3,99 €
Eine warmherzige Liebesgeschichte, ein kluger Roman über alte Lieben und neue Freundschaften
Den Zauber des alten Hauses ihrer Kindheit hat Helena nie vergessen. Als sie fast vierzig Jahre später dorthin zurückzieht, um für ihren kranken Vater zu sorgen, ist der Duft nach Holz und Äpfeln gleich wieder da. Doch die Idylle trügt. Helena will es allen recht machen, kümmert sich um Vater, Sohn, Freund – und vergisst sich selbst dabei. Nur Armin, ihrem Exmann, fällt das auf. Soll sie seiner Einladung ans Meer folgen? Warum nicht? Sie sind lange geschieden, er hat eine neue Familie. Und sie braucht ein bisschen Erholung. Denkt Helena und versteht bald darauf die Welt nicht mehr.
Der neue Roman von Bestsellerautorin Franziska Stalmann: einfühlsam, mitreißend, mutig
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2015
FRANZISKA STALMANN
HelenasMänner
ROMAN
»Rede nicht darüber, sonst verfliegt der Zauber, und du landest wieder in der Wirklichkeit.«
Helena Seeger hat ihr Leben und ihre Männer im Griff: den fast erwachsenen Sohn, den geschiedenen Mann, den festen Freund, den Vater. Diese Sicherheit gerät ins Wanken, als ihr Vater nach dem Tod ihrer Mutter depressiv wird. Helena zieht zurück ins Elternhaus, doch bald wächst ihr alles über den Kopf. Ihr Sohn hat Liebeskummer, Freund Burkhard ist nie da, wenn sie ihn braucht. Nur Armin, ihr Exmann, hilft. Er lädt Helena ein, mit an die Nordsee zu fahren, wo er einen Film dreht. Was als Auszeit beginnt, führt zu einer Begegnung, die tief verborgene Gefühle wieder aufleben lässt.
Originalausgabe 10/2015
Copyright © 2015 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv | © Susan Fox / Arcangel Images
Satz | Christine RoithnerVerlagsservice, Breitenaich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-641-15538-4
www.diana-verlag.de
1
Das Haus.
Meine Großeltern haben es gekauft, in dem Jahr, in dem mein Vater zur Welt kam. Als mein Großvater starb und meine Großmutter ins Altersheim ging, zogen meine Eltern mit uns hierher. Meine Schwester war acht, ich sechs, und das Haus war wie ein Zauberschloss: die hohen Räume mit den Stuckblumengirlanden an den Decken, die Fenster mit den vielen kleinen Scheiben, das weite Treppenhaus, die Kammern und Abstellräume, der nach Holz duftende Dachboden, der Keller mit den Einmachgläsern meiner Großmutter und dem Geruch nach Äpfeln, der Garten mit seinen alten Bäumen und dichten Büschen, den Birnenspalieren und Erdbeerbeeten und den vielen Verstecken.
Das war vor achtunddreißig Jahren.
Jetzt bin ich wieder eingezogen. Es ging nicht anders. Jemand muss bei meinem Vater sein.
Als meine Mutter starb, wollte er unbedingt dort bleiben. Er wollte nicht zu meiner Schwester nach Merlingen, in die geräumige Dachwohnung ihrer hübschen Villa. Er wollte nicht, dass ich ihm eine schöne Wohnung hier in der Stadt suchte. Er blieb im Haus und trauerte, und wir kümmerten uns um ihn und hofften, dass die Trauer, die ihn umgab wie ein schwerer dunkler Mantel, allmählich heller und leichter würde.
Aber sie wurde nicht heller, im Gegenteil, sie verwandelte sich in etwas, das noch viel dunkler und schwerer war.
Wir merkten es erst nicht, obwohl er immer dicker und teilnahmsloser wurde und der Blick, mit dem er uns ansah, immer ferner. Eines Abends kam ich zufällig vorbei und klingelte, weil ich das Buch holen wollte, das ich beim letzten Mal vergessen hatte. Das Küchenfenster neben der Haustür war erleuchtet, aber niemand öffnete. Ich ging in den Garten. Im Wohnzimmer brannte auch Licht, hinter zugezogenen Vorhängen. Ich ging wieder nach vorne, klingelte noch mal, suchte den Schlüssel aus meiner Tasche und schloss auf.
Fernsehstimmen dröhnten mir entgegen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Papa lehnte im Sessel und schlief. Auf dem Couchtisch standen leere Bierflaschen, ein Glas und eine große Schüssel mit Kartoffelchips.
Hinter mir wurde geschrien und geschossen. Ich drückte auf die Stummtaste und strich Papa über die Wange.
»Papa.«
Er rührte sich nicht.
»Papa! Wach auf.«
Ich schüttelte ihn. Sein Kopf neigte sich zur Seite.
Angst überfiel mich. Ich wählte den Notruf, sagte, dass mein Vater noch lebte und atmete, aber nicht mehr reagierte, und nannte die Adresse.
Der Notarzt war so schnell da, wie ich es nie erwartet hätte. Zwei Sanitäter kamen hinter ihm her. Sie legten Papa auf den Boden, der Arzt hob seine Lider, fühlte seinen Puls, fragte: »Alter? Erkrankungen?«
»Fünfundsiebzig. Keine Krankheiten. Ich weiß jedenfalls von keinen.«
»Name?«
»Kant. Herbert Kant.«
Er schlug Papa leicht auf die Wangen: »Herr Kant! Herbert!«
Papa seufzte.
Der Arzt holte eine Ampulle aus dem Notkoffer, brach sie auf und hielt sie Papa unter die Nase. Papa schnappte nach Luft, nieste, hustete und öffnete die Augen.
»Da ist er wieder«, sagte der Arzt. »Er hatte nur zu viel davon.«
Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Bierflaschen.
»Wenn Sie den Herren zeigen, wo sein Bett ist, bringen sie ihn hin. Dann muss er seinen Rausch nicht auf dem Boden ausschlafen.«
Ich zeigte den Sanitätern das Schlafzimmer und lief wieder hinunter. Der Arzt war schon auf dem Weg hinaus.
»Es tut mir leid, dass ich Sie …«
»Kein Problem. Sie kriegen die Rechnung. Das heißt, er.«
»Aber wieso ist er denn nicht wach geworden, als ich …«
»Sie haben es nicht rabiat genug probiert. Er ist ziemlich blau. Tiefblau, um genau zu sein.«
»Er trinkt sonst nie. Schon gar kein Bier. Höchstens mal ein Glas Wein.«
Er hob die Schultern.
»Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben.«
Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich.
»Ach so. Sagen Sie ihm, er soll zu seinem Hausarzt gehen. Gibt sicher noch einen anderen Weg damit umzugehen als so.«
»Mache ich. Danke.«
Er wandte sich wieder zur Tür. Die Sanitäter kamen die Treppe hinunter, nickten mir zu und folgten ihm.
Ich ging hinauf. Sie hatten ihn aufs Bett gelegt, die Decke über ihn gebreitet und ihm sogar die Schuhe ausgezogen. Sein Gesicht war rosig, er atmete entspannt und schnarchte ein bisschen. Die Erleichterung, dass er lebte und gesund war, war so groß, dass ich anfing zu weinen. Ich saß auf dem Bettrand und weinte, bis mir einfiel, dass es vielleicht nicht nur Bier war, womit er sich betrunken hatte. Dass er vielleicht nur knapp an einer Alkoholvergiftung vorbeigeschrammt war. Dass er demnächst eine haben würde, wenn ich nicht sofort nachsah, ob es hier noch etwas Stärkeres gab als Bier.
Ich durchsuchte die Küchenschränke. In der Speisekammer standen zwei Kästen mit leeren Bierflaschen und einer, der halb voll war. Im Regal Dosen mit Fertiggerichten, Tütensuppen, Kartoffelchips, Schokolade und, hinten in der Ecke, eine Flasche Orangenlikör und eine mit Kirschwasser. Die Kirschwasserflasche war ungeöffnet, die Likörflasche fast leer, ihr Schraubverschluss verkrustet und kaum aufzukriegen. Im Kühlschrank Bier, außerdem Butter, Eier, Frühstücksspeck und ein Teller mit Frikadellen vom Metzger, auf denen eine zarte Schicht Schimmel wuchs. Ich leerte den Teller in den Mülleimer.
Er trank nicht nur zu viel, er ernährte sich auch wie ein Idiot. Fertiges, Fettes, Süßes. Und Alkohol.
Komisch. Ich hatte mich nie gefragt, was er aß. Ich dachte, das könne er alleine. In jedem Supermarkt gab es eine Menge tolle Tiefkühlgerichte. Aber das Tiefkühlfach war leer. Stattdessen machte er sich Tütensuppen und Pichelsteiner aus der Dose.
Ich rief zu Hause an.
»Jakob Seeger?«
»Jakob …«
»Hallo, Mama.«
»… ich bin gerade bei Opa. Ihm geht’s nicht so gut …«
»Was hat er denn?«
»Ach, es ist – der Kreislauf. Der Arzt war da, es ist schon besser. Jetzt schläft er. Ich will ihn nicht allein lassen. Bis morgen.«
»Okay. Grüß ihn. Gute Besserung. Tschüss.«
Ich machte den Fernseher aus, räumte den Tisch ab und setzte mich in Papas Sessel. Ich sah auf die Bilder an den Wänden, die Sitzgarnitur, die Tische und Lampen, den Teppich, die Vorhänge. Alles in hellen Naturtönen, dazu die Bilder in den kräftigen Farben. Das Wohnzimmer, wie es immer gewesen war.
Es wunderte mich nicht, dass er sich betrank. Wenn ich ihn am Wochenende besuchte, musste ich oft an Mama denken, doch wenn man abends allein hier saß, hatte man das geisterhafte Gefühl, sie würde jeden Moment hereinkommen. Es war beinahe, als könne ich ihre Schritte im Flur hören, ihre energische Art die Tür zu öffnen und ihre Stimme: »Helena! Wie schön, dass du da bist.«
Wenn es mir schon so ging, wie war das erst für ihn?
Ich durchsuchte das ganze Erdgeschoss nach Hochprozentigem, fand nichts und war erleichtert. Oben sah ich noch mal nach Papa, der nun mit offenem Mund laut schnarchte. Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, und er hatte Bartstoppeln. Er sah aus wie ein alter Säufer, und wenn er sich selbst so hätte sehen können, hätte er gesagt: »Was für ein widerlicher alter Kerl.«
Ich strich ihm die Strähne aus dem Gesicht. Im Zimmer roch es sonderbar, vielleicht nach dem Alkohol, den er ausdünstete, und ich kippte das Fenster und ließ die Tür einen Spalt offen.
Das Gästezimmer war unten, aber ich wollte in seiner Nähe bleiben und legte mich in das Bett in meinem Mädchenzimmer, das immer noch so war, wie ich es vor vierundzwanzig Jahren verlassen hatte. Die Bücher, das Bettzeug, im Regal das Cover von Madonnas »La Isla Bonita« und über meinem Schülerinnenschreibtisch das Plakat von Black, der»It’s a Wonderful Life« sang, mein Lieblingslied, als ich achtzehn war.
Ich lag noch eine Weile wach, obwohl ich sehr müde war. Der Refrain von»It’s a Wonderful Life« ging mir im Kopf herum: No need to run and hide, it’s a wonderful, wonderful life, no need to hide and cry, it’s a wonderful, wonderful life. Es war das schönste Lied, das es gab.
Papa geht sonst nur widerwillig zum Arzt, aber als er am anderen Morgen zu sich kam, war er verkatert und beschämt und praktisch willenlos, und es war ein Kinderspiel, einen Termin für ihn auszumachen. Gleich für den nächsten Morgen. Papa ist Privatpatient, und ich sagte, es wäre dringend.
Ich schob ihm den Zettel rüber, auf den ich Tag und Uhrzeit geschrieben hatte.
»Du gehst hin, Papa, sonst rede ich nie wieder ein Wort mit dir.«
»Mache ich ja«, sagte er mühsam.
»Und versprich mir, dass du nicht mehr so viel trinkst. Am besten trinkst du gar nichts mehr.«
»Ich trinke nicht, Helena. Höchstens mal ein Glas. Ich weiß überhaupt nicht, wie das passieren konnte. Kommt bestimmt nicht wieder vor. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Er sah mich mit seinen roten, verschwollenen Augen beschwörend an.
Ich wollte ihm so gerne glauben, aber ich traute ihm nicht.Ab jetzt rief ich ihn abends an, um an seiner Stimme zu hören, ob er nüchtern war. Oder jedenfalls nicht betrunken.
»Warst du schon wieder beim Arzt? Was ist mit den Blutwerten? Und den anderen Untersuchungen?«, fragte ich nach ein paar Tagen.
»Alles in Ordnung.«
»Wirklich?«
»Ja. Alles in bester Ordnung, Herzlein.«
Ich hörte, dass er nicht betrunken war, aber auch, dass er log. Am Ton seiner Stimme. Und wenn er Herzlein zu mir sagt, liebt er mich entweder gerade sehr, oder er hat ein schlechtes Gewissen.
»Papa. Stimmt das?«
»Wenn ich’s dir sage.«
Ich glaubte ihm nicht, aber ich wusste, dass ich die Wahrheit nicht aus ihm rausbringen würde. Ich ging zu seinem Arzt und bat ihn, mir Auskunft zu geben.
Er sah mich über seine Lesebrille hinweg abweisend an.
»Das darf ich nicht, Frau Seeger. Das ist völlig ausgeschlossen. Ihr Vater müsste zustimmen.«
»Ich habe meinen Vater kürzlich sturzbesoffen in seinem Wohnzimmer gefunden. Ich konnte ihn nicht wachkriegen und habe den Notarzt gerufen. Er hat noch nie getrunken. Jetzt behauptet er, die Untersuchung hätte nichts ergeben, alles wäre in Ordnung, aber ich weiß, dass er schwindelt. Ich höre es an seiner Stimme. Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben, und er wird nicht damit fertig. Jemand muss ihm helfen. Bitte reden Sie mit mir. Bitte!«
Er sah mich immer noch so an. Ich starrte zurück. Schließlich seufzte er, senkte den Blick, tippte etwas in den Computer und sah auf den Bildschirm.
»Depressive Reaktion. Das kann passieren, wenn man sich aus der Trauer nicht löst und den Tod des geliebten Menschen nicht akzeptiert. Ich hätte ihm was verschrieben, zur befristeten Einnahme, aber er nimmt keine Psychopharmaka, sagt er. Ich habe ihm auch eine Trauerarbeitsgruppe bei einer Psychologin empfohlen, aber das wollte er schon gar nicht. Vielleicht hört er ja auf Sie. Darüber zu reden würde helfen. Nimmt er das Medikament zur Cholesterinsenkung? Sein LDL-Wert ist stark erhöht. Das muss er nehmen, ob er will oder nicht. Und die Ernährung umstellen. Sie sagen, er trinkt zu viel?«
»Nicht mehr. Er hat es mir versprochen. Ich rufe ihn jeden Abend an, und er ist immer klar. Er ist ja kein Trinker.«
»Das kann man werden. Achten Sie darauf.«
Abends fuhr ich zu Papa und sagte ihm, was der Arzt mir gesagt hatte, aber er sah mich nur mit diesem verdammt fernen Blick an.
»Psychopillen, Psychogruppen«, sagte er herablassend. »Das ist doch alles Nonsens. Mir geht es gut.«
»Willst du es nicht wenigstens versuchen?«
Sein Gesicht verschloss sich, und er schüttelte mit kurzen knappen Bewegungen den Kopf.
»Denk noch mal darüber nach, Papa, bitte.«
Kopfschütteln. Kurz, knapp. Wenn er so aussah, kam man nicht weiter. Auf stur schalten, nannte meine Mutter das. Nur sie würde jetzt mit ihm fertig. Bloß, dass sie nicht mehr da war. Das war ja das Problem.
Eine ekelhafte Mischung aus Wut, Trauer und Hilflosigkeit stieg in mir hoch und drückte mir die Kehle zu.
Ich holte tief Luft: »Nimmst du deine Cholesterintabletten, Papa?«
»Aber ja. Natürlich.«
»Wo sind die überhaupt?«
Er sah sich um: »Irgendwo hier.«
Ich suchte und fand sie schließlich in einer der Küchenschubladen. Die Schachtel war unberührt. Er hatte sie nicht mal geöffnet. Ich sah trotzdem hinein. Keine Tablette fehlte.
Ich riss die Küchentür auf und stürmte durch den Flur.
Er saß im Wohnzimmer und hatte den Fernseher angemacht. Fernsehstimmen plapperten, Musik plärrte, und ich sah nur seinen Hinterkopf über der Sessellehne. Sein Haar war fettig und viel zu lang. Er ging auch nicht mehr regelmäßig zum Friseur.
Nein. Ich wollte ihn jetzt nicht von vorne sehen. Den fernen Blick. Das leere Gesicht. Die Arroganz, hinter der er seine Verzweiflung versteckte. Ich wollte ihn nie wieder sehen. Sollte er doch in alle Ewigkeit da sitzen bleiben, mit steigendem Cholesterinspiegel und ganz ohne Trauerarbeitsgruppe.
Ich warf die Tablettenschachtel auf die Flurkommode, fuhr nach Hause und versuchte nicht mehr daran zu denken. Es funktionierte natürlich nicht. Als ich im Bett lag, rief ich meine Schwester an.
»Irene? Schläfst du schon?«
Sie murmelte etwas von Noch-am-Schreibtisch-sitzen-und-Korrigieren.
»Es ist wegen Papa. Er will nicht. Psychopillen und Psychogruppen sind Nonsens, sagt er. Die Cholesterintabletten nimmt er auch nicht.«
»Unser Vater. Einsichtig, reif, verantwortungsbewusst. Was machen wir jetzt?«
»Er muss zu dir. Und du passt auf, dass er nicht trinkt, was er isst, und dass er seine Tabletten nimmt. Unbedingt. Der Arzt sagt …«
»Geht nicht mehr.«
»Wieso?«
»Ich habe die Stelle bekommen, um die ich mich beworben habe.«
Sie hatte eine Stelle. Sie war Lehrerin am Gymnasium, für Latein und Griechisch. Und Mitarbeiterin im Direktorat.
»Was für eine Stelle?«
»Was für eine Stelle! Rate mal.«
»Irene! Du wirst …«
»Schulleiterin.«
»Oberstudiendirektorin! An welcher Schule? Deiner?«
»Nein. Am Andreas-Asam. Tausenddreihundert Schüler. Größtes altsprachliches Gymnasium Süddeutschlands.«
»Toll!«
»Absolut super. Genau das, was ich immer wollte. Aber es ist ein totaler Stressjob. Jedenfalls am Anfang. Ich kann mich nicht auch noch um Papa kümmern.«
»Ich könnte jeden Tag zu ihm rüberfahren. Aber das kostet viel Zeit und bringt nichts. Es muss immer jemand da sein.«
»Er kann nicht zu mir, Helena. Nicht jetzt. In einem Jahr, wenn ich den Job im Griff habe. Dann ist es kein Problem.«
»Wenn er so weitermacht, ist es dann nicht mehr nötig. Dann ist er auch …«
»Hör auf! Jemand könnte bei ihm wohnen. Mietfrei. Sind ja genug Zimmer da. Ein Au-pair-Mädchen zum Beispiel. Die macht Frühstück und kocht und gibt ihm seine Tablette und passt auf, dass er nicht so viel trinkt.«
»Klar. Die stapft abends in sein Zimmer und kontrolliert, ob er säuft, und nimmt ihm die Bierflasche weg …«
»Ein kräftiger Student vielleicht? Eine Krankenschwester?«
»Eine private Heilanstalt für nur einen Trinker? Wie soll das gehen? Da macht Papa doch auch nicht mit.«
»Wenn er zu mir kommt, kann ich den Job vergessen. Beides schaffe ich nicht.«
Ich dachte, dass sie erst sechsundvierzig war und dass es noch andere Schulleiterstellen für sie geben würde. Viele. Dass wir nur einen Vater hatten, den es nicht noch mal gab. Wenn er weg war, war er weg. Aber wenn sie so denken würde, hätte sie nicht Karriere gemacht. Sie hatte immer alles dafür zurückgestellt. Sich selbst, ihren Mann. Die Kinder, die sie nicht bekommen hatte. Warum sollte sie bei Papa eine Ausnahme machen?
Sie wartete, ob ich noch etwas sagte. Dass ich mich schon irgendwie um ihn kümmern würde, zum Beispiel.
Schließlich tat sie einen tiefen Seufzer, in dem ein Hauch von Vorwurf lag.
»Ich überlege mir was. Ich rufe dich an. Morgen.«
Sie rief nicht an, sie kam selber, in die Buchhandlung, in der ich arbeite. Es war Samstag, kurz nach drei, ich hatte gerade zugemacht und räumte auf. Sie stand vor der Ladentür und schlug mit der flachen Hand gegen den Rahmen. Ich lief hin und öffnete.
»Irene! Was ist?«
»Ich war bei Papa. Ich weiß jetzt, was wir machen. Ich habe eine Lösung. Eine gute!«
Natürlich. Sie hatte immer gute Lösungen, obwohl ich manchmal ein bisschen brauchte, um zu verstehen, wie gut sie waren. Aber sie hatte mir schon die Welt erklärt, als wir Kinder waren, und sie war immer noch ziemlich gut darin.
Sie ließ ihre Tasche zu Boden fallen und warf sich auf die Bank in der Leseecke. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Haar lockte sich in der feuchten Luft. Sie hat all die schönen Locken geerbt, die in unserer Familie zu haben waren, ich alle glatten struppigen Haare. Sie hat braune Augen und eine Haut, die schnell braun wird, ich habe grüne Augen und schnell eine rote Nase und Sonnenbrand.
»Und?«
»Es ist die ideale Lösung. Du ziehst zu ihm.«
»Bist du verrückt?«
»Warte. Lass es mich erklären, Helena. Du würdest ins Erdgeschoss ziehen. Nur mal angenommen, ja? Es hat hundertzwanzig Quadratmeter. Hundertzwanzig! Du willst doch schon lange eine große Wohnung. Und der große Garten! Du wolltest doch schon immer einen Garten. Du hast ja auch einen Sohn, der erwachsen wird und mehr Platz braucht.«
»Meine Wohnung ist sehr schön. Und wir sind da sehr glücklich, Jakob und ich.«
»Was wäre Papa glücklich, wenn du … Als ich gesagt habe, du würdest – vielleicht, eventuell – im Erdgeschoss wohnen, hättest du sein Gesicht sehen sollen. Er hat gestrahlt. Er würde sich so freuen. Er zieht gern in den ersten Stock. Das wollte er schon immer.«
»Da hat er keine Küche.«
»Er soll ja erst mal sowieso bei dir essen. Oben richten wir eine kleine Küche ein. Im Abstellraum neben dem Badezimmer.«
»Im Erdgeschoss gibt’s kein Bad.«
»Die Speisekammer ist doch so groß. Da bauen wir ein Bad ein. Papa wollte schon immer ein Bad im Erdgeschoss, sagt er.«
Sie holte kurz Luft.
»Papa sagt, du siehst und hörst nichts von ihm. Außer beim Essen natürlich. Er bleibt oben. Er geht auch nicht in den Garten. Er hat ja den Balkon. Du wirst kaum merken, dass er überhaupt da ist.«
Es klang, als wäre Papa ein Geist, der sich nur zur Nahrungsaufnahme materialisiert.
»Und übrigens, Helena: keine Miete. Von dir nimmt er keine Miete, sagt Papa. Du zahlst nur die Nebenkosten.«
Oh, verdammt. Keine Miete.
»Ich will aber nicht. Ich will in meiner Wohnung bleiben. Ich will nicht zurück ins Haus. Es ist immer noch Mamas Haus. Manchmal kommt es mir vor, als ob sie jeden Moment …«
»Wenn ich damit fertig bin, ist es nicht mehr Mamas Haus. Die Möbel kommen rauf zu Papa. Oder auf den Dachboden. Unten lasse ich von Grund auf renovieren, und du kriegst eine herrliche Wohnung, wie neu. Diese weiten hohen Räume, voller Licht und Luft. Helena! Die schönen Fenster. Der Blick in den Garten. Das neue Bad. Die große Küche – die machen wir auch neu, wenn du willst.«
»Und wer soll das bezahlen?«
»Na, ich natürlich. Und Papa. Das zahlt er gerne, sagt er.«
Sie beugte sich vor und sah mich konzentriert an. Ihr Gesicht war rot, auf ihrer Nase standen kleine Schweißtropfen, und ihre braunen Augen waren ganz rund, wie immer, wenn ihr etwas wichtig ist.
»Was willst du mehr? Schönes Haus, große Wohnung, großer Garten. Stille grüne Gegend. Kostenfrei. Überleg’s dir, Helena!«
»Ich will nicht. Es ist unser Elternhaus. Dahin will ich nicht zurück. Ich liebe Papa, aber ich will nicht bei ihm wohnen. Ich habe mein eigenes Leben. Wir müssen uns was anderes überlegen.«
Sie sackte in sich zusammen und seufzte schwer: »Na gut. Okay.«
Sie stand auf und nahm ihre Tasche vom Boden.
»Tust du mir einen Gefallen?«
»Was für einen?«
»Denk noch mal darüber nach. Schlaf drüber. Es wäre so eine tolle Lösung. Wenn du morgen immer noch Nein sagst, sag ich kein Wort mehr, das verspreche ich dir.«
»Bestimmt?«
Sie hob die flache Hand zum Indianerschwur: »Großes Ehrenwort.«
»Okay.«
Sie küsste mich und war draußen, bevor ich noch etwas sagen konnte, und ich hörte, wie sie losfuhr, auf ihre typische Art mit viel Gas und aufheulendem Motor.
Ich verschob das Aufräumen und ging auch. Es war Ende April, und wir hatten Aprilwetter. Bis eben hatte es geregnet, nun kam die Sonne heraus und schien auf die nassen Straßen des Viertels. Ganz früher war es ein Armeleuteviertel gewesen, später lebten brave Kleinbürger hier, schließlich zogen Studenten her und Leute wie ich. Getrennt, mit Kind und wenig Geld. Inzwischen waren die Wohnungen renoviert und die Mieten gestiegen, doch weil alles eher eng und schlicht war, kamen die Reichen und Schönen nicht, und es gab immer noch türkische Läden und Änderungsschneidereien und komische kleine Cafés und viel echte Freundlichkeit.
Zu Hause lief im Wohnzimmer der Fernseher, Jakob war da, aber ich ging in die Küche und auf den Balkon.
Auch hier war es eng, die Höfe waren klein, die Küchenbalkone nah beieinander. Doch in unserem Hof gab es außer Fahrradständern und Tonnenhäuschen die große alte Birke, und der nächste Balkon gehörte zu Kerstins Wohnung. Sie war ein Jahr nach uns eingezogen, mit ihren Kindern Lisa und Max und auch frisch getrennt, und wir hatten uns die Handwerker geteilt, die Sonderangebote im Supermarkt, viele Flaschen Wein und einsame Fernsehabende, wenn wir gerade mal wieder beide keinen Mann hatten.
Drüben wurde die Balkontür aufgerissen, Qualm drang heraus, und es roch süßlich und verbrannt. Kerstin tauchte auf, wedelte mit den Händen, zog eine Grimasse der Verzweiflung in meine Richtung und verschwand wieder.
Ich will nicht weg, dachte ich. Es ist unser Zuhause, Jakobs und meines. Hier haben wir die schlimme Zeit nach der Trennung erlebt. Wie es allmählich besser wurde. Wie wir es schließlich geschafft haben. Hier hat er neue Freunde gefunden. Hier kennen wir so viele, die Nachbarn, die Ladenbesitzer, die Kunden der Buchhandlung, die um die Ecke ist.
Und was wird aus deinem Vater, fragte meine innere Stimme. Der säuft wieder und bekommt eine Schrumpfleber oder fällt im Suff die Treppe runter. Sein schädliches Cholesterin steigt, und er kriegt einen Schlaganfall. Oder einen Herzinfarkt. Ihm ist es egal, was mit ihm passiert, und Irene kann sich nicht um ihn kümmern. Nicht jetzt. Aber irgendjemand muss es tun. Wer sonst außer dir? Du kümmerst dich schon die ganze Zeit um ihn. Irene hat recht. Das mit dir wäre die ideale Lösung.
Ich will aber nicht.
»Hallo, Mama«, sagte Jakob hinter mir.
Seine schwarzen Locken waren schön geföhnt, er war frisch rasiert, trug saubere Jeans und ein gebügeltes Shirt. Er musste es selbst gebügelt haben. Er duftete nach dem teuren Eau de Toilette für Männer, das neuerdings im Bad stand, und hatte ein kleines, nicht zu unterdrückendes Lächeln des Glücks im Gesicht.
»Annika kommt«, stellte ich fest. »Esst ihr mit uns? Es gibt Spargel.«
»Mhm!«
»Schälst du die Kartoffeln?«
Er schüttelte den Kopf: »Ich muss noch aufräumen.«
Ach ja. Annika war seine erste große Liebe. Sie hatten sich in einem Erstsemesterkurs zum Bürgerlichen Gesetzbuch kennengelernt. Sie war wunderhübsch und sehr intelligent, er hatte sich sofort in sie verliebt und konnte es manchmal immer noch nicht fassen, dass sie ihn auch liebte. Für sie wurden Shirts gebügelt. Haare geföhnt. Zimmer aufgeräumt. Für sie wurden Dinge getan, die er für mich nicht mal täte, wenn ich ihn auf dem Sterbebett darum anflehen würde.
»Ich muss was mit dir besprechen. Dabei kannst du deine Hände bewegen.«
Ich holte ein Messer aus der Schublade.
»Es ist wegen Opa. Er sollte nicht mehr alleine wohnen. Jemand muss aufpassen, was er isst. Dass er seine Cholesterintabletten nimmt. Dass er sich nicht so verkriecht.«
Das Trinken und die Depression ließ ich weg. Sie waren sicher bald kein Problem mehr, und wenn Papa wieder zu seinem alten Selbst zurückgekehrt war, würde es ihm peinlich sein, wenn sein Enkel davon wusste.
»Zu Irene kann er nicht. Die hat gerade gar keine Zeit, weil sie Oberstudiendirektorin wird, stell dir vor. Aber wir könnten vielleicht zu ihm ziehen. Ins Erdgeschoss. Wir hätten viel mehr Platz. Und die Terrasse und den Garten …«
Er sah mich mit großen Augen an: »Also, Mama …«
»Du bist auch nicht so dafür, nicht?«
»Doch. Und wie! Das wäre toll. Supertoll.«
»Wirklich? Wieso?«
Er zögerte.
»Hier ist es ja schön. Es ist bloß zu eng für Annika und mich. Ihre Wohnung ist auch ziemlich klein. Wir haben schon überlegt, ob wir uns was suchen. Aber drüben bei Opa ist jede Menge Platz. Und der Garten. Annika mag Gärten. Es wäre super. Total super.«
Es klingelte, er rannte hinaus um zu öffnen, aber es war Burkhard, nicht Annika, und ich hörte, wie er ihm davon erzählte.
Burkhard kam herein, stellte eine Tüte mit Wein und Spargel auf den Küchentisch und umarmte mich von hinten.
»Was sagt Jakob da? Ihr wollt zu deinem Vater ziehen?«
Ich drehte mich in seinen Armen um. Sein schönes Gesicht war gerötet, weil er die Treppen hinaufgerannt war, selbst die Kopfhaut schimmerte rot durch die kurzen blonden Haare. Seine grauen Augen, die die Farbe wechseln konnten, leuchteten grünlich, weil er ein grünes Shirt trug.
»Es ist nur eine Idee. Wir müssen uns mehr um Papa kümmern. Aber das heißt noch nicht …«
»Ich fände es großartig. Ich wäre viel schneller bei dir.«
»Wieso?«
»Na, mit dem Rad. Auf dem Radweg durch den Park. Da brauche ich nur fünf Minuten von mir bis zu deinem Vater. Höchstens.«
Sein Körper war warm und feucht, und er roch so gut. Nach Burkhard. Nach Mann. Wir waren seit vier Jahren zusammen, aber wenn ich ihn spürte und roch, war ich immer noch so schnell entzündet wie am Anfang.
Ich legte das Messer weg und nahm seine Hand.
»Wir können auch später essen. Komm.«
Mein Bett war noch ungemacht, das Fenster geöffnet und das Zimmer angefüllt mit frischer Frühlingsluft.
Wir zogen uns schnell aus und fielen ins Bett. Wir hatten uns seit Montag nicht mehr gesehen, weil er aufFortbildung gewesen war und beim Zahnärztetag. Es gab diesen Moment des Aufatmens, als wir uns endlich wieder berührten, und dann eine schöne schnelle Nummer, wie Burkhard es nennt. Nicht lange genießen, schnell satt werden.
Als ich kam, klingelte es. Ich hörte Jakobs Schritte im Flur und dämpfte meine Seufzer der Erlösung. Jakob riss die Wohnungstür auf. Das Klack-Klack von Annikas hohen Absätzen klang auf der Treppe. Sie begrüßten sich, die Tür schlug zu, ihre Schritte entfernten sich.
Die Welle in mir ebbte langsam ab.
Wenn wir ins Haus zögen, brauchte ich mir keine Sorgen mehr zu machen, ob Jakob mich hören konnte. Oder ich ihn, seit er auch ein Liebesleben hatte. Laut zu lieben ist ein Menschenrecht, finde ich, egal, wer es hört. Aber nicht bei Eltern und Kindern. Drüben waren die Wände dick und die Türen stabil, Jakobs Zimmer wäre weit von den anderen entfernt, und ich könnte endlich wieder den Mund aufmachen und so laut sein, wie ich wollte.
Burkhard legte den Arm um mich und zog die Decke über uns.
»Fünf Minuten?«, fragte ich.
Ich spürte, wie er nickte.
»Auch im Winter?«
»Natürlich.«
Er liebt sein Rennrad und fährt zu jeder Jahreszeit damit. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber er friert nie auf diesem Rad und wird auch nicht nass. Er sagt, er ist so schnell, dass der Regen ihn nicht nässt und die Kälte ihn nicht kühlt.
»Wären wir dann öfter zusammen?«
»Klar.«
Richtig zusammenleben ist nichts für Burkhard. Er weiß es, seit er verheiratet war. Es wird ihm zu eng, er kriegt keine Luft mehr und wird destruktiv. Er hat es mir gleich gesagt, als wir uns verliebt haben.
Er hatte die Praxis meines alten Zahnarztes übernommen, und als ich zum ersten Mal im Behandlungsstuhl lag und in seine Augen blickte, die an diesem Tag blau waren, weil er ein blaues Hemd trug, und sein Lächeln sah, dachte ich: Ist der schön! Den will ich.
Der läuft doch nicht frei rum, höhnte meine innere Stimme, der hat eine Frau, auch so schön, und ein paar Kinder, noch schöner.
Sie hatte natürlich recht. Wie meistens. Ich gab den Gedanken auf, aber ich sah ihn weiter an. Er untersuchte meine Zähne auf Karies und mein Zahnfleisch auf Parodontose. Er ließ sich viel Zeit dabei, und wenn er nicht in meinen Mund schaute, sah er mich auch an. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, wie er mich ansah. Nicht wie ein Zahnarzt. Wie ein Mann.
Manchmal irrt sich meine innere Stimme.
Er legte das Instrument beiseite und sagte, ich müsse noch mal kommen, zur Parodontosebehandlung. Bald. Morgen? Er könne mich einschieben, um halb zwei, in seiner Mittagspause. Konnte ich da?
»O ja«, sagte ich.
Am anderen Tag um halb zwei lag ich wieder in seinem Behandlungsstuhl. Die Sprechstundenhilfe schaute herein: »Brauchen Sie mich noch, Herr Doktor?«
Er sah mich fragend an: »Ist es Ihnen recht, wenn Sie hier mit mir allein sind?«
Ich nickte. Die Tür schloss sich.
»Sehr recht«, sagte ich.
Er zögerte kurz, rollte mit dem Stuhl dicht heran, beugte sich über mich und küsste mich. So war ich noch nie geküsst worden. Man kann es nicht generell empfehlen, es hängt natürlich sehr vom Zahnarzt ab, aber in einem Zahnarztstuhl geküsst zu werden, ist etwas Besonderes.
Seither sind wir zusammen. Wir lieben uns. Nur das mit dem Zusammenleben geht nicht.
»Ich kann’s nicht, und ich tu’s nie wieder. Das musst du wissen, damit du dich frei entscheiden kannst.«
Frei entscheiden?
Ich war vierzig und hatte seit der Trennung von Jakobs Vater keinen Mann mehr gefunden. Keinen, der blieb. Ein schöner, aufregender Zahnarzt hatte sich in mich verliebt und wollte mich. Nicht nur mal so im Bett. Ernsthaft. Für immer. Da gab es nichts zu entscheiden. Hätte ich Nein sagen sollen, nur weil Zusammenleben nicht sein Ding war?
Aber ein bisschen mehr Zusammenleben wäre wunderbar.
Ich ging in die Küche und rief Papa an.
»Ja?«
Er klang dumpf, als wäre er unter Wasser.
»Hallo, Papa. Hier ist Helena.«
»Ja?«
»Irene sagt, du würdest dich freuen, wenn ich bei dir wohnen …«
Seine Stimme belebte sich.
»Helena, Herzlein! Das wäre wunderbar. Und Jakob? Wohnt der dann auch hier?«
»Natürlich. Der findet die Idee toll.«
»Herrlich, herrlich. Einfach wunderbar. Aber hast du dir das auch gut überlegt? Du sollst dich ja wohlfühlen. Tu es nur, wenn du es wirklich willst.«
Ach, Papa. Wenn ich täte, was ich wirklich will …
»Ich komme morgen Nachmittag vorbei, und wir reden drüber, ja? Mit Jakob und Burkhard. Ich bringe Kuchen mit.«
»Nein, nein, dafür sorge ich schon. Kommt einfach. Ich freue mich auf euch.«
Ich legte auf und wandte mich den Kartoffeln zu. Ich dachte an das, was Papa gesagt hatte: Tu es nur, wenn du es wirklich willst.
Was würde ich tun, wenn ich täte, was ich wirklich will?
Gute Frage. Schwer zu beantworten.
Papa war am anderen Tag kaum wiederzuerkennen. Er hatte es, obwohl Sonntag war, zu einem Friseur geschafft, trug ein weißes Hemd und ein Jackett und beinahe so etwas wie einen frohen Ausdruck im Gesicht. Er hatte große Mengen Kuchen gekauft und einen üppigen Kaffeetisch gedeckt, den er mir zeigte, während Jakob und Burkhard noch im Garten waren.
»Sieh mal, Helena. Ist das gut so?«
Mamas bestes Geschirr, das gute Silber, ein Strauß rosa Rosen, rosa Kerzen und Papierservietten mit lila Rosenmuster, die er zu Dreiecken gefaltet zwischen die Zinken der Kuchengabeln geschoben hatte.
»Passen die Servietten? Ihr trinkt doch Kaffee, oder? In der Küche ist noch mehr Kuchen, falls der nicht reicht.«
»Ist alles wunderbar, Papa.«
Er hatte Sekt besorgt, den er gegen Abend brachte und einschenkte. Er reichte uns die Gläser, stand auf, hob seines und wirkte so feierlich, dass wir auch aufstanden.
»Ihr Lieben. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue. Auf ein gutes Zusammenleben!«
Er stieß mit uns an und küsste uns. Auch Burkhard. Papa küsst sonst keine Männer. Schon gar nicht Burkhard. Dass er plötzlich anfing, Burkhard zu küssen, überzeugte mich mehr als alles andere.
Ich trank nichts, weil ich fuhr, und saß nur da und sah zu, wie die drei immer fröhlicher und redseliger wurden.
Na also, dachte ich. Es fällt verdammt schwer, aber es ist richtig. Du wohnst noch nicht mal hier, und Papa geht es schon besser. Und Jakob und Burkhard sind auch glücklich. Was willst du mehr?
Britta stand da, die Bücher, die sie einräumen wollte, gegen die Brust gepresst, und starrte durchs Schaufenster in den Regen.
»Ich bin schrecklich traurig, dass du wegziehst, Helena.«
»Das sagst du doch schon die ganze Zeit. Ich bin auch schrecklich traurig. Aber was soll ich tun? Es ist das Beste für alle. Vor allem für meinen Vater. Jetzt möchte ich es für eine Weile vergessen. Kannst du bitte nicht mehr davon reden?«
»Jakob kommt schon kaum noch vorbei, seit er studiert. Und nun gehst du auch noch.«
»Aber ich bin doch weiter jeden Tag da. Ich arbeite hier.«
Sie drehte sich seufzend um und fing an, die Bücher einzuordnen.
Sie hatte ihre Buchhandlung am Franziskanerplatz eröffnet, als Jakob und ich gerade dorthin hingezogen waren. Eine Schule war in der Nähe, und ich hatte in einer Seitenstraße eine bezahlbare Wohnung gefunden, von der aus der Schulweg sicher war.
Anfangs fiel es mir schwer, ihn alleine gehen zu lassen. An den ersten beiden Tagen lief ich, sobald er unten aus der Haustür getreten war, schnell die Treppen hinunter und folgte ihm vorsichtig, bis er den Schulhof erreicht hatte.
Ich ging über den Franziskanerplatz zurück. Vor dem Schaufenster eines frisch renovierten und mit Regalen ausgestatteten Ladens hockte ein Mann auf einer Leiter und befestigte Buchstabenfolien mit Tesafilm an der Fensterscheibe. Auf der einen Folie stand Buchhandlung und darunter Britta von Langen, auf der anderen Goethe & Co, darunter Buchhandlung.
»Was meinen Sie? Wie soll ich sie nennen?«, fragte jemand hinter mir.
Ich drehte mich um.
Eine große hübsche Frau mit hellen Locken stand neben einem grauhaarigen Mann, der ein dezent kariertes Jackett trug, einen edlen Schlips und das passende Einstecktuch.
»Goethe & Co ist toll, oder?«, sagte sie. »In Paris gab es eine Buchhandlung, die hieß Shakespeare and Company und …«
»… gehörte Sylvia Beach. Hemingway, T. S. Eliot, Scott Fitzgerald waren ihre Kunden. Und natürlich James Joyce.«
Ihre großen blauen Augen wurden vor Erstaunen noch größer.
»Sie sind Literaturwissenschaftlerin.«
»Nein. Buchhändlerin.«
Der Mann reichte mir die Hand: »Gernot von Langen.«
»Helena Seeger«, sagte ich. »Brauchen Sie vielleicht eine Mitarbeiterin? Ich suche eine Halbtagsstelle. Ich wohne um die Ecke, mein Sohn geht drüben zur Schule, und es wäre ideal, wenn ich in der Nähe arbeiten könnte …«
»Warum nicht, Britta«, sagte er. »Eine Fachfrau, halbtags …«
Ihr Gesicht wurde kalt und abweisend.
»Nein, Gernot. Das will ich nicht. Es ist auch im Budget nicht drin.«
»Ich lege ihr Gehalt oben drauf. Für den Anfang sicher eine gute Investition.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
Er seufzte: »Wenn du meinst. Aber dann sagen Sie uns wenigstens noch Ihre Meinung zur Namensgebung.«
Ich sagte, ich würde die Buchhandlung lieber nicht Goethe & Co nennen, weil viele Kunden glauben würden, dass es ihr Name sei und sie ihnen würde erklären müssen, wie sie wirklich hieß und manchen womöglich auch, wer Goethe gewesen war.
Jetzt sah sie mich eisig an. Das konnte sie richtig gut.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Goethe kennt doch jeder.«
»Ist das Ihre erste Buchhandlung?«
Sie nickte.
Du wirst dich noch wundern, Schätzchen.
Im nächsten halben Jahr hieß die Buchhandlung Goethe & Co. Dann wurde sie umgetauft und bekam den Namen ihrer Besitzerin. Als Jakob und ich ein paar Tage später auf dem Weg zum Supermarkt waren, öffnete sich die Ladentür, und die blonde Frau lächelte mich an: »Hallo! Kommen Sie doch kurz rein, wenn Sie Zeit haben. Mögen Sie einen Kaffee?«
Ich schüttelte den Kopf und wollte weitergehen.
Sie wandte sich an Jakob: »Ich heiße Britta. Und du? Magst du eine Limo? Ich habe auch eine Kinderbuchecke.«
»O ja. Komm, Mama.«
Ich hatte den Kaffee noch nicht probiert und Jakob drüben in der Kinderbuchecke eben das erste Buch geöffnet, da wusste ich schon alles. Sie hatte mit achtzehn geheiratet, ihre vier Kinder waren erwachsen, zur Silberhochzeit hatte ihr Mann ihr die Buchhandlung geschenkt. Sie hatte einen Buchhaltungskurs und ein Existenzgründerseminar absolviert und geglaubt, das und ihre Begeisterung würden genügen. Ihr Mann war Anwalt mit einer ertragreichen Kanzlei und konnte das Geschäft eine Zeitlang finanzieren. Allerdings nicht mehr lange, wenn es weiter so schlecht lief wie bisher.
»Ich verstehe nur gar nicht, warum. Ich mache doch alles richtig, finden Sie nicht?«
Als sie Kaffee und Limo geholt hatte, war mir einiges aufgefallen, was sie falsch machte. Aber sie bekam jetzt keine kostenlose Beratung von mir, um ihr Budget zu schonen. Ich trank von meinem Kaffee und sagte nichts.
»Ich muss mich noch bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie. »Ich war so unfreundlich beim letzten Mal. Das ging nicht gegen Sie. Ich habe mich über meinen Mann geärgert. Über seine Ratschläge. Er meint es gut, und ohne ihn hätte ich die Buchhandlung ja gar nicht, aber es ist mein Geschäft, und darüber will ich allein entscheiden. Verstehen Sie?«
Wenn du alles allein entscheiden musst, weil sonst keiner da ist, verstehst du das nicht wirklich. Aber ihr Mann war viel älter als sie, und sie hatte vermutlich zu Hause nicht viel zu sagen.
»Sie haben sicher inzwischen eine Stelle gefunden, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Und wo?«
»In der Buchhandlung im Südbahnhof.«
Sie verzog das Gesicht. Die Buchhandlung im Südbahnhof war eng, laut, zugig. Scheußlich. Die Arbeit dort auch. Und Jakob musste, wenn er zu früh aus der Schule kam, bei der alten Frau im Schreibwarengeschäft an der Ecke warten, bis ich ihn abholte.
»Hätten Sie nicht Lust, bei mir anzufangen? Ganztags? Jakob könnte nach der Schule herkommen. Mit uns zu Mittag essen. Schularbeiten machen, spielen, schlafen. Bis Sie abends fertig sind.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Weil ich schwieg, setzte sie noch eines drauf.
»Gute Bezahlung. Großzügige Urlaubsregelung. Und wenn Sie wegen Jakob mal weg müssen oder frei haben wollen, ist das kein Problem. Ich habe ja selber Kinder.«
O mein Gott. Das war traumhaft.
»Könnten Sie sich das vorstellen?«, drängte sie.
Ich nickte.
»Und wann könnten Sie anfangen?«
»In fünf Wochen. Zum übernächsten Ersten.«
Sie lachte, laut und erleichtert.
»Wunderbar! Sie sind meine Rettung.«
Eine Kundin kam herein, die sie eifrig begrüßte. Uns brachte sie noch schnell zur Tür und gab mir ihre Geschäftskarte: »Sie rufen mich an, ja? Dann besprechen wir alles.«
Jakob und ich gingen weiter zum Supermarkt. Als wir an der Fleischtheke warteten, berührte er meine Hand.
»Britta ist eine sehr nette Frau. Findest du nicht auch?«
»Ja.«
»Da sind wir jetzt bald öfter, oder?«
»Meistens. Fast immer. Jeden Tag, außer Sonntag.«
»Das ist dann so, als ob wir zwei Wohnungen haben.«
»So ungefähr.«
»Und zwei Zuhause. Eins bei uns und eins bei Britta mit den Büchern.«
Er dachte nach. Dann sagte er auf seine altkluge Art: »Weißt du was, Mama? Das ist gut. Das ist sehr gut.«
»Stimmt«, sagte ich und wandte mich der Frau hinter der Fleischtheke zu, die wissen wollte, ob die Putenschnitzel so recht wären.
Er hatte sofort begriffen, was Britta und ihre Buchhandlung für uns bedeuteten. Ich fing erst an es zu verstehen, als sein Vater zum ersten Mal dort vorbeikam, um ihn fürs Wochenende abzuholen. Jakob hatte es so eingerichtet. Ich hatte am Abend zuvor gehört, wie er am Telefon sagte: »Nein, heute kann ich noch nicht, Papa. Morgen. Ja … Erst morgen. Vormittag. In der Buchhandlung. Ja. Franziskanerplatz 8.«
Ich war froh, dass ich hinter dem Tresen stand und mit einer Kundin sprach und niemand auf mich achtete, als Jakobs Vater die Ladentür öffnete. Er war meine große Liebe gewesen – gewesen? Geht das so schnell vorbei? – und hatte mir die größte Verletzung meines Lebens zugefügt. Ihn zu sehen, ließ mein Herz rasen und das Blut in meinen Ohren rauschen und in mein Gesicht steigen. Er kam lässig herein, groß, sehr schlank, wie er damals noch war, in Stiefeln, Jeans und Lederjacke. Die üppigen schwarzen Locken umgaben sein blasses Gesicht mit den dunklen Augen, das nicht schön war, aber sehr anziehend.
Er blieb am Tresen stehen: »Hallo, Helena.«
Britta hatte sich umgedreht, als die Türglocke ging. Jakob lief ihm entgegen.
»Hallo, Papa.«
»Hallo, Jakob.«
Er wollte in die Knie gehen und ihn umarmen, aber Jakob griff nach seiner Hand und führte ihn zu Britta.
»Das ist mein Papa. Er heißt Armin.«
Er wies mit einer ausladend altmodischen Geste auf Britta. Er hatte es sich offenbar im Fernsehen abgeschaut, wie man Menschen formvollendet miteinander bekannt macht.
»Das ist Britta.«
Er breitete weit die Arme aus: »Und das ist unsere Buchhandlung.«
Mir war sofort klar, was er damit sagen wollte, und es traf mich wie ein Schlag. Du hast uns verlassen, Papa, wir hatten kein großes schönes Haus mehr und waren ganz alleine. Aber sieh her, wir sind nicht mehr allein und verlassen, und wir haben auch wieder ein Zuhause, denn wir haben Britta und diese großartige, wunderschöne Buchhandlung.
Britta konnte nicht wissen, was in ihm vorging, aber sie war der Situation mehr als gewachsen. Sie legte Jakob die eine Hand auf die Schulter und reichte Armin mit einem majestätischen Lächeln und einer ebensolchen Bewegung die andere. Ältere Herren unter unseren Kunden fühlen sich dann getrieben, sie ihr zu küssen. Armin schüttelte sie nur, aber er war beeindruckt. Jakob sah von einem zum anderen und strahlte.
Ich schluckte runter, was in mir hochstieg, packte das Buch der Kundin in Geschenkpapier und beriet sie bei der Auswahl einer Glückwunschkarte.
Jakob und Armin kamen zum Tresen.
»Bis morgen, Mama.«
»Gegen Abend«, sagte Armin. »Ich rufe vorher an. Tschüss, Helena.«
Ich nickte ihm flüchtig zu und küsste Jakob: »Bis morgen.«
Die Kundin zahlte, ich öffnete ihr die Ladentür und hielt sie auf, damit ein Ehepaar hereinkommen konnte. Dann ging es nicht mehr. Ich lief ins Büro, ganz nach hinten ans Fenster zum Hof, und die Tränen brachen aus mir heraus.
Ich hatte all die Zeit nicht geweint. Seit unser Traumschloss von der großen Liebe und der glücklichen Familie wackelig und zugig wurde und seine Wände bröckelten.