Helvetia 2.0 - Urs Augstburger - E-Book

Helvetia 2.0 E-Book

Urs Augstburger

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Beschreibung

In der Nacht, als der Radio-DJ Anders Droka seiner großen Liebe begegnet, holt ihn die Vergangenheit ein. Er wird entlassen, gleich darauf Zeuge eines Mordes und bereits am nächsten Tag selber der Tat verdächtigt. Ein hochaktueller Schweiz-Thriller über die mafiösen Verflechtungen von rechtskonservativer Politik und digitalen Medien. Wenn die unverwechselbare Stimme von Anders Droka zu nachtschlafender Zeit aus dem Äther dringt, gehen die musikalischen Herzen seiner Hörer auf. Nicht jedoch die der Berater, die ein großes Geschäft aus der Digitalisierung machen wollen. Mit der Folge, dass kritische Journalisten wie Droka entlassen werden und die Medienmogule zunehmend eine rechte Agenda verfolgen. Nachdem Droka des Mordes verdächtigt wird und aus Zürich fliehen muss, kontaktiert ihn plötzlich Peter Bender, ein Jugendfreund. Dieser arbeitet mittlerweile für einen milliardenschweren Unternehmer. Bender sorgt im Hintergrund dafür, dass ein Schweizer Medienhaus nach dem anderen in rechtskonservative Hände fällt, nun greift er selber nach der Macht. Steckt er hinter der Entlassung? Hinter dem Mord? Einst ging es bei den Freunden um dieselben Träume und Hoffnungen, jetzt um Leben und Tod.

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Seitenzahl: 331

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Ähnliche


Urs Augstburger

Helvetia 2.0

Thriller

Impressum

Helvetia 2.0 wurde vom Aargauer Kuratorium unterstützt.

All jenen Journalisten gewidmet, die tagtäglich um ihr berufliches Überleben kämpfen.

Der vorliegende Roman nimmt den digitalen Wandel der Schweizer Medienlandschaft als Kulisse. Die Handlung ist jedoch rein fiktiv, alle agierenden Personen und Institutionen sowie deren Verbindungen zueinander sind frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder mit Ereignissen in der Gegenwart oder in der Vergangenheit sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Nele Schütz Design, München unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock / IVY PHOTOS

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN978-3-608-50344-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10882-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

To finally be free again

and deny the passage of time

Brigitte Bardot replaced all men

by three dogs and a daily bottle of wine

In Saint-Tropez

Life ain’t nothing but cruel

In Saint-Tropez

a lover’s always the fool

because in Saint-Tropez

nobody plays by the rules

You’ve danced with the devil, he told you his price

now you’re having breakfast with Brigitte Bardot

next thing you realize, in this lost paradise:

you’ve danced too slow

you’ve sold your soul

it’s all your fault

In Saint-Tropez

Life ain’t nothing but cruel

In Saint-Tropez

the lover’s always the fool

because in Saint-Tropez

nobody’s playing by the rules

Jonna Lunde

You make your record like it’s the last record you’ll ever make

Bruce Springsteen

Teil 1

1.

Die Nacht, in der die Vergangenheit sie alle einholt, beginnt wie immer.

Anders Wegener sitzt im Studio und zieht das Mikrofon näher, bis er es sanft an den Lippen spürt.

»Best fake smile von James Bay. Ein Lied so unverzichtbar wie die Peitsche in der Hochzeitsnacht, meine Freunde, wie der Kiesel unter dem Knie der Sünderin. Welches Lächeln ist heute denn noch ehrlich gemeint? Aber gebt acht, Midnight Girls & Toyboys, Moral ist das Letzte, was wir hier brauchen, werft eine Prise LSD in den Vapo und auf zum nächsten Trip, die Nacht ist lang, die Nacht ist weit. Eine seltsame Eingebung sucht mich gerade heim, ihr hört mich verdutzt, verdattert, erschüttert, und Rosa drüben rauft sich die Haare, sie fasst es nicht, ich fass es ja auch nicht, aber spontan ist immer gut. Wir haben sie gehasst und geliebt, die Eurythmics, meist das erstere, zugegeben, dieses eine Lied aber ist für die Ewigkeit.

Spürt ihr ihn schon, den Schmerz in eurer Seite?

Genau, hier kommt es, wenn auch nur unter Protest aufgelegt, wer will es Rosa verdenken, schiebt es auf das LSD, denn damit überrasche ich mich selber:

Kopfüber in die Nacht.

Mit Thorn in My Side, Annie Lennox.

Ihr hört Into the night auf Radio 1010.

Ich bin Anders.

Anders Droka.«

Die Eurythmics, Droka?

Aus welcher Schublade zieht er denn diesen Ladenhüter?

Von der eigenen Wahl irritiert schiebt Anders Wegener die eine Muschel des Kopfhörers nach hinten. Wegener ist sein eigentlicher Name, den kaum noch einer kennt, Droka sein DJ-Name. Sein eigentliches Ich, mit dem er gern und oft das Zwiegespräch sucht. Anders ist in einem obskuren Roman auf den Namen gestoßen, beim Rückwärtslesen hat Droka dreifach Sinn gemacht. Der Vorname ist weniger zufällig. Anders, nicht Andreas wie auf dem Taufschein, haben ihn schon seine Eltern genannt. Vielleicht etwas ratlos damals, weil ihr Junge nicht Knight Rider spielte wie alle anderen, sondern ganze Nachmittage in einer Kartonkiste verbrachte, und sie aus dem Inneren seines selbstgebastelten Radios mit Livereportagen aus dem Playmobil-Alltag verblüffte.

Thorn in My Side …

Jetzt gib acht, Droka!

Anders streift sein Shirt ab. Das tut er öfters hier, und diese Nacht ist ungewöhnlich schwül für den bisher verregneten Juni. In der Fensterscheibe spiegelt sich das Studio, draußen ragen Neonkuben in den Himmel. Dreizehn. Anders hat sie in einer flauen Minute mal gezählt. Das einstige Industriequartier rund um den Sender wird mit jedem Büroneubau gesichtsloser. Anders starrt hinaus. Es ist nach elf, die Lichter in den Hochhäusern rundum gehen nur zögerlich aus. Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihr Büro vor Mitternacht verlassen. Als hätten sie die Kassandrarufe von rechts verinnerlicht, wie dicht das Land am Abgrund stehe.

Anders lehnt sich zurück. Die Farbe des Nachthimmels oszilliert zwischen Schwarz und Violett.

Lavendel. Die Farbe der Provence … Darauf ließe sich aufbauen. Er muss alle Register ziehen, er kommt heute nur schwer in den Flow. Annie Lennox. Lavendel und … Van Gogh? Zaghaft noch der Gedanke, aber Anders spürt, wie Droka erwacht. Deshalb Annie Lennox! Er braucht nur seiner Intuition zu folgen. In Juan-les-Pins war’s, das Konzert und dann die gemeinsame Fahrt nach Saint-Tropez, eine seltsame Pressereise damals. Warum nicht im legendären 2CV, seine Erinnerungen sind ausbaufähig. 2CV, Louis de Funès, auf dem Fahrersitz die lebensgefährliche Nonne …

Wie immer im Studio reiht Anders Erinnerungen und Assoziationen wild aneinander. Die endlosen Lavendelfelder der Provence. Van Gogh hat da unten gemalt. Annähernd dort. Hat den Lavendel aus der Erde gerissen, in den Gewitterhimmel geschleudert, zum Teufel damit …

Im bisherigen Teil der Sendung hat Anders sich unüblich kurz gehalten. Dass er erst spät eine halbwegs brauchbare Idee findet, hat seine Gründe. Etwas ist faul heute. Rosa hat noch nicht mal getanzt. Nicht so, wie sie es sonst oft tut, ungezwungen und selbstvergessen. Das bedeutet nichts Gutes, Rosa ist selten launisch.

Die Chefin von Radio 1010 sitzt nur noch für Drokas Sendung selber am Produzentenpult. Heute wohl zum letzten Mal. Noch traut Rosa Welte sich nicht, Anders mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren. Keiner geht gern in den Löwenkäfig, vor der Fütterung schon gar nicht. Nach der Absetzung von Into the night soll Anders in der publikumsreichen Morgenschiene eingesetzt werden. Entgegen jeder Logik, aber Auftrag von oben. Rosa ahnt, wie Anders reagieren wird. Niedergeschlagen schaut sie hinüber. Er tut, als sähe er es nicht. Ahnt er es? Er kennt sie zu gut. Für länger sind die beiden nie zusammen gewesen, im Bett oder auf ähnlichen Unterlagen immer mal wieder. Selbst hier im Studio … Sosehr sie den halbnackten Verrückten drüben mag, es gibt keinen Grund, wegen ihm alles aufs Spiel zu setzen. Nicht einen, bestätigt sie sich trotzig. Niemandem wäre damit geholfen. Sie leitet Radio 1010 schon seit fünf Jahren, es ist das erfolgreichste Privatradio des Landes. Die meisten haben ihr zu Beginn nicht mal fünf Monate gegeben, ihr Name sei doch Programm. Einigen von ihnen hatte dann Rosa Welte ihrerseits keine fünf Monate gestattet. Nach den Entlassungen ist es ruhiger geworden. Bei NTZ, dem Medienverbund der Nationalen Tageszeitung, heißt es seither, die Welte sei ziemlich hart. Die wenigsten ahnen, wie es manchmal in ihr aussieht, wenn sie abends abgekämpft und zusammengerollt auf dem Sofa liegt. Diese Nacht wird bodenlos. Freier Fall. Heute trifft es Anders. Die Stimme des Senders. Den letzten Garanten von Glaubwürdigkeit und echter Leidenschaft. Der letzte, der noch ist, wie sie alle waren.

Besessene.

Jonna Lunde hat den Beginn der Sendung in der Küche mitgehört und sich dann ins Musikzimmer und zur Konzentration gezwungen. Sie wartet aber noch immer auf eine Eingebung, ein wenig verzweifelt bereits, ihre Zauberkerze ist halb abgebrannt, die Gitarre auf den Ständer gewandert, das Weinglas ausgetrunken. Das Lied schwebt irgendwo im Raum, Jonna ahnt Anmutung und Farbe, sie erhascht es beinahe, sie darf nur nicht stolpern dabei. Und stolpern liegt ihr nun mal im Blut. Sie lächelt verschmitzt. Der Schlüssel fehlt noch, das eine Wort, der eine Akkord und die einzelnen Teile werden sich fügen. Zu etwas Besonderem.

Weil verwunschen.

Bestenfalls.

Erzwingen lässt es sich leider nicht. Ihren Freunden gegenüber ist Jonna die Nachsicht in Person, bei sich selbst hasst sie diese Momente des kleinen Scheiterns, geißelt dann ihr fehlendes Talent, stürzt in Abgründe, rappelt sich auf, sucht die Schuld maximal noch in den Umständen. Meist in ihrer Müdigkeit, da geht es ihr wie allen. Sie arbeitet neben der Musik für Geld, sie ist dreiunddreißig und kennt keine Gleichaltrige, die sich verwirklicht hat, wie einst erhofft. Die einen haben ihre ursprünglichen Träume gegen Kinder eingetauscht und sind so glücklich geworden, die anderen üben wie Jonna den Spagat zwischen Beruf und Berufung, seit Jahren an zwei Enden brennend. Kinder wünscht Jonna sich auch, noch immer und innig, aber der entsprechende Mann fehlt. Sie hat wenig Gespür für die richtige Wahl, vorsichtig ausgedrückt. Und noch liegen die Prioritäten anders. Ihre derzeitige Wohnung kostet nichts, das macht alles etwas einfacher. Ein Spekulationsobjekt, so hat sie dieses Geschenk annehmen können.

Wieder mal seinem Charme verfallen, weil.

Rosa drüben in der Regie ist blass heute, fällt Anders auf. Er hat das eine oder andere munkeln gehört. Umstrukturierungen in der NTZ-Gruppe, tiefe Einschnitte, wie in jedem Medienhaus derzeit. Nicht mal ihr Erfolgssender werde verschont. Plötzlich ahnt er, weshalb Rosa in den letzten Tagen und vor der Sendung so unruhig gewesen ist. Bruchstücke fügen sich plötzlich zu einem Ganzen, die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag und überrascht ihn doch nur halb. Krug und Brunnen, kennt man. Er ist lange genug und hoch geflogen, er hat sich daran gewöhnt, auch an die Vorzüge der Popularität, doch wenn er sie mal ausspielt, kommt er sich noch immer wie ein Hochstapler vor. Jetzt gehen die Erfolgsjahre offenbar zu Ende. Was immer Rosa ihm als Ersatz für Into the night anbieten kann, wird er ausschlagen müssen, es gibt bei Radio 1010 keine andere Sendung, die ihn reizt. Und bei der Konkurrenz schon gar nicht.

Amöben!

Seine Leute draußen in Nachtland spüren, dass etwas in der Luft liegt. Alle Leitungen sind besetzt. Oder hat er mit seinen eher müden Anfangsworten doch einen Nerv getroffen?

Er fadet die Eurythmics aus, er muss einen Gang hochschalten, jetzt erst recht.

»Werft einen Blick nach draußen, seht euch diesen Himmel an, Midnight Girls & Toyboys. Was will er uns künden? Naht ein Verhängnis oder die Erlösung?«

Seine Lippen stoßen sanft ans Mikrofon, sein Blick, der sich sonst beim Moderieren in einer fernen Leere verliert, bleibt an Rosa hängen. Seine Stimme wird leiser, rutscht ohne sein Zutun eine Tonlage tiefer.

»Der Horizont glüht violett wie einst Annies Augen in den Lavendelfeldern der Provence. Mein Schweiß tropft von den Studiowänden, Rosa, die gute Seele, übt drüben den Poledance über dem Mischpult, also lasst eure Finger gefälligst vom Telefon, Midnight Girls & Toyboys, heute stell ich niemanden durch. Verschwendet keine Zeit, unser Bergland wird zu Nachtland, hört her und folgt mir einfach auf diesem Trip durch unsere Einsamkeit. Ja, in der Provence geschah es, so wahr ich schuldig bin, Dave Stewart fand noch einmal den Rhythm und Annie hatte das Sagen, ihr Comeback neunundneunzig, wir auf halbem Weg nach Saint-Tropez, an die Côte, ans Meer, azurblau, die Luft seiden, sweet dreams are made of this. Ein Leben ohne Verdeck, nur eine Hand am Steuer, die andere – natürlich, wo sonst, Handys gab’s noch nicht! Wie solltet ihr euch erinnern, heute sitzt ihr in euren SUVs, rundumgepolstert, ein Leben hinter Airbags. Ihr zappelt im worldwilden Netz, es fängt euch ein statt auf, kaum seid ihr mal offline, schnappt ihr nach Luft. Nur Sardinen sperrt man in Dosen, also rettet euch, bevor ihr im eigenen Saft schmort. Wir sind geboren, um zu rennen, schlagt euch mit mir auf die dunkle Seite der Nacht, Landflucht unter einem Lavendelhimmel, we turn this beast into the wind. Verhängnis oder Erlösung war die Frage, doch manchmal gibt es da ja keinen Unterschied. Everything dies, baby, that’s a fact, but maybe everything that dies, someday comes back – er war schon immer ein hoffnungsvoller Romantiker, Mr. Springsteen.«

Rosa liebt Bruce. Jetzt schaut Anders sie durch die Scheibe direkt an:

»Etwas von ihm kommt noch. Vielleicht. Ich wollte ihn diesmal nicht in die Sendung nehmen, Freunde, doch irgendwann bricht jeder Krug, ein Sturm zieht auf, wir brauchen die Verlässlichen. Van Gogh hätte seine durchgeknallte Freude, einen Wirbel neben dem anderen würde er in den Lavendelhimmel brennen. Unser Schiff läuft hart am Wind, schwere See, kein Leuchtturm weit und breit. Sind wir verraten worden? Haben sie unseren Kahn verkauft, die Mannschaft entlassen, ohne Dank, ohne Heuer? Alle Unbeugsamen auf Deck, Captain Haddock und seine hunderttausend heulenden Höllenhunde, Springsteen und Seger, Jeff Goldblum und Michelle Pfeiffer, kopfüber in die Nacht, Seite an Seite mit unseren Alternativheiligen, Golden Smog & Jason Isbell, Lucinda Williams, die uns gleich zur Essenz der Erotik führen wird, Ryan Adams und Wilco, Kravitz sowieso und Son Little und die Chili Peppers, weil Funk sexy und Sex funky ist, und natürlich er mit unserer Hymne, Steve Earle: I’m the other kind.

Ich bin Anders.

Anders Droka.«

Da kein Song vom Himmel fällt, zieht Jonna an diesem Abend alle Register der Selbstüberlistung. Drokas Stimme hat als Inspiration nicht geholfen und auch der Trick mit dem Smoothie ist gescheitert. Jonna war irgendwann aufgefallen, wie sich ihre Gedanken beim Anblick eines rotierenden Mixers verselbständigten. Also begann sie zielgerichtet zu mixen, sobald sie kreativ steckenblieb. Das geschah öfter und hinterließ dank süßer Zutaten bald Spuren, worauf sie auf Gemüse- und Früchtesmoothies umstellte. Der heutige ist allerdings ein Unfall gewesen, das Glas hat nicht dicht genug geschlossen und die Küche ausgesehen wie ein Malatelier für Kinder.

Sie räumt öfter hinter sich auf.

Jonna kehrt zu Gitarre und Sofa zurück, nimmt einen neuen Anlauf, im selben Moment vibriert ihr Handy. Widerwillig und neugierig zugleich nimmt sie den Anruf an.

»Peter? Immer noch unterwegs?«

»Ja. Wie läuft’s bei dir?«

»Nichts läuft.«

»Mit Schreiben?«

»Mit dem Leben.«

»Ach komm.«

»Ja doch, mit dem Schreiben …«

An diesem Abend hat Jonna keine Lust auf ein Beratergespräch, und darauf würde es hinauslaufen, wenn sie jammert. Peter kann selten aus seiner Haut, schon gar nicht, wenn er auf Geschäftsreise ist. Dann unterscheidet er kaum zwischen ihr und einem seiner Kunden, so widersinnig das ist.

Aber gut. Auch das Gegenteil ist möglich, dann wird er zu intim.

»Düsseldorf, hast du mir geschrieben, nicht? Wie ist das Wetter?«

»Geht so. Eher kühl. Keine fünfzehn Grad … schätze ich. Hätte einen Pullover mitnehmen sollen. Ich hatte eigentlich gehofft …«

»Was?«

»Dich auch zu sehen. Facetime, mindestens. Oder noch besser: Bodytime.«

Üblicherweise weiß er seine Attraktivität und seinen Witz listiger einzusetzen und erwischt sie damit schon mal auf dem falschen Fuß. Beharrlich versucht er, die Grenzen ihrer Beziehung auszuweiten, doch seit er sich großzügig am Crowdfunding für ihr nächstes Album beteiligt, hat sie die Spielregeln ändern müssen. Schon das mit der Wohnung ist an der Grenze, sie kann sich ja nicht aushalten lassen.

Nichts mit falschem Fuß heute, beschließt sie. Standbein.

»Selbst angetrunken bleibst du mein Mäzen. Mein liebster, zugegeben, aber … Sonst könnte ich längst nicht mehr hier wohnen, um nur ein Dilemma anzusprechen. Du hörst mich ja, von meiner Stimme schwärmst du doch so.«

»Nicht nur, Jonna!«

»Die sei mein ganzes Kapital …«

»Du hast noch andere Benefits.«

»Benefits?!«

Sonst war er witzig, warmherzig, mitreißend.

»Vorzüge«, erklärt er.

»Danke, ich war noch am Übersetzen …« Sie zieht eine Grimasse. »Also. Ich bin nahe dran an diesem Lied, und ich möchte nahe dranbleiben.«

Die einzige Möglichkeit, ihn abzuwehren. Jonnas Musik scheint ihm fast so wichtig wie ihr selbst.

Peter Bender blickt hinaus aufs Meer und dann hinunter auf den Pool, wo diese Alicia ihre Bahnen zieht. Leises Stimmengemurmel ist zu hören, das Klirren von Gläsern unten in der Bar.

»Sowenig das Nachtleben hier bietet, ich werde nochmals raus müssen«, sagt er. »Der gegnerische Anwalt bietet einen Vergleich an.«

»Du bist doch unvergleichlich.« Jonna drückt ihn seufzend weg.

Lachend legt er das Handy beiseite und tritt auf den Balkon seiner Suite. Vor ihm öffnet sich der weite Hof des Château de la Messardière hoch über Saint-Tropez. In seiner Mitte ist ein eleganter Pool angelegt, die Nebengebäude flankieren diesen auf den Breitseiten, am entfernteren Ende beginnt die opulente Gartenanlage, die sich tagsüber in den Pinienwäldern und jetzt im Dunkeln verliert. Bender liebt die teure Stilsicherheit des Hauses. Unbeschränkte Aufenthalte hier gehören zu den Privilegien, die er sich während der letzten Jahre bei der Wasmeier-Consulting erarbeitet hat.

Das Zirpen der Grillen erinnert ihn daran, wie mild die Nacht ist. Alicia zieht eine weitere Bahn durch den blau leuchtenden Pool. Ein schönes Bild. Er hat den richtigen Körper ausgesucht, er ist ebenmäßig und krönt das fein ziselierte Blumenmosaik auf dem Boden des Bassins. Der Anblick des märchenhaften, nächtlichen Pools bringt Bender auf eine Idee. Er zieht sich ganz aus und schlüpft in den Bademantel. So wird er sich ans Bassin setzen, in der einen dunkleren Ecke drüben, wo das Mädchen eben erschöpft den Kopf auf den Beckenrand legt und nach Luft ringt. Die Vorstellung gefällt ihm. Probleme um seinen Stellvertreter in der Consulting-Firma haben ihn während ihrer Kurzvisite an der Côte absorbiert, er hat die Vorzüge seiner Gespielin noch gar nicht genießen können. Wäre schade ums Geld. Diesmal ist es eine Spanierin. Bender lässt sich nur von Ausländerinnen begleiten. Deren Mischung von Willfährigkeit und Leidenschaft hat er bei einheimischen Frauen nie gefunden.

Er will schon das Zimmer verlassen, als er sich an die Perücke erinnert. Bender durchsucht seinen Koffer und entnimmt ihm eine Kartonschachtel. Soweit er es beurteilen kann, hat die Perückenmacherin ganze Arbeit geleistet. Der Farbton ist genau jener von Jonnas Haaren, der Schnitt stimmt exakt mit ihrem aktuellen überein. Alicias feine Gesichtszüge haben zudem eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen von Jonna. Zusammen mit der Perücke müsste die Illusion perfekt werden. Und die Idee mit dem Pool erregt ihn zusätzlich. Er liebt die Öffentlichkeit.

Behutsam verstaut er die Perücke in die Tasche des Bademantels und geht hinunter.

Jonna versteht sich selber nicht. Im einen Moment erliegt sie der Erinnerung an Peters Körper, im nächsten könnte sie ihn auf den Mond schießen, weil.

Benefits. Erinnert sie an ihre Studienzeit. Wirtschaftsrecht hatte sie einst begonnen. Eigentlich um ihre Eltern zu ärgern.

Vier Semester lang hielt sie durch.

Unkonzentriert blättert sie in ihrem Buch mit den Songskizzen. Sie hat noch zwei Monate Zeit bis zu den Studioaufnahmen, nur wenige Lieder sind aufnahmereif. Wenn sie im selben Tempo weiterarbeitet, kriegt sie Probleme. Aus der Küche hört sie Anders Droka. Seine Wortkaskaden nötigen ihr ein Lächeln ab. Der letzte Mohikaner. Ihn kümmert es wenig, dass Alben heute im Grunde nur noch als Promotionsmittel produziert werden, um Aufmerksamkeit für die Konzerte und Airplay zu generieren, er schätzt sie immer noch als Kunstwerke. Jonna spürt, wie sie die Nostalgie von hinten anschleicht. Sie flüchtet hinüber und hört ihm einen Moment lang zu. Was er eben von Verrat erzählt, irritiert sie, doch sie weiß nicht, worauf Droka anspielt. Jonna dreht das Radio lauter, singt mit.

Manchmal reicht zuhören, das Schreiben gibt sie für diesen Abend auf.

Manchmal lässt es sich nicht erzwingen.

Noch bevor das Lied verklingt, brummt ihr Handy. Sie ignoriert es erst, schaut dann doch neugierig auf das Display. Der Absender der eingehenden Textnachricht ist anonym. Sie will die SMS löschen, dabei bleibt sie am ersten Satz hängen:

Sie kennen mich nicht, aber mein Leben ist in Gefahr.

Klar doch, gleich wird er sie um eine kleine Geldspende für irgendein neues Organ bitten.

Stattdessen eine zweite Zeile:

Sie erhalten weitere Informationen direkt und analog, erzählen Sie niemandem davon, bevor sie nicht wissen, wem zu trauen ist.

Analog?

Interessanter Ausdruck.

Sie will die Nachricht löschen, belässt sie dann aber auf dem Handy.

2.

Jetzt gib acht, Droka!

Er spürt Rosa hinter sich. Anders dreht sich zum Fenster und sieht ihre Spiegelung im Glas, so wie in einer unvergessenen Nacht vor Jahren.

»Der Himmel über Zürich. Wie damals.«

»Dachte ich eben auch«, sagt sie leise.

»November Rain, Liveversion, 12 Minuten 29, wir zwei auf dem Teppich.«

»Danach Dazed and Confused, Led Zeppelin, 11 Minuten 44.«

»Wir haben jede Minute genutzt.«

»24 Minuten 13 im Ganzen.«

»Aber: die Wahrheit liegt auf dem Platz, Rosa.«

»Zusammenhang?«

»Zitat Rehagel. Trainerlegende, Werder Bremen, er war der Verein. 16 Jahre lang. Länger als wir hier, galt als Anachronismus, mit Griechenland dann überraschend …«

»Schon begriffen: Er war Werder, du Radio 1010.«

Anders sieht in ihren Augen, dass er richtig vermutet hat. Er scrollt wie beiläufig durch seine Textnachrichten, die neuste von Lis erinnert ihn daran, dass ihm die Hände gebunden sind. Was auch immer geschieht, er darf die Pläne seiner Tochter nicht durchkreuzen. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als dieses Praktikum. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass sie mit einer ernsthaften Bitte zu ihm gekommen ist.

«Was ist das Angebot?«

»Die Morgenschiene.«

Anders dreht den Stuhl zu ihr, Rosa schaut an ihm vorbei, hinaus in die nächtliche Neonkulisse.

»Drivetime. Beste Sendezeit. Jeder andere würde sich dafür vierteilen lassen.«

Überzeugung klingt anders, denkt er. »Du kennst meine Antwort.«

»Ja.«

Sie schweigen.

»Hör hin!« Anders deutet auf den Lautsprecher.

There are those who break and bend

I’m the other kind.

»Lass es nicht darauf ankommen, Anders. Offiziell ist es eine Pause, du entwickelst ein neues Format. Keine subversiven Aktionen gegen uns, kein Aufwiegeln der Fans und wir überlegen uns in aller Ruhe, wie es weitergeht.«

»Es geht nicht weiter.«

»Du hast einen Vertrag bis 2020.«

»Ist das Papier nicht wert.«

»Ich habe ihn prüfen lassen. Du benimmst dich, wir finden etwas, und dann …« Sie verstummt.

»… was?«

»Im Gegenzug stelle ich Lis ein. Multimedia-Praktikum. Ein Jahr mit Option auf Verlängerung. Sie ist erst siebzehn. Verstößt gegen die Bestimmungen.«

Seine Miene ist undurchdringlich, die Stille dauert an. Kurz bevor sie es nicht mehr aushält, sagt er: »O.k.«

Sie schaut ihn verblüfft an. »Ich … ich kann mich auf dich verlassen?«

Anders zieht die Kopfhörer über die Ohrmuscheln und beendet so das Gespräch.

Rosa geht.

Tränen lässt sie erst draußen zu.

Besessene braucht heute keiner mehr.

Anders fährt die Sendung während der folgenden fünfzehn Minuten, als sei nichts geschehen. Nach einem eher lauen Zwischenrap textet er Lis, dass sie ihr Praktikum bekomme, ein Jahr mindestens. Ihre Antwort, verziert mit Herzen und diversen Kiss-Smileys, hilft ihm über weitere dreißig Minuten hinweg. Er ändert fortlaufend die Zusammenstellung der Songs, Rosa lässt ihn gewähren. Nach »Essence« von Lucinda Williams stürzt eine Mail- und Twitterflut auf ihren Server ein, er ignoriert sie. Keine Nacht für Trash- und Sextalk. Es mutet ihn völlig unwirklich an, dass er eben Into the night zu Grabe trägt. Und damit alles, was in den letzten zehn Jahren sein Leben ausgemacht hat. Wofür sein Name steht. »Headed for the End of the World« der BoDeans läuft an, und er überlegt, mit welchem Song er sich verabschieden wird. So wenig er sich anmerken lässt, so fassungslos ist er.

»Troglodyten. Aaskäfer! Barfüßer!!«

Renata flucht im Grabe mit.

Eben noch ist sein Leben schwer in Ordnung gewesen.

In Teilen unerfüllt, aber durchaus in Ordnung.

Aus Gewohnheit gleitet sein Blick über die eingehenden Zuschauerwünsche und stockt plötzlich. Nie hätte er gedacht, dass in diesem gottverlassenen Land jemand außer ihm das Lied überhaupt kennt! Der Wunsch ist über die Mobile-App von 1010 hereingekommen, Nickname Jane. Anders ruft die Nummer an und ist fast ein bisschen dankbar, als ein automatisches Band um das Hinterlassen einer Nachricht bittet. Er wäre geradezu sprachlos.

Selten genug, Droka.

Anders tippt die Telefonnummer in sein Handy und speichert sie unter dem Namen Jane.

Instinkthandlung. Vielleicht beginnt damit eine Geschichte, eine andere muss er beenden. Jetzt.

Er klickt den Song an.

»Nun ist es so weit, Midnight Girls & Toyboys, the end is near, the end is here. Wie ein Blitzschlag aus blauem Himmel, kein Donner zu hören. Es tut mir leid, dass ihr es so plötzlich erfahrt, so wie ich, ohne Vorwarnung. Unser Kahn ist wirklich verhökert worden, geopfert auf dem Altar der Gewöhnlichkeit, der Bequemlichkeit und der Profitgier. Ich habe es nicht kommen sehen, habe bis zur letzten Sekunde gehofft, vergebens, die beratenden Berater, die McKinseys dieser Welt, Seelensöldner und Söldnerseelen allesamt, haben nun auch hier Einzug gehalten. Sie haben Radio 1010 übernommen, ausgehöhlt, verraten und verkauft, für ein lausiges Consultinghonorar, mit dem man unsere Sendung für weitere fünf Jahre hätte finanzieren können, Stichwort Aaskäfer. Mögen Captain Haddock und alle Heiligen verhüten, dass mir jener Mann über den Weg läuft, der dafür verantwortlich ist, ich könnte für nichts garantieren, ich könnte mich vergessen. Vor euch aber, die ihr mit mir zehn Jahre lang durch Nachtland geritten seid, verbeuge ich mich. Ihr seid mitgaloppiert, bei jedem Ausbruchsversuch in die Ferne, fort von hier, denn das ist die einzige erträgliche Art, hierzubleiben, in diesem schönen, engen Land. Wir werden immer weniger, die so denken. Keiner will raus aus dem Gefängnis, remember Dürrenmatt, und jetzt schließen wir Wärter uns endgültig ein und geben die Schlüssel ab, an irgendeinen Kuhglocken-Oligarchen, der uns das Blaue vom Himmel verspricht. Schluss damit, Leinen los und hart gegen den Wind, bevor es zu spät ist, wir segeln direkt in Van Goghs Lavendelhimmel. Auf Bob Segers Ship of Fools sind wir richtig. Hört dem letzten Weisen genau zu: Is there something else, I should know – something hidden down below? Ist das wirklich das letzte Wort? Irgendwas stimmt nicht an der ganzen Sache, irgendwas ist faul. Zu viele Medien wechseln derzeit ihre Besitzer, ihr wisst es so gut wie ich. Wir werden sehen, wir werden nicht ruhen, also hisst die Segel, das Narrenschiff wird zum Geisterschiff, wir legen ab.

Das war zum letzten Mal Into the night.

Ein Salut, hinaus ins Nachtland, von mir, von Rosa.

Wir waren anders.«

Er schiebt den Stuhl zurück und geht mit schnellen Schritten in die Regie hinüber.

»Diese Berater …«

»Die Wasmeier-Consulting.«

»Wer genau?«

»Gert Rost. Er rapportiert direkt an Bender – so wie …«

Obwohl Anders Wegener die Antwort erahnt hat, starrt er Rosa ungläubig an.

»An Bender verkaufst du uns?«

Er will vom Leder ziehen, verkneift sich dann aber jedes weitere Wort. Nicht mal die Flüche der Schwester helfen hier. Bevor er sich vergisst, hetzt er an Rosa vorbei aus dem Studio.

Peter Bender hätte ebenso gut und gratis in der Wasmeier-Villa drüben unterkommen können, doch als er das mittelalterliche Schloss auf dem Hügel entdeckt hat, ist er dem verhaltenen Glamour des Hotels verfallen. Leisten kann er es sich ohnehin.

Seinen Aufstieg hat er dem Alten zu verdanken. Seit Hannes Wasmeier im Koma liegt, nennt ihn Bender für sich manchmal so. Der Alte. Nicht respektlos, eher ein bisschen wie der Sohn, der sich noch etwas angestrengt vom Vater abgrenzt.

Ziehsohn und Wahlvater sind die treffenden Bezeichnungen.

Seit Hannes Wasmeier nicht mehr »operativ tätig« ist, so die offizielle Sprachregelung, führt Bender die Wasmeier-Consulting. Eines der Unternehmen, die vom einstigen Wasmeier-Konzern übriggeblieben sind. Das Media-Consulting, ein Fußballclub, drei mehr oder weniger wohltätige Stiftungen, ein Forschungsinstitut – die üblichen Spielzeuge steinalter Milliardäre. Bender ist eigentlich am Ziel seiner Träume angelangt, wäre da nicht der Junior. Robert Wasmeier, von Beruf Sohn. Eben erst hat er von Bender verlangt, er solle sich auf seine neue politische Rolle vorbereiten, das sei derzeit das größte Anliegen des Vaters.

Wie Robert Wasmeier die Botschaften seines komatösen Vaters entziffert, ist Gegenstand von Spekulationen.

Bender wehrt sich nicht gegen die Pläne, sie passen gut zu seinen eigenen. Kann ganz vergnüglich werden, statt Medienhäuser zu zerlegen mal etwas Neues zu machen. Beide Wasmeiers haben noch nicht verstanden, dass selbst sie der digitalen Revolution zum Opfer fallen werden. Bender hingegen ist am Puls der Zeit. Während die andern noch über die Wahl Trumps staunten, verlängerte er bereits seine Verträge mit führenden Big-Data-Analysten und Psychometrikern und spannte sie für sein großes Projekt ein. Für die Verwirklichung seiner Vision. Helvetia 2.0. Die Wahlkampagne ist nur der Beginn.

Er ist den Wasmeiers um Welten voraus.

Peter Bender tummelt sich schon lange genug im Korridor der Macht, er weiß alles darüber. Wie man die Macht ausdehnt, wie man sie ausübt, er kennt alle Schattierungen des Manipulierens, alle Spielchen, er wird sich in der Politik zurechtfinden. Eherne Prinzipien hat er nie gehabt, das wird helfen. Sein Aussehen ohnehin.

Bender sucht die Positionslichter der Wasmeier-Yacht, die wegen ihrer Größe weit draußen ankert. Er findet sie sofort, das oberste Deck mit dem Helikopterlandeplatz ist hell erleuchtet. Bender hat gehofft, die Yacht benutzen zu können, doch offenbar ist sie erst an diesem Abend angekommen. Und sie bedarf einer dringenden Überholung. Das Schiff ist wie meist in letzter Zeit gechartert gewesen, diesmal von einem russischen Oligarchen. Die simple Überfahrt von Beirut an die Côte hat diesen fünf Millionen Euro gekostet, die derzeitige Endreinigung eingeschlossen. Bender hat sich bei Emilio Treves informiert, dieser koordiniert im Hafenbüro alle Aktivitäten rund um die Yacht. Die Charterpreise hatte Bender vorher gar nicht gekannt, der junge Wasmeier hat das Dossier schon vor Monaten an sich gerissen. Vielleicht zieht die Yacht Bender deshalb so magisch an. Die Lady Dorothea II, benannt nach Wasmeiers früh verstorbener Ehefrau, ist eine der größten Privatyachten überhaupt. Hundertdreiundfünfzig Meter Luxus, die Fahrt darauf für jeden, der es nötig hat, ein Prestigegewinn. Die römische Zwei hinter dem Yachtnamen verrät, dass es bereits ein früheres Exemplar gab. Jenes Schiff ging zu Hannes Wasmeiers Entsetzen unter. Einige in seinem Umfeld glauben sogar, der Schock darüber habe ihm so sehr zugesetzt, dass die Krankheit danach ein leichtes Spiel hatte. Bis heute weiß offenbar keiner, ob ein Konstruktionsfehler oder das Fehlverhalten der Mannschaft zum Untergang führte. Der Sturm in der Ägäis war heftig gewesen, aber nicht wirklich gefährlich für ein Schiff von der Größe der Dorothea. Wenigstens hatte die Mannschaft sich rechtzeitig in die Rettungsboote flüchten können, und die Chartergäste waren noch nicht an Bord gewesen.

Bender starrt minutenlang hinaus.

Seine Augen verlieren den Fokus, die Lichter verschwimmen, das Wasser schlägt über seinem Kopf zusammen. Er taucht ab, in die Strömung des kühlen Flusses hinein. Noch einmal schwimmt er von der Halbinsel weg, lässt Hulk und Ruben zurück, aber er tut nur so, als würde er verschwinden, zu erregt ist er von dem, was er eben gesehen hat. Und inspiriert.

Er muss Hulk in Sicherheit wiegen.

Später zurück an Land, über die Halbinsel geschlichen, und dann …

Allmacht.

Nach der Schande jener eine Moment von Selbstbestimmung in Peter Benders Jugend.

Irgendwann findet Bender in die Realität zurück, sein Gesichtsausdruck kindlich und erregt zugleich.

Anders schwingt sich auf das Motorrad. Bei den ersten Versuchen hustet die Triumph nur. Anders betätigt den Anlasser wieder und wieder. Die Bonneville hat Macken. Passt zu ihm. Er wird das Motorrad kaufen. Der Händler ist ein treuer Hörer, er wird ihm einen guten Preis machen. Anders zwingt sich zur Konzentration, als er auf die Schnellstraße Richtung Innenstadt einbiegt. Bei der ersten Ausfahrt ändert er seine Pläne, zu Hause würde ihm das Dach auf den Kopf fallen.

Bender also.

In weiten Schleifen schwingt die Straße sich zum Hochschulcampus hinauf. Anders legt die Maschine in die Kurven, zügelt sich aber. Direkt nach der Sendung begann sein Handy zu vibrieren, eine der Nachrichten ist mit Sicherheit von Lis, die sich Sorgen macht. Für sie drosselt er nun das Tempo. In der Nähe der Hochschule stellt Anders die Maschine ab und lässt sich auf eine Bank fallen, die freie Sicht auf das Lichtermeer der Stadt bietet. Der Himmel ist schwarz geworden, heftige Windstöße kündigen an, dass die Schwüle sich in Gewittern entladen wird, Anders kann den Regen schon riechen. Er scrollt durch die eingegangenen Meldungen bis zu jener von Lis und antwortet ihr.

Nein, wusste von nichts

Die sind ja durchgeknallt, das geht doch nicht!!!!

Söldnerseelen

Was jetzt? Wo bist du?

Fahr noch ein wenig rum. Muss nachdenken

Keinen Blödsinn, Paps!

Paps nennt sie ihn nur, wenn sie sich Sorgen macht.

Ich geb acht.

Gut, dass er Lis hat.

Späte Einsichten, kennt man.

Er fischt Tabak, ein Piece und Papier hervor. Peter Bender. Eigentlich wartet er noch immer darauf, dass die große Wut ihn packt, doch Anders ist eher verwundert. Und: verunsichert! Einige Fragen stellt er sich gerade zum ersten Mal. Einen vergleichbaren Job wird es nicht so schnell geben, Ruhm hin oder her. Er wird bald vierzig, Old School in jeder Hinsicht, den Nachtpoeten nennen sie ihn, oder den Stehrapper, keiner dieser Teflon-Moderatoren, die derzeit hoch im Kurs stehen. Gut in dem, was sie tun, aber sie tun etwas anderes. Bei denen setzt die Begeisterung erst ein, wenn sie alle Aufträge des Senders erfüllt haben. Das journalistische Handwerk kennen sie nur noch vom Hörensagen. Animateure sind es, keine Goldgräber. Nicht ihre Schuld, das gehört offenbar zur Ausbildung – sie schrauben ihnen das heilige Feuer erst mal auf Sparflamme hinunter. Zu Gunsten der Flexibilität. Für ihn gibt es da keinen Platz, er macht sich nichts vor. Nicht im Radio, schon gar nicht im Fernsehen. Und für das Netz ist er zu spät geboren.

Anders Wegener lehnt sich zurück. Das nächste Liebespaar verschwindet im Unterholz hinter dem Aussichtspunkt. Kopuliert, solange man euch lässt, murmelt er. Der Joint erzielt schnell seine Wirkung. Er raucht nur noch nach Sendungen. Am Himmel schieben sich dichtere Wolken vor die letzten Sterne. Früher hätte er in dieser Situation wohl demonstrativ sein Büchlein verbrannt. Einst hat er seine musikalischen Entdeckungen in ein kleines Moleskin geschrieben, seit längerem schon tippt er neue Bands und neue Produzenten direkt ins Handy. Nichts geblieben zum Verbrennen. Wäre wenig symbolhaft, aus Protest die Files zu löschen.

Analog hat es sich dramatischer gelitten.

Jetzt gib acht, Droka!

Anders bleibt so lange sitzen, bis er wieder klar denken kann. Die Wasmeier-Consulting berät also auch die NTZ-Gruppe. Es ist ihm bewusst, dass seine Sendung nicht mehr in die Landschaft passt, aber die Absetzung ist angesichts seines Erfolges widersinnig. Vielleicht nimmt er es deshalb nicht mal persönlich. Doch er muss wissen, was wirklich dahintersteckt.

Die alte Geschichte?

Kann Bender sich noch weniger leisten als er.

Irgendwann schnippt Anders den Joint weg und geht zum Motorrad zurück. Das Aufsehen, das der Sound seiner Bonneville erregt, ist ihm unangenehm, und die längeren Blicke der einen Frau verraten ihm, dass sie ihn erkannt hat. Oder zumindest darüber rätselt, weshalb sie ihn kennt, das ist die häufigste Reaktion. Er stülpt schnell den Helm über seinen verräterischen Haarschopf und fährt los. Nach dem Rauchen fällt ihm die Konzentration aufs Fahren noch schwerer. Die Morgenschiene, verdammt – wie können sie nur auf so eine Idee kommen! Alles, was sein Talent ausmacht und ihn aus dem Mittelmaß hebt, ist dort nur hinderlich. Er lebt von der Mystik, zelebriert Fantasien, er schickt die Leute auf einen musikalischen Trip durchs Nachtland.

In der täglichen Hektik undenkbar.

Anders Droka als Pendlerbegleitung.

Schießt denn irgendwer Feuerwerk in einen Mittagshimmel?

Die Ampel auf der großen Kreuzung am Ende der Bergstraße ist ausgeschaltet, er passt sein Tempo an und biegt Richtung Innenstadt ab, im selben Moment geschieht es: Ein schwarzer Wagen schießt aus einer seitlichen Parklücke. Der Fahrer hat offenbar nicht aufgepasst und schaut erst jetzt zurück, nur aus dem Augenwinkel, seine Reaktion kommt spät. Anders bremst mit aller Kraft, das Hinterrad blockiert, verzweifelt reißt er den Lenker herum. Er spürt einen Schlag, etwas knirscht metallisch, das Motorrad schlingert, er bringt sein Bein eben noch am Kotflügel des Wagens vorbei, findet auf der Gegenfahrbahn wieder ins Gleichgewicht, keine Sekunde zu früh, laut hupend rast ein entgegenkommendes Auto vorbei. Anders schaut geschockt zum BMW hinüber. Das Gesicht des Fahrers bleibt im Dunkeln verborgen.

»Strunzdumme Amöbe, taubstummblinde!!«

Anders springt vom Motorrad. Er wird sich den Typen vorknöpfen, er wird ihn an der Krawatte aus seiner Luxuskarre zerren! Stattdessen sieht er, wie dieser erst ruhig wartet, ihm dann den Mittelfinger zeigt und mit quietschenden Reifen losfährt. Anders schleudert ein Bündel weiterer Flüche hinterher. Der Wagen verschwindet um die Kurve. Anders hat das Nummernschild entziffert. Er eilt zurück zu seiner Maschine, die Zahl stetig wiederholend. Der Anblick der Schramme an Auspuff und Federung macht ihn noch wütender. Er nimmt die Verfolgung auf. In der Ferne sieht er die Schlusslichter, er gibt Gas und schafft es noch bei Dunkelgelb über die nächste Kreuzung. Ein X6, natürlich, die übliche Protzkarre, Kompensation fehlender Größe anderswo.

Trotz wahnwitzigem Tempo geht das Motorrad geschmeidig jedes Beschleunigungsmanöver mit. Gutes Gerät! Anders hält Abstand, bleibt in Sichtweite. Der Wagen durchquert die gesichtslosen und anonymen Neubauquartiere des Zürcher Nordviertels. Plötzlich biegt er von der Straße ab. Anders folgt ihm und lässt die Bonneville ausrollen, weil das Auto in einer Tiefgarage verschwindet. Er hängt den Helm über den Rückspiegel und sprintet die Einfahrt hinunter. Der Mann hat offenbar eine Parklücke gleich bei den Lifts gefunden, die Fahrstuhltür gleitet eben hinter ihm zu. Anders rennt hinüber. Er wartet einen Moment, dann drückt er den Knopf. Die Digitalanzeige leuchtet auf, der Fahrstuhl kommt offensichtlich aus der sechsten Etage zurück. Anders merkt sich das Stockwerk, und noch in der Einfahrt tippt er die Nummer des Wagens ins Handy. Seine Anfrage wird vom Straßenverkehrsamt zurückgewiesen. Offenbar hat der Halter eine Auskunftssperre beantragt. Oder ein Geschäftswagen? Anders eilt über den Fußweg zum Hauseingang. Im Entrée findet er die Klingelknöpfe, ohne Plan fotografiert er die ganze Ansammlung von Namensschildern.

Dann angelt er den Tabak aus der Lederjacke und setzt sich mit halbem Hintern auf die Bonneville. Ein heftiger Windstoß bläst ihm das erste Blättchen aus den Fingern.

»Anthropophagen!«

Genervt zupft er ein neues heraus.

Jonna ist zu müde gewesen, sie hat Into the night ausnahmsweise nicht bis zum Schluss gehört, sie muss früh raus. Diesen Job will sie nicht gefährden.

Als sie die Türklingel hört, hat sie das Licht bereits gelöscht. Zweimal schrillt sie kurz auf. Sie horcht erschreckt und wartet. Die SMS! Nichts geschieht. Irritiert steht sie endlich auf und tastet sich durch die Dunkelheit zur Tür. Das tut sie in dieser Wohnung zum ersten Mal, fällt ihr im Stürzen ein. Sie rappelt sich mit schmerzendem Knie auf und stellt den Hocker wieder hin. Im Gucker ist niemand zu sehen. Auf keinen Fall wird sie die Tür öffnen. Mit dem anonymen Hochhaus hier ist sie nie richtig warm geworden. Wegen der Nähe zum Flughafen haben sich viele ausländische Geschäftsleute eingemietet, das Gebäude ist deshalb meist halbleer und vermittelt wenig Sicherheit. Jonna lauscht in den Korridor hinaus, sie meint das Geräusch der Fahrstuhltür zu hören. Um allfällige Einbrecher abzuschrecken, macht sie jetzt Licht. Nun sieht sie den zusammengefalteten, blassgelben Zettel zu ihren Füssen. Jemand hat sogar ein Stück der Schalldichtung entfernt, um das Papier unter der Tür durchzuschieben.

– www. safeserve.ch/1010

– Das Passwort ist nur für euch logisch

– Im Süden ist der Gärtner der Schriftsteller

– Trauen Sie Ihrem Freund nicht.

GR

Tatsächlich analog! Verdutzt liest sie die vier Zeilen, eine Minute später sitzt sie am Computer. Sie hämmert die Tastatur auf die Tischplatte, um den Wackelkontakt zu beheben, dann sieht sie das ausgezogene Verbindungskabel und steckt es wieder ein. Safeserve entpuppt sich als Hochsicherheitsserver, auf dem sich Speicherplatz mieten lässt. Der Link auf dem Zettel führt direkt auf ein Anmeldefenster, das Benutzername und Passwort verlangt. Doch sämtliche Kombinationen aller vorkommenden Wörter auf dem Zettel bleiben wirkungslos, originelle Varianten wie »logisch« und »Passwort« oder die Initialen GR eingeschlossen.

Das blassgelbe Notizpapier ist Jonna sofort bekannt vorgekommen. »For your eyes only« steht vorgedruckt darauf, was einer absurden Aufforderung zum näheren Hinsehen gleichkommt. Als sie das feingedruckte Motto darunter sieht, erinnert sie sich an ihr erstes und letztes Praktikum während des Studiums. Sealed lips, clean desk, garded doors, safe script, safe screen. Der Wahlspruch der Beratungsfirma McKinsey. Wichtigtuerisch, verschwörerisch, peinlich, amerikanisch. Arbeitet der Mann oder die Frau dort? Weshalb will er oder sie das offenlegen? Oder ist das Motto ein zusätzlicher Hinweis?

Sie ist Sängerin, sie hat nichts mit so etwas zu tun.

Wem ist nicht zu trauen? Danke tausendundzehn Mal, aber sie hat keinen Freund, weil.

Und was sollen bloß diese anderen Rätselsätze? Ein Gärtner im Süden? Der Gärtner ist der Mörder, normalerweise, nicht der Schriftsteller.

Auf dem Server muss etwas für sie gespeichert sein. Für sie und wen noch?

Das Passwort ist nur für euch logisch.

Zum Mitschreiben: Sie ist alleine!

Offensichtlich sind das die angekündigten Informationen des Unbekannten, der ihr das schon in der SMS geschrieben hatte. Sein Leben sei in Gefahr.

Himmel nochmal, weshalb sie?