Hazel brüllte etwas. Percy fühlte sich versucht, Juni fallen zu lassen und zu Hazel zurückzurennen, um ihr zu helfen, aber dann bebte der ganze Tunnel durch das Dröhnen fallender Steine. Danach war ein Quietschen zu hören, wie die Gorgonen es ausgestoßen hatten, als Percy im Napa Valley einen Kasten Bowlingkugeln über ihnen ausgekippt hatte. Er schaute sich um. Das westliche Ende des Tunnels hatte sich mit Staub gefüllt.

»Müssen wir nicht nach Hazel sehen?«, fragte er.

»Der passiert schon nichts – hoffe ich«, sagte Frank. »Sie ist im Untergrund ziemlich gut. Geh einfach weiter. Wir sind fast da.«

»Fast wo?«

Juni kicherte. »Da, wo alle Wege hinführen, Kind. Das müsstest du doch wissen.«

»Ins Gefängnis?«, fragte Percy.

»Nach Rom, Kind«, sagte die alte Frau. »Nach Rom.«

Percy war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Klar, er hatte das Gedächtnis verloren. Sein Gehirn hatte sich nicht richtig angefühlt, seit er im Wolfshaus zu sich gekommen war. Aber er war ziemlich sicher, dass Rom nicht in Kalifornien lag.

Sie liefen weiter. Das Licht am Ende des Tunnels wurde heller und endlich traten sie ins Sonnenlicht.

Percy erstarrte. Vor ihm breitete sich ein mehrere Kilometer breites Tal aus. Er sah Hügel, goldene Ebenen und Waldgebiete. Ein kleiner klarer Fluss schlängelte sich von einem See in der Mitte her um das Tal, wie ein riesiges G.

Dieses Tal hätte sich überall im nördlichen Kalifornien befinden können: Eichen und Eukalyptusbäume, goldene Hügel und blauer Himmel. In der Ferne, genau da, wo er hingehörte, erhob sich dieser riesige Berg – wie hieß der doch noch gleich, Mount Diablo?

Aber Percy hatte das Gefühl, eine geheime Welt betreten zu haben. Mitten im Tal, am Seeufer, lag eine kleine Stadt aus weißen Marmorgebäuden mit roten Ziegeldächern. Einige hatten Kuppeln und Torbögen mit Säulen, wie Nationaldenkmäler. Andere sahen aus wie Paläste, mit goldenen Türen und riesigen Gärten. Er konnte einen offenen Platz mit frei stehenden Säulen, Brunnen und Statuen sehen. Ein fünf Stockwerke hohes römisches Kolosseum funkelte in der Sonne, neben einer langen ovalen Arena, die aussah wie eine Rennbahn.

Am südlichen Seeufer waren auf einem weiteren Hügel noch beeindruckendere Gebäude verteilt – Tempel, nahm Percy an. Mehrere Steinbrücken überquerten den Fluss, der sich durch das Tal wand, und im Norden zog sich von den Hügeln her eine lange Reihe von Klinkerbögen bis in die Stadt. Percy fand, es sah aus wie eine hochgelegte Zugstrecke. Dann ging ihm auf, dass es sich um ein Aquädukt handeln musste.

Der seltsamste Teil des Tales aber lag direkt unter ihm. An die zweihundert Meter weiter, auf dem anderen Flussufer, gab es eine Art Militärlager. Es maß etwa einen halben Quadratkilometer und war auf allen Seiten von Erdwällen umgeben, auf denen oben Eisenspitzen steckten. Hölzerne Wachttürme ragten an allen Ecken auf, besetzt von Wachtposten mit überdimensionalen, auf Gestellen befestigten Armbrüsten. Auf der anderen Seite des Lagers öffnete sich ein breites Tor in Richtung Stadt. Ein schmaleres verschlossenes Tor blickte auf das Flussufer. In der Festung herrschte geschäftige Aktivität: Dutzende von Jugendlichen liefen zwischen den Kasernen hin und her, trugen Waffen oder polierten Rüstungen. Percy hörte aus einer Schmiede das Dröhnen von Hämmern und roch Fleisch, das über einem Feuer zubereitet wurde.

Etwas an diesem Lager kam Percy sehr vertraut vor, und doch fühlte es sich nicht ganz richtig an.

»Camp Jupiter«, sagte Frank. »Wir sind in Sicherheit, wenn wir erst …«

Hinter ihnen im Tunnel hallten jetzt Schritte wider. Hazel kam ins Licht herausgestürzt, keuchend und übersät von Steinstaub. Sie hatte den Helm verloren und ihre braunen Locken fielen ihr auf die Schultern. Vorn in ihrer Rüstung hatten die Krallen einer Gorgo lange Risse hinterlassen. Eines der Monster hatte ihr einen Aufkleber mit der Aufschrift »50% Rabatt« verpasst.

»Ich habe sie aufgehalten«, sagte Hazel. »Aber sie können jeden Moment hier sein.«

Frank fluchte. »Wir müssen über den Fluss.«

Juni presste Percys Hals fester zusammen. »Oh ja, bitte. Mein Kleid darf nicht nass werden.«

Percy biss die Zähne aufeinander. Wenn diese Dame eine Göttin war, dann zweifellos die Göttin der stinkenden, schweren, nutzlosen Hippies. Aber er war immerhin bis hier gekommen. Da konnte er sie genauso gut weiter mitschleppen.

Weil es nett von dir wäre, hatte sie gesagt. Und wenn du es nicht tust, werden die Götter sterben, die Welt, wie wir sie kennen, wird vergehen, und alle aus deinem alten Leben werden vernichtet.

Wenn das hier ein Test war, dann konnte er sich keine miese Note erlauben.

Er stolperte einige Male, als sie auf den Fluss zurannten. Frank und Hazel halfen ihm auf die Beine.

Sie hatten das Ufer erreicht und Percy blieb stehen, um Atem zu holen. Die Strömung war reißend, aber der Fluss wirkte nicht tief. Nur einen Steinwurf entfernt sah er das Tor zur Festung.

»Los, Hazel.« Frank legte zwei Pfeile auf einmal an. »Geh mit Percy, damit die Wachen nicht auf ihn schießen. Diesmal halte ich die Schurken auf.«

Hazel nickte und watete ins Wasser.

Percy wollte schon folgen, aber etwas ließ ihn zögern. Eigentlich liebte er Wasser, aber dieser Fluss wirkte … mächtig und nicht unbedingt freundlich.

»Der Kleine Tiber«, sagte Juni mitfühlend. »Der strömt mit der Kraft des eigentlichen Tibers, des Flusses des Römischen Reiches. Das ist deine letzte Chance, auszusteigen, Kind. Der Fluch des Achilles ist eine griechische Gabe. Du kannst ihn nicht behalten, wenn du auf römisches Gebiet überwechselst. Der Tiber wird ihn abwaschen.«

Percy war zu erschöpft, um das alles zu verstehen, aber das Wichtigste hatte er erfasst. »Wenn ich durch den Fluss gehe, habe ich keine eiserne Haut mehr?«

Juni lächelte. »Also, was nimmst du? Sicherheit oder eine Zukunft voller Schmerz und Möglichkeiten?«

Hinter ihm kreischten die Gorgonen auf, als sie aus dem Tunnel flogen. Frank schoss seine Pfeile ab.

Von der Flussmitte her schrie Hazel: »Percy, mach schon!«

Auf den Wachttürmen wurden Hörner geblasen. Die Wachtposten brüllten und richteten ihre Armbrüste auf die Gorgonen.

Annabeth, dachte Percy und stieg in den Fluss. Das Wasser war eiskalt und floss viel schneller, als er gedacht hatte, aber das war ihm egal. Neue Kraft schoss durch seine Glieder. Seine Sinne prickelten wie nach einer Koffeinspritze. Er erreichte das andere Ufer und setzte die alte Frau ab, als die Tore des Camps geöffnet wurden. Dutzende von Jugendlichen in Rüstungen quollen heraus.

Hazel drehte sich mit einem erleichterten Lächeln um. Dann sah sie über Percys Schulter und ihre Miene schlug in Entsetzen um. »Frank!«

Frank hatte den Fluss halb durchquert, als die Gorgonen ihn einholten. Sie schossen vom Himmel herab und packten ihn an den Armen. Er schrie vor Schmerz auf, als ihre Krallen sich in seine Haut bohrten.

Die Wachtposten brüllten, aber Percy wusste, dass sie nicht schießen konnten. Sonst würden sie Frank umbringen. Die anderen Jugendlichen zogen ihre Schwerter und wollten ins Wasser laufen, aber es war zu spät.

Es gab nur eine Möglichkeit.

Percy streckte die Hände aus. Etwas schien an seinen Innereien zu reißen, aber der Tiber gehorchte. Der Fluss brodelte los und auf beiden Seiten von Frank bildeten sich Strudel. Riesige Wasserhände brachen aus der Strömung und ahmten Percys Bewegungen nach. Die riesigen Hände packten die Gorgonen, die Frank verdutzt losließen. Dann wurden die kreischenden Monster in einem flüssigen Schraubstockgriff in die Luft gehoben.

Percy hörte, wie die anderen Jugendlichen aufschrien und zurückwichen, aber er konzentrierte sich weiter auf seine Aufgabe. Er bewegte die Fäuste wie zum Wurf und die Riesenhände schleuderten die Gorgonen in den Tiber. Die Monster trafen auf den Grund auf und zerfielen zu Staub. Funkelnde Wolken aus Gorgonen-Substanz versuchten, sich neu zu formen, aber der Fluss schwemmte sie immer wieder auseinander. Bald wurden die Reste der Gorgonen flussabwärts gespült. Die Strudel verschwanden und die Strömung war wieder normal.

Percy stand noch immer am Flussufer. Seine Kleider und seine Haut dampften, als hätte das Wasser des Tiber ihm ein Säurebad verpasst. Er fühlte sich preisgegeben, wund … verletzlich.

Frank taumelte in der Flussmitte umher, er wirkte verblüfft, aber absolut unversehrt. Hazel watete zu ihm und half ihm ans Ufer. Erst jetzt ging Percy auf, wie leise alle anderen geworden waren.

Alle starrten ihn an. Nur die alte Dame Juni wirkte vollkommen unbeeindruckt.

»Na, das war ein schöner Ausflug«, sagte sie. »Danke, Percy Jackson, dass du mich ins Camp Jupiter gebracht hast.«

Eins der Mädchen stieß einen erstickten Laut aus. »Percy … Jackson?«

Es klang so, als ob sie seinen Namen erkannt hatte. Percy sah sie an und hoffte auf ein vertrautes Gesicht.

Ganz offenkundig war sie eine Anführerin. Sie trug über ihrer Rüstung einen lilafarbenen Umhang und ihre Brust war mit Orden dekoriert. Sie war etwa in Percys Alter und hatte dunkle, durchdringende Augen und lange schwarze Haare. Percy erkannte sie nicht, das Mädchen aber starrte ihn an, als ob sie ihn in ihren Albträumen gesehen hätte.

Juni lachte begeistert. »Ihr werdet euch köstlich miteinander amüsieren!«

Und dann, als ob der Tag nicht schon bizarr genug gewesen wäre, begann die alte Frau zu leuchten und ihre Gestalt zu verändern. Sie wuchs, bis sie eine strahlende Göttin von über zwei Meter Größe war, in einem blauen Kleid und mit einem Umhang über ihren Schultern, der aussah wie ein Ziegenfell. Ihr Gesicht war streng und edel. In ihrer Hand hielt sie einen mit einer Lotosblüte gekrönten Stab.

Wenn die Leute aus dem Camp noch verdutzter hätten aussehen könnten, dann hätten sie das jetzt getan. Das Mädchen mit dem lila Umhang fiel auf die Knie. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Ein Junge hatte es so eilig, dass er sich fast in sein Schwert gestürzt hätte.

Hazel fand als Erste die Sprache wieder. »Juno.«

Sie und Frank fielen ebenfalls auf die Knie, so dass Percy als Einziger noch stand. Er wusste, dass auch er niederknien müsste, aber nachdem er die alte Frau so weit getragen hatte, hatte er keine Lust, ihr so viel Respekt zu erweisen.

»Juno, was?«, sagt er. »Wenn ich den Test bestanden habe, kann ich dann bitte mein Gedächtnis und mein Leben wiederhaben?«

Die Göttin lächelte. »Das kommt noch, Percy Jackson, wenn du hier im Camp Erfolg hast. Du hast heute gute Arbeit geleistet, und das ist ein schöner Anfang. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für dich.« Sie wandte sich an die anderen Jugendlichen. »Römerinnen und Römer, hiermit stelle ich euch den Sohn des Neptun vor. Er hat monatelang geschlafen, nun aber ist er wach. Sein Schicksal liegt in euren Händen. Das Fest der Fortuna rückt rasch näher und der Tod muss befreit werden, wenn ihr in der Schlacht überhaupt eine Chance haben wollt. Enttäuscht mich nicht.«

Juno leuchtete noch einmal auf und war dann verschwunden. Percy sah Hazel und Frank an und wartete auf irgendeine Erklärung, aber die beiden wirkten genauso verwirrt wie er. Frank hielt etwas in den Händen, das Percy bisher noch nicht aufgefallen war – zwei kleine Tongefäße mit Korkstöpseln, wie für einen Zaubertrank, in jeder Hand eins. Percy hatte keine Ahnung, woher sie stammten, aber er sah, wie Frank sie in seine Taschen gleiten ließ. Frank warf ihm einen Blick zu, der zu sagen schien: Wir reden später darüber.

Das Mädchen mit dem Umhang trat vor. Sie musterte Percy misstrauisch und Percy konnte sich nicht von dem Gefühl befreien, dass sie ihn am liebsten mit ihrem Dolch durchbohrt hätte.

»So«, sagte sie mit kalter Stimme. »Ein Sohn des Neptun, der mit Junos Segen zu uns kommt.«

»Hör mal«, sagte er. »Meine Erinnerungen sind ein bisschen verschwommen. Äh, sie sind verschwunden, um es genauer zu sagen. Kennen wir uns?«

Das Mädchen zögerte. »Ich bin Reyna, Prätorin der zwölften Legion. Und … nein, ich kenne dich nicht.«

Letzteres war gelogen. Das konnte Percy in ihren Augen sehen. Aber er wusste auch, dass sie es nicht besonders gut finden würde, wenn er ihr hier vor ihren Soldaten widersprach.

»Hazel«, sagte Reyna. »Bring ihn rein. Ich will ihn befragen. Danach schicken wir ihn zu Octavian. Wir müssen die Augurien einholen, ehe wir entscheiden, was wir mit ihm machen werden.«

»Wie meinst du das,« fragte Percy, »›entscheiden, was ihr mit mir machen werdet‹?«

Reynas Hand schloss sich um ihren Dolch. Sie war es eindeutig nicht gewöhnt, dass ihre Befehle hinterfragt wurden. »Ehe wir jemanden im Camp aufnehmen, müssen wir ihn befragen und die Augurien lesen. Juno hat gesagt, dass dein Schicksal in unseren Händen liegt. Wir müssen herausfinden, ob die Göttin uns einen neuen Rekruten gebracht hat …«

Reyna musterte Percy, als ob sie da ihre Zweifel hätte.

»Oder«, sagte sie optimistischer, »einen Feind, den wir töten können.«

III

Percy

Percy hatte keine Angst vor Gespenstern, und das war sein Glück. Die Hälfte der Leute im Camp war tot.

Schimmernde lila Krieger standen vor der Waffenkammer und hielten ätherische Schwerter hoch. Andere lungerten vor den Kasernen herum. Ein Geisterjunge jagte einen Geisterhund durch die Straße. Und in den Ställen hütete ein riesiger leuchtender Kerl mit einem Wolfskopf eine Herde von … waren das Einhörner?

Niemand im Camp achtete besonders auf die Geister, aber als Percy vorüberging, geführt von Reyna, während Frank und Hazel ihn zwischen sich genommen hatten, hielten alle Geister in ihren Beschäftigungen inne und starrten Percy an. Einige sahen wütend aus. Der kleine Junge schrie so etwas wie »Greggus« und wurde unsichtbar.

Percy wäre auch gern unsichtbar geworden. Nach Wochen des Alleinseins machte ihn diese ganze Aufmerksamkeit nervös. Er blieb zwischen Hazel und Frank und versuchte, nicht aufzufallen.

»Habe ich Visionen?«, fragte er. »Oder sind das …«

»Geister?« Hazel drehte sich um. Sie hatte verwirrende Augen, wie vierzehnkarätiges Gold. »Das sind Laren. Hausgötter.«

»Hausgötter«, sagte Percy. »Wie meinst du das … kleiner als echte Götter, aber größer als Wohnungsgötter?«

»Das sind die Geister der Ahnen«, erklärte Frank. Er hatte den Helm abgenommen und ein Babygesicht enthüllt, das nicht zu seinem militärischen Haarschnitt oder seiner breiten, kräftigen Gestalt passte. Er sah aus wie ein Zweijähriger, der Steroide genommen hat und zur Marine gegangen ist.

»Die Laren sind eine Art Maskottchen«, sagte er dann. »Meistens sind sie harmlos, aber ich habe sie noch nie so aufgeregt erlebt.«

»Sie starren mich an«, sagte Percy. »Dieses kleine Gespenst hat mich Greggus genannt. Ich heiße aber nicht Greg.«

»Graecus«, sagte Hazel. »Wenn du erst eine Weile hier bist, wirst du anfangen, Latein zu verstehen. Halbgötter haben dafür ein natürliches Gespür. Graecus bedeutet Griechisch.«

»Ist das schlimm?«, fragte Percy.

Frank räusperte sich. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Du bist eben der griechische Typ, mit dunklen Haaren und so. Vielleicht halten sie dich für einen echten Griechen. Kommt deine Familie aus Griechenland?«

»Weiß nicht. Wie gesagt, mein Gedächtnis ist verschwunden.«

»Oder vielleicht …« Frank zögerte.

»Was denn?«, fragte Percy.

»Ach nichts«, sagte Frank. »Zwischen Römern und Griechen besteht eine alte Rivalität. Manchmal benutzen Römer das Wort Graecus als Beleidigung für jemanden, der ein Außenseiter ist – ein Feind. Ich würde mir deshalb aber keine Sorgen machen.«

Er hörte sich arg besorgt an.

Sie blieben mitten im Camp stehen, wo zwei mit Steinen gepflasterte Straßen sich in einem T trafen.

Ein Straßenschild wies die Straße zum Haupteingang als VIA PRAETORIA aus. Die andere Straße, die mitten durch das Camp führte, hieß VIA PRINCIPALIS. Unter den Schildern gab es handgeschriebene Wegweiser wie BERKELEY 7 km, NEU-ROM 1,5 km, ALT-ROM 10050 km; HADES 3700 km (dieser Wegweiser zeigte geradewegs nach unten), RENO 334 km und SICHERER TOD: HIER.

Für den sicheren Tod sah das Camp sehr sauber und ordentlich aus. Die Gebäude waren frisch getüncht und quadratisch angeordnet, als ob das Camp von einem pedantischen Mathelehrer entworfen worden wäre. Die Kasernen hatten schattige Veranden, wo die Bewohner in Hängematten lagen oder Karten spielten und Limo tranken. Jedes Haus war mit einer anderen Sammlung von Bannern geschmückt, die römische Zahlen und allerlei Tiere zeigten – Adler, Bär, Wolf, Pferd und etwas, das aussah wie ein Hamster.

An der Via Praetoria gab es Läden für Lebensmittel, Waffen, Kaffee, Gladiatorenausrüstung und Togavermietung. Ein Wagenhändler hatte ein großes Plakat vor der Tür hängen: CAESAR XLS M/ANTIBLOCKIERUNGSBREMSEN, KEINEN EINZIGEN DENAR HERABGESETZT!

An einer Ecke der Kreuzung stand das beeindruckendste Gebäude – ein zweistöckiger Block aus weißem Marmor mit einem Säuleneingang wie bei einer altmodischen Bank. Römische Wachen standen davor. Über dem Eingang hing ein riesiges lilafarbenes Banner, auf dem in einen Lorbeerkranz die Buchstaben SPQR eingestickt waren.

»Euer Hauptquartier?«, fragte Percy.

Reyna sah ihn an, ihre Augen waren noch immer kalt und feindselig. »Das wird die Principia genannt.«

Sie sah sich die Schar der neugierigen Camper an, die ihnen vom Fluss her gefolgt waren. »Alle zurück zu ihren Pflichten. Ich werde euch beim Abendappell auf den neuesten Stand bringen. Und vergesst nicht, nach dem Abendessen gibt es Kriegsspiele.«

Die Erwähnung des Abendessens ließ Percys Magen knurren. Beim Geruch von gegrilltem Fleisch aus dem Speisesaal lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Die Bäckerei weiter hinten auf der Straße duftete auch wunderbar, aber er glaubte nicht, dass Reyna ihn etwas zu essen holen lassen würde.

Die Menge zerstreute sich widerstrebend. Einige murmelten Kommentare über Percys Chancen.

»Der ist so gut wie tot«, sagte einer.

»Und natürlich haben ausgerechnet diese beiden ihn gefunden«, sagte jemand anderes.

»Ja«, knurrte ein Dritter. »Soll er doch zur fünften Kohorte gehen. Mit Griechen kriechen.«

Darüber lachten einige, aber Reyna schaute sie strafend an und sie machten, dass sie wegkamen.

»Hazel«, sagte Reyna. »Komm mit. Ich will deinen Bericht darüber, was bei den Toren passiert ist.«

»Ich auch?«, fragte Frank. »Percy hat mir das Leben gerettet. Wir müssen ihn …«

Reyna warf Frank einen dermaßen wütenden Blick zu, dass er zurückwich.

»Ich möchte dich daran erinnern, Frank Zhang, dass du selbst nur auf Probatio bist. Du hast für diese Woche genug Unheil angerichtet.«

Franks Ohren wurden rot. Er spielte an einer kleinen Tafel herum, die er an einer Schnur um den Hals trug. Percy hatte bisher nicht sonderlich auf sie geachtet; sie sah aus wie ein aus Blei hergestelltes Namensschild.

»Geh in die Waffenkammer«, sagte Reyna zu Frank. »Sieh unser Inventar durch. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche.«

»Aber …« Frank riss sich zusammen. »Ja, Reyna.«

Er lief davon.

Reyna winkte Hazel und Percy mit sich ins Hauptquartier.

»Und jetzt, Percy Jackson, wollen wir doch mal sehen, ob wir deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen können.«

Die Principia war von innen noch beeindruckender.

Unter der Decke funkelte ein Mosaik, das Romulus und Remus und ihre Adoptivmama, die Wölfin, zeigte (Lupa hatte Percy diese Geschichte eine Million Mal erzählt). Der Boden bestand aus poliertem Marmor. Die Mauern waren mit Samt verhängt, deshalb kam Percy sich vor wie im teuersten Zelt der Welt. Vor der hinteren Mauer stand eine Sammlung von Bannern und Stäben, die mit Bronzemedaillen besetzt waren – Militärsymbole, nahm Percy an. In der Mitte war ein leerer Ausstellungstisch, als ob das Hauptbanner zum Waschen oder so weggenommen worden wäre.

In der hinteren Ecke führte eine Treppe nach unten. Der Zugang war mit einer Reihe von Eisenstäben blockiert, wie bei einer Gefängnistür. Percy fragte sich, was dort unten sein mochte – Monster? Eine Schatzkammer? Halbgötter mit Gedächtnisverlust, die Reyna in die Quere gekommen waren?

Ein langer Holztisch mitten im Raum war überhäuft mit Schriftrollen, Notizbüchern, iPads, Dolchen und einer großen Schüssel voll Gummibärchen, die irgendwie fehl am Platze wirkte. Zwei lebensgroße Windhunde – einer aus Silber, der andere aus Gold – saßen neben dem Tisch.

Reyna trat dahinter und ließ sich in einem der beiden Sessel mit den hohen Rückenlehnen nieder. Percy hätte sich gern in den anderen gesetzt.

»Also«, fing er an.

Die Hundestatuen bleckten die Zähne und knurrten.

Percy erstarrte. Eigentlich mochte er Hunde, aber diese glotzten ihn aus Rubinaugen an. Ihre Eckzähne sahen scharf wie Rasiermesser aus.

»Ganz ruhig, Jungs«, sagte Reyna zu den Windhunden.

Sie hörten auf zu knurren, aber sie starrten Percy weiterhin an, als ob sie ihn für einen Hundekuchen hielten.

»Die tun dir nichts«, sagte Reyna. »Außer du versuchst, etwas zu stehlen, oder ich befehle es ihnen. Das sind Argentum und Aurum.«

»Silber und Gold«, sagte Percy. Die Wörter tauchten einfach so in seinem Kopf auf, wie Hazel es vorhergesagt hatte. Er hätte fast gefragt, welcher Hund welcher war, aber dann ging ihm auf, dass das eine blöde Frage wäre.

Reyna legte ihren Dolch auf den Tisch. Percy hatte das vage Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Ihre Haare waren schwarz und glänzend wie Vulkangestein und zu einem einzigen Zopf geflochten. Sie hatte die Haltung eines Schwertkämpfers – entspannt, aber wachsam, gleichsam bereit, jeden Moment loszuschlagen. Die Sorgenfalten um ihre Augen ließen sie älter aussehen, als sie vermutlich war.

»Wir sind uns wirklich schon einmal begegnet«, entschied er. »Ich weiß nicht, wann. Bitte, wenn du mir irgendetwas sagen kannst …«

»Alles der Reihe nach«, sagte Reyna. »Ich möchte deine Geschichte hören. Woran erinnerst du dich überhaupt? Wie bist du hergekommen? Und nicht lügen. Meine Hunde können Lügner nicht leiden.«

Argentum und Aurum knurrten, wie um das zu bestätigen.

Percy erzählte seine Geschichte – wie er in dem zerfallenen Haus im Wald von Sonoma zu sich gekommen war. Er beschrieb seine Wochen bei Lupa und ihrer Meute, wie er ihre Sprache aus Gestik und Mimik gelernt hatte und wie er gelernt hatte zu kämpfen und zu überleben.

Lupa hatte ihm von Halbgöttern, Monstern und Göttern erzählt. Sie hatte erklärt, dass sie zu den Schutzgeistern des alten Rom gehörte. Halbgötter wie Percy waren dafür zuständig, die römischen Traditionen in modernen Zeiten weiterzuführen – gegen Monster zu kämpfen, den Göttern zu dienen, die Sterblichen zu beschützen und die Erinnerung an das Römische Reich am Leben zu erhalten. Sie hatte zwei Wochen mit ihm trainiert, bis er stark und zäh und tückisch wie ein Wolf war. Als sie mit seinen Fähigkeiten zufrieden gewesen war, hatte sie ihn nach Süden geschickt und ihm gesagt, wenn er diese Reise überlebte, würde er vielleicht ein neues Zuhause finden und seine Erinnerung zurückgewinnen.

Das alles schien Reyna nicht zu überraschen. Sie schien es sogar ziemlich normal zu finden – mit einer Ausnahme.

»Gar keine Erinnerung?«, fragte sie. »Du erinnerst dich noch immer an nichts?«

»Nur an vage Bruchstücke.« Percy schaute zu den Windhunden hinüber. Er wollte Annabeth nicht erwähnen. Es kam ihm zu privat vor und er wusste noch immer nicht, wo er sie finden könnte. Er war sicher, dass sie sich in einem Camp kennengelernt hatten – aber das hier kam ihm nicht wie der richtige Ort vor.

Außerdem hatte er keine Lust, seine einzige deutliche Erinnerung zu teilen: Annabeths Gesicht, ihre blonden Haare und grauen Augen, die Art, wie sie lachte, wie sie die Arme um ihn legte und ihn küsste, wann immer er eine Dummheit machte.

Bestimmt hat sie mich sehr oft geküsst, dachte Percy.

Er hatte Angst, dass die Erinnerung sich wie ein Traum auflösen würde, wenn er sie irgendwem gegenüber erwähnte. Und dieses Risiko wollte er nicht eingehen.

Reyna spielte mit ihrem Dolch. »Das meiste davon, was du da beschreibst, ist für Halbgötter normal. In einem bestimmten Alter landen wir alle irgendwie im Wolfshaus. Wir werden getestet und trainiert. Wenn Lupa uns für würdig befindet, schickt sie uns nach Süden, damit wir in die Legion eintreten. Aber ich habe noch nie gehört, dass jemand sein Gedächtnis verloren hätte. Wie hast du Camp Jupiter gefunden?«

Percy erzählte ihr von den letzten drei Tagen – den Gorgonen, die einfach nicht starben, der alten Frau, die sich als Göttin entpuppt hatte, und wie er dann beim Tunnel durch den Hügel auf Frank und Hazel gestoßen war.

Danach erzählte Hazel weiter. Sie beschrieb Percy als mutig und heldenhaft, was ihm unangenehm war. Er hatte doch nur eine alte zerlumpte Hippiefrau getragen.

Reyna musterte ihn. »Für einen Rekruten bist du alt. Du bist, was, sechzehn?«

»Ich glaube schon«, sagte Percy.

»Wenn du so viele Jahre allein verbracht hättest, ohne Training oder Hilfe, müsstest du eigentlich tot sein. Ein Sohn des Neptun? Du hast eine mächtige Aura, die bestimmt alle Arten von Monstern anzieht.«

»Ja«, sagte Percy. »Ich habe auch schon gehört, dass ich stinke.«

Reyna hätte fast gelächelt, was Percy Hoffnung machte. Vielleicht war sie ja doch menschlich.

»Vor dem Wolfshaus musst du irgendwo gewesen sein«, sagte sie.

Percy zuckte mit den Schultern. Juno hatte etwas darüber gesagt, dass er geschlafen habe, und er hatte wirklich das vage Gefühl, geschlafen zu haben, vielleicht für lange Zeit. Aber einen Sinn ergab das nicht.

Reyna seufzte. »Na, die Hunde haben dich nicht verschlungen, da nehme ich mal an, dass du die Wahrheit sagst.«

»Super«, sagte Percy. »Kann ich beim nächsten Mal einen Lügendetektor haben?«

Reyna stand auf und lief vor den Bannern hin und her. Ihre Metallhunde sahen ihr dabei zu.

»Selbst wenn ich davon ausgehe, dass du kein Feind bist«, sagte sie, »bist du trotzdem kein typischer Rekrut. Die Königin des Olymp taucht nicht einfach mal kurz im Camp auf und stellt uns einen neuen Halbgott vor. Als uns zuletzt eine wichtige Gottheit persönlich aufgesucht hat …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur Sagen über solche Ereignisse gehört. Und ein Sohn des Neptun … das ist kein gutes Omen. Jetzt schon gar nicht.«

»Was gibt es denn an Neptun auszusetzen?«, fragte Percy. »Und was meinst du mit ›jetzt schon gar nicht‹?«

Hazel warf ihm einen warnenden Blick zu.

Reyna lief noch immer hin und her. »Du hast gegen die Schwestern der Medusa gekämpft und die haben sich seit Jahrtausenden nicht blicken lassen. Du hast die Laren aufgeregt und sie nennen dich Graecus. Und du trägst seltsame Symbole – dieses Hemd, die Perlen an deinem Halsband. Was haben die zu bedeuten?«

Percy schaute an seinem zerfetzten orangefarbenen T-Shirt hinunter. Es war einmal mit einem Text bedruckt gewesen, aber der war zu sehr verblasst, um noch lesbar zu sein. Er hätte das Hemd schon vor Wochen wegwerfen sollen, es war nur noch ein Fetzen, aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, sich davon zu trennen. Also wusch er es, so gut er konnte, in Bächen und Brunnen und zog es wieder an.

Die vier Tonperlen an seinem Halsband wiesen jede ein anderes Symbol auf. Eine zeigte einen Dreizack, die zweite ein winziges Goldenes Vlies, in die dritte war der Grundriss eines Labyrinths eingeätzt und die letzte zeigte ein Gebäude – vielleicht das Empire State Building –, umkreist von Namen, die Percy nicht erkannte. Die Perlen kamen ihm wichtig vor, wie Bilder aus einem Familienalbum, aber er konnte sich nicht erinnern, was sie bedeuteten.

»Ich weiß nicht«, sagte er.

»Und dein Schwert?«, fragte Reyna.

Percy griff in seine Hosentasche. Der Kugelschreiber war wie immer zurückgekehrt. Er zog ihn heraus und erst dann ging ihm auf, dass er Reyna das Schwert ja gar nicht gezeigt hatte. Auch Hazel und Frank hatten es nicht gesehen. Woher wusste Reyna also davon?

Zu spät, so zu tun, als hätte er kein Schwert … Er drehte die Kappe vom Kugelschreiber. Springflut wuchs zu voller Größe. Hazel schnappte nach Luft und die Windhunde bellten misstrauisch.

»Was ist das?«, fragte Hazel. »So ein Schwert habe ich noch nie gesehen.«

»Ich schon«, sagte Reyna düster. »Es ist sehr alt, ein griechisches Modell. Wir hatten ein paar in der Waffenkammer, bevor …« Sie unterbrach sich. »Das Metall wird himmlische Bronze genannt. Es ist für Monster genauso tödlich wie kaiserliches Gold, aber noch seltener.«

»Kaiserliches Gold?«, fragte Percy.

Reyna zog ihren Dolch aus der Scheide. Die Klinge war wirklich golden. »Dieses Metall wurde in den alten Zeiten im Pantheon in Rom geweiht. Seine Existenz war ein gut gehütetes Geheimnis der Kaiser – eine Möglichkeit für ihre Kämpfer, Monster zu besiegen, die das Reich bedrohten. Wir hatten sonst mehr Waffen dieser Art, aber inzwischen … na ja, wir behelfen uns eben. Ich benutze diesen Dolch. Hazel hat eine Spatha, ein Kavallerieschwert. Die meisten Legionäre verwenden ein kürzeres Schwert, das Gladius genannt wird. Aber diese Waffe, die du da hast, ist überhaupt nicht römisch. Das weist wieder darauf hin, dass du kein typischer Halbgott bist. Und dein Arm …«

»Was ist damit?«, fragte Percy.

Reyna hob ihren eigenen Unterarm. Percy war es noch nicht aufgefallen, aber sie war dort tätowiert: mit den Buchstaben SPQR, einem Schwert und einer Fackel, die sich überkreuzten, und darunter mit vier parallelen Strichen wie nach einer Zählung.

Percy schaute zu Hazel hinüber.

»Das haben wir alle«, sagte sie und hob ebenfalls den Arm. »Alle vollwertigen Mitglieder der Legion.«

Auch Hazels Tätowierung zeigte die Buchstaben SPQR, aber sie hatte nur einen Strich und ihr Zeichen war anders: ein schwarzes Symbol, das aussah wie ein Kreuz mit erhobenen Armen und einem Kopf.

Percy sah seine eigenen Arme an. Einige Schrammen, ein wenig Dreck und ein Fleck, den die Würstchen hinterlassen hatten, aber keine Tätowierung.

»Du warst also niemals ein Mitglied der Legion«, sagte Reyna. »Diese Zeichen lassen sich nicht entfernen. Ich dachte, vielleicht …« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie einen Gedanken aufgegeben hätte.

Hazel beugte sich vor. »Wenn er die ganze Zeit allein überlebt hat, ist er vielleicht Jason begegnet.« Sie drehte sich zu Percy um. »Ist dir schon mal ein Halbgott wie wir über den Weg gelaufen? Ein Typ in einem lila T-Shirt mit Zeichen auf dem Arm …«

»Hazel.« Reynas Stimme wurde strenger. »Percy hat wirklich genug Sorgen.«

Percy berührte seine Schwertspitze und Springflut schrumpfte wieder zum Kugelschreiber. »Ich habe noch nie jemanden wie euch gesehen. Wer ist Jason?«

Reyna warf Hazel einen genervten Blick zu. »Er ist … er war mein Kollege.« Sie zeigte auf den leeren zweiten Sessel. »Die Legion hat normalerweise zwei gewählte Prätoren. Jason Grace, Sohn des Jupiter, war unser Prätor, bis er im vorigen Oktober verschwunden ist.«

Percy versuchte zu rechnen. Draußen in der Wüste hatte er nicht sonderlich auf den Kalender geachtet, aber Juno hatte erwähnt, dass gerade Juni sei. »Das heißt, er ist seit acht Monaten verschwunden und ihr habt ihn noch nicht ersetzt?«

»Vielleicht ist er ja nicht tot«, sagte Hazel. »Wir haben noch nicht aufgegeben.«

Reyna schnitt eine Grimasse. Percy hatte das Gefühl, dass dieser Jason für sie mehr gewesen war als nur ein Kollege.

»Es gibt nur zwei Möglichkeiten, gewählt zu werden«, sagte Reyna. »Entweder hebt die Legion nach einem großen Erfolg auf dem Schlachtfeld jemanden auf den Schild – aber wir hatten keine großen Schlachten –, oder wir stimmen am Vorabend des 24. Juni ab, dem Fest der Fortuna. Das ist in fünf Tagen.«

Percy runzelte die Stirn. »Ein Fest für was für einen Ford?«

»Fortuna«, wiederholte Hazel. »Sie ist die Göttin des Glücks. Was immer an ihrem Festtag passiert, kann das gesamte restliche Jahr beeinflussen. Sie kann dem Camp Glück bringen – oder schlimmes Unglück.«