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Der Roadtrip ihres Lebens: drei Jugendliche fliehen aus der psychiatrischen Klinik, um sich selbst zu suchen. Was sie finden? Echte Freundschaft und das große Abenteuer. Bewegender Jugendroman ab 12 Jahren Nilo ist 15 und ein Zocker. Eines Tages eskaliert ein Streit mit seiner Mutter, Nilo hat plötzlich ein Messer in der Hand, und kurz darauf ist er in der Psychiatrie. Dort lernt er Faris kennen, der wie er spielsüchtig ist. Und er trifft auf die faszinierende Mayla von der Akutstation nebenan. Als die beiden Jungs beobachten, wie Mayla abhaut, folgen sie ihr. Auf ihrer abenteuerlichen Reise begegnen sie freundlichen und boshaften Menschen, erleben sonderbare und traurige Dinge, frieren und lachen gemeinsam. Aber können sie ihre Vergangenheit abschütteln? Und was genau soll diese Flucht überhaupt? - Für Fans von »Tschick« - Zwischen Lachen und Weinen: ein schwereloser Roman mit ernstem Hintergrund - Spannend erzählter Coming-of-Age-Roman über Mental Health und wahre Freundschaft
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martin Schäuble
Der Roadtrip ihres Lebens: drei Jugendliche fliehen aus der psychiatrischen Klinik, um sich selbst zu suchen. Was sie finden? Echte Freundschaft und das große Abenteuer. Bewegender Jugendroman ab 12 Jahren
Nilo ist fünfzehn und ein Zocker. Eines Tages eskaliert ein Streit mit seiner Mutter, Nilo hat plötzlich ein Messer in der Hand, und kurz darauf ist er in der Psychiatrie.
Dort lernt er Faris kennen, der wie er spielsüchtig ist. Und er trifft auf die faszinierende Mayla von der Akutstation nebenan. Als die beiden Jungs beobachten, wie Mayla abhaut, folgen sie ihr.
Auf ihrer abenteuerlichen Reise begegnen sie freundlichen und boshaften Menschen, erleben sonderbare und traurige Dinge, frieren und lachen gemeinsam. Aber können sie ihre Vergangenheit abschütteln? Und was genau soll diese Flucht überhaupt?
Zwischen Lachen und Weinen: ein schwereloser Roman mit ernstem Hintergrund
Spannend erzählter Coming-of-Age-Roman über Mental Health und wahre Freundschaft
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de
Martin Schäuble ist für seine kritischen Jugendbücher bekannt, die von der Presse hochgelobt wurden und vielfach als Schullektüre eingesetzt werden. Nach »Endland« bei Hanser veröffentlichte er bei FISCHER SAUERLÄNDER die Dilogie »Die Scanner«/»Die Gesannten« sowie »Sein Reich«, »Cleanland«, »Godland«, »Alle Farben grau« und »Warum du schweigst«. Als promovierter Politikwissenschaftler verfasst er auch Nahost-Sachbücher.
Für die Verwendung in der Schule ist unter
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Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book
© 2025, Fischer Sauerländer GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch
Aenne Glienke, Agentur für Autoren und Verlage
www.AenneGlienkeAgentur.de
Ein Zitat stammt aus dem Song Heroes von David Bowie aus dem gleichnamigen Album, RCA Records, 1977.
Ein Zitat stammt aus J. R. R. Tolkien, The Lord of the Rings, Harper Collins Publishers, 2001, S. 167.
Ein Zitat stammt aus J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe, Gesamtausgabe, Klett-Cotta, 2022, S. 198.
Covergestaltung: Giessel Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
ISBN 978-3-7336-0597-1
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Anmerkung vom Verlag
Widmung
Motto
Teil 1
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Teil 2
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
Teil 3
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
Danksagung
Triggerwarnung
Pressestimmen zu Martin Schäubles Romanen
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Themen.
Weitere Informationen dazu am Ende des Buches.
Für alle auf Station drei
We can be Heroes, just for one day.
We can be us, just for one day.
David Bowie, Heroes
Not all those who wander are lost (…).
J.R.R. Tolkien, The Lord of the Rings
Die zwei Gefährten
Ich zog gerade eine mythische Figur und … nein, es war keine mythische … es war eine LEGENDÄRE!!!
Das war unglaublich und Dopamin pur! Das Zeug macht einen glücklich, hatte uns die Biolehrerin erklärt, von wegen Glückshormone und so.
Zocken ist quasi wie Medizin. Das ist jetzt meine Theorie, nicht die der Lehrerin. Meine Mutter fand das leider nicht so überzeugend.
Sie klopfte auf meine Matratze. Jetzt schon? War es schon Nachmittag? Hatte sie schon Feierabend?
»Nilo!«
Ich zuckte zusammen.
Wenn sie meinen Vornamen in dieser Lautstärke sagte, war auch klar, dass da was nicht stimmte.
Sie klopfte noch mal auf die Matratze. »Du hast nichts gegessen.«
»Später.«
»Du bist seit vier Stunden von der Schule zurück, oder? Das im Kühlschrank wäre eigentlich dein Mittagessen gewesen, nicht dein Abendessen.«
»Gleich.«
»Nilo!«
»Gleich!«
»Du hast sogar noch die Schuhe an … im Bett. Echt jetzt?«
Ich rieb die Füße aneinander und streifte einen Schuh nach dem anderen ab. Sie flogen auf den Teppich mit einem Plopp und noch einem Plopp.
»Dein Rucksack liegt noch im Flur«, sagte meine Mutter. »Hast du keine Hausaufgaben?«
»Nee«, sagte ich und wusste es wirklich nicht mehr so genau. Irgendwas in Mathe vielleicht?
»Hast du dir wenigstens die Hände gewaschen oder warst du mal auf dem Klo oder … warte mal, nicht dein Ernst. Du hast nicht mal den verdammten Müll rausgebracht?!«
Verdammt – dieses Adjektiv deutete an, dass es gleich richtig laut werden konnte.
Aber das mit der Mülltüte stimmte. Sie hing seit fünf Jahren oder so an der Türklinke. Ich hatte einfach noch keine Zeit dafür gehabt. Das Leben eines Schülers ist total verplant und stressig, nur checken Eltern das nicht.
Meine Mutter stand auf und zeigte auf die Mülltüte. »Hatten wir da nicht eine Vereinbarung?«
»Mach ich!«, sagte ich. »Mach ich alles! Gleich!«
»Nicht gleich«, sagte meine Mutter, und nun klang sie richtig genervt.
»Einen Moment noch«, sagte ich.
»Nein. Jetzt! Schalt das Ding jetzt aus!«
Ich zockte weiter und hoffte einfach nur, mit der legendären Figur voranzukommen.
»Eine Minute, nur eine Minute«, sagte ich und startete eine neue Runde.
Ich wusste, dass die Runde natürlich länger dauerte als sechzig Sekunden. Doch so schlimm fand ich das auch nicht.
Da riss mir meine Mutter mein Handy aus der Hand.
Und dazu muss ich erklären, was meine Mutter immer noch nicht begriffen hatte: Ich kann nicht einfach so speichern. Ich hätte diese Runde zu Ende spielen müssen!
Ich sprang auf und schrie sie an: »Bist du bescheuert? Spinnst du?«
Ich wollte mein Handy zurückhaben, aber sie umklammerte es mit beiden Händen. »Wenn hier einer spinnt, bist du das, Freundchen!«
»Mein Handy! Gib mir sofort mein Handy!«
»Wenn du was gegessen hast.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Natürlich hast du Hunger!«
»Nein!«
»Dann räum die Schuhe in den Schrank. Bring den Müll runter … Ich bin nicht deine Angestellte.«
»Mein Handy!«, schrie ich sie an.
»Hast du schon mal in den Spiegel geschaut? Du siehst aus wie ein Gespenst. Hast du heute Nacht wieder durchgezockt?«
Das fand ich gemein. Erstens hatte sie selbst, wie immer, die halbe Nacht vor dem Bildschirm verbracht (irgendeine Netflix-Serie). Zweitens hatte sie mich doch schon beim Frühstück gesehen. Aber da wollte sie nicht diskutieren, da wollte sie ihre Ruhe! Und ihren Kaffee. Ruhe und Kaffee. Das war ihr wichtig am Morgen.
Mit einem Sprung erreichte ich mein Handy und riss es ihr aus den Händen.
»Aua, hey!«, fluchte sie und griff nach mir.
Doch ich rannte ins Bad, knallte die Tür zu, schloss hinter mir ab.
Und dann war ich echt enttäuscht, und zwar so richtig.
Die Runde war gelaufen! Ich war auf dem letzten Platz. Das war mir seit einer Ewigkeit nicht mehr passiert. Der letzte Platz!
Also das Dopamin war jetzt auf jeden Fall schon mal komplett draußen.
»Scheiße!«, rief ich und trat gegen den Wäschekorb.
Er fiel um und rutschte über den Boden. Unsere schmutzige Wäsche der letzten drei Tage verteilte sich auf den Fliesen.
Ich riss die Tür auf und schrie: »Du bist so krank!«
Meine Mutter stand genau vor mir und blickte auf unsere Socken, Hosen und Shirts. Ich drückte mich an ihr vorbei, doch sie riss mir schon wieder das Handy aus der Hand.
Bevor ich etwas sagen konnte, schleuderte sie es quer durch den Flur ins Wohnzimmer, wo die Tür offen stand.
Mein Handy knallte gegen die Wand.
Schlitterte über den Esstisch.
Prallte an der Heizung ab.
Und flog auf den Boden.
Jetzt war sie es, die schrie. »Dein Scheißzocken regt mich so auf! Hörst du? Es macht mich fertig! Fertig! Fertig!«
Ich rannte ins Wohnzimmer, hob mein Handy auf und entdeckte den Riss im Display. Kein Kratzer, ein Riss! Und das war nicht alles. Das Gerät ging gar nicht mehr an. Es war ein schwarzes, kaputtes Ding mit Riss – mehr war es nicht.
Mein Handy war Müll. Und ich hatte es von meinem Taschengeld bezahlt. Mindestens ein Jahr hatte ich dafür gespart. Ein Jahr!
Ich spürte einen Kloß im Hals und lief wieder ins Bad, wo meine Mutter die Wäsche zurück in den Korb räumte. Ich gab dem Ding gleich noch mal einen Tritt.
Dieses Mal flog der Metalldeckel durch den Raum und knallte gegen die Glastür der Dusche.
Auf der Oberfläche bildeten sich in einer Sekunde hunderte Risse. Die Tür sah aus wie ein durchsichtiges Puzzle. Sicherheitsglas, soweit kannte ich mich aus.
Scherben gab es da nicht, wegen Verletzungsrisiko. Doch die Scheibe war hin.
Und dann ging alles sehr schnell.
Ich spürte, wie meine Mutter meinen Kopf packte und mich an den Haaren zog. »Du bist so ein Idiot!«, schrie sie. »Ich reiße mir den Arsch auf für dich! Verstehst du das eigentlich … jeden Tag! Ich putze für dich, ich koche für dich, ich geh arbeiten … hörst du? Und …«
»Du tust mir weh!«
»… und du? Du hockst den ganzen Tag herum und glotzt auf dieses Scheißding.«
Sie schleifte mich an den Haaren in die Küche und knallte die Tür hinter uns zu.
Endlich ließ sie meinen Kopf los.
»Die Dusche ist hin!«, schrie sie. »Und jetzt? Das kostet alles Geld! Kapierst du das eigentlich?«
Ich schwieg.
»Und was denken die Nachbarn bei dem Lärm?«, fragte sie.
Ich sagte immer noch nichts. Aber ich dachte mir: Von uns beiden war gerade sie am lautesten.
Unsere Nachbarn waren mir aber egal. Etwas anderes war mir wichtig: Meine Mutter hatte mein Handy geschrottet.
»Du hast eine Woche Zockverbot!«, sagte sie.
Meinen Herzschlag spürte ich bis zum Hals, und ich zitterte vor Wut. Zockverbot? Ich hatte nicht mal mehr ein Handy!
»Und Nilo, die Dusche zahlst du! Verstanden?«
Verstehen konnte ich in dem Augenblick überhaupt nichts mehr. Ich sah ein Küchenmesser neben der Mikrowelle, griff danach und streckte es ihr entgegen.
Ich schrie sie an: »Das kannst du vergessen!«
Meine Mutter zuckte zusammen und ging einen Schritt zurück. »Nilo?«
»Du musst mir ein neues Handy kaufen. Sofort!«
»Leg das Messer weg!«
Doch das tat ich nicht.
»Nilo! Das Messer! Weg damit!«
Wir standen uns gegenüber. Einfach nur so. Ich mit dem langen Küchenmesser. Und meine Mutter, die entsetzt die Klinge anstarrte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.
Keiner von uns sagte etwas. Dann, als wäre plötzlich der Akku auf null, ließ ich die Arme hängen. Ich warf das Messer auf den Boden.
»Scheiße«, sagte ich nur.
Also immer wieder. Mindestens fünfmal.
»Scheiße! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
Und dann: »Tschuldigung.«
Meine Mutter packte mich, schloss ihre Arme um meinen Körper. Sie umarmte mich so fest, dass es schon ein bisschen wehtat. Dann streichelte sie mir über den Kopf. Genau über die Haare, die sie mir zuvor fast ausgerissen hätte.
So standen wir dann in der Küche. Minutenlang. Und wir heulten beide. Ich spürte ihre Atmung, ihr ganzer Körper bebte. Irgendwann ließ das nach. Ich zitterte aber noch.
»Du musst was trinken und essen«, sagte sie und holte die Lasagne aus dem Kühlschrank, mein Mittagessen.
Sie stellte den Behälter in die Mikrowelle. Während sich das Essen im Kreis drehte und vor sich hin blubberte, ging meine Mutter zu ihrer Handtasche. Sie kam mit ihrem Handy zurück.
»Wir brauchen Hilfe«, sagte sie.
»Hilfe?«
»Ja. Hilfe.«
Sie holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank, und ich merkte erst jetzt, wie durstig ich war. Ich hatte seit der großen Pause nichts mehr getrunken. Vor sieben Stunden war das gewesen.
»Wieso brauchen wir Hilfe?«, fragte ich, obwohl ich immer noch zitterte und mir eigentlich klar war, dass eben eine Grenze überschritten worden war. Und zwar von uns beiden.
Wir hatten jeden Tag unseren Zockstreit.
Jeden Tag!
Wir fluchten.
Wir schrien herum.
Wir beleidigten uns.
Wir schlugen Türen zu.
Aber so heftig wie eben war es noch nie gewesen.
»Wer soll denn helfen?«, fragte ich meine Mutter.
Sie sagte nichts, hob das Messer auf und legte es in die Schublade. Sie fand eine Telefonnummer im Internet.
»Wen rufst du an?«
»Eine Beratungsstelle.«
»Für so etwas gibt es eine Beratung?«
Ich sagte so etwas, weil ich gar nicht wusste, was das eben gewesen war. Außer einem Streit, einem heftigen Streit. Es hatte zwischen uns geknallt, wie so oft. Aber nein, heute war es eher eine Explosion gewesen.
Meine Mutter wollte mir etwas sagen, doch da meldete sich schon jemand am Telefon. Ich hörte nur das, was meine Mutter sagte. Und sie ließ nichts aus. Sie erzählte alles.
Dass ich viel zu wenig schlief und zu viel zockte.
Dass ich keine Hausaufgaben mehr machte, mich kaum noch duschte.
Dass ich Deo oder Zahnbürste nur benutzte, wenn sie mich daran fünfmal erinnerte. Mindestens.
Dass ich irgendwie überhaupt nichts mehr hinbekam.
Dass wir uns ständig stritten und wie der letzte Streit abgelaufen war.
Dass sie mir das Handy weggenommen hatte.
Dass ich ausrastete.
Dass sie es wegschleuderte.
Dass ich das Glas der Dusche demolierte.
Dass sie an meinen Haaren zog.
Dass ich sie mit dem Messer bedroht hatte.
So sagte sie es: »Mein Sohn hat mich mit einem Messer bedroht.«
Das so zu hören, bewegte etwas in mir. Also richtig jetzt, als hätte mein Magen eine komplette Drehung gemacht.
Ich hatte sie bedroht, und sie hatte richtig Angst vor mir gehabt. Mir wurde schlecht, und ich setzte mich auf die Ablage neben der Mikrowelle. Die Lasagne war längst fertig.
Die Person am Telefon gab meiner Mutter eine neue Nummer. Und nachdem meine Mutter auch der neuen Nummer das mit dem Messer erzählt hatte, bekamen wir einen Termin für den nächsten Tag.
Also keine neue Nummer oder eine Warteliste mit zweitausend Leuten. Sondern einen echten Termin. An einem echten Ort. In ziemlich genau vierundzwanzig Stunden.
Und jetzt fühlte ich mich total komisch. Wenn unser Streit für alle so furchtbar schlimm war, wie würde es dann weitergehen?
Doch darüber sprechen wollte ich nicht. Ich hatte keinen Text mehr. Meine Mutter auch nicht. Sie holte sich ihren Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein, randvoll.
Ich suchte in meinem Schrank die Nintendo. Das fiel ihr gar nicht auf. Sie saß schon vor dem Fernseher und schaute ihre Serie.
Die leere Weinflasche lag am nächsten Morgen neben der Kaffeemaschine. In der Kaffeekanne war noch ein bisschen schwarze Brühe übrig. Die füllte sich meine Mutter in eine kleine Thermosflasche.
Sie meldete mich in der Schule krank. Und ihrer Chefin sagte sie etwas von einem »wichtigen Arzttermin«. Irgendwie stimmte das ja auch.
Auf der Autobahn sprachen wir nicht viel miteinander. Wir einigten uns auf einen Radiosender, hörten Musik, Werbung und Nachrichten. Eineinhalb Stunden lang.
Was gleich bei unserem Termin passieren würde, wusste ich nicht.
»So schlimm ist es doch gar nicht«, sagte ich irgendwann. Und: »Wir müssen eigentlich nicht zu dieser Beratung.«
»Eigentlich schon.«
»Nee, müssen wir nicht.«
»Das sahen alle, mit denen ich gestern am Telefon gesprochen habe, ganz anders.«
»Okay. Die leben ja davon. Die brauchen die Kohle. Die sind ja nicht gerade objektiv.«
»Und du bist superobjektiv?«, fragte meine Mutter.
»Nee, aber das ist trotzdem übertrieben jetzt.«
»Und das mit dem Messer?«
»Du hast mir fast die Haare ausgerissen!«
»Aber du bist zuerst ausgeflippt. Die Duschtür ist hin.«
»Weil du mein Handy geschrottet hast!«
»Nilo, ja, stimmt. Das hab ich! Und du weißt, wieso!«
»Nee, weiß ich nicht.«
»Doch, das weißt du.«
»Nee.«
»Weil es nervt, es nervt mich wahnsinnig. Du machst nichts mehr, außer auf dein Handy zu glotzen. Wann war zuletzt mal einer deiner Freunde bei uns zu Hause? Hast du überhaupt noch einen? Also einen echten Freund, im Real Life?«
Wenn meine Mutter Real Life sagte, klang das wie schlecht auswendig gelernt.
Ich schwieg.
»Tut mir leid, das mit den echten Freunden war gemein«, sagte meine Mutter. »Aber dein Handy, du machst praktisch nichts anderes. Bei dir ist nur noch glotz, glotz, glotz.«
Also, mir ging meine Mutter schon wieder auf die Nerven. Glotz, glotz, glotz kontra Real Life.
»Na und! Du glotzt auch dauernd irgendwo drauf. Handy, Tablet, Fernseher! Du bist die Erwachsene und du müsstet doch …«
»Stopp!«, rief meine Mutter und haute mit einer Hand aufs Lenkrad. Das Auto fuhr einen halben Meter auf die Überholspur. Zum Glück war da keiner. Meine Mutter lenkte zurück. »Genau deswegen gehen wir zu der Beratung, deswegen reden wir mit Leuten, die uns helfen können. Genau deswegen!«
»Weswegen?«, fragte ich. »Damit du auch aufhörst, aufs Handy zu glotzen?«
»Damit wir uns nicht dauernd anbrüllen!«, brüllte meine Mutter.
Sie fuhr raus auf eine Raststätte. Sie tankte, fluchte über den hohen Spritpreis, kaufte jedem von uns eine Coke Zero. Ihre Thermosflasche war leer, sie brauchte noch mehr Koffein.
Sie trank ihre Cola in wenigen Zügen aus. »Das gestern war furchtbar. So richtig furchtbar. Für uns beide. Oder?«
»Schon. Ja.«
»Und jetzt sprechen wir mit Leuten, die dafür sorgen, dass das nicht noch einmal passiert.«
Ich nickte und schaute aus dem Autofenster. Die Kinder im Nachbarauto zockten, so wie alle zockten. Nur ich nicht. Mein Handy war tot. Und die halbe Nacht Nintendo zocken war riskant genug gewesen. Ich hatte das Ding zu Hause gelassen.
»Wo ist die Beratung eigentlich?«
Meine Mutter tippte auf das Navi. »Gleich da.«
Ich schaute auf das Display. »Ein Krankenhaus?«
»Eine psychiatrische Klinik.«
»Ich bin doch kein Psycho!«
»Das sagt man nicht.«
»Okay. Ich bin nicht gestört!«
»Sagt man auch nicht.«
»Aber …«
»Kein aber. Wir haben einen Termin.«
Die Klinik lag am Waldrand. Zwischen den Baumstämmen glitzerte ein See durch. Wir parkten auf dem Besucherparkplatz.
Überall waren Leute, und ich hätte nicht sagen können, wer Patient war und wer nicht. Die Grauhaarige neben uns im Opel war Besucherin, Chefärztin oder Psychopathin. Keine Ahnung.
Am Eingang gab es eine Art Rezeption, eine der Mitarbeiterinnen kümmerte sich laut Beschriftung um Besucher*innen,die andere um Patient*innen.
Es war schon komisch, auf einmal in der Schlange für Patienten zu stehen. Krank fühlte ich mich nämlich überhaupt nicht.
Vor uns stand eine Frau, vielleicht halb so alt wie meine Mutter. Neben ihr wartete ein Mädchen, so plus minus fünfzehn.