Helenya - Bina Botta - E-Book

Helenya E-Book

Bina Botta

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Beschreibung

Das schmale Eiland der dritten Insel kämpft zeitweise mit Herausforderungen. Der bewusste Verzicht auf Strom ist dabei das kleinste Hindernis, denn die Insulaner gehen einen kräftezehrenden Pakt ein. Der Bau eigener Hütten und das wechselhafte Wetter bringen die kleine Gemeinschaft zeitweise an ihre psychischen und physischen Grenzen. Anastasia Smith nutzt den Archipel der Coopers als Sprungbrett für ihre Zukunft als Journalistin. Sie bereist die Inseln und führt Interviews mit den Bewohnern. Doch als sie unerwartet ihrer ersten großen Liebe begegnet, traut sie ihren Augen nicht.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Helenya: Das schmale Eiland der dritten Insel kämpft zeitweise mit Herausforderungen. Der bewusste Verzicht auf Strom ist dabei das kleinste Hindernis, denn die Insulaner gehen einen kräftezehrenden Pakt ein. Der Bau eigener Hütten und das wechselhafte Wetter bringen die kleine Gemeinschaft zeitweise an ihre psychischen und physischen Grenzen.

Anastasia Smith nutzt den Archipel der Coopers als Sprungbrett für ihre Zukunft als Journalistin. Sie bereist die Inseln und führt Interviews mit den Bewohnern. Doch als sie unerwartet ihrer ersten großen Liebe begegnet, traut sie ihren Augen nicht.

Autorin

Bina Botta, geboren 1977, lebt mit ihrer Familie am Zürichsee. Als ausgebildete Geomatikerin ist die Faszination für Gebäude ein fester Bestandteil ihres Lebens. Mit viel Fantasie schuf sie die Inselwelten.

Das Wesentliche zu erkennen, sich mit Menschen auszutauschen und den technischen Fortschritt kritisch zu beobachten, waren der Beginn ihrer Inselgeschichten. Die Begeisterung, Gedanken in Worte zu fassen und weiterzugeben, das ist ihr Antrieb.

Helenya ist ihr dritter Roman, eine Fortsetzung folgt.

erotisch – fesselnd - unerwartet

Inhaltsverzeichnis

1. NEUES LEBEN

2. AUFBRUCH

3. AUFBAU

4. ERKUNDIGUNGEN

5. BETTGEFLÜSTER

6. UNTERSCHIEDE

7. EIFERSUCHT

8. LIEBE

9. ZUKUNFT

10. VERSPRECHEN

1 . NEUES LEBEN

Die Regentropfen prasselten auf die Terrassendielen und Tina blickte nachdenklich zum Himmel. Das Versorgungsschiff hatte vor wenigen Minuten angelegt und sie spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel.

Seit dem verheerenden Sturm auf Harmonya war sie immer unruhig, wenn die Inseldelegation zum Festland aufbrach. Damals hatte sie geglaubt, Anthony für immer verloren zu haben.

Ihr ernster Blick verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere in ein Lächeln. Der Gedanke an die Anfangszeit auf der ersten Insel hob ihre Stimmung. Damals, als die unerwartete Liebe sie beide in einen wahren Liebesbann gezogen hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Dabei waren es erst etwas mehr als drei Jahre.

Sie zog die Terrassentür hinter sich zu und wickelte die dünne Strickjacke um ihren zierlichen Körper. Dann hob sie die Arme und band mit wenigen Handgriffen ihr langes, blondes Haar zu einem Dutt zusammen. Diese Angewohnheit hatte sie schon seit ihrer Studienzeit. Damals, als sie noch Psychologie studierte.

Mit den hochgesteckten Haaren und einer schwarzen Brille hatte sie sich sehr intellektuell und klug gefühlt. Dass sie keine Brille brauchte, hatte sie für sich behalten. Ihr gefiel das Kokettieren mit den verschiedensten Accessoires. Die Brille hatte sie dann irgendwann abgelegt, aber der Dutt war geblieben.

Ihr Blick schweifte über das Mobiliar im Büro und sie freute sich, dass ihr das Team bald wieder Gesellschaft leistete. Sie mochte das turbulente, laute Leben und wurde in der Stille eher nervös.

Sie setzte sich an den Computer und scrollte gedankenverloren durch die Listen der zukünftigen Insulaner.

Eine magere Auslese, dachte sie und presste ihren Schmollmund zusammen. Aber die Vegetation des schmalen Eilands ließ nicht zu, dass sich zu viele Menschen ansiedelten.

Ein feiner Duft von angebranntem Gemüse zog durch das Büro. Tina seufzte und spürte, wie ihr Magen zu knurren begann.

„Ach Yvonne, wie soll ich mich da konzentrieren?“, flüsterte sie mehr zu sich selbst und begann, Namen auf kleine Holztäfelchen zu schreiben.

Diese Schlüsselanhänger hatten in Helenya allerdings eher symbolischen Charakter, schließlich hatten die neuen Bewohner kein eigenes Haus, geschweige denn eine abschließbare Tür.

Wie unangenehm, dachte Tina und schüttelte instinktiv den Kopf. Auf so viel Abenteuer konnte sie verzichten. Da war ihr das angenehme und luxuriöse Leben hier im Haupthaus auf Hillarya doch lieber.

Obwohl sie sich noch gut an das sehr bescheidene Leben auf Harmonya erinnern konnte, so ganz ohne Elektrizität. Sie hatte es gehasst, auf offenem Feuer zu kochen und immerzu den Rauch zu riechen.

Das Licht im Eingangsbereich ging automatisch an und sie blickte erfreut auf. Ihre hellblauen Augen strahlten und sie rutschte erwartungsvoll auf die Vorderkante des Stuhls.

Die Tür wurde schwungvoll geöffnet und Lucas stand breitbeinig und lächelnd im Türrahmen.

„Hallo, meine liebe Schwester, wir sind wieder da!“, rief er gut gelaunt in den großzügigen Büroraum und trat einen Schritt hinein. Sein Hemd war klatschnass und auf seiner Glatze glitzerten die Regentropfen wie kleine Diamanten. Auch sein kurzgeschnittener, weißer Bart tropfte.

Tina sprang vom Stuhl auf und eilte auf ihn zu. Obwohl sie nicht seine leibliche Schwester war, hatte sie sich nach all den Jahren an seine wiederkehrende Begrüßungsform gewöhnt. Es gehörte wohl zu den Gewohnheiten eines Pastors.

Sie nahm ihm eine Tüte ab und stellte sie auf den Tisch. Neugierig schaute sie hinein und zog ein kleines Päckchen und ein Bündel Briefe heraus.

„Kriege ich keine Umarmung?“, fragte Lucas und sah sie enttäuscht an.

„Du bist von Kopf bis Fuß nass! Und außerdem wollte ich dir erst die Last abnehmen“, erwiderte Tina und sah ihn lächelnd an. Er reichte ihr die zweite Tüte und drehte sich abrupt um.

Mit einem Handtuch aus dem Fitnessraum kam er zurück und sah ihr beim Sortieren der Post zu. Als sie den Inhalt der ersten Tüte auf einen Tisch gelegt hatte, drehte sie sich um und breitete ihre zierlichen Arme aus. Er wartete keine Sekunde und schloss sie fest in eine herzliche Umarmung.

„Lucas!“, schrie Tina und wand sich wie ein kleiner, zappelnder Fisch. Sie stand nur noch auf Zehenspitzen und lachte laut auf: „Dein Bart raut meine Haut auf!“

„Das hat Ottilia auch schon gesagt“, erwiderte er und ließ sie frei. Ihre Wangen glühten und sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Wie geht es ihr?“

„Sehr gut, danke der Nachfrage. Sie hat sogar etwas für dich eingepackt“, sagte er und wühlte in der zweiten Tüte. Stolz hob er ein kleines Glasgefäß hoch und hielt es Tina triumphierend hin.

„Tiramisuuuu!“, rief sie freudig und nahm das süße Geschenk ehrfürchtig in beide Hände. Sie lief zu ihrem Stuhl, setzte sich und griff nach dem kleinen Löffel neben ihrer leeren Kaffeetasse. Glückselig klappte sie den Deckel auf und tauchte den Löffel ein.

Lucas beobachtete, wie Tina genüsslich einen Löffel nach dem anderen in den Mund schob und dabei immer wieder die Augen schloss.

„Ich habe leider schon zu viele dieser Kalorien intus, sonst würde ich auf eine gerechte Aufteilung bestehen. Genieß es, bevor dein gefräßiger Gatte kommt.“

Als müsste sie sich vergewissern, dass Anthony noch nicht im Anmarsch war, hob sie erschrocken den Kopf.

„Keine Sorge, er kommt erst später. Brain braucht noch seine Hilfe beim Ausladen der Vorräte“, beruhigte Lucas sie und griff nach einem kleinen Päckchen. „Es gab dieses Mal ganz schön viel Post, findest du nicht?“

Sie nickte mit vollem Mund und beobachtete, wie er das Päckchen vorsichtig öffnete. Er schaute hinein und grinste. Mit zwei Fingern nahm er einen kleinen, roten Apfel daraus hervor. Tina runzelte die Stirn, stellte die leere Schale auf den Tisch und trat näher.

„Wer schickt uns denn einen Apfel?“, fragte sie und betrachtete ungläubig das mickrige Exemplar.

„Der muss von Barbara und Pietro sein!“

„Ist denn wenigstens ein Brief dabei?“

„Ja, da ist was drin“, antwortete Lucas und klaubte ein kleines Etikett aus der Schachtel. „B&P Natural Farms, … das ist wohl ihr Logo.“

„Und sie haben nichts dazu geschrieben?“, fragte Tina ungläubig, die die essbare Botschaft ihrer ehemaligen Inselnachbarn nicht ganz verstand.

„Ich hoffe nur, dass ihre Ernte nicht ganz so mager ausgefallen ist. Wie sollen wir sonst diesen Winzling in fünf gleich große Stücke schneiden?“

„Auf mich braucht ihr bei dieser Verkostung keine Rücksicht zu nehmen, ich bin dank des Tiramisus für die nächsten Stunden satt“, sagte sie augenzwinkernd und griff nach einem grünen Umschlag. „Von Emma und Justin“, flüsterte sie und zog eine bunte Karte heraus. Ein großes Foto zeigte eine junge, glückliche Familie, bunte Luftballons zierten den Rahmen.

Ein dumpfer Schmerz breitete sich in Tinas Magen aus, der ganz sicher nichts mit der eben gegessenen italienischen Köstlichkeit zu tun hatte.

Baby-News waren für sie immer noch schwer zu verdauen. Nicht, dass sie den beiden ihr Glück nicht gegönnt hätte, nein, ihr eigener Verlust und die traurige Gewissheit, nie Mutter werden zu können, schmerzten noch immer.

„Ein guter Mix aus beiden“, sagte Lucas und nahm ihr die Karte ab. Er lächelte die Familie an und spürte Dankbarkeit in sich aufsteigen.

Ein wenig vermisste er die beiden. Besonders Emma war ihm während dem Jahr auf Hillarya sehr ans Herz gewachsen.

Nun würden neue Herausforderungen auf die kleine Familie zukommen, die inzwischen wieder auf dem Festland lebte.

„Ein süßer Fratz“, fügte Lucas hinzu und strich liebevoll mit dem Finger über das Baby.

Tina nickte und wischte sich eine Träne weg.

„Es scheint alles gut gegangen zu sein. Was für eine schöne Hautfarbe“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

„Ja, wenn man bedenkt, wie dunkel Emmas Haut ist, bin ich überrascht, dass der kleine Wonneproppen so hell ist. Da haben sich wohl Justins Gene durchgesetzt.“

„Ist es politisch noch vertretbar, dass wir hier über die Hautfarbe dieses kleinen Menschen sprechen?“, fragte Tina und hob die Augenbrauen.

„Wir urteilen ja nicht … und verurteilen schon gar nicht! Wir freuen uns nur über die glückliche Vereinigung zweier uns liebgewonnen Menschen. Es ist ein Geschenk Gottes, dass sie jetzt zu dritt sind. Gerade wir beide wissen, wie kostbar ein eigenes Kind ist“, sagte er und drückte Tina liebevoll an sich.

„Dafür hat er ihre dunklen, freundlichen Augen.“ Tina sah zu, wie Lucas die Karte prominent in der Mitte der Pinnwand platzierte.

„So können die drei uns bei der Arbeit zuschauen“, fügte Lucas zufrieden hinzu und schnupperte dann theatralisch. „Hat Yvonne uns ein leckeres Essen gezaubert?“

„Stimmt, das habe ich ganz vergessen! Jetzt wo ich satt bin, werde ich euch zuschauen.“

„Selber schuld, wer isst denn zuerst den Nachtisch? Eine Schande, eine Schande!“, wiederholte Lucas lachend und machte sich beschwingt auf den Weg in die Küche.

Die Sonnenstrahlen fielen auf die Tagesdecke und feine Staubpartikel wirbelten durch die Luft. Das Zimmer war sehr schlicht eingerichtet.

Eine alte Kommode, ein weißer, zweitüriger Schrank und ein französisches Bett, das fast den gesamten Raum einnahm. Daneben stand ein Beistelltischen mit einer kleinen Leselampe.

Über der Kommode hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien. Auf jedem Bild waren Menschen zu sehen, die Anastasia nicht kannte.

Ein älteres Paar, das auf einer Parkbank saß und aufs Meer blickte. Ihre vom Leben gezeichneten, faltigen Hände hielten sich fest und ein zufriedener Ausdruck lag auf beiden Gesichtern. Die Liebe schien greifbar, auch wenn es nur eine Momentaufnahme war.

Dann ein kleines Mädchen mit zwei Zöpfen, das sich mit den Händen an einem Seil festhielt. Die Beinchen hatte es fest an das Holzpferd gepresst und ein verzücktes Lachen lag auf dem Gesicht. Das Karussell verschwamm auf der Fotographie im Hintergrund. Man glaubte, das Jauchzen des Kindes zu hören.

Das nächste Bild zeigte ein verliebtes Paar, das sich an den Händen hielt. Der junge Mann hatte ein Plüschherz unter den Arm geklemmt, das er wohl beim Büchsenwerfen am Pier gewonnen hatte. Die abgebildete junge Zuneigung ließ einen aufseufzen.

Aber Anastasias Lieblingsbild war das größte in ihrer Sammlung. Es zeigte einen kleinen Jungen, der mit geschlossenen Augen an einem riesigen Eis leckte. Sein Gesichtsausdruck verzauberte jeden, der sich die Zeit nahm, das Bild zu betrachten. Man konnte die Freude und den Genuss von ganzem Herzen nachempfinden.

Es war wahrlich eine besondere Gabe, diese Momente des Lebens zu entdecken und sie so gekonnt für die Ewigkeit festzuhalten.

Doch Anastasia hatte jetzt keine Zeit, ihre Werke zu bewundern. Sie warf weitere Kleidungsstücke aufs Bett und raufte sich die langen, braunen Haare. Was sollte sie nur alles mitnehmen? Sie presste ihren Schmollmund zusammen und überlegte angestrengt.

Sie war noch nie auf einer Insel gewesen und fragte sich gerade, ob sie überhaupt ein elegantes Kleid brauchte, als ihre Mutter im Türrahmen erschien.

„Oh, das würde ich auf jeden Fall mitnehmen“, sagte Nicole lächelnd und beobachtete, wie ihre Tochter die Stirn in Falten legte. „Das passt so gut zu deinen blauen Augen.“

Anastasia nickte, warf es in eine übergroße Sporttasche und nahm das nächste Kleidungsstück unter die Lupe.

„Du wirst mir fehlen.“

„Ach, Mom, es ist doch nur für ein Jahr. Du wirst froh sein, wenn ich weg bin. Dann kannst du dich ganz auf Chris konzentrieren“, erwiderte Anastasia grinsend. „Er wird sich sicher freuen, wenn er in seinem letzten Jahr an der Highschool in deinem Fokus steht.“

„Und dann geht er bald aufs College und ich bin ganz allein zu Hause“, schmollte Nicole weiter und setzte sich aufs Bett. Anastasia verdrehte die Augen und widmete sich wieder ihrem Kleiderschrank.

„Ich bin ja fast nie zu Hause … seit meinem Studium“, fuhr sie fort, wurde aber sogleich unterbrochen.

„Aber Weihnachten und Thanksgiving bist du immer da! Und wir telefonieren täglich.“

„Ja, wenn man bedenkt, dass ich auf die dreißig zusteuere“, erwiderte sie kleinlaut und stopfte ein paar Shorts in die Tasche.

„Du bist noch keine dreißig!“, empörte sich Nicole, nahm die Shorts wieder aus der Tasche und faltete sie ordentlich zusammen.

Anastasia betrachtete die Sportleggings und hielt sie sich an ihren schlanken Körper. Ihre Beine schienen endlos lang zu sein und waren braungebrannt. Sie beschloss, auch wärmere Sachen einzupacken. Man kann ja nie wissen, dachte sie und warf die Leggings ihrer Mutter zu.

„Immerhin werde ich dieses Jahr achtundzwanzig. Das solltest du wissen, schließlich warst du bei meiner Geburt dabei.“

„Ach, erinnere mich nicht daran! Gott sei Dank habe ich damals nicht gewusst, worauf ich mich einlasse, sonst hätte ich dich wahrscheinlich abge… .“ Sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und sah ihre Tochter mit weit aufgerissenen Augen an. „Nein! Verzeih meine Worte, Anastasia. Du bist das Beste, was mir … was uns … passieren konnte. Wenn auch ein paar Jahre zu früh.“

Anastasia setzte sich zu ihrer Mutter aufs Bett und legte einen Arm um sie. Noch heute haderte ihre Mutter damit, dass sie in der Highschool mit gerade mal sechzehn Jahren schwanger geworden war. Für die damalige Zeit ein Schock für die ganze Familie. Zum Glück hatte der Erzeuger sie abgöttisch geliebt und später auch geheiratet.

„Ich bin dankbar, für dich und für Christopher. Und natürlich für Martin. Hast du eigentlich seine Kamera eingepackt?“

„Es ist nicht seine Kamera!“, korrigierte Anastasia und verdrehte die Augen. „Dad hat sie mir zum Abschluss geschenkt, das weißt du doch.“

„Stimmt, … statt eines Autos“, sagte Nicole kleinlaut und raffte ihre Schultern. „Es tut mir leid, dass wir immer zu wenig Geld haben. Ich hätte dir gerne mehr geboten.“

„Ach Mom, sieh mich an. Ich habe die coolste Familie, ein schönes Zimmer, genug zu Essen und ein Dach über dem Kopf. Und ganz viel Liebe, nicht zu vergessen. Das reicht. Ich kann sogar die Uni besuchen und nun gehe ich für ein Jahr auf eine traumhafte Insel. Mein Leben ist perfekt!“

Nicole wischte sich lächelnd eine Träne weg und nickte gerührt. Sie war dankbar dafür, dass ihre Tochter immer das Positive im Leben sah, egal, wie oft sie hinfiel oder auch mal verzichten musste.

„Hast du Verhütung dabei?“, wechselte sie abrupt das Thema.

Anastasia atmete tief ein, denn sie wusste, dass das ein wunder Punkt bei ihrer Mutter war. Sie hatte keine Lust, noch einmal darüber zu sprechen.

„Ich bin alt genug, Mom. Und ich habe außerdem nicht vor, mich in einen Inselbewohner zu verlieben. Ich gehe dorthin, um zu arbeiten, nicht zum Vergnügen.“

„Du willst doch nicht ein Jahr keusch leben?“

„Warum nicht? Wäre ja nicht das erste Mal.“ Anastasia dachte an ihr erstes Jahr an der Uni. Damals hatte sie sich so auf ihr Studium konzentriert, dass sie das soziale Leben fast völlig vernachlässigt hatte. Was wohl auch an ihrem Liebeskummer gelegen hatte. Auch Jahre später fiel es ihr schwer, sich auf jemanden einzulassen. „Wo ist eigentlich Chris? Er wollte mich doch zum Flughafen fahren.“

„Er schläft noch. Ich werde ihn wecken“, antwortete Nicole und erhob sich. „Christopher!“ Der laute Ruf hallte durch das kleine Reihenhaus und wurde von einem heftigen Klopfen gegen eine Tür untermalt.

Anastasia schloss für einen Moment die Augen und war froh, dass dieses Gespräch ein schnelles Ende gefunden hatte. Sie konnte es kaum erwarten, sich in das bevorstehende Abenteuer zu stürzen.

„Ist alles in Ordnung, Mr Newton?“, rief eine junge Frau, die elegant die Treppe herunterkam. Ihre langen, schwarzen Locken umspielten ihre Arme und sie bewegte sich, als trüge sie ein elegantes Abendkleid. Doch die sehr kurzen Shorts und das enganliegende Top verrieten, dass sie eher auf dem Weg zum Sport als zu einem Ball war.

„Ähm, ja … alles bestens Melissa, Sie können jetzt gehen. Wir machen morgen weiter“, antwortete Robin und räusperte sich. Er blickte nicht einmal über seine Schulter, seine Augen waren immer noch fasziniert auf das kleine Lebewesen in Michells Arm gerichtet.

Die junge Schönheit funkelte die unerwartete Besucherin böse an, stellte die mitgebrachten Krücken am Treppengeländer ab und ging erhobenen Hauptes in den hinteren Teil des Hauses.

Robin hörte, wie die Küchentür laut zugeschlagen wurde und sah Michelle unverwandt in die Augen.

„Soll ich ein anderes Mal kommen, … wenn es dir besser passt?“

„Nein, nein, schon gut. Komm rein“, antwortete er rasch und trat einen Schritt zur Seite. „Das ist nur Melissa, meine Physiotherapeutin. Doch ich kann den Termin mit ihr verschieben. Komm rein.“

Physiotherapeutin, wer’s glaubt, schoss es Michelle durch den Kopf und sie klammerte sich an ihren Sohn.

Die Augen einer Frau sagten mehr als tausend Worte, und Michelle würde diesen Blick nicht mehr so schnell vergessen. Sie las Eifersucht, Begierde und Wut.

Robin sah sie an und wies ihr den Weg zum Salon. Er nahm die Krücken und wartete, bis Michelle sich bewegte, dann folgte er ihr langsam.

Was für ein mondänes Anwesen, dachte Michelle und schluckte leer. Hatte ihr Mann von diesem Reichtum gewusst?

Michelle hatte vor ein paar Tagen die Rechnung für den defekten Kinderwagen gesucht und war in Michaels Chaos auf einen dubiosen Beleg gestoßen.

Darauf waren monatliche Überweisungen in Höhe von 1000 Dollar vermerkt. Keine weiteren Angaben, nur diese Adresse. Es bedurfte keiner detektivischen Fähigkeiten, um in wenigen Minuten herauszufinden, wer an dieser Anschrift wohnte.

Michelle hatte nicht schlecht gestaunt, als sie den Namen Newton vor sich sah.

Warum überwies Robin - oder war es Irma - ihrem Mann immer pünktlich zum Monatsende diese hohe Summe? Es musste etwas mit Maxwell zu tun haben, das lag auf der Hand.

Wie auf Kommando regte sich der Kleine in ihren Armen und schlug die Augen auf. Erstaunt blickte er sich um und nahm die neue Umgebung wahr. Seine runden, braunen Augen waren identisch mit denen seines Vaters. Obwohl Michelles Augen einen ähnlichen Braunton hatten, waren die Intensität der Farbe und die Form eine gänzlich andere.

Robin schnappte nach Luft und umklammerte seine Krücken.

„Meine Fresse!“, sagte er und sah erst den Kleinen und dann Michelle erschrocken an.

„Eher deine Augen“, erwiderte sie matt und betrachtete ihren ehemaligen Liebhaber. Seine sportliche Figur ließ keinen Zweifel daran, dass er sich von seinem schweren Sturz gut erholt hatte.

Es war jetzt ein paar Monate her, dass er auf Hillarya verunglückt war. Ohne Hornbrille wirkte er allerdings verletzlicher, dachte sie und überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte.

Er war nach wie vor ein sehr attraktiver Mann und das wusste er auch. In seiner Gegenwart fühlte sich Michelle immer etwas unsicher, was wahrscheinlich auch an ihrer Mission lag.

Es schien so unwirklich, dass sie beide auf der Insel ein Liebespaar gewesen waren. Aber der kleine Maxi erinnerte sie jeden Tag daran, dass sie in ihrem Leben eine große Dummheit begangen hatte.

Und doch empfand sie es als großen Segen, mit sechsunddreißig noch Mutter geworden zu sein. Michael und sie hatten viele Jahre vergeblich auf Nachwuchs gehofft. Sie hatten sich schon damit abgefunden, dass sie nie ein Kind haben würden.

Aber anscheinend war Robin der perfekte Mann, um eine Familie zu gründen. Oder ihre Gene passten einfach zusammen. Bei ihm hatten nur wenige Wochen ausgereicht, um dieses kleine Wunder zu zeugen.

„Komm doch in den Salon, … ich muss mich kurz hinsetzen“, sagte er und ging, auf die Krücken gestützt, langsam auf eine Doppelschwingtür zu.

Michelle konnte es ihm nicht verübeln, fiel sie ja ohne Vorankündigung mit dieser Hiobsbotschaft ins Haus. Sie nickte und folgte ihm.

Edle Teppiche und schwere, dunkle Möbel strahlten eine Eleganz aus, die Michelle einschüchterte. Jeder Gegenstand schien zu schreien: Ich bin wertvoll und von einem namhaften Designer.

Sie kannte solche Räume aus Hochglanzmagazinen und war froh, dass ihr dieser Reichtum erspart blieb. Auch wenn sie froh wäre, wenn Michael etwas mehr verdienen würde, aber in dieser Liga würde sie sich definitiv nicht wohlfühlen.

„Ich habe einen Sohn“, sagte Robin in die Stille und riss Michelle aus ihren Gedanken. „Wie lange weißt du es schon?“

Sie sah ihn irritiert an und setzte sich auf einen weichen Sessel.

„Wie bitte?“, entgegnete sie, da sie die Frage nicht verstand.

„Seit wann weißt du, dass ich der Vater bin?“

„Seit unserer Rückkehr nach Philadelphia“, antwortete sie und blickte ihn schüchtern an.

Ihr kastanienbraunes Haar schimmerte im Sonnenlicht und Robin stellte fest, dass sie sich kaum verändert hatte. Ihre Augen wirkten zwar etwas müde, was wahrscheinlich an dem Baby lag, aber sie war immer noch eine sehr attraktive Frau. Ihr Haar trug sie kürzer als auf der Insel, es reichte ihr nur noch bis zum Kinn. Ihre Wangen waren ein wenig eingefallen und auch sonst hatte sie wohl eher an Gewicht verloren, wo sie doch sonst schon sehr schlank war. Aber Robin fand, es stand ihr gut. Er fühlte sich immer noch zu ihr hingezogen.

„Spielt das eine Rolle?“

„Ähm, was?“, entgegnete Robin. Er hatte den Faden verloren.

„Es kann nur dein Kind sein, ich hatte mit niemandem sonst Verkehr.“

Robin hob irritiert die Augenbrauen und fand das Wort ‚Verkehr‘ sehr unpassend. Sie hatten Sex, geilen Sex. Meistens nach dem Sport unter der Dusche und sie faselte von Verkehr. Dabei war die ganze Insel autofrei.

„Was sagt Michael dazu?“, versuchte Robin die Bilder aus der Dusche zu verbannen und sah sie neugierig an.

„Er hat es akzeptiert … glaube ich.“

„Und warum kommst du erst jetzt zu mir? Warum hast du dich nicht früher gemeldet?“

Woher wusste sie überhaupt, wo er wohnte? Hatte Tina ihr die Adresse gegeben? Das wäre höchst unprofessionell, dachte er und spürte, wie ihm die ganze Sache über den Kopf zu wachsen schien.

„Ich habe die Überweisung gefunden, in Michaels Büro“, sagte sie ruhig und fixierte ihn.

„Was für eine Überweisung?“

„Na, die 1000 Dollar, die anscheinend monatlich auf sein Konto fließen“, sagte sie und spürte leichte Panik in sich aufsteigen. Wusste er nichts von diesem Geld? Es konnte doch nicht sein, dass Irma und Michael diese Zahlungen hinter ihrem Rücken arrangiert hatten.

„Ich habe keine Kenntnis von irgendwelchen Zahlungen“, antwortete Robin trocken und erhob sich mühsam.

Anscheinend war seine Genesung noch nicht abgeschlossen, dachte Michelle, als sie sah, wie er zum Servierwagen humpelte und sich einen doppelten Whisky in ein Glas goss. Er griff nach einer zierlichen Zange und beförderte zwei Eiswürfel hinein.

Hatten wohlhabende Menschen tatsächlich Personal, das stündlich den Eisvorrat im Salon erneuerte, fragte sich Michelle und schüttelte den Kopf.

Robin setzte sich, nahm einen großen Schluck und atmete schwer. Dann schwenkte er das Glas leicht hin und her und sah sie wieder an.

„Irma“, sagte er und lehnte sich müde in den Sessel zurück. „Irma“, wiederholte er und leerte das Glas in einem Zug. Er leckte sich über die Lippen und ignorierte, dass es noch nicht einmal Mittag war. Die Eiswürfel blieben kaum geschmolzen im Glas zurück. „Irma muss ihm das Geld überwiesen haben. Mir hat sie nichts davon erzählt. Scheiße!“

„Ach Robin, es tut mir leid!“

„Es muss dir nicht leidtun. Ich habe einen Sohn!“, rief er plötzlich feierlich und grinste sie an.

Maxwell erwachte, bekam große Augen und begann zu weinen. Anscheinend war ihm dieser aufbrausende Mann nicht geheuer und er schien die Anspannung seiner Mutter zu spüren. Ängstlich schlang er seine kleinen Arme um ihren Hals und weinte bitterlich.

„Alles gut, Maxi, alles gut“, beruhigte sie ihn und streichelte ihm liebevoll über den Rücken. „Alles ist gut“, flüsterte sie in seinen feinen Haarschopf und sah Robin erwartungsvoll an.

„Was wird jetzt aus uns?“, fragte Robin und lächelte sanft. „Das kommt alles sehr unerwartet für mich.“

„Liebst du Irma?“

„Ach, Michelle, die Liebe hat so viele Gesichter. Was ist schon Liebe?“, antwortete er und dachte an seine Ehe, seine Zweckehe.

Er hatte alle Freiheiten, die er sich nur wünschen konnte. Alle Annehmlichkeiten, es fehlte ihm an nichts. Aber war er glücklich?

„Bist du glücklich?“, fragte Michelle, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

„Glück wird doch überbewertet“, gab er resigniert zurück und fragte sich, ob er die Kraft hätte, ein anderes Leben zu führen. Es war so bequem und einfach, dort zu bleiben, wo man seit Jahren war. „Bist du mit Michael und dem Kleinen glücklich?“

Sie blickte auf und fragte sich im selben Moment, warum sie überhaupt den weiten Weg hierher auf sich genommen hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

„Möchtest du, dass wir drei nun auf glückliche Familie machen?“

Michelle legte Maxwell auf ihren Schoß, er war wieder eingeschlafen. Sie starrte auf den teuren Teppich zu ihren Füßen. Dann schüttelte sie leicht den Kopf und atmete tief durch.

„Nein, ich liebe Michael. Auch wenn er nicht … noch nicht“, korrigierte sie sich, „auch wenn er noch nicht genug Geld verdient, um uns angemessen durchzubringen, ich meine, ohne eure Unterstützung.“ Sie schämte sich, zuzugeben, dass sie ohne diese 1000 Dollar ziemlich aufgeschmissen wären. „Ich dachte nur, es wäre gut für Maxwell, seinen leiblichen Vater zu kennen.“

Der Kleine schlummerte friedlich auf ihrem Schoß. Robin kratzte sich am Kinn und dachte nach. Er konnte sich ein Leben mit so einem kleinen Wesen nicht vorstellen. Geschweige denn mit Irma. Sie hasste kleine Kinder. Nein, Hass war wohl das falsche Wort. Sie konnte mit Babys einfach nichts anfangen. Dafür hatte sie einen guten Draht zu Teenagern. Robin staunte immer wieder, mit welcher Begeisterung sie von ihren Schützlingen vom Gemeindezentrum erzählte.

„Robin?“ Michelle sah ihn fragend an.

„Ähm, ich bin einfach sprachlos. Vor einer Stunde wusste ich noch nicht einmal, dass ich Vater bin.“ Vor einer Stunde habe ich Melissa gefickt, schweiften seine Gedanken ab und er musste sich zusammenreißen, um sich der Situation hier mit Michelle zu stellen. „Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst.“

„Ich fände es schön, wenn du eine Beziehung zu deinem … unserem Sohn aufbauen würdest. Sozusagen als Bonus-Vater.“

Robin lachte laut auf.

„Bonus-Vater? Ich bin wohl eher der leibliche Vater!“ Er atmete schwer und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. „Und wie stellst du dir das vor? Und was sind die Rollen von Irma und Michael?“

Michelle schaute wieder zu Boden und schien zu überlegen. Robin dachte an seine Frau und fragte sich, warum sie ihm die Existenz seines Sohnes verschwiegen hatte. Wollte sie einen Kontakt verhindern? War es Schweigegeld, das sie Michael jeden Monat überwies? Irma war eine gute Schauspielerin, so viel war sicher, denn Robin hatte nie auch nur den leisesten Verdacht gehabt, dass sie ein so großes Geheimnis vor ihm verbarg.

„Irma will bestimmt nichts mit ihm zu tun haben“, sagte Robin überzeugt und zeigte auf den kleinen Jungen. Der hatte gerade seinen Daumen in den Mund gesteckt und nuckelte zufrieden daran.

Ein Lächeln huschte über Robins Gesicht und seine Miene entspannte sich. Plötzlich spürte er etwas in sich aufkeimen, das ihn mit Wärme erfüllte. Dieser kleine Kerl würde sein Leben gehörig auf den Kopf stellen, so viel war sicher. Robin sah sich schon, wie er mit seinem Sohn Baseballs warf und ihm Tricks beibrachte, wie er ihm das Cap zurechtrückte und in ‚seine‘ Augen blickte.

„Robin?“ Abermals holte Michelle ihn in die Gegenwart zurück und lächelte ihn an. „Ich fahre alle zwei Monate zu meiner Familie aufs Land. Mein Vater bewirtschaftet eine kleine Farm. Wir reden, machen ein Barbecue und verbringen das Wochenende zusammen. Michael begleitet mich nur an Weihnachten und Thanksgiving. Vielleicht könntest du uns da mal besuchen kommen? Damit du Zeit mit Maxwell verbringen kannst? Dann müssten Irma und Michael nichts davon erfahren.“

„Nein!“, schrie Robin so laut, dass der Kleine erschrocken den Kopf hob und seinen Vater mit weit aufgerissenen Augen ansah. Die Ähnlichkeit war verblüffend und erinnerte Robin daran, dass er nun in einer besonderen Verantwortung stand.

„Alles gut“, flüsterte Michelle und strich ihm liebevoll über den Kopf. Der Kleine schloss sofort wieder die Augen und schmiegte sich an seine Mutter.

„Sorry“, sagte Robin und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Er atmete tief durch und sammelte sich. „Ich will keine Geheimnisse mehr. Die Idee mit dem Besuch auf der Farm ist großartig. Aber ich möchte, dass Irma und Michael Bescheid wissen. Schließlich kann der kleine Kerl bald sprechen und wird uns sonst irgendwann verpfeifen … wenn er nach seinem Vater kommt“, fügte er grinsend hinzu. „Und natürlich verdopple ich die monatliche Zahlung. Das sollte Michael den Mund stopfen. Er wird von der Idee bestimmt nicht begeistert sein.“

Michelle nickte und lächelte ihn dankbar an.

„Aber ich muss dich warnen, meine fünf Brüder werden dich wahrscheinlich nicht mit offenen Armen empfangen“, sagte sie mit einem spöttischen Lächeln. „Sie haben keine Ahnung, dass Michael nicht Maxis leiblicher Vater ist.“

„Dann ist es wohl an dir, die Dinge in Ordnung zu bringen, bevor ich das erste Mal da auftauche“, erwiderte Robin lässig und lehnte sich zurück.

Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte ihn und er war sich in diesem Moment sicher, dass alles gut werden würde. „Wir packen das zusammen, für Maxwell.“

2 . AUFBRUCH

Das Licht flackerte und es roch streng nach Urin. Drei Männer saßen auf Pritschen verteilt, der Raum war vielleicht 16 Quadratmeter groß.

Zwei der Männer starrten mürrisch auf den schmutzigen Boden, einer lächelte in sich ruhend und sah sich interessiert um. Seine braunen Augen leuchteten förmlich in dem düsteren Loch.

Man hätte meinen können, er warte entspannt auf die bestellte Limousine, oder auf ein Flugzeug, das ihn in den wohlverdienten Urlaub bringt.

„Cooper? Sie können gehen!“, rief ein uniformierter Polizist und trat an die Gitterstäbe. „Na los, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“, fuhr er fort und steckte einen großen Metallschlüssel in das Loch.

Seltsam, dachte der Mann, stand langsam auf und griff nach seinem Wollpullover. Es amüsierte ihn, dass in der heutigen Zeit solche Ungetüme immer noch zum staatlichen Inventar gehörten.

Er hörte, wie der Schlüssel geräuschvoll zu den anderen zurücksurrte und noch immer leicht an der Hüfte des Polizisten hin- und herschaukelte.

Wann war er das letzte Mal in einem Hotel abgestiegen, wo man an der Rezeption einen richtigen Schlüssel bekommen hatte? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, musste aber schmunzeln, als er an die riesigen Regale dachte. Meist aus Holz gefertigt und mit vielen Fächern versehen. Jedes Fach stand stellvertretend für ein Zimmer. Darin hing der Schlüssel, meist mit einem imposanten Anhänger, auf dem in großen Lettern die Zimmernummer eingraviert war.

Was wiederum ein echter Vorteil gegenüber der modernen Variante war: Man musste sich die Nummer nicht merken. Nein, man konnte einfach auf den Anhänger schauen und wusste wieder, wo man hingehörte. Etwas angetrunken, spätabends an der Bar, hatte ihn das schon so manches Mal gerettet.

Seit geraumer Zeit bekam man nun nur noch eine Plastikkarte in doppelter Ausführung. Natürlich ohne Nummer.

„Vielen Dank“, sagte er und folgte dem Polizisten den Flur entlang. Er kannte das Prozedere und war froh, endlich rauszukommen.

Am Empfang blieb er stehen und lächelte den Mann hinter dem Panzerglas freundlich an. Ein Plastikfach stand schon für ihn bereit, darin seine wenigen Habseligkeiten, die in der Zelle nicht erlaubt waren: Ein Ledergürtel, eine Halskette aus kleinen Steinen, eine Brieftasche, ein alter Fotoapparat und eine Haarklammer.

„Hast du kein Handy?“, brummte der Wärter und schob die Scheibe einen Spalt hoch.

„Nein“, antwortete er und griff nach seinen Sachen.

Der Mann nickte, zog das leere Fach zurück und ließ die Scheibe wieder heruntergleiten.

„Bis zum nächsten Mal, Cooper“, sagte er und grinste ihn an.

„Das glaube ich nicht“, flüsterte John und ging zum Waschraum, der gleich neben dem Eingang lag. Dort wusch er sich gründlich mit viel Seife die Hände und fädelte dann den Ledergürtel durch die Schlaufen seiner Jeans. Den Gang zur Toilette ersparte er sich. Er würde später im Café die komfortablere Anlage benutzen.

Er blickte in den Spiegel und band sich das strähnige, fettige Haar mit der Klammer zusammen. Wenn er sich nur öfter die Haare waschen würde, könnte er sich diese lästigen Ausflüge wohl ersparen. Oder noch besser: Sich die Haare kurz schneiden, dachte er und lächelte sein Spiegelbild an. Aber er mochte das Wilde, das Verwegene. Es gab ihm das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, obwohl er sich in den letzten Stunden alles andere als frei gefühlt hatte.

Doch es war bestimmt das letzte Mal. Morgen würde er im Bus sitzen und in zwei Tagen konnte er seine ausgelatschten Lederboots an den Nagel hängen.

Er verließ das Gebäude und wechselte zielstrebig die Straßenseite. Dann verlangsamte er seinen Schritt und atmete tief ein. Er lauschte dem Lärm der Stadt und versuchte sich vorzustellen, wie es war, auf einer Insel zu leben, ohne Autos zu sehen, zu hören und zu riechen. Es musste einfach paradiesisch sein, dachte er und stieß die Tür zu seinem Lieblingscafé auf.

Verführerischer Kaffeeduft schlug ihm entgegen und er spürte, wie sein Magen zu knurren begann. Alle Tische am Fenster waren besetzt, aber er war zuversichtlich, dass bald ein Platz für ihn frei werden würde. Also ging er zuerst auf die Toilette und ließ sich Zeit.

Als John zurückkam, erhob sich gerade eine elegant gekleidete, ältere Dame und schritt zum Ausgang. Zufrieden nahm John ihren Platz ein und inspizierte den Tisch. Ein Fünfzigdollarschein lag neben einem kleinen Teller mit Kuchenkrümeln und einer Kaffeetasse, die noch Schaumresten an der Innenseite aufwies. Großzügig, dachte er und lächelte.

„Hallo John, das Übliche?“, fragte eine junge Kellnerin, steckte den Schein in die lederne Geldbörse und räumte den Tisch ab.

„Hallo Sandra, gerne. Was kannst du empfehlen?“

„Wir haben heute sehr leckere Karotten-Muffins, möchtest du?“

„Ja, danke“, antwortete er und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Die Kellnerin entfernte sich und John beobachtete das geschäftige Treiben vor dem Fenster.

„Hattest du einen harten Tag?“, holte Sandra ihn wieder zurück ins Café und stellte ihm den Espresso, ein Glas Wasser und den Muffin hin. „Du riechst ein bisschen streng, wenn ich das sagen darf.“

„Entschuldige bitte. Ich hatte noch keine Zeit für eine Dusche. Sie haben mich wieder einmal eingebuchtet und irgendwie bleibt der Geruch an mir hängen.“

„Ich habe dich gewarnt, John. Es gibt Gegenden, da solltest du dich besser nicht rumtreiben!“

„Ja, ja, du hast recht. Aber ich kann ja nichts dafür! Ich laufe durch die Stadt und achte nicht darauf, wohin mich meine Füße tragen.“ Er hob die Schultern und stach dann mit der Gabel in den Muffin.

„Für wie lange?“, hakte sie nach und beobachtete, wie er sich den Mund mit einer Papierserviette abtupfte. Seine guten Manieren passten wahrlich nicht zu seinem Erscheinungsbild: Abgewetzte, schmutzige Jeans, ausgetretene Lederschuhe und ein Pullover, der längst in die Mülltonne gehört hätte. Dazu die schulterlangen, fettigen, graumelierten Haare, die er stehts zu einem Dutt zusammengebunden hatte. Und der weiße, viel zu lange Bart, der das schauerliche Bild abrundete. Er hätte ein attraktiver Mann sein können, wenn er sich nur ein wenig pflegen würde, dachte Sandra und rümpfte die Nase.

„Nicht lange, ein paar Stunden vielleicht“, antwortete er und legte die Gabel auf den Teller. „Nach einem Blick in ihren Computer und in meine Brieftasche kamen sie schnell zu dem Schluss, dass ich gar kein so übler Kerl bin. Und meine Hotelkarte verblüfft sie wohl jedes Mal.“

„Wann fliegst du? Ich werde dich vermissen. Also nicht den Gestank“, wechselte sie das Thema und lächelte ihn verlegen an.

„Ich fahre morgen mit dem Bus nach Boston. Du kannst mich immer noch begleiten.“

„Nie im Leben! Was soll ich denn da? Den ganzen Tag am Strand sitzen und aufs Meer schauen?“

Er lächelte und dachte an seine wunderbare Zukunft.

„Ich werde eine fantastische Zeit haben“, sagte er und trank genüsslich einen Schluck Kaffee.

Eine dunkelblaue Limousine bog von der Straße auf den Kiesplatz ab und wirbelte viel Staub auf.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht! Es wird dir dort gefallen und du wirst bestimmt neue Freunde finden.“

„Du klingst wie eine Mutter, die ihr Kind im Sommercamp abgibt!“

„Ich bin ja auch deine Mutter! Und Sommercamp trifft es erstaunlich gut“, entgegnete die schlanke Mittfünfzigerin. Sie zog einen kleinen Spiegel aus ihrer Gucci-Schultertasche und überprüfte ihr Make-up.

Scott seufzte und strich sich über den kurz geschorenen Kopf. Eigentlich war er erleichtert, dass es nun losging und dass er sich bald von seiner Mutter verabschieden konnte. Er fürchtete, ihr penetrantes Parfüm würde ihn bald ersticken.

In diesem Moment ließ der Chauffeur das Fenster herunter, das den vorderen Teil des Wagens von den Passagieren trennte.

„Kann ich Ihnen beim Ausladen behilflich sein, Sir?“

„Nein danke, Obi, das schaffe ich schon“, antwortete Scott und öffnete die Wagentür.

Der Chauffeur stieg ebenfalls aus und half Scotts Mutter beim Aussteigen. Obwohl sie keine Hilfe benötigte, dachte Scott und verdrehte die Augen. Sie war fit und sportlich und kostete es nur aus, wenn ein Mann sie wie eine Lady behandelte, auch wenn er dafür bezahlt wurde.

Scott schulterte seine Tasche und nickte dem Chauffeur kurz zu, der sich wieder in den klimatisierten Innenraum zurückzog.

Er überragte seine Mutter um mehr als einen Kopf. Beschwingt entfernte er sich vom Wagen. Dann wandte er sich dem Steg zu und blickte erstaunt geradeaus.

Eine elfenhafte Schönheit schwebte auf ihn zu. Ihr Schmollmund war zu einem breiten Lächeln geformt, das lange, blonde, gewellte Haar umschmeichelte ihre zierlichen Arme und das luftige weiße Kleid ließ sie wie einen Engel aussehen. Ein außergewöhnlich attraktiver Engel.

Scott blieb wie angewurzelt stehen und sagte: „Was für eine Wucht!“

Seine Mutter kam zu ihm und rückte ihre schwarze Sonnenbrille zurecht.

„Lass die Finger von ihr, sie ist verheiratet!“, zischte sie und ging lächelnd auf die junge Frau zu.

„Na und?“, erwiderte Scott und folgte seiner Mutter. Selbst an der frischen Luft roch er ihre aufdringliche Parfümwolke, oder hatte sich der Duft in seiner Nase festgesetzt?

„Hallo Iris“, rief die blonde Schönheit und streckte ihr förmlich die Hand entgegen.

„Tina, wie schön dich endlich persönlich kennenzulernen“, flötete seine Mutter und drehte sich dann um. „Darf ich dir meinen Sohn Scott vorstellen?“

„Hey Scott, schön, dass du mit uns ein Abenteuer wagst.“

„Mit dir immer“, antwortete Scott und zog Tina in eine innige Umarmung. Er drückte seine Nase in ihre Mähne und hätte sie am liebsten nicht mehr losgelassen. Der zarte Vanilleduft war definitiv eine Verbesserung gegenüber dem teuren Wässerchen seiner Mutter.

„Ich werde nicht auf Helenya wohnen. Wir vom Team sind auf Hillarya stationiert. Komm, ich zeige dir, wo du deine Sachen unterbringen kannst. Ist das alles?“, fragte sie und schaute irritiert auf seine Tasche.

„Ich brauche nicht viel und wer weiß, wie lange ich bleibe“, sagte er und wollte sich an ihre Fersen heften, doch er spürte, wie ihn eine Hand am Arm packte.

„Scott, benimm dich! Du weißt, dass Yvonne mir einen Gefallen tut, wenn sie dich auf die Insel lässt. Also benimm dich und zeig dich von deiner besten Seite!“

„Ja, ja, schon gut. Ich muss deiner Schulfreundin dankbar sein … blablabla.“

„Wo ist eigentlich Yvonne, ich dachte, ich treffe sie?“, rief seine Mutter ihm hinterher.

Im selben Moment stieg eine kleine, schlanke Frau von Bord. Ihr blondes Haar war zu einem sehr langen Zopf geflochten, und Scott dachte im ersten Moment, dass ihm ein Kind entgegenkam. Doch als sie die Sonnenbrille abnahm, blickte er in wache, blaue Augen und die Falten, die sie umgaben, verrieten, dass sie schon ein Leben gelebt hatte.

„Hallo Yvonne, schön, dich kennenzulernen. Vielen Dank, dass ich auf deiner Insel wohnen darf“, sagte Scott brav und küsste ihre Hand.

„Oh, wie nett. Hallo Scott, schön, dass du da bist.“ Sie musterte ihn kurz und blickte dann an ihm vorbei. „Iris!“, rief sie laut und wandte sich schnell von dem jungen Mann ab.

Die beiden Frauen lagen sich jetzt in den Armen und kreischten aufgeregt.

Scott hob die Augenbrauen. So etwas hatte er bei seiner Mutter noch nie gesehen. Jetzt hüpften die beiden und hielten sich an den Händen. Er schüttelte den Kopf, winkte seiner Mutter noch zu, doch sie schien ihn nicht mehr wahrzunehmen.

„Wie aufgeregte Teenager“, sagte Tina lächelnd und zeigte ihm einen Platz für seine Tasche.

„Kann man wohl sagen. Die kennen sich schon eine Ewigkeit. Aber seit dem College haben sie sich nicht mehr gesehen, nur Briefe geschrieben, oder E-Mails“, sagte Scott und musterte Tina genauer.

Sie sah verdammt gut aus und er fragte sich, wie er bei ihr landen konnte.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, versuchte er es auf die schleimige Tour und sah sie lächelnd an.

„Wie aufmerksam von dir, danke Scott. Du könntest mir tatsächlich zur Hand gehen“, sagte sie und wühlte in einer Schachtel.

„Wo immer du willst“, antwortete er und fragte sich, wie sie wohl im Bikini aussah.