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Henni lebt in ihrer ganz eigenen Welt, in der sie nie ohne ihre roten Gummistiefel mit weißen Punkten zu finden ist. Ihre Mutter wurde ermordet, da war Henni 12 Jahre alt. Sie musste von da an bei der Oma-Frau-im-Kittel leben, die das Gegenteil einer lieben und netten Oma gewesen ist. Henni lernte so schnell, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen kann und findet sogar heraus, wer das mit ihrer Mutter gewesen ist. Henni hat bis heute eine besondere Freundin: Ella, die sprechende Plüscheule, die ihr in schwierigen Zeiten immer geholfen hat. Und natürlich ist da Ulla, ihre beste Freundin und Nachbarin.
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Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Sabine Hinterberger
Henni und ihre Welt in Gummistiefeln
Sabine Hinterberger
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Sabine Hinterberger
Umschlag: © 2023 Copyright by Tanja Graumann
Verantwortlich
für den Inhalt: Hennis Wortwelt
Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Sie war diese eine besondere Nacht. Der Zeiger der alten Standuhr in der Ecke neben dem Kamin des alten Bauernhauses tickte unaufhaltsam weiter. Tick. Tack. Tick. Tack.Fünf vor zwölf.Es blieb nicht mehr viel Zeit. Ich schaute ein letztes Mal aus dem Fenster. Er stand noch immer an derselben Stelle und hatte sich seit der letzten Stunde keinen Millimeter bewegt. Er schaute zu mir herauf. Seine Augen leuchteten grün in der Dunkelheit und sein Schatten lehnte an der Straßenlaterne. Ich trat vom Fenster zurück. Tick. Tack. Tick. Tack.Drei vor zwölf.Meine rechte Hand griff zitternd an das Innenfutter meines Jacketts. Es war noch da. Ich beruhigte mich ein wenig. Es war noch da. Ich war noch da. Alles war möglich. Jetzt. Heute. Morgen und übermorgen. Nächste Woche. Nächstes Jahr.
Ich sah ein letztes Mal aus dem Fenster. Ich musste einfach nur an ihm vorbei. Ich würde die Tür nach hinten in den Garten nehmen. Ein letztes Mal schaute ich in das Zimmer meiner Tochter. Sie schlief.
Tick. Tack. Tick. Tack.Eins vor zwölf.
Als die zwölf Schläge der alten Standuhr verstummt waren, löschte ich das Licht und ging nach hinten und verließ das Haus durch den Hintereingang. Dort hatte er längst gewartet. Ich sah das Messer kurz aufblitzen und sackte lautlos zusammen.Tick. Tack. Tick. Tack. Meine Hand griff im Fallen an das Innenfutter. Es war noch da, aber es hatte mich vor dem Schatten nicht beschützen können. Aber, so hoffte ich, würde mein Tod Henni beschützen.
Henni saß mit Ulla am Küchentisch am Fenster. An diesem Nachmittag hatten sich die beiden Frauen wieder einmal zu einem Kaffee und heute zu einem Stück „Beerdigungskuchen“ getroffen. Ulla nannte den so, weil es den immer nach Beerdigungen beim anschließenden Kaffeetrinken zu essen gab.
Auch bei Uwes Beerdigung hatte es Beerdigungskuchen gegeben. Henni mochte diese Worte nicht so gerne, denn es erinnerte sie zu sehr an Uwe und deshalb sagte sie auch viel lieber Streuselkuchen. Das klang heller und freundlicher und die Erinnerungen schmeckten dann nicht so traurig. Und sie mochte auch diese festen Streusel am liebsten und das auf jedem Stück Kuchen.
„Schmeckt es dir nicht?“, fragte Ulla leise. Henni hatte das Stück Kuchen noch nicht angerührt.
„Wir schmecken so viele Erinnerungen in dem Streuselkuchen. Jeder Streusel erzählt uns eine Geschichte und die meisten sind von Uwe!“, sagte Henni und nahm die Gabel in die Hand.
„Hast du eigentlich Fotos von Uwe?“, fragte Ulla und legte dabei behutsam ihre Hand auf die von Henni, die mittlerweile nicht mehr zusammenzuckte, sondern die Hand der Freundin auf ihrer liegen lassen konnte.
„Eins haben wir. Karl hat das von uns gemacht, mit so einer Uraltkamera, aus der sofort ein Bild mit weißem Rahmen rauskommt. Zwei Flaschen Bier hat er dafür von uns bekommen ... Aber es verschwindet ...“ Henni kramte ein vergilbtes und zusammengefaltetes Bild aus ihrer Hosentasche. „Das haben wir immer bei uns!“ Sie faltete es behutsam auseinander und legte es neben ihren noch immer unberührten Kuchenteller mit Streuselkuchen.
Ulla rückte ein Stück näher. Das Bild war schon ganz abgegriffen und blass geworden. Aber Henni und Uwe waren noch ganz deutlich zu sehen. Sie saßen zusammen auf ihrer Lieblingsbank vor der Stadtmauer und schauten sich an.
„Wir streichen immer über sein Gesicht, wenn wir es uns nicht mehr vorstellen können!“, sagte Henni und tat genau das. Sie schluckte.
„Ich habe eine Idee!“, sagte Ulla plötzlich und schaute Henni aufgeregt an. „Wir machen ein Foto von dem Foto mit deinem Handy und es gibt da so eine Seite, hat der Paul gesagt, da kannst du deine Fotos hinschicken und die werden dann so voll auf neu gemacht.“
Hennis Augen begannen zu leuchten. „Wieso ist uns das nicht schon eher eingefallen, Ulla?“ Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und machte ein Foto. Sie betrachtete es lange auf dem Bildschirm. Sie legte einen Filter über das Foto. Danach sah das Bild ganz anders und irgendwie verwunschen aus. Das mit dem Filter hatte sie von Erika gelernt, die mit ihrem Vater auf derselben Etage wie Henni lebte und 14 Jahre alt war und ihr Smartphone sogar mit ins Bett nahm, damit sie keine Nachricht verpasste. Heute war Henni froh, dass sich Erika so gut auskannte, denn jetzt würde Uwe auch nicht mehr verschwinden. Sie schickte Ulla das Bild per Whatsapp, rieb sich einmal kräftig die Augen und aß dann ein Stück Streuselkuchen. Sie schloss die Augen und schmeckte die ersten etwas weniger traurigen Streusel und sie sah Uwe auf der Bank sitzen und er lachte.
„Wir finden, Streusel sind das Beste an einem Streuselkuchen. Den Boden bräuchten wir gar nicht!“, lachte Henni und holte die Streusel aus dem Kuchen.
„Hast du eigentlich ein Fotoalbum?“, fragte Ulla. Sie ging zu ihrer Kommode, auf der das Fernsehgerät stand und zog ein kleines blaues Buch aus der obersten Schublade.
„Das ist jetzt für dich und da kommen alle schönen Fotos hinein, wenn du magst!“ Ulla stand ein wenig verlegen vor ihr. Henni legte die Gabel an die Seite und schaute Ulla an.
„Das ist für uns? Aber, wir haben doch noch nicht Geburtstag und Weihnachten ist auch noch weit weg!“
„Geschenke kannst du immer machen und wenn es dir Freude macht, gehört es dir!“ Ulla hatte feuchte Augen bekommen und Henni spürte, dass es Ulla gerade ganz wichtig war, dass Henni das Fotoalbum nahm und deshalb nahm sie es. Aber auch, weil sie ein ganz warmes orangefarbenes Gefühl im Bauch hatte, dass ihr guttat.
„Wir nehme es sehr gerne!“, sagte Henni, nahm das Bild von Uwe, öffnete das Fotobuch und legte das Foto hinein. „Jetzt wird ihm nichts mehr passieren!“ Ulla setzte sich und begann ihr Stück Streuselkuchen zu essen.
„Danke!“ Hennis freudig gelbes Danke setzte sich neben Ulla und ließ die Freundin lächeln. Dieses Lächeln mochte Henni an ihrer Freundin sehr gerne, denn es kam nicht so oft vor. Sie traute sich auch heute nicht, nach ihrem eigenen Fotoalbum zu fragen, denn sie wusste nicht, ob das eine gute Frage oder eine war, die eine Freundin lieber nicht stellte. Und Henni wusste selbst, dass es Fragen gab, die einen an Dinge erinnerten, die lieber dort bleiben sollten, wo sie waren. Henni schluckte ihre Erinnerung mit dem nächsten Stück Kuchen herunter.
Sie wusste, irgendwann musste auch sie sich erinnern oder die Erinnerungen wurden so groß, dass sie sie überrollten und wie eine Lawine von den Füßen rissen. Das war nach Uwes Tod schon einmal passiert. „Vielleicht mögen wir auch deshalb keinen Schnee und keine Berge!“, sagte Henni und fühlte sich gleich etwas wohler, als sie sich unter den Tisch zu ihrer Eule setzte. Hier war sie sicher.
„Du kommst spät. Ich kann alle deine Gespenster nicht mehr alle alleine in Schach halten!“, sagte Ella, die Eule.
„Ja, das wissen wir, aber wir haben sie ja heute schon anders bekämpft!“, antwortete Henni und zeigte Ella das Fotoalbum. Ella tat dasselbe wie Henni heute Nachmittag bei Ulla und strich behutsam mit ihrem abgewetzten Plüschflügel über das Bild. „Wir haben auch die Klebe mitgebracht!“, freute sich Henni, drehte das Foto herum und strich mit dem Klebestift über die Rückseite. Dann klebte sie Uwe mitten auf die erste Seite, ein wenig schräg. „Uwe war keiner, der einen geraden Weg gegangen ist, der war selbst ziemlich schief.“ Ella lachte leise.
„Wir müssen noch etwas Schönes dazu schreiben. Ein Datum oder ein Wort oder so, das hat mir Ulla noch gesagt!“ Henni holte ihren schönsten Schreibstift, ein dunkelblauer Stift mit einer weichen Kugelmine, aus der Schublade und schaute Ella dann fragend an.
„Was sollen wir schreiben?“
„Du kannst alles schreiben, was du möchtest!“, sagte Ella und dehnte ihre Plüschflügel.
Und dann sah Henni noch einmal genau hin, sah hinter das Bild und spürte all die hellen und dunklen Erinnerungen. Sie schloss ihre Augen, seufzte tief und als sie die Augen wieder öffnete, begann sie in ihrer allerschönsten und etwas krakeligen Schreibschrift zu schreiben:
Uwe, mit dir sind wir geflogen, wie vorher nur mit Ella. Danke!
Ella las Hennis Worte und kuschelte sich dicht an sie. „Ja, du wirst im Leben immer die richtigen Worte finden, wenn sie gefunden werden wollen.“
„Bow, ey!“, sagte Henni, „Ist das wieder so ein weiser Ella-Eule-Spruch, über den wir wieder tagelang nachdenken müssen?“
„Ja, natürlich, das ist Philosophie!“
„Fi-lo-sofie macht uns hungrig, schreiben auch. Ich mache uns mal ein paar Nudeln mit Tomatensoße!“ Henni hatte das letzte Wort „T-o-m-a-t-e-n-s-o-ße“ kaum ausgesprochen, da sah sie das erste Gespenst hinter Ella, die schützend ihre Flügel ausbreitete, um sie fernzuhalten. Doch dieses Mal kamen sie nicht alleine und brachten die Tomatenmatsche ihrer Oma mit, die sich drohend vor ihr und Ella aufbaute.
Henni kauerte sich ganz klein zusammen und nahm Ella in ihren Arm. „Verschwindet, verschwindet endlich!“, rief sie immer wieder, bis ihre Stimme heiser war und sie nicht mehr konnte. Irgendwann schlief sie ein.
Im Morgengrauen des nächsten Tages wurde sie wach, weil sie so sehr fror. Ihre Hände waren eiskalt, ihr Rücken schmerzte und sie spürte ihre Beine kaum. Henni brauchte etwas, bis sie begriff, wo sie war. Wo ihre Erinnerungen sie wieder einmal hingetrieben hatten: Unter den Küchentisch. An den einzigen Ort, an dem sie die Gespenster ihrer Vergangenheit aushalten und ihnen mit Ella begegnen konnte. Langsam kam sie aus dem Schlaf der letzten Nacht in der frühen Morgenstunde an. Sie kroch unter dem Tisch hervor, stand auf und versuchte sich zu recken und zu strecken.
„Du siehst aus, als ob du einen starken Kaffee brauchen könntest!“, rief Ella vom Küchenregal herüber und trug mit ihrem Schnabel einen Löffel zu Hennis Lieblingstasse.
Henni rieb sich noch einmal den Schlaf und die Erinnerungen der letzten Nacht aus den Augen, stellte Wasser in ihrem zerbeulten Kessel auf und nahm zwei Löffel ihres löslichen Liebling-Espressos aus der Kaffeedose, die neben dem Toaster stand.
„Geht es wieder?“, fragte Ella besorgt.
„Ja, wir waren gestern nicht mehr aufmerksam genug. Da reichte ein einziges rotes Wort aus der Erinnerung und schon waren wir wieder dort!“ Hennis Stimme wurde leiser. Ihre Hand zitterte, als sie das Wasser in die Tasse schüttete.
„Komm, lass uns aus dem Fenster zuschauen, wie die Sonne aufgeht! Das wird jeden Morgen passieren, darauf kannst du dich nach jeder noch so dunklen Nacht wieder verlassen!“
„Jetzt klingst du schon wie diese salbungsvollen Kalendersprüche von Ulla, die ihr jedes Jahr der Pastor vorbeibringt und sie traut sich nicht, die nicht aufzuhängen, weil das ja unhöflich ist.“
„Tja, eine Filo-Sofie-Eule wie ich, die kann das!“ Ella flog zur Fensterbank und setzte sich.
Schweigend sahen sie dem Tag zu, wie er die letzten Reste der letzten Nacht vertrieb und alle in der Straße das taten, was sie immer an einem Montagmorgen taten. Die Müllabfuhr holte die gelben Tonnen in der Straße ab. Erika ging zur Schule und wie immer war ihr Blick unverwandt auf ihr Smartphone gerichtet, doch sie stolperte nie und rempelte auch nie jemanden an.
„Als hätte sie einen Radar in ihrem Smartphone, mit dem sie immer sicher weiß, ob ihr jemand im Weg steht!“
Ulla zog die Jalousien am Fenster ihrer Küche hoch und winkte kurz hinüber. Henni winkte zurück. Sie trank einen Schluck aus ihrer Tasse und der gewohnt bittersüße Geschmack brachte sie wieder voll und ganz hierher zurück.
„Dein Zimmer ist oben. Das Bett musst du selbst beziehen, damit du das gleich lernst. Wir essen in einer halben Stunde“, sagte die Frau, die sie Oma nennen sollte. Die Frau, die sie Oma nennen sollte, hatte unordentliche weiße Haare und trug einen Kittel, der schon lange keine Waschmaschine mehr gesehen hatte. Die Farbe konnte Henni beim besten Willen nicht mehr definieren. Irgendetwas zwischen dreckig braun und noch viel dreckiger gelb.
„Wo ist mein Zimmer?“, fragte sie, weil sie noch nie so eine unaufgeräumte Wohnung gesehen, geschwiege denn betreten hatte.
„Du bist anscheinend genau so dumm wie deine Mutter es war. Treppe hoch und die erste Tür links. Und jetzt sieh zu, dass du da hochkommst!“
Henni schaute sie an und konnte es nicht fassen, wie diese Frau mit ihr redete. Noch schlimmer, wie sie über ihre Mutter sprach, die sie erst gestern beerdigt hatten. „Meine Mutter war auf jeden Fall schlauer als du, denn dann wüsstest du auch, dass dreckige Sachen gewaschen werden müssen, weil sie sonst zu stinken anfangen!“ Die Worte purzelten nur so aus ihrem Mund und umzingelten die verdutzt dreinschauende Frau, die sie Oma nennen sollte.
Die Oma-Frau im Kittel kam bedrohlich nah auf Henni zu, blieb für einen kurzen Moment stehen, holte aus und gab ihr eine Ohrfeige. „Damit das klar ist, noch so eine Unverfrorenheit und ich schicke dich zurück ins Heim!“ Hennis Wange brannte. Sie hielt mit aller Mühe ihre Tränen zurück. Sie hatte vor Schreck ihren Koffer fallengelassen, mit dem sie immer noch da im kalten Flur stand und schaute unverwandt auf die alte Standuhr, die da in der Ecke stand.
Tick. Tack. Tick. Tack. Nicht weinen. Nicht weinen.Tick. Tack. Tick. Tack. Nicht weinen. Nicht weinen.
„Jetzt verschwinde endlich nach oben, du elende Rotzgöre!“ Das giftige Dunkelrot der Stimme der Oma-Frau im Kittel trieb Henni nach oben. Der Koffer war genauso schwer wie ihre Traurigkeit. Beide nahm sie mit in das hässliche Zimmer, in dem Tapeten aus dem Mittelalter an den Wänden hingen, darauf Vierecke aus Braun und Ocker. Ein schmales Bett am Fenster, daneben ein Nachtschränkchen mit einer winzigen Lampe. Gegenüber ein Schrank, daneben ein Schreibtisch mit einem Stuhl, der wackelte. An dem Fenster hingen Gardinen, die irgendwann bestimmt mal weiß gewesen waren.
„Voll die Kackfarben und eine voll eklige Bruchbude und eine voll doofe Oma-Frau im Ekel-Kittel!“, schimpfte Henni mit Tränen in den Augen vor sich hin und warf die Kleidungsstücke achtlos in den Schrank. Wütend sein war besser als traurig sein. Rot gegen Grau. Henni schlug einmal, zweimal, dreimal aufs Kissen ein. Dann stapelte sie ihre Bücher auf dem Nachttisch und fühlte sich besser, nachdem sie jedes einzelne in die Hand genommen hatte: Peter Pan. Das hatte sie aus der Bücherei geklaut, weil ihr die Bilder so gut gefallen haben. Harry Potter und der Feuerkelch. Das hatte ihr ihre Mutter letztes Jahr zum zehnten Geburtstag geschenkt.
Ihre Mutter hatte ihr jeden Abend vorgelesen. Henni hatte es nicht so mit dem selber Lesen und Schreiben. Bei ihr tanzten die Buchstaben auf den Zeilen immer durcheinander und Wörter, die sie zu kennen glaubte, veränderten sich und sie wusste nicht mehr, was da vorher für ein Wort gestanden hatte. Als sie längst selber hätte lesen können, haben sie die Rollen getauscht und ihre Mutter durfte sich eine Geschichte aussuchen und Henni las ihr die vor, so gut sie konnte. Und weil die Buchstaben der Wörter auch hier tanzten, nicht so schlimm wie in der Schule, erfand sie einfach die Wörter, die sie nicht mehr lesen konnte. Ihrer Mutter gefielen ihre Ideen.
„Na, das habe ich ja noch gar nicht gewusst, dass auch Peter Pan bei Harry Potter unter der Treppe in der Besenkammer wohnt oder, echt, Rico hat Peter Pan auf dem Dach der Dieffe getroffen. Aber, mein kleiner Schatz, es gefällt mir so noch viel besser!“. Ihre Mutter hatte dann immer ganz überrascht geschaut und gelacht, sie fest in den Arm genommen und auf die Stirn geküsst. Hennis Note in Lesen verbesserte sich, als Frau Hansen Hennis neue Klassenlehrerin wurde, denn die nahm, zum Erstaunen der ganzen Klasse, Hennis Ausflüge in die Phantasie zum Anlass, mit allen Geschichten, die alle kannten, auf eine ganz neue Weise umzuschreiben.
„Es gibt ein Wort für das, was in deinem Kopf die Buchstaben tanzen lässt, aber genau das führt dich auch im Erzählen zu ganz neuen Geschichten, die bis dahin noch nie jemand gehört hat!“ Henni wusste, dass sie mit dem Wort „Lese- und Rechtschreibschwäche“ meinte. Sie hatte gehört, wie Frau Hansen das zu ihrer Mutter sagte und die Birthe nannte das einfach plemplem im Kopf. Henni gefiel das Wort, aber nicht, wie Birthe das aussprach, also warf sie einen nassen Schwamm nach ihr und traf sie voll ins Gesicht. Henni musste zum Direktor und Birthe nicht, aber Birthe sagte das Wort auch nie wieder, dafür hatte Frau Hansen gesorgt. Birthe musste es hundertmal abschreiben und dann in der Klasse zerreißen. Seitdem lasen ihre Mutter und sie noch viel mehr. Das taten sie oft, viel öfter als Fernsehen schauen, obwohl Henni das schon auch mal ganz gerne tun wollte, weil die anderen aus ihrer Klasse das ja auch taten. Als „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ als Film ins Kino kam, konnte sie ihre Mutter überreden mit ihr zu gehen und sie hatten mit Popcorn und Cola einen tollen Abend.
Rico, Oskar und das Mistverständnis. Das hatte ihr ihre Klassenlehrerin Frau Hansen dann geschenkt, als sie ihre Klasse verlassen musste, weil sie zu der Doof-Oma ziehen musste.
„Komm runter, Essen ist fertig! Aber Zack, Zack!“ Die Stimme der Oma-Frau im Kittel schrie nach oben.
„Mann, Mann, Mann!“, schimpfte Henni wie der Rico in dem Buch, das immer gesagt hatte, laut vor sich hin, ging die Treppenstufen herunter und setzte sich in der Küche, in der es nach abgestandener Luft und alter Frau roch, vor den zweiten Teller, auf dem eine rote Tomatenmatsche lag, aus der verzweifelt ein paar Nudeln schauten und nach Luft schnappten.
„Iss und dann kannst du das alles abspülen!“ Die Oma-Frau im Kittel zeigte auf den riesigen, ungespülten Stapel Geschirr in der Spüle und schlang den roten Brei auf ihrem Teller hastig herunter.
Henni schob ihr ihren unberührten Teller hin. „Das können Sie auch noch essen, das ist eklig!“ „Du stehst hier nicht eher auf, bis du den Teller leer gegessen hast!“
Henni stand auf, nahm den Teller mit und kippte ihn in die Spüle. „Ich spüle schon mal!“, sagte Henni mutig und ließ Wasser in die Spüle laufen. Sie spürte das sich aufbauende Rot des Zorns der Oma-Frau im Kittel hinter ihrem Rücken und nahm den nassen Spüllappen in die rechte Hand.
„Wenn Sie mich noch einmal schlagen, schlage ich mit dem Spüllappen zurück!“ Henni drehte sich herum und als sie die erste Ohrfeige im Gesicht traf, warf sie den klatschnassen Spüllappen und den schmutzigen Teller in die schreiend rote Fratze der Oma-Frau im Kittel und rannte so schnell sie konnte aus dem Haus und auf die Straße.
Sie hörte ihre Schreie noch lange hinter sich, schüttelte sie ab wie heftigen Regen. Sie rannte und rannte, sah nicht nach links und nicht nach rechts. Sie war so wütend, so wütend! Sie sah überall Rot. Sie kannte diese Redensart aus der Schule und verstand zum ersten Mal, was ihre nette Klassenlehrerin Frau Hansen damit meinte. Alle Gegenstände verwandelten ihre Fratze in wütendes Rot. Jede Mülltonne, vor der sie trat oder die sie umkippte, lachte sie mit einer roten Fratze an. Erst am Schrebergarten am Ende der Straße wurde es etwas besser. Sie schaute zurück auf die lange Straße, die sie hergekommen war und musste laut lachen, als sie die ganzen Mülltonnen sah, die kreuz und quer und umgekippt auf der Straße herumlagen. Sie waren nicht mehr rot. Jetzt waren sie wieder schwarz. Henni beruhigt sich langsam wieder.
Am schmiedeeisernen Tor vom Schrebergarten war ihre Wut nach einer langen Straße lang Mülltonnen umtreten ein wenig weniger rot geworden.
Henni ging die Wege zwischen den dunklen Häuschen entlang. An dem letzten Häuschen sah sie einen Leuchtturm auf dem Rasen stehen, der ein wanderndes Licht in die Dunkelheit schickte. Ein kleiner Teich war zu sehen und im Schein des wandernden Lichts entdeckte Henni ein Wrack aus Playmobil. Sie war eine Playmobil-Expertin, schließlich hatte ihre Mutter ihr, wann immer das Geld reichte, neue Figuren von Playmobil geschenkt. Im letzten Jahr hatte sie sogar einen Adventkalender aus Playmobil bekommen. Es war eine neue Ausgabe zu dem Lieblingsfilm ihrer Mutter „Back to the future“, den sie immer schaute, wenn es ihr schlecht ging. Und ihrer Mutter ging es oft schlecht. Mal wegen dem Geld, das immer zu wenig war oder dem Job, der doch nicht das Richtige war wie der nächste und der nächste Mann. Weil sie den Film so oft schaute, kannte Henni den Film, der drei Teile hatte, auch fast auswendig und die Figuren wurden in den schlimmen Zeiten zu ihren besten Freunden. Doc und Einstein und Marty... In Marty war sie sogar ein wenig verliebt, bis sie ein Bild im Internet entdeckte, wie alt der Schauspieler heute schon war, da war es vorbei mit der Schwärmerei. Geblieben war der Wunsch, einen Hund wie Einstein zu haben. Henni würde ihn auch nicht Einstein nennen, denn den gab es ja schon. Sie würde ihn Peter Pan nennen, denn das Buch las sie gerade.
Wahrscheinlich war es das Playmobil-Wrack und das heimelige Licht des Leuchtturms, das sie in den Garten gehen ließ. Sie schlich vorsichtig zum Gartentor, das sich leise öffnen ließ. Es war nicht abgeschlossen. Auch nicht die Seitentür des Häuschens.
„Wie unvorsichtig!“, dachte Henni. „Ich verspreche, ich werde mich benehmen und gut mit ihrem Häuschen umgehen!“, versprach sie den unbekannten Besitzern und trat in die Dunkelheit des unbekannten Hauses. Das Licht des Leuchtturms erhellte den Innenraum immer nur für einen kurzen Moment. Sie entdeckte eine gemütliche Couch, eine Decke und im Kühlschrank, der ausgestellt war, stand eine volle Flasche Cola und eine Tüte Chips fand sie in der Schublade der Kommode.
Henni notierte alles, was sie sich nahm, auf einen Zettel und nahm sich vor, das von ihrem Taschengeld zurückzuzahlen, wenn sie jemals bei dieser grässlichen Person so etwas wie Taschengeld bekommen würde.
Eine Flasche ColaEine Tüte ChipsEine Decke.
Sie kuschelte sich unter die Decke auf dem Sofa, trank Cola, aß Chips und sah dem Leuchtturm zu, wie er unermüdlich sein Licht in die Dunkelheit schickte. Genau das beruhigte Henni und ließ sie irgendwann am Ende der Chipstüte da auf dem Sofa einschlafen.
Henni träumte von einer riesengroßen Oma-Frau im Kapitän-Kittel auf einem Playmobil-Piratenschiff auf einem Ozean stinkiger Tomatensoße, das auf ein Nudelriff lief und alle Besatzungsmitglieder an Land trieb. Der Leuchtturmwärter hatte gemeinsame Sache mit der Kapitänsoma gemacht und sie teilten sich die Beute. Als sie Henni in die stinkige Tomatensoße werfen wollten, wachte Henni schweißgebadet und schreiend auf.
Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen. Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen.
Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen. Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen.
Das war der Moment, wo sie sich wimmernd und zitternd zusammenrollte. Sie fühlte sich so unsagbar allein, dass ihr selbst dieses kleine Schrebergarten-Häuschen viel zu groß erschien. So verloren hatte sie sich seit der Beerdigung ihrer Mutter noch nicht gefühlt. Noch nie war ihr mit ihren zehn Jahren so bewusst geworden, dass sie niemanden mehr hatte. Als sie keine Tränen mehr weinen konnte, kroch Henni mit der Decke von der Couch unter den Tisch und baute sich dort eine Bude. Sie legte eine zweite Decke aus dem Klappbett über den Tisch und fand dabei eine Eule aus Plüsch. Sie sah etwas alt und ramponiert aus, aber sie zwinkerte Henni zu. Henni musste lachen. Eine zwinkernde Eule schien ihr jetzt genau das Richtige zu sein.
„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich dich mit in meine Bude nehme!“, sagte Henni laut und erschreckte sich selbst beim Klang ihrer eigenen Stimme, die die wenigen Wörter so fremd und rau sprach. Sie musste husten.
„Ich hoffe, du machst hier keinen Unfug. Meine Menschen sind nämlich im Urlaub und ich weiß auch gar nicht, ob sie deine Anwesenheit hier so gutheißen würde!“, sagte die Eule laut und deutlich. Der vorwurfsvolle Ton kam ein wenig hellrot daher.
Henni hätte die Eule, die sie gerade vom Bett aufgehoben hatte und zum Tisch tragen wollte, vor Schreck fast fallengelassen.
„Du kannst s-p-r-ec-h-e-n!“, stotterte Henni.
„Natürlich, was für eine Frage!“. Die Eule plusterte sich empört auf und flog selbst zum Tisch. „Hast du mir auch eine Decke unter den Tisch gelegt?“, fragte sie, als sei es das normalste der Welt, dass sich eine Eule mit ihr unterhielt.
„Nein!“, lachte Henni etwas unsicher, „Ich hole dir eine!“ Sie holte eine zweite Decke vom Klappbett und baute der Eule eine kleine Ecke. Dann holte sie die wenigen Chips und den Rest Cola unter den Tisch und kroch selbst unter die Decke.
„Ich bin übrigens Ella!“, sagte Ella und hielt ihren linken Flügel zur Begrüßung hin.
„Ich bin Henni und ich bin vor meiner grässlichen Oma geflüchtet.“, antwortete Henni und bot Ella die schon sehr leer gefutterte Tüte Chips an, bevor sie selbst noch einmal herzhaft in die Tüte hineingriff. Es war, als hätte Ella ein wenig ihrer Angst verjagt.
„Nicht gesund, aber besser als diese eklig gesunden Vogelkörner, die ich sonst immer mal aus dem Nachbargarten mopse, wenn sie die für die Vögel in den Kirchbaum hängen.“, lachte Ella und griff herzhaft mit ihrem Schnabel zu. „Na ja, die Kirschen esse ich dann natürlich auch!“
„Kirschen mag ich auch, am liebsten, wenn ich auf dem Baum sitze!“, sagte Henni und dachte daran, wie sie das im Urlaub auf dem Bauernhof an der Nordsee immer mit ihrer Mutter getan hatte. Zuletzt, bevor sie starb und der Polizist mit dem hässlichen Bart und der Nickelbrille, mit der er aussah wie Harry Potter, zu ihr in die Küche des Bauernhofs kam, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter nicht mehr wiederkommen würde. Nie mehr. Und er war natürlich nicht Harry Potter, denn er konnte nicht zaubern, hatte keine Eule, konnte kein Quidditch spielen. Und er lachte auch nicht und die Narbe auf der Stirn fehlte auch. Er war einfach nur ein Polizist, der ihr eine schlimme Nachricht überbrachte.
Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen. Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen.
Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen. Tick. Tack. Tick Tack. Nicht weinen. Nicht weinen.
Henni spürte mit jedem weiteren Gedanken ganz viel Rot um sich herum, so, als würde sie von einem riesengroßen roten Wackelpudding, ganz ohne Vanillesoße, eingeschlossen, der, da war sie sich in diesem Moment sicher, nie mehr freilassen würde. Und egal wieviel sie aß, sie würde nie mehr freikommen und die Welt, die sie einmal gekannt hatte, wiedersehen.
„Wenn du nicht aus deinem Wackelpudding der Angst herauskommst, ruf mich, ich fliege dich raus! Nur, dass wir das tun, sollte vielleicht unter uns bleiben!“, sagte Ella und zog Henni seit diesem Tag immer wieder aus dem Wackelpudding heraus.
Tick. Tack. Ella. Ella.Fliegen. Fliegen.Über Wackelpudding.
Tick. Tack. Ella. Ella.Fliegen. Fliegen.Über Wackelpudding.
Tick. Tack. Ella. Ella.Fliegen. Fliegen.Über Wackelpudding.
Henni knurrte mächtig der Magen. Nach einer dieser Nächte, in der sie wieder einmal unter dem Tisch geschlafen und mit ihren Erinnerungen und Geistern gekämpft hatte, fühlte sie sich, als hätte sie tagelang nichts mehr gegessen.
„Deine Erinnerungen fressen deine Energie gnadenlos auf. Lass das nicht zu!“, hatte Uwe immer gesagt, wenn sie ihm von einer solchen Nacht erzählte.
Für diese Fälle hatte sie immer alles für ein großes, amerikanisches Sendwitsch-Brot zuhause. Sie schmierte sich dick Butter auf das Brot, darauf Nutella und eine klein geschnittene Banane und dann klappte sie es zusammen. Das Weißbrot nahm sie mit einem seligen Lächeln in beide Hände. Es war so weich zwischen ihren Fingern wie vermutlich ungesund, aber dieses weiche Brot zwischen ihren Fingern zu fühlen, gab Henni das sichere Gefühl, zuhause und sicher zu sein und niemals mehr hungrig ins Bett gehen zu müssen. Der Biss hinein war einfach das Größte für Henni.
„Mensch Henni, da sind doch so überhaupt keine Nährstoffe mehr drin!“, schimpfte Ulla immer, wenn Henni wieder eine Packung Notfall-Sandwich-Brot in ihren Einkaufswagen legte.
„Doch, da ist ganz viel Zuhause für uns drin!“, entgegnete Henni immer und als Henni ihr einmal gezeigt hatte, wie ein echtes Henni-Sendwitsch mit ganz viel Zuhause gemacht und gegessen wurde, hatte Ulla fast genauso verzückt geschaut, gefühlt und gekaut wie Henni. Danach hatte sie nie mehr geschimpft, wenn Henni eine Tüte Sendwitsch-Brot eingekauft hatte.
„Wo ist mein Brot?“, fragte Ella, die erst jetzt schläfrig unter dem Tisch hervorschaute.
„Wie hättest du das denn gerne?“, fragte Henni. „Mit Salat und Tomaten?“
„Igitt, nein, lieber so eins wie du!“
„Wir haben dir doch ein Stück abgeschnitten. So wie immer!“ Henni schob ihr ein kleines quadratisches Stück Sendwitschbrot auf einem kleinen Teller unter den Tisch.
„Mmh, lecker!“, schmatzte Ella.
Henni schluckte den letzten Bissen ihres Sendwitschbrots herunter. Jetzt ging es ihr besser und sie spürte, dass heute wieder ein guter Tag in Rot mit weißen Punkten werden konnte.
Hennis Blick fiel auf ihr Smartphone. Als sie Ulla gestern das Foto von Uwe zum Wieder-wie-neu-machen per WhatsApp geschickt und dabei gesehen hatte, wie schön die Hülle von Ulla ausgesehen hatte, hatte sie eine Idee. Ullas Hülle war voller roter Rosen, weil das Ullas Lieblingsserie war. Henni fand nicht nur die Rosen, sondern auch die Serie langweilig. Und ehrlich war Rot keine Farbe, die sie mochte, es sei denn sie wurde weiß gepunktet, dann wurde das Rot punktweißschön.
„Denn, wenn weiße Punkte auf rotem Grund tanzen, wie auf meinen Gummistiefeln, dann durchlöchern sie die rote Angst wie ein Schweizer Käse.“, erklärte sie Ella, die unter dem Tisch wieder eingeschlafen war.