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Astrid Fritz

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Beschreibung

Das Henkerswesen im 16. Jahrhundert: Bestsellerautorin Astrid Fritz wagt sich an ein faszinierendes Thema. Wer «Die Hexe von Freiburg» liebte, wird diesen Roman verschlingen! Eine Henkerstochter auf der Flucht vor ihrem Schicksal Rothenburg ob der Tauber, um 1540. Maria wächst als Henkerstochter in einer schäbigen Gasse heran. Dem Mädchen ist der Beruf des Vaters eine fremde Welt. Nur zu deutlich spürt sie, dass sie gemieden wird – gelten Henker und ihre Familien doch als «Unehrliche», mit denen man nicht in Berührung kommen soll. Als sie alt genug ist, nimmt ihr Vater sie zum ersten Mal zu einer Hinrichtung mit. Danach schwört sie sich, die Henkerswelt für immer hinter sich zu lassen, sobald sie erwachsen ist. Aber ihre Eltern haben andere Pläne: Sie soll den Sohn und baldigen Nachfolger des Freiburger Henkers heiraten. Bleibt ihr nur die Flucht?

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Astrid Fritz

Henkersmarie

Historischer Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Das Henkerswesen im 16. Jahrhundert: Bestsellerautorin Astrid Fritz wagt sich an ein faszinierendes Thema. Wer «Die Hexe von Freiburg» liebte, wird diesen Roman verschlingen!

 

Eine Henkerstochter auf der Flucht vor ihrem Schicksal

 

Rothenburg ob der Tauber, um 1540. Maria wächst als Henkerstochter in einer schäbigen Gasse heran. Dem Mädchen ist der Beruf des Vaters eine fremde Welt. Nur zu deutlich spürt sie, dass sie gemieden wird – gelten Henker und ihre Familien doch als «Unehrliche», mit denen man nicht in Berührung kommen soll.

Über Astrid Fritz

Inhaltsübersicht

Prolog1. Teil Kindheit1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel2. Teil Lehrjahre20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel3. Teil Zeit der Reife38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. KapitelNachwort der AutorinGlossar

Prolog

Zu Nürnberg, im Frühjahr anno Domini 1525

Die Morgensonne schob sich langsam durch die grauen Wolkenberge, bis die Stromschnellen der Pegnitz, die mitten durch die Reichsstadt floss, aufgleißten und das grelle Licht den Menschen in den Augen schmerzte.

Mit Mühe hielten die Wächter das zu dieser frühen Stunde zu Hunderten versammelte Volk von dem hölzernen Steg fern, der die Säumarktinsel mit der Laurenzer Seite verband. Dort auf den Holzbohlen nämlich stand sie mit gesenktem Kopf, die arme Sünderin – das Haar geschoren, der magere Leib in einen zerschlissenen Büßerkittel gehüllt. Selbstredend stand sie dort nicht allein. In gebührendem Abstand und hoch zu Ross warteten der Nürnberger Stadtschultheiß und seine beiden Schöffen darauf, dass das Urteil nun vollzogen würde. Ein alter Barfüßermönch, dicht bei ihr und mit sorgenvollem Gesicht, tat sein Bestes, geistlichen Trost zu spenden in dieser schweren Stunde, wohingegen der Henkersknecht, der sie bei den gebundenen Händen hielt, dafür zu sorgen hatte, dass sich die arme Seele nicht vorzeitig in die vom Hochwasser angeschwollenen Fluten stürzte. Sahen doch Urteil und Recht vor, dass die junge Kindsmörderin in den mit Steinen beschwerten Sack zu steigen hatte, der neben ihr bereitlag. Dazu lehnte eine mehrere Ellen lange Stange am Geländer, um die Delinquentin unter Wasser zu drücken. Das allerdings würde heute wohl nicht nötig sein, denn die starke Strömung der Pegnitz würde alles mit sich reißen.

Die Menge, die sich an den Ufermauern drängte, wurde allmählich unruhig. Die wichtigste Person zu dieser frühen Stunde fehlte noch: der Scharfrichter, den man eigens von weit her geholt hatte, da der eigene Meister krank darniederlag.

«Ist der gute Mann etwa wieder schlafen gegangen?», rief jemand. Und ein anderer: «Sollen wir uns hier die Füße platt stehen oder was?»

Immer mehr Menschen begannen lautstark zu murren. Der Schultheiß warf einen finsteren Blick in Richtung Henkersturm, der das nördliche Ende des Holzstegs überragte.

«Meister Hans, vollführe dein Werk!», befahl er laut und umfasste den Knauf seines Degens.

Der große, kräftige Mann, der jetzt aus dem Schatten des Turms trat, blinzelte gegen das grelle Licht. Er trug ein dunkles Gewand, an den Armen und Oberschenkeln scharlachrot ausgebauscht, darüber einen hüftlangen roten Mantel und eine Lederkappe auf dem dunklen Haar, das ihm bis zum Kinn reichte. Seine Rechte umfasste den Kelch mit dem Süßwein, den er der Todgeweihten als letzte Stärkung mit auf den Weg geben würde. Das Maulen erstarb, als er jetzt mit schwerem Schritt über die Planken ging, einige Frauen begannen das Vaterunser zu beten. Er spürte, wie alle Blicke an ihm klebten, an dem fremden, für viele hier wohl allzu jungen Nachrichter. Spürte, wie ihm trotz des kühlen Windes heiß wurde und die Kleidung über den breiten Schultern spannte.

Warum nur hatte er sich auf diesen Handel eingelassen? Allein die Reise hierher war weit und beschwerlich gewesen bei diesem feuchtkalten, stürmischen Märzenwetter, zudem tobten überall im Fränkischen die Bauernkriege, und er hatte sich mehr als einmal mit seinem Ross im Unterholz verstecken müssen. Ja, er konnte das Geld gut brauchen, gab es doch nicht nur zwei Gulden rheinisch für die Säckung, sondern obendrein etliche Heller als Wege-, Zehr- und Tagegeld. Doch die Aussicht auf guten Lohn war es nicht allein gewesen. Wie verdammt stolz hatte er sich gefühlt, dass sein Ruf trotz seiner jungen Jahre bis nach Nürnberg reichte!

Trotzdem hätte er ablehnen sollen. Hatte ihm der Nürnberger Bote nicht klipp und klar gesagt, dass er einen Kindsmord zu sühnen hätte? Es war das Schlimmste überhaupt, eine Frau vom Leben zum Tod zu richten, und dass die Delinquentin noch so jung sein könnte, hatte er auch nicht bedacht.

Das Mädchen hob den Kopf, als er jetzt auf wenige Schritte heran war, und blickte hinauf in den Himmel. Alles an ihr war schmal und zart: die Hände, die ihr vor den Leib gebunden waren, die nackten Füße und Fesselgelenke unter dem zerrissenen Saum, ihr weißer Hals, ihre fein geschnittenen Gesichtszüge. Nur ihre Lippen waren voll, wenn auch jetzt von krankhafter Blässe, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Äußerlich wirkte sie ruhig, doch er konnte von der Seite erkennen, dass ihr Tränen in den Augen standen.

Sie war so hilflos und wunderschön.

Mühsam bezwang er den Schwindel, der ihn erfasste, versuchte tief durchzuatmen und gab dem Knecht einen Wink, ihr die Augen zu verbinden. Als Scharfrichter hatte man sich vor dem bösen Blick der Sünder zu schützen, der einen zu verwünschen drohte angesichts des bevorstehenden Todes. Doch zu seinem großen Schrecken war der Henkersknecht nicht schnell genug: Das Mädchen wandte sich ihm zu und sah ihm geradewegs in die Augen. Und es lag kein Fluch darin. Nur Trauer und Verzweiflung.

Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, als er daran dachte, dass er dieses Geschöpf zu Tode bringen sollte. Sie hatte tiefblaue Augen, so viel hatte er gesehen, bevor ihr endlich die Binde umgelegt war, und er malte sich aus, wie sie an einem Sommertag mit ihren Freundinnen über den Jahrmarkt zog, mit blondem Lockenhaar statt des geschorenen Schädels, ein Lachen auf dem roten Mund. Und doch musste er seines Amtes walten, seiner Aufgabe nachkommen, den Urteilsspruch des hohen Gerichts erfüllen.

Als er ihr jetzt den Kelch mit dem Armsünderwein an die Lippen führte, wusste er, was er tun würde: In einem unbeobachteten Moment würde er sie erdrosseln, bevor er sie von der Brücke stieß.

Aber anstatt zu trinken, wandte das Mädchen das Gesicht ab und begann zu singen: «Was mein Gott will, das gescheh’ allzeit …»

Ihre helle Stimme schnitt ihm geradewegs ins Herz. Und nicht nur ihm – einige Frauen, die dem Holzsteg am nächsten standen, ja einige Männer sogar begannen zu weinen. Er stellte den Kelch zu Boden und warf einen verstörten Blick auf den Schultheiß. Der wedelte ungeduldig mit der Hand.

«Fahre fort, Meister Hans!»

Der Scharfrichter nahm sie bei der Schulter – wie mager sie war, er spürte jeden Knochen unter dem dünnen Kittel – und führte sie behutsam auf den bereitliegenden Sack, der mit drei Schottersteinen befüllt war. Dann bückte er sich, um ihre Fußgelenke zu fesseln und konnte dabei das Zittern seiner Hände kaum verbergen. Als Letztes blieb nur noch, den Sack nach oben zu ziehen und über ihrem Kopf mit einem festen Knoten zu verschließen.

Doch zuvor musste er sie, wie es nach altem Brauch und Herkommen üblich war, um Vergebung für seine Tat bitten.

«Gevatterin, verzeiht mir, dass ich dies tun muss», sagte er mit rauer Stimme. «Es tut mir von Herzen leid.»

Ihre Antwort kam klar und deutlich: «Tut Ihr nur, was Euch befohlen ist.»

Damit stand der Ausführung seines Amtes nichts mehr entgegen. Die Zeit schien stillzustehen, als er das Sackleinen in die Höhe zog und sorgfältig verknotete. Sie wehrte sich nicht, doch er glaubte ein unterdrücktes Schluchzen zu hören.

Der Knecht hatte derweil das Brückengeländer geöffnet, er selbst würde die arme Sünderin sogleich in die Tiefe stoßen. In seinem Kopf arbeitete es: Stellte er sich dicht hinter sie, würde sein breiter Oberkörper ihre kleine, schmächtige Gestalt vor den Blicken der Richter verbergen, wenn er nach ihrem Hals griff. Seine großen Hände hatten genug Kraft, um ihr binnen kurzem die Luft zu nehmen.

«Hab keine Angst», flüsterte er ihr zu. «Du wirst nicht leiden müssen.»

Sie standen beide dicht am Rand, unter ihnen schoss das dunkle Wasser der Pegnitz mit großer Geschwindigkeit davon. Seine Hände umfassten die Stelle des Sacks, unter der sich ihr gesenkter Kopf befand, tasteten sich weiter nach unten, kamen auf ihren kantigen Schlüsselbeinen zum Liegen. Unter den Fingerspitzen konnte er spüren, wie ihr Atem schneller ging. Jetzt musste er zudrücken, er hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er nicht den Ärger der Menge und des Schultheißen auf sich ziehen wollte.

Plötzlich ließ er die Hände sinken. Nein, er vermochte es nicht. Stattdessen umfasste er das Mädchen und hielt es fest an sich gedrückt. Gerade so, als wolle er sie nicht verlieren. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge.

Mit einem gequälten Gesichtsausdruck drehte er den Kopf. «Ehrenwerter Stadtschultheiß, ehrsame und wohlweise Herren Richter – ich flehe Euch an! Erlaubt mir, nach altem Recht und Brauch, diese arme Sünderin an meiner Seite loszuheiraten.»

Mit einem Schlag herrschte Stille rund um den Henkerssteg. Der Mönch, der Knecht, die hohen Herren – alle starrten sie ihn mit offenem Mund an. So etwas kam nicht alle Tage vor.

«Lasst Gnade vor Recht ergehen, Ihr lieben Herrn», seine Stimme festigte sich, «und gebt sie mir zum Weib. Unter Verzicht meines Lohnes.»

Er verstand nicht, was die Herren miteinander beredeten, noch, was die aufgebrachten Zuschauer ihm zuriefen, so heftig rauschte es ihm in den Ohren. Dass die junge Frau in seinem Arm unter dem Sackleinen am ganzen Leib zu zittern begann, spürte er indessen deutlich.

«Ich flehe Euch an!», wiederholte er ein letztes Mal. Da kam der Schultheiß endlich herangeritten.

«Nach altem Herkommen steht dir die Gnadenbitte fürwahr zu – doch was, wenn die Sünderin lieber den Tod erleiden will als an der Seite eines Henkers leben? – Binde den Sack los!»

Wachsbleich stand das Mädchen vor ihnen, als der aufgebundene Sack zu Boden glitt.

«Wie heißt du?», fragte der Scharfrichter leise.

«Margareta.»

«Willst du ins Leben zurück und mein Weib werden, Margareta?»

Sie betrachtete ihn lange, viel zu lange, ohne sich zu rühren, bis nach einer ganzen Ewigkeit ihr Ja zur Antwort kam. Sein Herz tat einen Sprung.

«So schwöre denn, Margareta Weberin», ergriff der Schultheiß das Wort, «vor diesen Zeugen hier und bei Gott, dem Allmächtigen, auf immer bei Meister Hans, dem Scharfrichter, zu bleiben. Schwöre es mit Hand und Mund.»

Sie hob die Finger. «Ich schwöre es bei Gott, dem Allmächtigen.»

Der Schultheiß nickte dem Scharfrichter zu. «Deiner Gnadenbitte sei hiermit entsprochen, Meister Hans.» Dann hob er laut zu reden an, damit auch das Volk ihn hörte. «Amor vincit omnia! So mag denn also die stärkende Kraft der Ehe und der Liebe diese junge Frau zurück in ein ehrbares Leben führen. Der Herr sei euch beiden gnädig.»

«Der Herr sei euch gnädig», wiederholte der Barfüßermönch und segnete sie durch Handauflegung.

An den Ufermauern entstand Unruhe. «Das soll’s gewesen sein? Die Kindsmörderin gehört ertränkt!», schrie ein Bursche empört. «Halt’s Maul!», unterbrach ihn dessen Nachbar, und ein dickes Weib rief: «Das junge Ding soll leben!»

Auf diese Worte hin begann jemand Beifall zu klatschen, andere fielen ein, und plötzlich bejubelte die große Mehrzahl der Zuschauer die unerwartete Wendung des Schauspiels.

Wieder nickte der Schultheiß, sichtlich befriedigt über die Zustimmung seiner Bürger.

«So lasst uns zur Ratsstube ziehen. Auf dass ihr beide in die Feder des Schreibers Urfehde schwört und gelobt, unsere Reichsstadt Nürnberg auf ewig zu meiden.»

Doch bevor sie losmarschieren konnten, begann Margareta zu schwanken und sank ohnmächtig nieder, aufgefangen von den Armen des Scharfrichters.

1. Teil Kindheit

1

Zu Rothenburg, im Frühsommer anno Domini 1533

Aus allen Gassen eilten die Menschen in Richtung Markt, von wo deutlich die Trommelwirbel des städtischen Spielmanns zu vernehmen waren. Das kleine Mädchen mit den flachsblonden Zöpfen blieb stehen und lauschte. Es klang aufregend und bedrohlich zugleich.

Die Frau in dem schlichten dunkelgrünen Gewand und dem schlafenden Kleinkind an der Schulter packte es mit entschlossenem Griff beim Arm.

«Jetzt komm endlich, Maria! Wir wollen nach Hause.»

Der Griff tat ihr weh, doch Maria unterdrückte einen Schmerzenslaut und fügte sich. Warum nur konnte ihre Mutter manchmal so zornig werden?

Gegen den Menschenstrom eilten sie an der prächtigen Pfarrkirche Sankt Jakob vorbei zum Klingenviertel, wobei manch einer sie verwundert anglotzte, manch einer ihnen mit verächtlichem Blick auswich. Maria vermochte mit ihrer Mutter kaum Schritt zu halten, so eilig hatte die es, nach Hause zu kommen.

An der Ecke zur Judengasse stießen sie auf drei Knaben, allesamt barfuß und in schmutzigen Hemden. Einer davon war ihr älterer Bruder Veit, ein bulliger kleiner Kerl, der schon sieben Jahre zählte und beim Raufen auf der Gasse stets die Oberhand gewann.

Die Mutter stellte sich ihm in den Weg. «Veit! Wo willst du hin?»

«Auf den Markt, zum Pranger.»

«Du bleibst hier und gehst mit uns nach Hause. Das ist nichts für Kinder.»

«Vater hat es erlaubt.» Veit schob trotzig die Unterlippe vor, während seine beiden Kumpane grinsten.

«Hat er das?» Der Blick der Mutter wurde misstrauisch. «Nun gut, dann geh. Aber Schlag Mittag bist du zurück.»

Das ließ sich Veit nicht zweimal sagen. Er drehte seiner kleinen Schwester eine lange Nase und trabte mit den Freunden davon.

Maria war mit ihren gerade mal fünf Jahren alt genug, um zu wissen, dass Knaben weitaus mehr erlaubt war als Mädchen. Manchmal war ihr das gleichgültig, manchmal machte es sie traurig.

«Will auch zum Pranger», versuchte sie ein letztes Mal, ihre Mutter zu erweichen. Sie hatte diese seltsame Steinsäule mit den eisernen Ringen daran, die an der Südseite des Rathauses auf einem Podest thronte, schon oft genug betrachtet. Doch konnte sie sich keinen Reim darauf machen, was dort so aufregend sein sollte, dass zu mancher Stunde alle Welt hinstürmte und sogar die Trommler aufspielten. Jedes Mal, wenn sie ihre Eltern danach gefragt hatte, hatte es geheißen, das sei nichts für kleine Mädchen wie sie. Selbst ihr älterer Bruder, der offenbar Bescheid wusste, hatte auf ihre bohrenden Fragen immer nur frech gegrinst und den Kopf geschüttelt: «Wenn du mal größer bist.»

«Ach, Mariechen.» Die Stimme ihrer Mutter wurde sanft. «Du kannst mir nachher helfen, Jonathan zu wickeln, und dann darfst du vor dem Haus spielen. Bekommst auch ein Stückchen Honigkuchen von mir.»

Wenigstens das, dachte sich Maria und tippelte neben der Mutter her.

Schon hinter der Jakobskirche waren die Häuser niedriger und schäbiger geworden, dafür gab es viel Grün in den Höfen und den kleinen Gärten ringsum. Auf dem staubigen Freudengässlein trieben sich Hunde und Schweine herum – auch wenn dies verboten war –, von jenseits der Lattenzäune hörte man Hühner gackern.

Bald darauf, schon nahe der nördlichen Stadtmauer, erreichten sie ihr Häuschen. Ein wenig schief stand es da, mit seinem durchhängenden, grauen Schindeldach und dem knorrigen Fachwerkgebälk, doch immerhin war es größer als die anderen Häuser im Viertel. Und es stand ganz für sich allein auf der Ecke zum Fuchsengässlein, als wollten die Nachbarhäuser, die sich hier sonst eng aneinanderdrängten, nichts mit ihm zu tun haben. Zum Fuchsengässlein hin war traufseitig ein Schuppen angebaut, in dem sie Pferd, Karre und ihre Hühner untergebracht hatten und durch den man in Hof und Gemüsegarten gelangte. Dem Schuppen gegenüber, hinter einer bis auf Kniehöhe abgetragenen Mauer, breitete sich eine Brache aus mit viel Gestrüpp und einem Baum, den der Blitz von oben bis unten gespalten hatte. Dort hinein hatte der Vater in diesem Frühjahr auf halber Höhe ein Baumhaus gebaut, in dem Veit und seine Freunde sich trafen und immer fürchterlich wichtig taten. Maria und die anderen Mädchen durften dann nicht mal in die Nähe kommen, wenn sie es nicht auf einen Streit ankommen lassen wollten.

Die Mutter, noch immer den schlafenden Jonathan auf dem Arm, schloss die Haustür auf und schob Maria hinein, als hätte sie nach wie vor Angst, dass sich ihre Tochter zum Markt davonmachen könne. In der Eingangshalle stand noch die Kühle der Nacht, und es roch wie immer nach frischen Tierhäuten, nach Blut und ausgelassenem Hunde- und Rossschmalz. Maria kannte es nicht anders, als dass dieser Geruch, der aus der Abhäutekammer links der Eingangstür drang, durch das ganze Haus zog, doch ihre Mutter schien unter dem elenden Gestank, wie sie es nannte, zu leiden.

«Mach das Fenster zum Garten auf», sagte sie, bevor sie mit Jonathan auf der Holzstiege nach oben verschwand. Maria holte den Schemel, der in der Ecke bei Vaters Gerätschaften stand, zog ihn unter das Fenster und kletterte hinauf. Sie war jedes Mal stolz darauf, wenn sie ihrer Mutter eine Hilfe sein konnte, auch wenn es jetzt seine Zeit brauchte, bis sie den Riegel aufbekam. Dann stieß sie den Laden nach außen auf, und die warme Frühsommerluft strömte herein. Sie duftete herrlich nach den Kräutern und Blüten des Gartens.

Von oben hörte sie die Tritte der Mutter auf dem Dielenboden und dachte daran, dass sie ihr beim Wickeln des kleinen Jonathan helfen sollte. Auch das tat sie mit Freude, schließlich liebte sie ihren jüngeren Bruder über alles.

Gewissenhaft stellte sie den Schemel wieder an Ort und Stelle zurück – ihr Vater konnte es ganz und gar nicht leiden, wenn sein kleines Reich hier unten in Unordnung geriet – und eilte die Stiege hinauf in die Küche. Dort lag Jonathan rücklings auf seiner Decke am Boden. Er schlief nicht mehr, sein jämmerlich verzogenes Gesichtchen deutete darauf hin, dass er gleich zu weinen beginnen würde, wie stets, wenn er gerade aufgewacht war. Rasch kauerte sich Maria neben ihn und kitzelte ihn am Bauch.

«Ma-ja», gluckste er, als er seine Schwester erkannte, und begann zu lachen.

«Du kannst ihm schon mal die Windel abnehmen», sagte die Mutter, während sie Wasser in eine Schüssel goss.

Maria rümpfte die Nase, als sie Jonathan Kittel und Hemdchen hochschob und den vollgemachten Leinenwickel löste. Das hier stank wirklich gotterbärmlich!

Die Mutter musste lächeln, als sie ihren angewiderten Gesichtsausdruck sah. «Lass gut sein, das Waschen übernehme ich. Kannst dir schon mal das Stücklein Honigkuchen nehmen. Es liegt auf dem Tisch.»

Maria schnappte sich das Kuchenstück, das nicht viel größer als ihr Handteller war, und begann genüsslich daran zu knabbern. In klitzekleinen Krümchen biss sie von der honigsüßen Leckerei ab, damit sie möglichst lange etwas davon hatte. Viel zu selten gab es nämlich solche Süßigkeiten, als dass sie es, wie ihr Bruder Veit es immer tat, in einem Stück verschlungen hätte.

Trotz allem währte das Vergnügen nur kurz, und nachdem sie der Mutter geholfen hatte, Jonathan eine frische Windel anzulegen, durfte sie nach draußen zum Spielen.

«Aber bleib in der Nähe, damit du mein Rufen hörst. Und geh mit niemandem mit, verstanden?»

Maria nickte. Ihre Mutter machte sich immer solche Sorgen um sie und die Geschwister, hatte ständig Angst, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Schrecklich.

Sie beeilte sich, auf die Gasse zu kommen. Inzwischen war es noch wärmer geworden. Der Tag versprach richtig sommerlich zu werden, mit seinem blitzblauen Himmel und dem angenehm leichten Wind. Zu ihrer Enttäuschung war von den anderen Kindern keines zu sehen.

Auch wenn sie hierzu ihre Mutter um Erlaubnis hätte fragen müssen, schlich sie hinüber zur Brache und kletterte die fünf Sprossen zum Baumhaus hinauf. Doch auch dort hatte sich niemand versteckt. Vielleicht waren ihre Freundinnen Anna und Lisbeth ja auf der großen Wiese bei der Klingenschütt?

Sie kletterte wieder herab und rannte entlang der Mauer des Fuchsengässleins, das ungewohnt menschenleer in der Sonne lag, das kurze Stück bis zur Stadtweide hinauf. Dort schob sie mit all ihrer Kraft die schwere hölzerne Pforte auf. Von den frisch geschorenen Schafen abgesehen, die die Köpfe ins hohe Gras versenkt hatten, war niemand zu sehen. Missmutig ließ sie sich in das weiche Grün sinken. Was für ein langweiliger Vormittag.

Nachdem sie eine Handvoll Gänseblümchen gepflückt und sich daraus einen Haarkranz geflochten hatte, wusste sie nichts mehr mit sich anzufangen. Sie klaubte ein paar Steinchen von der Erde und warf sie nach den Schafen, die sich davon kein bisschen aus der Ruhe bringen ließen. Ob sie bei Lisbeth oder Anna vorbeigehen sollte? Schließlich hielt Veit sich auch nicht immer an Mutters Verbote.

Veit! Der hatte es gut. Der war jetzt bei den Trommlern am Rathaus und konnte zuschauen, was dort geschah. Einen leisen Verdacht hatte Maria nämlich längst, wofür dieser Pranger gut war. Nicht etwa, wie sie früher geglaubt hatte, um Tiere daran festzubinden, denn dann hätten die ja die schmalen Stufen hinaufsteigen müssen. Vielmehr um böse Menschen anzuketten. Unholde oder Schadenszauberinnen oder auch den Bäckergesellen, wenn er wieder mal die Weißwecken zu klein gebacken hatte. Dann durfte jeder, der vorbeikam, sie mit fauligem Obst bewerfen. Jedenfalls stellte sie sich solcherlei Dinge vor.

Sie sprang auf und beschloss, nach Hause zu gehen, um mit Jonathan zu spielen. Das war allemal lustiger, als hier allein mit den blöden Schafen auf der Wiese herumzusitzen.

 

Zu Mittag kehrte der Vater heim, im Schlepptau einen mehr als zerknirschten Veit. Ihr Vater war eigentlich ein gutmütiger, ausgeglichener Mensch. Heute indessen war seine Miene finster wie die Nacht, sein Bart und die dichten Brauen über den zusammengekniffenen Augen wirkten noch dunkler als sonst.

«Hast du dem Jungen erlaubt, beim Ausstäupen dabei zu sein?», fragte er die Mutter, die zusammen mit Maria in der Küche das frisch geerntete Gemüse putzte.

«Aber nein! Mir hat er gesagt, du hättest es erlaubt.»

Der Vater holte aus und verpasste Veit zwei kräftige Maulschellen. Maria zuckte unwillkürlich zusammen – ihr Vater, ein großer Mann, hatte Hände wie Bärenpranken, und sie konnte sich vorstellen, wie weh es tat, von ihm ins Gesicht geschlagen zu werden. Ihr selbst war das zum Glück noch nie geschehen, sie hatte höchstens mal einen Klaps von ihrer Mutter geerntet.

Prompt fing Veit zu heulen an. Seine Wangen hatten sich flammend rot gefärbt.

«Maria, geh nach nebenan. Ich hab mit deinem Bruder zu reden.»

Widerstrebend ging sie hinüber in die kleine Wohnstube, wo Jonathan auf dem Strohsack von Joß, dem alten Knecht, seinen Mittagsschlaf hielt. Von unten hörte sie den Knecht, der wie immer zusammen mit dem Vater heimgekehrt war, in der Abhäutekammer hantieren.

«Lass das Geheule und hör mir zu», drang von nebenan die Stimme des Vaters herüber. Sie presste ihr Ohr fest gegen die Tür zur Küche.

«Die Schläge sind nicht dafür, dass du dich zum Pranger geschlichen hast. Schließlich kommst du in das Alter, wo du wissen sollst, wie das Leben spielt. Und da gehören die öffentlichen Leibesstrafen nun mal dazu. Nein, die Maulschellen hast du gekriegt, weil du deine Mutter angelogen hast. Und für den Rest des Tages bleibst du im Haus.»

Also hatte sie doch recht gehabt mit ihrer Ahnung! Sie schwor sich, so bald als möglich selbst herauszufinden, was da am Pranger wirklich geschah.

2

Zu Rothenburg, im Hochsommer anno Domini 1533

Hoch über dem engen Talgrund der Tauber, über Rebgärten und Felsengestein, thronte die fränkische Reichsstadt Rothenburg mit ihrem mächtigen Befestigungsring. Fünf Tore führten in die Stadt, begrüßten den Reisenden stolz mit Reichsadlerschild und Stadtwappen, wenn man über die Zugbrücke und das Vorwerk eingelassen wurde. Wer von der alten Handelsstraße zwischen Frankfurt und Prag herkam, musste steil hinauf: Ein Vorspann war nötig, und hierfür warteten diensteifrige Fuhrleute mit ihren Zugtieren. Und wer zu spät kam und den nächtlichen Torglockenschlag verpasste, der musste mit seinem Fuhrwerk draußen bleiben.

So schützte die Stadt, die nur Kaiser und Reich als Obrigkeit anerkannte, ihre Bürger und hatte sich über Jahrhunderte ihren Wohlstand bewahrt. Denn wenngleich sie nicht allzu groß war und weder bedeutende Jahrmärkte noch Fernhandel aufweisen konnte, so besaß sie doch ein weitläufiges, überaus fruchtbares Hinterland, Landwehr genannt, mit reichen Gütern und einträglichen Rechten, und auch das war mit Türmen, Gräben und Wällen geschützt.

Im Innern der Stadt trugen fleißige Handwerker und Ackerbürger zum Wohlstand bei und zur Sicherheit der Stadt, indem sie die Bürgerwache stellten, die tags wie nachts auf den Türmen, Wehrgängen und Gassen postiert war. Im Gegensatz zu anderen Städten war den Meistern allerdings die Teilnahme am Stadtrat verwehrt, noch durften sie sich in Zünften sammeln. Die Geschicke der Stadt bestimmten nämlich andere: die vornehmen Rothenburger Geschlechter aus einstmals königlichen Dienstleuten oder Edelmannen des Umlands. Sie besaßen prächtige Steinhäuser in der Herrngasse und rund um den Markt, mit großem Grund und stattlichen Rückgebäuden. Dabei lebten sie nicht von ihrer Hände Arbeit, sondern von Grundrenten und Gülten aus ihrem Besitz im Bauernumland.

Die Mehrzahl der Rothenburger indessen wohnte in spitzgiebeligen Häuschen mit niedrigen Räumen, man hatte ein wenig Vieh im Hof und ein Feldstück vor der Stadt. Je weiter man sich vom Markt entfernte, desto einfacher wurden die Häuser in den krummen, buckligen und oft sehr engen Gassen, die bergauf, bergab führten. Die Armen und die Taglöhner hausten als Schlafgänger gegen tägliche Bezahlung zur Miete, mitunter in jämmerlichen, fensterlosen Unterkünften und Kellerlöchern oder in windschiefen Buden an der Stadtmauer.

Eine recht bescheidene Wohngegend war auch das Klingenviertel zwischen Judengasse und nördlicher Stadtmauer, zwischen Strafturm und dem seit ihrer Vertreibung aufgegebenen Friedhof der Juden. Hier verdiente man sein täglich Brot mit einfachen Handwerken wie Bürstenbinden oder Flickschustern, mit Leimsieden oder Kesselflicken; dazu gab es etliche Taglöhner, die heute als Gassenkehrer und Karrenschieber, morgen als Holzträger oder Mörtelknecht arbeiteten.

Maria war hier geboren und aufgewachsen und kannte in der Gegend jeden Stein, jeden Baum, jeden Strauch. Als ärmlich empfand sie ihr Dasein keineswegs – zum einen, weil sie nichts anderes gewohnt war, zum andern gab es im Klingenviertel Horden von Kindern, wobei ihr Anna, die Tochter des Totengräbers, und Lisbeth, die Tochter des Flecksieders, die liebsten waren. Man konnte herrlich auf der Gasse Fangen oder Blindekuh spielen, ohne dass man sich vor schweren Fuhrwerken oder Reitern in Acht nehmen musste, die rücksichtslos übers Pflaster sprengten, wie drüben am Markt oder bei den Stadttoren. Es war ein eher beschauliches Leben in ihrem Viertel.

Nur selten kam Maria heraus aus dieser kleinen Welt. Etwa, wenn sie auf ihrem Acker draußen vor dem Tor den jüngeren Bruder hütete, während die Mutter der Feldarbeit nachging, oder wenn sie die Mutter zum Einkauf auf den Markt begleitete. Einmal hatte sie dabei vor dem Fleischhaus zwei vornehme Bürgersfrauen seltsame Dinge reden hören. An jenem Tag im Frühsommer war das gewesen, als Veit sich seine Maulschellen gefangen hatte.

«Ist das nicht die Schindersfrau mit ihren Bälgern?» – Die Ältere hatte genickt. «Für das ganze Gesindel im Klingenviertel sollte man wieder die alte Mauer aufbauen. So wie früher, als es noch Vorstadt war.»

Verunsichert hatte Maria die Mutter gefragt, wer mit Gesindel gemeint war, hatte aber nur zur Antwort bekommen, dass sie sich nicht um das Geschwätz der Leute scheren solle. Nur allzu deutlich hatte sie das Verächtliche in den Worten und Blicken der beiden Bürgerinnen wahrgenommen. Sie hatte weiter hierüber nachdenken wollen, doch dann war der Stadttrommler gekommen, und die Mutter hatte sie eiligst heimgezerrt.

Dabei war ihr Vater doch ein vielgefragter und vielbeschäftigter Mann! Etliche Pflichten und Aufgaben hatte er zu erfüllen: Er führte Aufsicht über die Spielhäuser der Stadt und die freien Frauen in den Gassen ringsum, weshalb er auch Hurenweibel genannt wurde – worunter sich Maria nun rein gar nichts vorstellen konnte –, verbrannte hin und wieder auf dem Marktplatz ungehörige Schriften und Bücher, trieb Aussätzige hinaus vor die Tore, damit sich niemand mit schlimmen Krankheiten ansteckte, musste das männliche Vieh verschneiden, damit es nicht wild und böse wurde, und wurde überhaupt gern gerufen, wenn wieder einmal ein Pferd lahmte oder eine Kuh die Milch verweigerte. Als Ratgeber beim Pferdekauf wurde er sogar in die vornehmsten Häuser geladen.

Nur eines war nicht schön: Zusammen mit Joß, dem schweigsamen alten Knecht mit dem kantigen Gesicht, musste er hin und wieder des Nachts die Abortgruben der Bürger ausheben, die stinkende Kloake in Fässer füllen und mit ihrer schwarzen Pferdekarre vor die Stadt bringen. Wenn Maria erfuhr, dass es wieder einmal so weit war, bangte sie sehr um ihn und vermochte erst einzuschlafen, wenn er gegen Mitternacht zurück war. Mehr als einmal hatte er nämlich geflucht, er würde eines schönen Tages noch an den fauligen Dämpfen ersticken oder in der Kloakenbrühe ersaufen. Weit weniger gefährlich schien es ihr da schon, wenn er die Kerker im Keller des Rathauses und in den Stadttürmen reinigen musste. An anderen Tagen wiederum verjagte er ortsfremde Bettler, die kein Abzeichen trugen, und wies den einheimischen ehrbaren Armen ihr Almosen zu. Obendrein verkaufte er kleine Blechmarken an Hundebesitzer, damit jeder sehen konnte, dass die Hunde ein Zuhause hatten, wohingegen er Streunende Hunde zur Nachtstunde auflas und töten musste. Letzteres fand Maria grausam, denn sie liebte Hunde und Katzen – je kleiner, umso mehr, und sie verstand nicht, wie ihr Vater so etwas tun konnte. Vage erinnerte sie sich noch daran, dass er ihr im letzten Winter ein paar Handschuhe geschenkt hatte, innen aus weichem Leder, außen aus schwarzgrau geflecktem Fell. «Von meiner letzten Hundebeute», hatte er der Mutter gesagt, woraufhin Maria die Handschuhe von sich geschleudert und lauthals zu weinen begonnen hatte.

Vaters wichtigste Aufgabe aber war die des Wasenmeisters. Wenn irgendwo in der Stadt oder in der näheren Umgebung ein krankes Tier verendete, holte man ihn mit seiner Karre. War der Kadaver mit Hilfe einer Winde aufgeladen, erhielt er vom Besitzer seinen Lohn. Es war nicht viel, wie Vater immer betonte, aber dennoch verheimlichten viele den Tod eines Tieres, nur um es nächtens selbst zu verscharren – was verboten war und Schimpf und Schande nach sich zog. Erfuhr ihr Vater hiervon, durfte er zur Bloßstellung des Frevlers sein Schindermesser in dessen Türpfosten stecken, bis dieser sich seine Ehre gegen eine gehörige Summe Silbers zurückgekauft hatte.

«Gefallenes Vieh muss nun mal draußen vor der Stadt vergraben werden», hatte er ihr und Veit erklärt, «sonst lockt das Wölfe, Füchse und Ratten an. Vor allem aber: Verfault das kranke Fleisch, entströmen giftige Miasmen, und eine Pestilenz kann ausbrechen. Deshalb ist das Amt des Wasenmeisters sehr wichtig, genau wie das Leeren der Abortgruben. So sorgen wir für Sauberkeit in der Stadt, auch wenn die Leute die Nase rümpfen über unser Tun und uns Schelm und Racker schimpfen.»

Das mit der Sauberkeit leuchtete Maria ein, wo die Mutter sie und Veit doch unermüdlich darauf hinwies, wie wichtig es war, sich Hände und Gesicht zu waschen. Neben dem Hauseingang stand hierfür eine Waschschüssel unter dem Wasserfass, in der der Vater sich andauernd die Hände schrubbte. Auch in Küche und Wohnstube musste alles sauber und ordentlich sein, und Kräuterbündel wie Blütensäckchen kämpften mit ihrem Duft gegen den Gestank aus der Eingangshalle an. Manchmal bestreute die Mutter sogar die Böden mit Thymian, Kalmus und Kamille.

War das Entgelt für das Abholen der Kadaver auch gering, so lohnte sich für den Vater das Amt des Wasenmeisters dennoch, denn er hatte, genau wie bei den erschlagenen Hunden, das Recht an Fell und Fett. Kaum war das ausgeblutete Tier ins Haus geschafft, wurde es in der Abhäutekammer auf den langen, glattgeschliffenen Holztisch gelegt, wo Vater und Joß sogleich mit der Arbeit begannen. Hatten sie mit ihren Schindermessern die blutigen Häute abgezogen, wurden diese in einer Wanne gewaschen. Bei Kadavern, die größer als eine Katze waren, lohnte es sich, Schmalz und Talg auszulassen, hinten im Hof, in einem riesigen Kessel auf der gemauerten Feuerstelle. Da begannen dann jedes Mal die Nachbarn über den Gestank zu fluchen.

Ihre Mutter übernahm es, die Knochen, Knorpel und Sehnen beim Leimsieder, das Fett bei den Seifensiedern und Lichterziehern abzuliefern. Gutes Geld brachte auch der Verkauf von Klauen, Horn und Rosshaar. Am meisten aber verdiente der Vater mit den rohen Häuten für die Gerber und Riemer. Was dann noch übrig war von den Kadavern, Reste an Fleisch und Innereien, karrte er in Begleitung von Veit zum Schindanger im Osten der Stadt, wo sie alles verbrannten und verscharrten. Auch wenn manchmal arme Leute bei ihnen anklopften und um das schlechte Fleisch baten, blieb Vater hart: Das sei nun einmal von der Obrigkeit verboten, und er wolle sich nichts zuschulden kommen lassen.

Das alles war Maria vertraut, seit sie denken konnte. Und war die Haut von den Tieren erst einmal abgezogen, fand sie auch nichts dabei, Joß und dem Vater bei ihrem Tagwerk zuzuschauen. Zu manchen Zeiten allerdings häuften sich die Kadaver von Hunden, Kälbern oder gar Pferden, und der Vater musste sie wohl oder übel im Hof lagern, unter dicken Decken. Dennoch wurden jedes Mal Schwärme von Fliegen und Rabenvögeln angelockt, und in der warmen Jahreszeit begann es binnen kurzem schauderhaft zu stinken. Erst recht, wenn die Wirtsleute und Händler ihren alten, schlechten Fisch zur Vernichtung vorbeibrachten, denn auch das gehörte zu den Pflichten eines Abdeckers.

An solchen Tagen seufzte der Vater, weil er wieder einmal keine Zeit für das Morgen- oder Nachtessen fand. «Eigentlich müsste ich einen zweiten Knecht einstellen – wenn ich den nur entlohnen könnte. Nun ja, in zwei, drei Jahren ist Veit so weit, dass er mir ernsthaft zur Hand gehen kann.»

Maria indessen fragte sich, warum keiner der Taglöhner aus der Nachbarschaft kam, um bei ihnen auszuhelfen. Nahmen sie doch sonst jedes Angebot wahr, sich einen Heller zu verdienen.

 

Die Gelegenheit, am Pranger dabei zu sein, ergab sich für Maria nur zwei Monate nach Veits unerlaubtem Ausflug dorthin. Es war ein schwüler Hochsommertag, und schon morgens stand die Hitze in den Gassen. Wie an so manchen Tagen waren der Vater und Joß in aller Frühe aus dem Haus gegangen. Auch die Mutter und der kleine Jonathan waren fort, bei ihrer Hebamme, die im Kappenzipfel hinterm Spital ihre Wohnstatt hatte. Jonathan war nämlich krank geworden – seit vergangener Nacht hatte er Durchfall, und sein Gesicht war ganz rot und heiß.

Maria saß auf der Holzbank neben der Haustür und betete zur Jungfrau Maria, dass ihr kleiner Bruder nicht sterben musste. Für gewöhnlich behandelte die Mutter alle Leiden und Beschwerden in der Familie mit ihren Kräutertränken und Salben selbst – wenn sie jetzt fremde Hilfe annahm, musste es ernst stehen um Jonathan.

Sie schrak auf.

«Willst was Gruseliges sehen?», fragte Marx. Er und Veit waren wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht. Marx war lang und dünn wie ein Bohnenstecken, und sie konnte ihn ebenso wenig leiden wie alle Freunde ihres großen Bruders.

«Was?»

«Komm halt mit.»

Sie schüttelte den Kopf. «Soll auf Mutter warten.»

«Geh her.» Veit stupste sie gegen die Schulter. «Das dauert lang, bis die wieder da ist.»

Sie sah, wie der Leinenweber von nebenan mitsamt seiner Familie das Haus eiligst in Richtung Jakobskirche und Markt verließ. Und vernahm zugleich von dort leises Trommelschlagen.

«Der Pranger?», fragte sie. Ihr Herz schlug schneller.

«Was sonst?» Marx grinste. «Oder hast Angst, du kleiner Hemdscheißer?»

Maria sprang auf. «Bin kein Hemdscheißer.»

«Alsdann – auf geht’s.» Marx packte sie bei der Hand, während Veit die Haustür zusperrte.

Sie hatte Mühe, mit den beiden Knaben mitzuhalten. Schon beim Kirchplatz von Sankt Jakob gerieten sie in ein derartiges Geschiebe und Gedränge, dass Maria fürchtete, die Jungen zu verlieren. Sie klammerte sich an Veits Arm, während die Trommelwirbel lauter wurden. Sehen konnte sie ohnehin nichts anderes als die Rücken und Hinterteile der Schaulustigen.

Als sie bei der Ratsherrentrinkstube den Markt erreichten, war rund um das Rathaus kaum noch ein Durchkommen. Da erklang ein Glöckchen, und das Raunen und Murmeln rundum erstarb schlagartig. Von der Freitreppe des Rathauses her vernahmen sie eine tiefe Stimme, die endlose Sätze mit umständlich klingenden Worten verlas. Wobei Maria nur so viel verstand, dass der Taglöhner Peter Vogler aus dem Fuchsengässlein beschuldigt und überführt sei des wiederholten Beutelschneidens an den Markttagen. Um die menschliche Bosheit im Zaum zu halten und den städtischen Frieden zu wahren, werde er nach dem guten alten Recht verurteilt und auf drei Jahre und drei Tage aus der Stadt und ihrer Landwehr verwiesen. Zuvor aber sei ihm durch den Scharfrichter das Zeichen der Reichsstadt Rothenburg auf die Stirn zu brennen, um ihn hernach mit vierzig ziemlichen Schlägen zum Tor hinauszutreiben. Der Allmächtige möge seine Seele stärken und reinigen.

Da erschrak Maria doch gewaltig: Der Vogler Peter war einer aus ihrem Viertel, ein pockennarbiger Mann, der oftmals schon des Nachmittags betrunken durch die Gassen zog. Ansonsten war er ein gutmütiger Mensch, der den Kindern auch mal einen Apfel zusteckte. Allein bei dem Wort Brennen war sie zusammengezuckt – wusste sie doch aus eigener Erfahrung, wie weh es tat, wenn man einen heißen Topf auf dem Herd anlangte!

«Jetzt geht’s los!», rief Veit aufgeregt.

Sie hatten sich inzwischen bis auf Höhe des Marktbrunnens durchgekämpft, auf dessen fast mannshohem Rand sich zwei Dutzend junger Kerle die besten Plätze ergattert hatten. Von hier war es nur ein Steinwurf zum Pranger, und man roch deutlich, dass ganz in der Nähe ein Feuer brannte.

Sie stieß ihren Bruder in die Seite.

«Kann nichts sehen.»

Widerwillig zog Veit sie auf seine Schultern, die jetzt schon so kräftig waren wie die eines Zehnjährigen. Nun konnte sie zwischen den Köpfen vor ihr den Pranger auf der kleinen Plattform ausmachen. Ein hagerer, grauhaariger Mann führte in diesem Augenblick den Verurteilten, dem das Haar geschoren und die Hände auf den nackten Rücken gebunden waren, die Treppe zur Schandbühne hinauf und stellte ihn ins Halseisen.

Maria hatte Augen wie ein Adler und mochte dennoch nicht glauben, was sie sah. Der Grauhaarige dort oben war Joß, des Vaters Knecht! Was tat der um Himmels willen hier?

Sie wollte sich schon zu Veits Ohr hinunterbeugen, um ihm diese ungeheure Erkenntnis mitzuteilen, als ihr der Atem stockte. Der kräftige, hochgewachsene Mann, der als Nächstes auf der Schandbühne erschien, mit einem glühenden Eisenstab in der Hand, war niemand anderes als ihr Vater! Und keinen Atemzug später hielt er dem Verurteilten das Brandeisen gegen die Stirn gepresst. Ein Schmerzensschrei gellte über den Markt, es roch nach versengtem Fleisch, und Maria begann zu weinen.

Sie wollte herunter von Veits Schultern, wollte weg von diesem grausigen Ort, doch ihr Bruder, der sich eben gerade bis zu den Stufen des Marktbrunnens durch die Menge zwängte, um einen besseren Blick zu haben, hielt ihre Beine fest umklammert. Durch den Tränenschleier hindurch sah sie, wie der Vater dem Gebrandmarkten vorsichtig etwas Dunkles auf die Stirn tupfte, was neue Schmerzensschreie hervorrief.

So leid tat Peter Vogler ihr, so unendlich leid. Was machte ihr Vater da nur Schreckliches? Sie wollte das alles nicht mit ansehen und vermochte doch kaum, die Augen abzuwenden. Wie fremd der Vater ihr plötzlich war, mit seiner starren, ernsten Miene und dem seltsamen Gewand, das er sonst nie trug bei der Arbeit: Auf dem dunklen Haar saß eine feuerrote Kappe, Wams und Hose waren rechts grün, links rot eingefärbt. Jetzt machte er eine ausladende Handbewegung, bat mit lauter Stimme die Treppe frei zu machen, während Joß den schwankenden Mann aus dem Halseisen befreite und dabei stützen musste.

Derweil hatte ihr Vater ein Rutenbündel zur Hand genommen. Er hob den Arm, und ein erster Streich ging auf Voglers bloßen Rücken nieder, bevor er die Treppe hinunterwankte.

«Will runter!», schrie sie dem Bruder ins Ohr, aber der schien nichts zu hören. Dafür setzte sich die Menschenmenge nun in Bewegung, und mit ihr Veit und dessen Freund Marx. In ihrer Verzweiflung krallte sie sich in Veits struppigem Haar fest, zog und zerrte, woraufhin sie unsanft auf dem Boden landete. Grob stellte ihr Bruder sie wieder auf die Beine und brüllte sie an:

«Du Miststück! Bist du närrisch geworden?»

«Will nach Hause!»

Er sah ihr verweintes Gesicht und verstand.

«Heul nicht. Ist doch gut, wenn jeder den Vater fürchtet!»

Marx gab ihr einen Klaps in den Nacken. «Bist halt doch ein kleiner Hemdscheißer.»

Die Menschen, die dem Zug hinterher wollten, drängten sie ungeduldig zur Seite. Mit einem Schluchzen riss sich Maria von Veits Hand los und schlüpfte zwischen den Schaulustigen hindurch zurück zum Brunnen. Dort war niemand mehr, alles strömte dem Scharfrichter und seinem Opfer in Richtung Rödertor hinterher. Vor der Treppe zum Pranger löschte der Stadtknecht die Glut in der Kohlenpfanne und packte alle Utensilien auf eine Handkarre, aus der Ferne hörte Maria das Klatschen der Rutenstreiche. Sie ließ sich auf die Stufen des Marktbrunnens sinken.

«Kind, warum weinst du?», fragte eine zahnlose Alte. «Hast deine Leut in dem Gewühl verloren?»

Da sprang Maria auf und rannte den ganzen Weg nach Hause bis ans Ende des Freudengässleins. Ihr Herzschlag hämmerte ihr gegen die Schläfen. Jetzt erst begriff sie, was sie manches Mal schon gehört hatte: Ihr Vater sei der Meister Angstmann. Sogar ihre beiden Freundinnen hatten das einmal gesagt, ohne indessen erklären zu können, was der Name bedeuten mochte. Auch das Wort Nachrichter war in Marias Beisein schon gefallen. Weder mit dem einen noch mit dem andern hatte sie viel anfangen können, doch bei dem Begriff Richter hatte sie an die hohen Herren im Rathaus gedacht, und ihr Vater war ja auch hin und wieder dorthin berufen worden.

Zu Hause stand die Tür angelehnt, die Mutter war also wieder zurück. Doch Maria wollte niemanden sehen, dachte nicht einmal mehr daran zu fragen, ob ihr kleiner Bruder wieder gesund würde. Stattdessen kletterte sie in das Baumhaus, kauerte sich in eine Ecke und schluchzte atemlos vor sich hin.

3

Zu Rothenburg, Hochsommer und Herbst anno Domini 1533

Maria! Maria, wo bist du?»

Sie schrak aus einer Art Dämmerschlaf, als sie die verzweifelten Rufe der Mutter hörte. Mit tränennassem Gesicht und noch immer benommen von dem, was sie erlebt hatte, stieg sie vom Baum herunter und tappte zurück auf die Gasse, wo die Mutter aufgeregt hin und her lief.

«Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einjagen!» Mit einer Zornesfalte auf der hohen, hellen Stirn kam die Mutter auf sie zu. «Ich hab doch gesagt, du sollst im Haus auf mich warten. Kann man sich auf euch Kinder gar nicht mehr verlassen?»

Maria duckte sich unwillkürlich, als ihre Mutter die Hand hob, doch anstatt ihr eine Ohrfeige zu geben, zog sie sie an sich.

«Mariechen – musst nicht mehr weinen! Der Jonathan wird wieder gesund. Er muss nur viel, viel salzige Brühe trinken, und stillen darf ich ihn des Abends nicht mehr. Aber er ist ja schließlich auch schon groß, kann schon laufen und plappern. Brauchst dir also keine Sorgen mehr machen, Mariechen.»

Ihre Mutter, ansonsten ein eher stiller Mensch, schien so erleichtert, dass sie gar nicht aufhören konnte zu reden.

«Jetzt komm rein mit mir, er ist eingeschlafen. Kannst mir nachher helfen, ihm feuchte Wadenwickel zu machen. Damit das Fieber rausgezogen wird.»

Stumm kehrte sie mit ihrer Mutter ins Haus zurück, wo Jonathan in der Stube lag und schlief. Sein rotes Gesicht glänzte noch immer vor Schweiß, es sah kein bisschen danach aus, als ob er bald gesund würde.

Sie setzte sich neben ihn auf den Dielenboden und begann wieder lautlos zu weinen.

Erschrocken sah die Mutter sie an. «So beruhig dich doch, Kind. Es ist wirklich alles halb so schlimm. In ein paar Tagen ist er wieder gesund. – Wo steckt eigentlich Veit? Er sollte doch auch in der Nähe bleiben.»

Marias Schluchzen wurde lauter.

«Heilige Mutter Gottes – ist ihm was zugestoßen? So red doch!»

Als Maria noch immer kein Wort herausbrachte, zog die Mutter sie an den Schultern hoch und schüttelte sie.

«Was ist passiert?»

«Er ist beim Rödertor – mit dem armen Vogler Peter … Und der Vater …»

Sie brach ab. Ihre Mutter starrte sie an, dann begriff sie.

«Ach, Mariechen. Du bist doch noch viel zu klein für diese Dinge. Niemals hättest du heut zum Pranger gehen dürfen.»

«Bin nicht zu klein!» Plötzlich stieg Wut auf in Maria. Wut auf Veit, der das alles gewusst hatte und sie, ohne was zu verraten, mitgezerrt hatte. Erst recht Wut auf ihren Vater, den sie doch über alles liebte. Der stets freundlich und hilfsbereit zu den Menschen war, der niemals ein Tier ohne Grund quälte. Und nun quälte er Menschen und bekam wahrscheinlich auch noch viel Geld dafür.

«Hör mir zu, Maria.» Die Mutter nahm sie bei der Hand und führte sie in die Küche, wo sie sich auf die Bank setzte und Maria auf den Schoß nahm. Das hatte sie schon lange Zeit nicht mehr gemacht.

«Dein Vater verdient unser Brot nicht nur mit der Abdeckerei, sondern eben auch als Nachrichter. Menschen, die Böses getan haben, müssen gerichtet werden – so will es das Recht, und so will es unser Herrgott. Und wenn die Herren Richter jemanden verurteilen, dann muss es auch jemanden geben, der die Strafe vollzieht. So ist das seit ewigen Zeiten, in jeder Stadt, in jedem Dorf.»

«Dann sollen’s die Herren Richter doch selber tun», stieß Maria hervor.

Ihre Mutter lachte bitter.

«Die Ratsherren würden sich niemals die Hände schmutzig machen, glaub mir. Und eben deshalb gibt es das Amt des Züchtigers, und eben deshalb gibt es auch einen Lohn dafür.» Sie starrte in die Ferne, als gäbe es dort etwas zu sehen. Dann zog sie Maria fester an sich. «Du brauchst dich für das Handwerk deines Vaters nicht schämen. Weil es nämlich ein gottgefälliges und wichtiges Handwerk ist, auch wenn manch einer in der Stadt anders reden mag.»

«Will aber keinen Angstmann als Vater!»

«Daran gibt’s leider nichts zu rütteln. Der liebe Gott hat dich in unsere Familie hineingeboren, hat dir genau diesen Platz auf der Welt zugeteilt. Und es ist nicht der schlechteste. Denk nur, wie liebevoll der Vater für uns alle sorgt. Das tun bei Gott nicht alle Männer.» Ihre Stimme wurde brüchig. Mit einem leisen Seufzer wischte sie Maria die Tränen aus dem Gesicht. «So, und jetzt hol ich uns von dem feinen Apfelmost, den die Meierin gestern gebracht hat. Weinen macht durstig.»

 

Gegen Mittag hörte Maria die Schritte der Männer in der Eingangshalle, dann Vaters strengen Tonfall: «Wenn du dich schon beim Pranger rumtreibst, dann wirst ab jetzt auch in der Abhäutekammer helfen.»

«Das mit Maria – das tut mir leid.» Veit klang zerknirscht.

«Irgendwann wär’s ohnehin so weit gewesen. Jetzt geh Joß zur Hand.»

Mit schwerem Tritt kam er die Treppe herauf. Maria hockte in der Stube auf Jonathans Decke, wo sie ihrem kleinen Bruder Gesellschaft leistete, und sofort stand ihr das Bild des Vaters wieder vor Augen: wie er in seinem rot-grünen Gewand das glühende Eisen in der Hand hielt, es dem armen Mann gegen die Stirn presste. Am liebsten hätte sie sich vor ihm versteckt. Seine Schritte hielten in der Küche inne, wo sie ihn mit der Mutter reden hörte. Bestimmt war er böse auf sie, weil sie heimlich mit Veit mitgegangen war.

Kein Paternoster später öffnete sich die Tür zur Stube, und die Eltern traten ein. Ihre Mutter blieb im Türrahmen stehen, während der Vater neben ihr in die Hocke ging. Er wirkte eher traurig als zornig.

«Du hast mich also gesehen?»

Sie nickte stumm und rückte ein wenig ab von ihm.

«Weißt du, Maria, du bist eigentlich noch zu klein für diese Dinge. Mit Veit ist das was anderes. Er ist über zwei Jahre älter und obendrein ein Junge. Ich hatte gehofft, du würdest erst später erfahren, dass dein Vater auch das Amt des Scharfrichters innehat. Zudem weiß ich ja, wie sehr du immer mit allen Kreaturen mitleidest, genau wie deine Mutter.» Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.

Da sie weiterhin schwieg, fuhr er fort: «Mutter hat dir doch erklärt, wie wichtig dieses Amt ist, und ich würd mir wünschen, dass du darüber nachdenkst. Glaub mir, ich hab keine Freude daran, jemandem wie dem Vogler Peter den Rücken blutig zu streichen. Aber stell dir vor, jeder würde dem andern heimlich die Geldkatze vom Gürtel schneiden. Manche können dann nicht mal mehr den Mietzins bezahlen oder das Essen für die Familie. Was der Vogler getan hat, war also großes Unrecht, und er wusste das auch. Und er wusste genau, dass einem mehrfachen Dieb normalerweise der Galgen blüht. Der Richter hat also noch Gnade walten lassen. Ebenso gut könnte er jetzt an der Straße nach Würzburg im Wind baumeln.»

Maria hob den Kopf. «Tust du das auch?»

«Du meinst – aufhängen?»

Sie bemerkte, wie er errötete. Dann nickte er. «Ja, auch das ist meine Pflicht. Aber dem Allmächtigen sei Dank kommt das nicht häufig vor.»

Sie nahm die beiden Holzpferdchen, die auf der Decke lagen – ihr Vater hatte sie selbst geschnitzt – und forderte Jonathan auf: «Wir spielen jetzt Ritter.»

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihr Vater sich erhob und sich in den einzigen Lehnstuhl im Raum setzte. Er sah müde aus.

«Manchmal bin ich es einfach nur leid», murmelte er. «Es ist eine Sünde, des Menschen Angesicht zu verstümmeln. Wo uns doch die Bibel lehrt, dass es nach göttlichem Bildnis erschaffen ist.»

Ihre Mutter trat hinter ihn und strich ihm über das schulterlange dunkle Haar. Sie hatte Tränen in den Augen. Da begann Maria das schlechte Gewissen zu plagen, dass sie ihre Eltern traurig gemacht hatte.

 

Mochte es für andere das Selbstverständlichste der Welt sein, dem Peinigen von Missetätern zuzuschauen: Für Maria war es eine furchtbare Erkenntnis, dass ausgerechnet ihr Vater es vollführte, und sie würde sich gewiss niemals an diesen Gedanken gewöhnen. So brauchte es auch seine Zeit, bis sie sich von ihm wieder in den Arm nehmen lassen wollte. Normalerweise setzte er sich an den Abenden vor dem heiligen Sonntag noch auf die Kleidertruhe in ihrer Schlafkammer, verrichtete anstelle der Mutter das Abendgebet mit den Kindern und erzählte dann Geschichten. Geschichten von fernen Ländern und fremden Städten, durch die er als blutjunger Söldner gezogen war, bevor er sich in Rothenburg niedergelassen hatte. Und zum Abschied, bevor er sich auf den Weg in die Schenke am Klingentor machte, gab er seinen drei Kindern einen Kuss auf die Stirn.

Seit ihrem Erlebnis auf dem Markt wandte sie nun jedes Mal das Gesicht zur Wand, wenn er sich zu ihr niederbeugte, oder tat so, als sei sie, gleich dem kleinen Bruder, bei seinen Geschichten eingeschlafen. Auch als er einmal auf Reisen gehen musste – hin und wieder verließ er die Stadt und blieb sogar über Nacht fort – und sie zum Abschied in den Arm nehmen wollte, wich sie ihm aus. Dies ging eine ganze Weile so, bis ihre Mutter sie zur Seite nahm. Die hatte gerade wieder einmal einen ihrer stillen Tage, wie Maria es insgeheim nannte, wo sie nur ins Leere starrte oder sich in ihre Schlafkammer zurückzog und sich Maria mehr als sonst um Jonathan kümmern musste.

«Wie garstig du dich gegen den Vater benimmst», wies die Mutter sie zurecht, während sie mit unendlich langsamen Bewegungen in der Küche das Gemüse zerkleinerte. «Ich will, dass das aufhört, verstanden?»

Ihre Stimme zitterte. Als Nächstes würde sie zu weinen beginnen, wie oft an solchen Tagen. Allein aus diesem Grund nickte Maria heftig. Und wenn sie ehrlich war, tat es ihr längst leid, dass sie den Vater so vor den Kopf stieß. War sie doch immer sein Liebling, sein kleines Mädchen gewesen.

Wie um sich zu beweisen, dass sie ihren Vater trotz allem liebte, unternahm Maria in den folgenden Wochen alles, um herauszufinden, was ein Scharfrichter so tat. Dabei erfuhr sie mehr, als ihren Eltern recht gewesen wäre. Joß, den Knecht, brauchte sie hierauf allerdings gar nicht ansprechen, der hätte es umgehend dem Vater verpetzt, und ihren Bruder Veit erst recht nicht. Stattdessen horchte sie den freundlichen Weißbeck in der Nachbargasse aus, den Totengräber Meier, der Annas Vater war, die halbwüchsigen Burschen aus ihrem Viertel. Von denen erhielt sie die unverblümtesten Auskünfte, während die Erwachsenen entweder betroffen schwiegen oder seufzten oder in einer Art Kindersprache, die Maria hasste, vorsichtige Erklärungen abgaben.

Am Ende war sie mit ihren fünf Jahren darüber im Bilde, dass ein städtischer Züchtiger zur Marktzeit die Leibesstrafen verabreichte und im Marterkeller des Rathauses verstockte Sünder mit seinen ureigenen Mitteln zum Reden brachte, ohne sie über Maß zu quälen – auch das sei eine Kunst, wie ihr der alte Knecht des Seifensieders fast bewundernd versicherte. Sie erfuhr, dass man in ihrer Heimatstadt wegen üblen Schwörens und Gotteslästerung ein Kreuz auf die Stirn gebrannt bekam, dass einfachen Dieben, Betrügern und Meineidigen die Finger und Ohren abgeschnitten wurden, in schlimmen Fällen auch die Zunge, oder dass sie gar geblendet wurden. Freche Nichtsnutze, Raufbolde und zänkische Weiber wurden unter dem Spott der Zuschauer beim Marktbrunnen verkehrt herum auf einen hölzernen Esel gebunden oder in die Trille gesteckt, einen drehbaren Käfig. Auch wusste Maria bald, dass reiche Bürger sich von ihren Leibesstrafen loskaufen konnten oder zu ein paar Tagen bei Wasser und Brot im Strafturm begnadigt wurden.

Der Tod blühte dem, der von seinem bösen Tun nicht lassen wollte, erst recht dem, der einen Mitmenschen hinterrücks gemeuchelt hatte. Gehängt wurde draußen an der Landstraße nach Würzburg, wobei dies niemals Frauen traf: Jene wurden lebend begraben oder im Sack ertränkt, da man den weiblichen Körper nicht der Schaulust preisgeben durfte. Und das Enthaupten auf dem Rabenstein gleich vor dem Galgentor war seltsamerweise eine höchst ehrenvolle Strafe und erforderte das ganze Geschick eines jeden Scharfrichters – galt es doch, mit einem einzigen sauberen Streich den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Das meiste, was Maria hörte, war grausam und abstoßend. Dennoch bohrte sie weiter nach. Sie musste genau wissen, was ihr Vater tat, wenn er hinüber zum Strafturm, ins Rathaus oder zum Markt marschierte oder nach draußen in die Landwehr gerufen wurde. An manchen Tagen wäre sie über all das schier verzweifelt, hätte nicht die Mutter ihrer Freundin Anna einmal etwas Tröstliches gesagt:

«Sieh her: Was sollen wir sagen, als Familie eines Totengräbers? Man mag uns nicht, und der ehrbare Bürger geht uns auf der Straße aus dem Weg, obwohl er uns doch braucht. Man sagt uns nach, mit Teufeln und Gespenstern umzugehen, dabei gibt es keinen gottesfürchtigeren Menschen als meinen Mann. Dein Vater hat immerhin ein hohes Amt. Wenn er für etwas geächtet wird, dann für seine schwere und schmutzige Arbeit als Schinder und Kloakenkehrer, nicht aber für sein Amt als Nachrichter. Bekommt er von der Stadt nicht sogar bei jeder Hochzeit einer Jungfer ein Viertel Brot und ein Maß Wein geschenkt? Das Wichtigste ist doch, dass ein jeder sein Bestes tut und die Aufgaben erfüllt, die der liebe Gott ihm zugetragen hat.»

Annas Mutter mochte vielleicht recht haben, und es klopfte tatsächlich des Abends, wenn sie schon im Bett lag, so manch ehrbarer Mann bei ihrem Vater an. Indessen bekam sie die vielen Bilder von blutig geprügelten Rücken und abgehackten Gliedmaßen nicht aus dem Kopf.

4

Zu Rothenburg, im Spätherbst anno Domini 1533

Die kalte Jahreszeit war wohl endgültig angebrochen. Wieder wehte draußen ein eisiger Wind, und wieder hatte die Mutter sie am Morgen geheißen, dieses schafwollene Leibchen unterzuziehen, das so schrecklich kratzte. Maria stand vor der Haustür mit einem Korb unter dem Arm und wartete fröstelnd auf ihre Mutter und Jonathan, um mit ihnen zum Weißbeck zu gehen. Sie freute sich darauf, denn der Bäckermeister würde ihr und dem kleinen Bruder sicherlich wieder ein Stückchen Kuchenrand zustecken.

Da hörte sie aus dem Häuschen des Totengräbers, das sich schräg gegenüber befand, einen jammervollen Aufschrei. Maria erstarrte. Der nächste Schrei ging in ein verzweifeltes Wimmern über, und Maria rannte voller Angst zurück ins Haus.

«Mutter, Mutter! Komm schnell!»

«Nun hetz mich doch nicht so.» Die Mutter erschien auf dem oberen Treppenabsatz. «Der Kleine hat eben grad die Windel vollgemacht. So können wir nicht los.»

Inzwischen war das Heulen sogar bis in die Eingangshalle zu hören. Warum war ausgerechnet jetzt der Vater nicht da? Auch ihre Mutter lauschte angestrengt.

«Was ist das?»

«Drüben bei der Anna! Da schreit wer ganz furchtbar!»

«Geh du hinauf zu Jonathan und mach ihn sauber. Ich werde nachsehen.»

Schon kam ihre Mutter die Treppe hinuntergerannt.

«Nein, bitte. Ich hab Angst. Vielleicht sind böse Unholde bei der Anna.»

«Unsinn, Mariechen.»

Vorsichtshalber hatte sich ihre Mutter aber doch eines der Schindermesser aus der Kammer geschnappt, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Ewigkeiten vergingen, und noch immer war sie nicht zurück. Drüben im Nachbarhaus war es ganz still geworden, und Maria begann, sich die schrecklichsten Dinge auszumalen: Was, wenn bei Anna Einbrecher am Werk gewesen waren, kaltblütige Meuchelmörder? Wenn sie dort drüben nun alle in ihrem Blut lagen? Und die Mörder eben gerade, in diesem Augenblick, das Haus in Brand steckten?

Da ertönte von draußen eine Stimme: «Gott hab ihn selig.»

Maria fiel ein Stein vom Herzen. Es war ihre Mutter.

«Ich hab’s geahnt», hörte sie als Nächstes den Vater sagen. «Warum ist er damit nicht zu mir gekommen?»

Sofort stürmte sie hinaus und fiel ihrer Mutter in die Arme. Dabei warf sie einen ängstlichen Blick auf das Totengräberhaus, doch das stand unversehrt da, als sei nichts geschehen.

Ihre Mutter schob sie zurück in die Eingangshalle.

«Annas Vater ist gestorben», sagte sie leise und bekreuzigte sich. «Die arme Meierin.»

Maria sah sie erschrocken an. Der Totengräber, ein großer, klapperdürrer Mann, hatte auf sie gar nicht so uralt gewirkt. «War er krank?»

«Nein, das nicht», antwortete der Vater anstelle der Mutter, die ganz blass aussah. «Er hat sich verletzt gestern früh, beim Ausheben der Grube. Der Boden war wohl noch gefroren, da hat er sich mit dem Spaten in die Zehen gehackt.»

«Daran kann man sterben?», fragte sie fassungslos. Sie dachte an Veit, der sich ständig Knie oder Ellbogen blutig schlug.

«Nicht, wenn man die Wunde richtig behandelt. Aber er hatte diesen Quacksalber von Bader rangelassen, selbst dann noch, als der Wundbrand eingeschlagen ist. Bloß, weil der sein Vetter ist.»

«Wundbrand?»

«Das Fleisch wird faulig, bei ekelhaften Schmerzen. Dazu kommen Herzrasen und Atemstörungen. Wäre er doch nur zu mir gekommen.»

Maria bekam große Augen. «Bist du auch ein Wundarzt?»

«Nein, meine Kleine.» Er lächelte traurig und nahm ihre Hand. «Aber ich kenne den menschlichen Körper nur allzu gut und hätte ihm helfen können.»

«Wie denn?»

«Ich hätte ihm mit einem sauberen Schnitt die Zehen abgetrennt.»

«Du bist gemein!» Sie riss sich los. «Das tut weh, und außerdem muss man dann für immer humpeln.»

«Da hast du recht. Aber dafür wäre er jetzt noch am Leben.»

 

Am Nachmittag hatte die Mutter eine kräftige Brühe mit Rüben und Speck gekocht, um sie der armen Meierin zu bringen. Maria bettelte, mitkommen zu dürfen.

«Nun gut, vielleicht kannst du ja die Anna trösten.» Sie seufzte. «Und den Kleinen nehmen wir halt mit.»

Maria war erstaunt, wie voller Menschen das Haus war, in dem jetzt eigentlich nur noch Anna und ihre Mutter lebten. Ihre Freundin war nämlich ein Nachkömmling, mit zwei älteren Schwestern, die bereits verheiratet waren.

Das Totengräberhaus war kleiner als ihres. Im Erdgeschoss, in dem zwischen Waschzuber und Vorratsraum die Hühner hausten, führte eine steile Stiege nach oben, die mehr einer Leiter ähnelte als einer Treppe. Dort oben, in der Wohnküche, dem einzigen Raum, fanden die vielen Nachbarn und Anverwandten kaum Platz. Lisbeths Eltern waren gekommen, die Frau des Weißbecks, das Kräuterweib vom Klingenschütt, die Bürstenbinderin von nebenan mit ihren beiden halbwüchsigen Töchtern, von denen es hieß, sie böten sich als freie Frauen an – was immer das heißen mochte –, und viele andere, die Maria nur vom Sehen kannte. Auch der Bader war da, stand mit betretener Miene bei der Feuerstelle, auf die ihre Mutter jetzt den Topf mit der Suppe aufsetzte. Mittendrin, umringt von einem halben Dutzend Klageweibern in schwarzen Trauerkutten und mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, lag Annas Vater aufgebahrt, im flackernden Schein teurer Wachskerzen.